Commissario Tasso auf dünnem Eis - Gianna Milani - E-Book
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Commissario Tasso auf dünnem Eis E-Book

Gianna Milani

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Beschreibung

Verschneite Berghänge. Dampfende Knödel. Holzskier an der Wand. Und eine Leiche im Hotel

Südtirol, 1962: Eigentlich hat Commissario Aurelio Tasso sich nur nach Bozen versetzen lassen, um einem alten Kollegen einen Gefallen zu tun. Obwohl er keinen Schnee mag. Aber wenigstens gibt es in Südtirol ausgezeichnetes Essen, vor allem Knödel. Dagegen wenige Verbrechen. Dachte er. Denn dass der Maler Carlo Colori erschlagen im Hotel Bellevue in Meran liegt, sieht nicht nach einem Unfall aus. Seine Ermittlungen führen Tasso weiter ins mondäne Cortina d‘Ampezzo. Dort wird eine zweite Leiche aus dem nahen Misurinasee gefischt. Gibt es eine Verbindung zwischen den Toten?

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Seitenzahl: 374

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumIl sapore – der GeschmackEinige Personen, denen Sie vielleicht begegnenProlog, in dem Wirtin Rosa Marthaler es wenige Tage zuvor mit ungebetenen Gästen zu tun bekommt1. Kapitel, in dem Commissario Tasso am Montagmorgen um der alten Freundschaft willen eine Aufgabe übernimmt, die ihm nicht behagt2. Kapitel, in dem Tasso zum ersten Mal ein Nobelhotel betritt und prompt über einen Teppich stolpert3. Kapitel, in dem Mara Oberhöller am Verstand des Questore zweifelt und in einen Farbrausch gerät4. Kapitel, in dem Tasso und Mara sich am Dienstag fragen, ob die Welt ein Talent oder einen Scharlatan verloren hat5. Kapitel, in dem Mara ihre erste Zeugenbefragung erlebt, außerdem Knödel die Sache rund machen und Tasso sich ein bisschen verliebt; in die Knödel natürlich6. Kapitel, in dem Tasso wie jeden dritten Mittwoch im Monat eine lästige Pflicht erfüllt7. Kapitel, in dem nur noch eine kleine Katze in Toblach Tasso den Tag rettet8. Kapitel, in dem Tasso von Mara am Donnerstag aufs Glatteis geführt wird9. Kapitel, in dem Tasso dafür sorgt, dass ein verschwundener Nachtportier wiederauftau(ch)t10. Kapitel, in dem Mara am Freitag auf eigene Faust nach Cortina fährt – sie kann das, wozu ist sie schließlich die Tochter eines Bürgermeisters?11. Kapitel, in dem sich Tasso gewiss keine Sorgen um Mara macht und eine ausgezeichnete Polenta mit Steinpilzen isst12. Kapitel, in dem Mara ihren Kunstverstand einsetzt13. Kapitel, in dem Mara Tasso in große Verlegenheit bringt14. Kapitel, in dem nicht nur für Tasso die längste Nacht des Jahres anbricht15. Kapitel, in dem es mit Tasso bergauf geht16. Kapitel, in dem Mara eine ganz neue Seite an Commissario Tasso kennenlernt17. Kapitel, in dem Mara erst einmal nicht ins Kloster darf18. Kapitel, in dem sich Tasso ganz heilig vorkommt, weil er einem Scheinheiligen das Handwerk legtIl gatto randagio – die Straßenkatze1. Epilog, in dem Wirtin Rosa Marthaler es wenige Tage später mit einem sehr willkommenen Gast zu tun bekommt2. Epilog, in dem Mara sich eine sehr berühmte Frage stellt3. Epilog, in dem Tasso Farbe bekenntIl ringraziamento – die Danksagung

Über dieses Buch

Verschneite Berghänge. Dampfende Knödel. Holzskier an der Wand. Und eine Leiche im Hotel Südtirol, 1962: Eigentlich hat Commissario Aurelio Tasso sich nur nach Bozen versetzen lassen, um einem alten Kollegen einen Gefallen zu tun. Obwohl er keinen Schnee mag. Aber wenigstens gibt es in Südtirol ausgezeichnetes Essen, vor allem Knödel. Dagegen wenige Verbrechen. Dachte er. Denn dass der Maler Carlo Colori erschlagen im Hotel Bellevue in Meran liegt, sieht nicht nach einem Unfall aus. Seine Ermittlungen führen Tasso weiter ins mondäne Cortina d’Ampezzo. Dort wird eine zweite Leiche aus dem nahen Misurinasee gefischt. Gibt es eine Verbindung zwischen den Toten?

Über die Autorin

Gianna Milani ist das Pseudonym einer deutschen Autorin, die sich seit vielen Jahren für Südtirol und seine wechselvolle Geschichte interessiert. Dabei haben es ihr besonders die sagenhaften Dolomiten angetan. Ein Haus in Norditalien wäre ihr Traum, bis dahin schreibt sie Bücher über ihre Lieblingsregionen.

LUEBBE

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Dieses Werk wurde vermittelt durch dieMichael Meller Literary Agency GmbH, München

Copyright © 2021 by Gianna Milani

Copyright © 2021 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Frank Weinreich, Bochum

Umschlaggestaltung: U1berlin/Patrizia Di Stefano

Umschlagmotiv: © www.pleesz.com

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-1610-9

luebbe.de

lesejury.de

Il sapore – der Geschmack

Das wahre Geheimnis eines Knödels

ist, neben guten Zutaten,

vor allem ganz viel Liebe.

Einige Personen, denen Sie vielleicht begegnen

Bei der Polizia di Stato

Aurelio Tasso, Commissario in Bozen

Mara Oberhöller, seine Praktikantin, Tochter des Bürgermeisters von Meran, Jakob Oberhöller

Johann Vierweger, sein ehemaliger Ispettore, im Ruhestand

Dottore Bruno Visconti, Questore in Bozen

Alessia Rosso, Assistentin des Questore

Gustavo Lombardi, Phantombildzeichner

Dottore Simone Agnelli, Rechtsmediziner

Paolo Dacosta, Ispettore in Meran

Nino Scandiffio, Ispettore in Belluno

Renato Dalmaso, Commissario in Brixen

Elisabeth Unterbachner, Vice Sovrintendente in Brixen

In der Gastwirtschaft Bunte Kuh

Rosa Marthaler, Gastwirtin in Meran

Stefan Marthaler, ihr Sohn

Elsa Gassner, ihre Küchenhilfe

Peter Holzhauer, ein »wohlmeinender« Nachbar

Benno Wolkensteiner, ein Stammgast

Im Hotel Bellevue, Meran

Andrea Colletti, Concierge

Konrad von Kotzian, Kriminalrat a. D. aus Hamburg, Gast

Erna von Kotzian, seine Ehefrau, Gast

Helga Dussmann, seine Tochter, Gast

Petra Dussmann, seine Enkelin, Gast

Im Hotel Misurina, Misurina

Marta Alfonso, Empfangsdame

Ernesto Ferrara, Concierge

Marcello Villabona, Nachtportier

Filipe Donatelli, Direttore

Aurelio Tassos Familie

Corrado Tasso, Vater

Emma Tasso, geborene Vernatscher, Mutter

Aurora Tasso, jüngere Schwester

Hedwig Vernatscher, Tante mütterlicherseits, wohnhaft in Bozen

Mara Oberhöllers Familie

Jakob Oberhöller, Vater, Bürgermeister von Meran

Marianne Oberhöller, geborene Lechner, Mutter

Anna-Sophia Lechner, Großmutter mütterlicherseits

Friedrich Oberhöller, älterer Bruder

Robert Oberhöller, jüngerer Bruder

Prolog, in dem Wirtin Rosa Marthaler es wenige Tage zuvor mit ungebetenen Gästen zu tun bekommt

Heißer Dampf machte das Atmen schwer. Rosa Marthaler kniff die rot geäderten Augen zusammen. Sie war zu Tode erschöpft. Mit der gesamten Konzentration, die sie aufbringen konnte, starrte sie auf die schaumig trübe Wasseroberfläche. Alles war ruhig. Noch. Rosas Stirn juckte. Eine Haarsträhne hatte sich unter dem Kopftuch hervorgewagt und klebte feucht auf der Haut. Mit spitzen Fingern schob Rosa die blonde Locke zurück. Das Wasser begann zu brodeln. Sie musste sofort handeln, sonst …

»Schaust du die Knödel gar, oder was ist los, Mädel?«

Elsa Gassners harsche Altfrauenstimme riss Rosa aus ihrer Versunkenheit. Hastig trat sie einen Schritt vom Herd weg, regelte mit der linken Hand das Gas unter dem riesigen Kochtopf und griff mit der anderen gleichzeitig nach dem Schaumlöffel. Hinter ihr ließ Elsa benutztes Geschirr und Besteck lautstark in die Spüle fallen.

»Mama, da sind nochmal einige Männer gekommen. Viermal Knödel mit Gulasch«, rief Stefan von der Schwingtür zur Schankstube.

Rosa verdrehte resigniert die Augen. Natürlich, das passte. Normalerweise war mittwochs nichts mehr los, sobald der Männerchor von Sankt Nikolaus seinen obligatorischen Absacker nach der Probe getrunken hatte und nach Hause gegangen war. Auch Elsa wäre um diese Uhrzeit eigentlich schon gar nicht mehr hier. Ausgerechnet heute, wo Rosa sich nichts sehnlicher wünschte, als die Bunte Kuh zu schließen und zu Hause ins Bett zu fallen, strömten die Gäste. Was war nur los?

Sie schöpfte die Knödel aus dem siedenden Wasser in eine Schüssel. Es reichte gerade für die vier Gäste, zwei würden übrig bleiben.

»Elsa? Möchtest du Knödel mitnehmen?« Sie kratzte die letzten Reste des Gulaschs aus dem Topf und verteilte es auf die Teller.

»Gern, dann habe ich morgen was zum Mittagessen.« Die resolute kleine Frau stemmte die Hände in die Seiten und nickte mit dem Kinn Richtung Gastraum. »Geh schon raus, ich kümmere mich um die Küche.«

»Aber ich …«

»Geh, sag ich!« Drohend hob Elsa einen Kochlöffel und schwang ihn, wobei ihr gewaltiger Busen wogte. Rosa lud sich die vier Teller auf und sah zu, dass sie fortkam. Mit ihrer Küchenperle legte sie sich ungern an.

Die Schankstube war düster und verraucht. Stefan stand hinter der Theke und zapfte Bier. Wie er gesagt hatte, saßen vier Männer zwischen dreißig und vierzig Jahren an einem Tisch in der Ecke und hatten die Köpfe zusammengesteckt. Sie trugen einheitlich graue Anzüge, schwarze Krawatten und weiße Hemden mit Manschetten. Zwei rauchten Zigaretten, ein dritter einen stinkenden Zigarillo. Rosa verzog die Nase. Rasch trat sie an den Tisch und setzte vor jedem Mann einen Teller ab.

»Viermal Tagesgericht, wohl bekomm’s.«

»Bah?«, brummte einer und reckte die Nase, als würde er wittern. Er hatte nicht einmal seinen Hut abgesetzt.

»Menu del giorno, stronzo!«, pampte sein Nachbar zur Rechten ihn an und zog einen Teller heran. Er lächelte Rosa an, und ein Goldzahn blitzte auf. »Danke schön. Grazie, Signora.«

»Buon appetito, Signori«, erwiderte Rosa. Das waren bestimmt Geschäftsleute aus dem Süden. Hoffentlich verschwanden die nach dem Essen und hatten nicht noch etwas zu feiern. Dann würde es nämlich eine lange Nacht.

Sie ging zur Theke und nahm das Tablett mit den Biergläsern von ihrem Sohn entgegen. Eigentlich sollte sie sich freuen. Der Herbst war verregnet gewesen und das Geschäft mit den Touristen, die neuerdings zur Weinlese nach Südtirol kamen, weitgehend ausgeblieben. Da war jede Einnahme willkommen. Dennoch, nicht heute. Sie war müde.

Beinahe wäre sie über etwas gestolpert und konnte sich im letzten Moment fangen, ohne das Bier komplett zu verschütten. Sie servierte die Gläser und schielte auf dem Rückweg nach dem schwarzen Koffer, der da mitten im Weg herumstand. Ein Bakelitkoffer, in dem technisches Gerät transportiert wurde, wenn sie sich nicht irrte. Aber das ging sie natürlich nichts an. Solange die Männer nicht ausfallend wurden und damit andere Gäste belästigten – was unwahrscheinlich war, denn sonst war niemand mehr da – oder die Zeche prellten, durften sie tun und lassen, was sie wollten.

Elsa erschien mit einem Teller und einem Geschirrtuch im Durchgang zur Küche und beobachtete die vier Männer mit finsterer Miene. »Pack ist das, das sehe ich von hier aus.«

»Elsa, bitte!«

»Schau sie dir doch an, das sind Verbrechervisagen.«

Rosa hatte kein Bedürfnis, eine der üblichen Tiraden über sich ergehen zu lassen, und schwieg. Sie wusste, dass die alte Frau dazu neigte, immer und überall Verbrecher zu wittern, besonders, wenn es sich um »echte« Italiener handelte, wie sie diejenigen nannte, die einen südländisch dunklen Teint und die entsprechende Haarfarbe aufwiesen. Ein Stück weit konnte sie die Haltung der Frau sogar nachvollziehen. Elsa hatte zwei Weltkriege miterlebt, und beide Zeiten waren mit bitteren Erinnerungen verbunden. Sie war Ende des vorangegangenen Jahrhunderts geboren, als Südtirol noch aus Wien vom »anständigen Kaiser Franz, Gott hab ihn selig« regiert wurde und Teil der glorreichen Habsburger Monarchie gewesen war. Rosa, die in Meran zur Welt gekommen war, als die Faschisten gerade mobil machten, hatte bei allem Verständnis eher den Verdacht, dass diese Monarchie gemeinhin glorifiziert wurde. Und sie war überzeugt davon, dass es einer Person nicht anzusehen war, falls sie ein Verbrechen plante. Das wäre ja noch schöner. Nein, es gab überall solche und solche.

Leise vor sich hin schimpfend verschwand Elsa wieder durch die Schwingtür in die Küche. Stefan begann, das gespülte Geschirr in die Regale hinter dem Tresen einzuräumen. Manchmal klirrten leise Gläser gegeneinander. Ansonsten war nur die gedämpfte Unterhaltung der vier Männer zu hören, die beim Reden mit ihrem Besteck herumfuchtelten.

Rosa lehnte sich rücklings gegen die Theke und kniff die Augen zusammen, die vom abgestandenen Zigarettenqualm tränten. Diese Männer verhielten sich wirklich merkwürdig, da hatte Elsa dieses Mal recht. Sie wirkten erregt, einer war sogar richtiggehend wütend. Er schien nicht mit den Meinungen der anderen einverstanden zu sein. Das Zusammensein der vier sah jedenfalls nicht nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss aus, und für Touristen an einem normalen Mittwochabend war ihre Kleidung viel zu elegant. Kurgäste waren das auch nicht. Ärzte?

Rosa wandte sich um. »Stefan?«

Der Sechzehnjährige sah sie fragend an.

»Schnapp dir mal einen Lappen und wisch über die Tische neben den Männern. Vielleicht kannst du von ihrem Gespräch etwas aufschnappen.«

»Mach ich.«

»Du verstehst besser Italienisch als ich«, fügte sie hinzu.

Er würde es niemals wagen, nachzufragen, warum er etwas tun oder lassen sollte, doch die Frage hatte ihm ins Gesicht geschrieben gestanden. Während er lustlos mit einem Spüllappen zu den Tischen schlenderte, räumte Rosa die letzten Gläser ein und schaute sich um. Es gab nichts mehr zu erledigen. Ihr Sohn hatte ganze Arbeit geleistet. Es wurde längst Zeit, dass er ins Bett kam. Er musste morgen ausgeschlafen für die Schule sein.

Sie schreckte auf, weil er mit weit aufgerissenen Augen auf die Theke zukam. Er setzte gerade an, etwas zu sagen, da rief einer der Männer nach der Rechnung. Rosa nickte Stefan zu und ging abkassieren.

Kaum hatten die letzten Gäste ihre Mäntel und den geheimnisvollen Koffer eingesammelt und waren durch den Haupteingang verschwunden, platzte Stefan heraus: »Die planen einen Anschlag, Mama! Wir müssen die Polizei verständigen!«

1. Kapitel, in dem Commissario Tasso am Montagmorgen um der alten Freundschaft willen eine Aufgabe übernimmt, die ihm nicht behagt

»Buongiorno, Signor Commissario!«

»Buongiorno!«

»Buongiorno, Aurelio.«

»Grüß Gott, Herr Kommissar.«

»Guten Morgen!«

»Buongiorno, buongiorno.«

Commissario Aurelio Tasso durchquerte die Büroetage mit langen Schritten, nickte dabei freundlich in alle Richtungen und erwiderte die Grüße jeweils auf Italienisch oder Deutsch. Wenn die Anzahl der Menschen, die ihn an diesem sonnigen Wintermorgen grüßten, ein Indikator dafür war, wie beliebt er war, dann mussten seine Kollegen ihn wirklich sehr mögen. Er hatte allerdings den starken Verdacht, dass die ihm entgegenbrachte Aufmerksamkeit vielmehr mit seiner Suche nach einem neuen Mitarbeiter zu tun hatte. Sein langjähriger treuer Begleiter Ispettore Johann Vierweger hatte sich im Oktober in den wohlverdienten Ruhestand verabschiedet. Seither hatte Tasso sich immer noch nicht für einen Nachfolger entscheiden können.

An seinem Schreibtisch angelangt, zog er sich gemächlich Mantel und Hut aus und versuchte, mit beiden Händen die dunklen Locken zu glätten – wie immer vergeblich. Kaum hatte er das Pistolenholster über die Stuhllehne gehängt und sich gesetzt, als das Telefon klingelte.

»Buongiorno, Signor Commissario. Der Questore wünscht Sie augenblicklich zu sprechen.«

»Ich komme sofort. Danke, Signorina Rosso.«

Seufzend stemmte er sich wieder aus dem viel zu bequemen Drehstuhl und nahm die hintere Treppe, die vom zweiten Stock hoch ins dritte Geschoss führte. Dort erwartete ihn ein langer grauer Gang, den Neonröhren in ein fahlgelbes Licht tauchten. Das Brummen der Lampen war das einzige Geräusch, Tassos Schritte wurden vom nagelneuen federnden Linoleumboden gänzlich verschluckt.

Er passierte einige Türen und klopfte an einer mit der Aufschrift:

Dottore Bruno Visconti, Questore

Vorzimmer Alessia Rosso, Segretaria

Er betrat den Raum, ohne auf eine Antwort zu warten, schließlich war er einbestellt.

Signorina Rosso saß hinter ihrem Schreibtisch, tippte in atemberaubender Geschwindigkeit auf einer schwarzen Schreibmaschine und schaute nur mit einem kurzen Lächeln auf. »Gehen Sie durch, Signor Commissario.«

Er richtete seinen Hemdkragen und den Krawattenknoten, bevor er sich zu einer weiteren Tür rechts wandte, klopfte und abermals sofort eintrat. Strahlender Sonnenschein empfing ihn, der durch ein großes Fenster zu seiner Linken fiel. Questore Bruno Visconti war ein Mann in den Fünfzigern mit vollem grauen Haar und einem gewaltigen Schnurrbart. Er saß hinter einem mächtigen Schreibtisch aus Mahagoniholz, blätterte eine Unterschriftenmappe durch und zeichnete in einem Tempo, das dem seiner Sekretärin in nichts nachstand, Dokumente ab.

»Buongiorno, Bruno. Du wolltest mich sprechen.« Tasso trat heran und streckte seinem Gegenüber die Hand entgegen.

Bruno Visconti klappte die Mappe zu, schloss seinen Füller und legte ihn auf eine lederne Ablage. Dann schüttelten sie einander herzlich die Hände.

»So ist es. Setz dich, Aurelio.« Er beugte sich vor und legte die Handflächen aneinander.

Tasso ließ sich Zeit damit, den chromfarbenen Schwingstuhl heranzuziehen und sich niederzulassen. Beiläufig glitt sein Blick über die italienische Flagge links neben dem Questore. Oberhalb seines Kopfs prangte goldgerahmt die Doktorurkunde. Rechts stand eine Garderobe mit Mantel, Hut und Krücken. Dem aufmerksamen Betrachter fielen außerdem zwei Ledermanschetten für die Hände ins Auge, die an einem Kleiderhaken baumelten.

Da Bruno immer noch nichts sagte, wusste Tasso, dass es unangenehm werden würde. Besser, sie brachten es hinter sich. »Um was geht es, wenn ich fragen darf?«

»Dein Assistent Vierweger ist seit Oktober im Ruhestand, wenn ich mich nicht irre?«

»Das ist korrekt.«

»Hast du dich schon für einen neuen Kollegen entschieden? Wir haben einige tüchtige Anwärter da unten sitzen.« Mit unten meinte er die Büroetage ein Stockwerk unter ihnen.

»Das stimmt. Nein, noch nicht. Diese Wahl fällt mir nicht leicht.« So etwas wollte sorgsam abgewogen werden. Schließlich würde er es mit dem Mann, für den er sich entschied, einige Jahre aushalten müssen. Oder der mit ihm. Das war eine Frage des Standpunkts. Tasso machte sich da nichts vor. Bis er mit Vierweger klargekommen war, hatte es beinahe ein Jahr gebraucht, was allerdings auch dem Umstand geschuldet war, dass der Ispettore ein breitschultriger Riese war und bei manchen Gelegenheiten für den Ranghöheren gehalten wurde. Tasso war keineswegs schmächtig, aber wie viele Süditaliener etwas kleiner als die Menschen im Norden des Landes. In Begleitung von Vierweger nahm er sich jedenfalls wie David neben Goliath aus. Mit der Zeit hatte er gelernt, fehlende Körpergröße durch forsches und resolutes Auftreten wettzumachen. Das entsprach nicht ganz seinem Naturell, war aber häufig sinnvoll, um bei seinen Gegenübern und gerade in Verhören den nötigen Respekt zu erzeugen. Und es funktionierte.

Bruno lächelte, als könne er Gedanken lesen. »Die Position ist begehrt, weil du einer der erfolgreichsten Ermittler bist. Und das, obwohl du nicht gerade den Ruf hast, umgänglich zu sein.«

Tasso brummte argwöhnisch. So ließ sich seine Wirkung auf andere auch umschreiben.

»Nun, ich werde dir – zumindest vorläufig – die Entscheidung abnehmen. Der Bürgermeister von Meran hat mich gebeten, seinen Nachwuchs unter die Fittiche zu nehmen. Für ein Praktikum, wie er es nennt. Es geht darum, Erfahrungen zu sammeln und einen Einblick in die tägliche Polizeiarbeit zu bekommen. Und da dachte ich an dich. Die Weihnachtszeit und der Januar sind in der Regel eher beschaulich, da kann nicht viel passieren.«

»Ich soll also ein … ein Kind mit zum Dienst nehmen?«

»Es ist ja nur für sechs Wochen.«

Tasso lehnte sich zurück und verschränkte abwehrend die Arme. »Das ist nicht dein Ernst!«

Bruno warf ungehalten die Hände in die Höhe. »Wenn du es nicht freiwillig machst, werde ich es anordnen. Eigentlich haben wir in dieser Sache keine Wahl, weißt du?«

»Du meinst, ich habe keine Wahl. Du musst ja nicht mit dem Balg herumlaufen.« Tasso verstummte erschrocken und senkte reumütig den Kopf.

Dennoch hatte er gesehen, dass sich die Miene seines alten Weggefährten für einen Sekundenbruchteil verzogen hatte. Bruno Visconti war gekränkt. Sehnsucht wallte soeben in ihm auf, das wusste Tasso. Er hätte das nicht so sagen dürfen, denn der Questore würde nichts lieber tun als das: herumzulaufen, wenn es sein musste, sogar mit einem vorlauten Bürgermeisterspross an den Hacken. Leicht gesagt, denn mit nur einem Bein lief es sich auf Dauer nicht so gut. Das machte ihn zu einem ausgezeichneten Innendienstmitarbeiter, vermutlich einem der besten, den die Polizia di Stato seit dem Krieg vorzuweisen hatte. Nur dass es eben nicht Brunos freiwillige Entscheidung gewesen war, sondern den Umständen geschuldet.

»Scusi, caro amico. Ich hab’s nicht so gemeint. Ich mach das natürlich. Wann und wo soll ich den Bengel einsammeln?«

Versöhnt strahlte Bruno über das ganze Gesicht. »Ich habe gewusst, dass du Ja sagst. Mara Oberhöller sollte inzwischen bei Alessia im Vorzimmer warten. Du kannst sie sofort mitnehmen und ihr deine heutigen Aufgaben erklären.«

Tasso riss die Augen auf. »Mara? Das ist ein Mädchen!«

»Sie ist zweiundzwanzig, also großjährig. Aber ja, eine fesche Signorina.« Er zwinkerte. »Die wird deine grantige Erscheinung gehörig aufwerten.«

Tasso war zu entsetzt, um darauf etwas zu erwidern. Er hatte bisher keine guten Erfahrungen mit Anwärtern gemacht. Die waren so unselbständig, andauernd musste er ihnen sagen, was sie tun sollten. Und jetzt auch noch so eine verwöhnte junge Frau aus gehobenem Haus? Dazu ein halbes Kind? Großjährig mochte sie sein, aber nur knapp. Er räusperte sich mehrfach, brachte aber kein Wort hervor.

Bruno erlöste ihn. »Bevor du gehst, verrat mir noch, wie der Einsatz in Lana gelaufen ist. Ihr habt gestern Abend eine Razzia auf einem Bauernhof durchgeführt, richtig? Ich warte noch auf den offiziellen Bericht.«

Der in diesem Fall nicht von dem abweichen würde, was Tasso zu sagen hatte: »Wir waren erfolgreich. Nach der Anzeige einer Gastwirtin aus Meran haben wir gestern insgesamt sechs junge Männer verhaftet, die sich auf dem Hof konspirativ versammelt hatten. Sie werden aufrührerischer Straftaten verdächtigt. Wir hatten nach der Aussage der Wirtin vermutet, dass ein Anschlag mit Farbe geplant war, und es sieht ganz danach aus, dass wir damit richtig lagen. Die Gruppe wollte vermutlich Heldendenkmäler beschmieren und verunglimpfen, um damit das Gedenken Italiens in den Schmutz zu ziehen. Sie werden zurzeit vernommen.«

Was Tasso dabei verschwieg, war sein Bauchgefühl, und das würde auch in keinem Bericht auftauchen. Irgendetwas stimmte bei dieser Angelegenheit nicht, es fiel ihm nur schwer, den Finger darauf zu legen. Diese Männer hätten, so die Wirtin, beim Essen mehrfach von Farbe gesprochen und dass sie etwas Verbotenes planten, von dem die Polizei nichts wissen durfte. Und da wäre es schon ein außerordentlicher Zufall, wenn zum gleichen Zeitpunkt bei einer Gruppe, die die Behörden bereits im Visier hatten, eimerweise Farbe auftauchte. Angeblich, um eine Scheune zu streichen. Natürlich glaubten sie den Männern kein Wort, und sie wurden in Gewahrsam genommen. Wobei Tasso allerdings fand, dass das betreffende Gebäude durchaus einen Anstrich nötig hätte.

»Ein Anschlag mit Farbe? Auf Denkmäler?«

»Denkmäler, Gedenktafeln, vielleicht sogar auf das Siegesdenkmal, wer weiß? Genug Farbe wäre es gewesen.« Tasso zuckte mit den Schultern.

Das hätte er, wenn er tief im Inneren ehrlich war, nicht einmal so schlimm gefunden. Dieses Siegesdenkmal, einem altrömischen Triumphbogen nachempfunden, war selbst gemäßigten Südtirolerinnen und Südtirolern ein Dorn im Auge, denn es war ein weithin sichtbares Symbol der gewaltsamen Italianisierung der Region durch das faschistische Regime Mussolinis zwischen den beiden Weltkriegen. Und genau wegen dieser Verbindung zum Faschismus war Tasso dieses Scheusal aus Beton ebenfalls peinlich. Er empfand sich zwar, Sohn eines Römers und im Süden aufgewachsen, ziemlich italienisch, hatte aber mit der menschenverachtenden Ideologie, unter der er groß geworden war, nie etwas anfangen können. Was ihn im Krieg als jungen Burschen in die Lombardei verschlagen hatte, wo er sich der resistenza angeschlossen und Bruno Visconti kennengelernt hatte.

»Wird dem Monstrum wenig anhaben können«, murmelte der Questore bei sich. Und fügte ein kaum hörbares »Leider« hinzu. Sie waren sich da einig.

»Wenigstens keine Sprengsätze«, meinte Tasso.

»Das stimmt. So etwas wie die letzten beiden Jahre möchte ich nicht noch einmal erleben.« In der sogenannten Feuernacht vom 11. auf den 12. Juni 1961 hatten Südtiroler Separatisten Dutzende Strommasten in die Luft gejagt, um gegen die Politik Roms zu demonstrieren. Und erst im Sommer dieses Jahres hatte es einen Bombenanschlag auf den Bozener Bahnhof gegeben, im Herbst auf die Bahnhöfe in Trient und Verona. Das waren Wendepunkte, wo bei ihnen beiden als Polizisten das heimliche Verständnis für den Widerstand in Südtirol aufhörte. Denn die große Politik hatte längst verstanden, dass es nach dem Ersten Weltkrieg, als die Region an Italien gefallen war, völkerrechtlich nicht ganz sauber abgelaufen war – gelinde gesagt. Vielen Menschen in Südtirol ging es um die Wahrung der Sprache, der Traditionen und der Kultur, das war nachvollziehbar. Aber sie befanden sich nicht mehr im Krieg gegen eine faschistische Diktatur. Die UNO beschäftigte sich bereits mit der Südtirol-Frage. Gewaltsame Aktionen stachelten nur den Hass an und kosteten Unschuldige das Leben. Dazu bestand die Gefahr, dass Anschläge die Bemühungen auf dem politischen Parkett zunichtemachten.

Bruno streckte sich. »Vielleicht sollte ich an den Vernehmungen teilnehmen. Mal sehen, was die Burschen erzählen.«

Er stemmte sich mit beiden Armen in die Höhe und wandte sich zur Garderobe. Wie der Blitz war Tasso aufgesprungen und hielt dem Questore eine der Krücken entgegen, was ihm einen bösen Blick einbrachte.

»Ich komme gut ohne deine Hilfe klar, Aurelio.« Sein Tonfall war tadelnd, die Krücke nahm er trotzdem mit einem dankbaren Nicken entgegen.

»Du wirst nicht jünger, Comandante.«

»Leider allzu wahr.« Bruno richtete die Krücken aus und Tasso ging zur Tür. Im gleichen Moment, da er sie öffnen wollte, wurde sie von außen aufgestoßen. Er schaffte es gerade noch, einen Sprung rückwärts zu machen, bevor ihm das Türblatt ins Gesicht gekracht wäre.

Alessia Rosso wich ebenfalls mit einem erschrockenen Satz zurück und stieß dabei mit einer jungen blonden Frau zusammen. Die sprang ihrerseits zur Seite und prallte gegen den Schreibtisch.

»Das wollte ich nicht!«

»Ich bitte um Verzeihung!«

»Tut mir leid, es war nur …«

Gleichzeitig brachen alle ab und schauten sich verlegen an. Tasso winkte ab.

»Was gibt es, Alessia?« Bruno Visconti war der Einzige, der nicht beteiligt war. Mit Schwung machte er auf seinen Krücken einen Satz nach vorn.

Signorina Rosso zupfte sich die Manschette ihrer weißen Bluse zurecht. »Gerade kam ein Anruf von der Wache in Meran. Sie haben einen toten Mann im Hotel Bellevue entdeckt.«

»Hotel Bellevue?«, fragte Tasso. »Das ist doch eins dieser noblen Etablissements.«

Die junge Frau hinter der Sekretärin hatte sich ebenfalls wieder gefangen. Mit beiden Händen strich sie ihren dunkelblauen Bleistiftrock glatt und schien etwas sagen zu wollen, hielt jedoch inne.

Tasso sah nicht ein, warum er sie zum Reden auffordern sollte, und schwieg.

Doch er hatte die Rechnung ohne Bruno gemacht, der inzwischen direkt hinter ihm stand. Aus den Augenwinkeln bemerkte Tasso ein herzliches Lächeln.

»Signorina Oberhöller, willkommen bei uns. Da haben Sie sich ja für den Anfang genau den richtigen Morgen ausgesucht. Vor Ihnen steht Commissario Tasso, der die Ermittlung einleiten wird. Sie werden ihn nach Meran begleiten.«

Tasso fuhr herum. »Sie wird was? Das geht doch nicht.«

»Wieso nicht?«

»Hast du nicht gehört? Ein Mord. Das bedeutet, dass in diesem Hotel eine Leiche herumliegt.« Er schielte entschuldigend zu seiner zukünftigen Praktikantin, die kerzengerade vor dem Schreibtisch stand, als wolle sie einen Rapport abliefern. Tasso holte Luft. »Das können wir ihr nicht zumuten.«

»Genau deswegen ist sie doch hier. Nicht wahr, Signorina Oberhöller?«

Die junge Frau deutete einen Knicks an. »Ganz recht. Piacere, freut mich, Sie kennenzulernen, Signor Commissario Tasso.«

»Tasso reicht vollkommen«, knurrte er. »Ich mag keine Speichelleckerei, ragazzina.«

»Und ich mag keine unnötigen Unhöflichkeiten«, zischte Bruno Visconti ihm ins Ohr.

»Schon gut.« Tasso sah die Sekretärin auffordernd an.

Die neigte den Kopf und rührte sich nicht von der Stelle.

Tasso seufzte. »Signorina Rosso, Sie stehen noch immer in der Tür. Würden Sie mich bitte durchlassen, damit Signorina Oberhöller und ich uns nach Meran begeben könnten? Ach, und ich brauche die Adresse des Hotels. Ja, Signorina Oberhöller?«

Sie fuhr sich nervös mit dem Finger unter das bunt gemusterte Halstuch. »Ich weiß, wo das Hotel ist, Sig… Tasso. Wir können sofort aufbrechen.«

»Gut, dann so. Ziehen Sie sich warm an. Das meine ich nicht nur wörtlich, weil es nach dem Neuschnee heute Nacht wieder so biestig kalt geworden ist, sondern auch im übertragenen Sinn. Wehe, Sie beschweren sich hinterher, weil Sie einen Tropfen Blut auf Ihrem schicken Kostüm abbekommen, oder fallen am Ende sogar in Ohnmacht. Ich kann mich dann nicht auch noch um Sie kümmern.«

»Aurelio!«

Tasso bekam einen leichten Schlag mit der Krücke gegen seine Kniekehle.

»Na, ist doch wahr.« Er hatte schon einmal erlebt, dass sich ein Anwärter mitten auf einen Tatort übergeben hatte. Auf solche Sauereien hatte er wirklich keine Lust.

»Ich werde mich ganz unauffällig im Hintergrund halten und Ihren Anweisungen Folge leisten.« Mara Oberhöller reckte entschlossen das Kinn. Sie schien sich nicht so leicht einschüchtern zu lassen, das musste Tasso ihr widerwillig zugestehen.

»Ich gehe meinen Mantel holen. Wir treffen uns unten.« Ohne ein weiteres Wort verließ er das Vorzimmer.

Als er wenige Minuten später durch den Haupteingang nach draußen trat, wartete dort schon eine Limousine mit laufendem Motor, ein Alfa Romeo 1900 in repräsentativem Schwarz. Er setzte sich zu Mara Oberhöller auf den Rücksitz. Die junge Frau trug einen dunklen Pelz und hatte ihre modische Kurzhaarfrisur unter einer dazu passenden Mütze verborgen. Tasso tippte auf Nerz. Da sie die Tochter des Bürgermeisters war, war der vermutlich echt.

Der Fahrer war ein junger uniformierter Agente, den Tasso vom Sehen kannte. »Machen Sie es sich bequem!«, rief er fröhlich nach hinten, als er losfuhr. »Wir werden ungefähr eine Stunde benötigen, je nachdem, wie gut die Straße schon geräumt ist.«

»Danke sehr.«

Schneematsch spritzte zu beiden Seiten auf, als der Mann den Wagen beschleunigte. Gedankenverloren starrte Tasso aus dem Fenster. Kaum hatten sie die Stadtgrenze Bozens hinter sich gelassen, breitete sich zu beiden Seiten ein winterliches Märchenland aus. Die weißen Flächen der schneebedeckten Hügel gleißten blendend in der Sonne, dahinter die Berge, deren Flanken sich in verschiedenen Blauschattierungen vom Horizont abhoben. Immer wieder kam neben der Straße die graue Etsch in Sicht, die ungerührt von all den menschlichen Belangen nach Süden floss. Die Apfelbäume und Weinstöcke waren mit dichten weißen Hauben gekrönt, genau wie die Häuser. Die meisten davon waren Hotels und Pensionen, dazu wenige übriggebliebene Bauernhöfe. Es gab kaum einen Betrieb, der nicht mindestens ein paar Fremdenzimmer anbot oder eine Schankwirtschaft führte, um die Einnahmen aus der Landwirtschaft aufzubessern. Das dunkelbraune Gebälk, die Fenster, Holzverblendungen und Balkone der alten Gemäuer stachen malerisch aus all dem Weiß hervor. Dazu waren unzählige kleine dunkle Punkte in die Schneelandschaft getupft. Paare oder Familien, die spazieren gingen oder auf Langlaufskiern und auf Pferden unterwegs waren. Tasso entdeckte in der Ferne sogar eine Schlittenkutsche, die von zwei Haflingern gezogen wurde. Reisende aus aller Welt, die genau dafür herkamen: um den Schnee und die Berge zu genießen.

»Wunderschön, oder?«, meinte Signorina Oberhöller auf Deutsch.

Tasso, die Worte seines Vorgesetzten in Bezug auf Höflichkeit noch im Ohr, schwieg vorsichtshalber.

Sie drehte den Kopf und blickte ihm ohne Scheu geradewegs ins Gesicht. »Finden Sie nicht?«

Er schaute aus dem Seitenfenster. »Nein. No.«

»Wirklich nicht?«

»Ich hasse Schnee.«

Unerwartet lachte sie auf. »Sie hassen Schnee? Im Winter entfalten die Berge doch erst ihren ganzen Zauber!«

»Ich mag auch die Berge nicht sonderlich.« Vielmehr waren sie ihm gleichgültig, solange ihn niemand zwang, auf einen hinaufzumarschieren. Er bevorzugte Wasser, und oft genug vermisste er das Mittelmeer.

»Oh.« Verblüfft schwieg Mara einen Moment lang. »Wo kommen Sie her?«, wagte sie dann zu fragen. Dabei hatte sie ins Italienische gewechselt. Warum, war Tasso schleierhaft.

»Lange Geschichte.«

»Wir haben Zeit.«

»Mit Verlaub, Signorina Oberhöller, aber das geht Sie nichts an.«

Sie presste die Lippen aufeinander und lehnte sich zurück. »Natürlich nicht, da haben Sie recht. Entschuldigen Sie.«

Sie schwieg, was Tasso in diesem Fall ziemlich unangenehm fand. Normalerweise hielt er Schweigen gut aus.

Er öffnete seinen Mantel, denn die Heizung des Wagens hatte inzwischen ihre volle Betriebstemperatur erreicht. Die Scheiben beschlugen, und die Luft wurde stickig. Immer wieder beugte sich der Fahrer nach vorn und wischte mit einem Schwamm über die Frontscheibe.

Tasso räusperte sich. »Sie sprechen ein ausgezeichnetes Italienisch.«

Mara Oberhöller lachte geschmeichelt. »Ich bin Italienerin.«

»Wirklich? Das sagen hier in der Gegend nicht viele von sich.«

Ein merkwürdiger Ausdruck huschte über ihr Gesicht, den Tasso nicht zu deuten wusste. Da lag Verachtung, aber auch Spott in ihrem Blick. Richtete sich das gegen ihn? Wenn nicht, an wen dachte sie gerade? Es dauerte auch nur einen Sekundenbruchteil, und er war sich im Nachhinein gar nicht mehr sicher, ob er da nicht etwas hineininterpretierte.

»Ich möchte Jura studieren«, erklärte sie schließlich. »Ich spreche fließend Deutsch, Italienisch und Englisch. Außerdem habe ich Latein und ein wenig Altgriechisch gelernt. Da ich mich noch nicht entschieden habe, in welcher Stadt ich studieren möchte, brauche ich ohnehin beide Sprachen.«

»Welche Stadt schwebt Ihnen denn vor?«

Jetzt war ihr Blick eindeutig verwundert, als fragte sie sich, ob ihn das wirklich interessiere oder er sich nur die Zeit vertreiben wolle.

»Bologna oder Florenz wären schön. Oder Rom, natürlich. Ah!«

»Was?«

»Sie haben kurz gelächelt, als ich Rom erwähnte. Sie kommen von dort.«

Verärgert wandte er sich ab und rieb mit dem Ellbogen das beschlagene Seitenfenster klar, um hinauszublicken. Dann öffnete er es einen Spaltbreit. Eiskalter Fahrtwind strömte ins Innere. Er atmete verstohlen tief durch. Das fehlte noch, dass er dieser ragazzina von seiner Sehnsucht nach der Ewigen Stadt, der Stadt seiner Kindheit, erzählte.

»Ich möchte mich jedenfalls später in meinem Beruf für die Rechte der Frauen einsetzen«, plapperte Mara Oberhöller weiter.

Tasso verdrehte die Augen. So eine war das, auch das noch. Zugegeben, dass Frauen nicht immer dieselben Rechte wie Männer hatten, fiel gelegentlich sogar ihm auf, aber da ging es doch in der Regel um Kleinigkeiten. Eine Frau konnte heutzutage tun und lassen, was sie wollte. Signorina Bürgermeistertochter war doch das beste Beispiel, sonst säße sie kaum hier neben ihm.

»Wieso machen Sie denn ein Praktikum bei der Polizei, wenn es Sie zur Judikative zieht?«, fragte er rasch, um sich weitere Erklärungen über Frauen und deren angebliche Benachteiligung zu ersparen.

»Es ist nicht ausgeschlossen, sich mit einem Jurastudium um einen Posten bei der Polizei oder im Innenministerium zu bewerben«, erklärte sie fröhlich.

Tasso unterdrückte ein abermaliges Augenrollen. Das Innenministerium? Warum nicht direkt ins Parlament? Mara Oberhöller war entweder extrem ambitioniert oder sehr naiv. Wobei sie insgesamt keinen dummen Eindruck machte. Und zugegeben, ihre Eltern schienen zwar Geld zu haben, und als Bürgermeister verfügte ihr Vater sicher über einen gewissen Einfluss. Aber das hieß nicht, dass die Welt auf Mara Oberhöller gewartet hatte.

»Außerdem«, fuhr sie fort, »war das Brunos Idee. Er hat gemeint, es würde mir nicht schaden, etwas Praxiserfahrung zu sammeln. Ich soll lernen, was die Polizei tun muss, um die Menschen zu verhaften, die ich später zu verurteilen habe. Oder zu verteidigen, je nachdem.«

»Bruno also?«

»Ja, wieso?«

»Sie sind per Du?«

»Verzeihung, ich meine natürlich Dottore Visconti, den Questore.«

»Natürlich.« Tasso konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Der alte Comandante verstand es immer noch, die Leute nach seiner Pfeife tanzen zu lassen. Er besaß die Begabung, anderen Menschen wertvolle Anregungen mit auf ihren Lebensweg zu geben. Dazu waren seine Ratschläge so subtil, dass die meisten hinterher der festen Überzeugung waren, es wäre ihre eigene Idee gewesen. »Wissen Sie, Signorina Oberhöller, jetzt …«

»Bitte nennen Sie mich Mara.«

»Meinetwegen. Jetzt haben Sie unverhofft eine Antwort darauf gefunden, warum ich hier in Alto Adige hocke und nicht im sonnigen Latio. Das ist nämlich auch Brunos Schuld.«

»Capito.« Sie schien von seinem plötzlichen Stimmungswandel überfordert. Tasso hätte selbst nicht erklären können, warum er ihr das verraten hatte.

Sie fächelte sich mit der Hand etwas Luft zu. »Sie sprechen jedenfalls ein recht gutes Deutsch. Für einen echten Italiener.«

Tasso grinste. »Das ist nun wirklich eine andere Geschichte. Sehen Sie, da ist schon die Brücke über die Passer.«

2. Kapitel, in dem Tasso zum ersten Mal ein Nobelhotel betritt und prompt über einen Teppich stolpert

Aurelio Tasso war kein Freund von Pomp und glitzernden Auftritten, doch im Stillen dankte er der weisen Voraussicht des Questore, dass er ihnen diesen großen Wagen statt eines der schlammgrünen Polizeifahrzeuge überlassen hatte. Das Hotel Bellevue strahlte, wie so viele Häuser auf der Freiheitsstraße – oder dem Corso della Libertà –, den Prunk des ausgehenden 19. Jahrhunderts aus, dem zwei Weltkriege nichts hatten anhaben können.

Der Fahrer hielt direkt am Eingang, vor dem ein Mann in einem schwarzen Mantel und mit Pelzmütze auf Gäste wartete. Tasso stieg rasch aus und wollte das Auto umrunden, um Mara die Tür aufzuhalten. Als er sie erreichte, war sie längst ausgestiegen. Sie drückte ihre – überraschend große – Handtasche von Louis Vuitton gegen ihre Brust und murmelte beim Anblick all der Schnörkel und Bögen aus Stuck begeistert vor sich hin.

Tasso knöpfte sich den Mantel zu, der ihm für dieses Ambiente ein wenig zu schäbig vorkam; aber er hatte nur diesen einen.

Rechts und links stand vor zwei den Eingang flankierenden Säulen je ein reich geschmückter Nadelbaum. Gläserne Tannenzapfen und Engel, rote und goldene Kugeln, farblich auf den roten Teppich vor der Tür abgestimmt, glänzten um die Wette.

Der Portier war lautlos an sie herangetreten und wandte sich an Tasso. »Es tut mir leid, für heute bleibt unser Haus geschlossen.«

Tasso zog seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn dem Mann unter die Nase. »Ich kann mir auch schon denken, warum. Würden Sie dem Herrn Direktor bitte Commissario Tasso von der Polizia di Stato aus Bozen ankündigen?«

Verunsichert schaute der junge Mann zu Mara Oberhöller, die sich selbstbewusst neben Tasso gestellt hatte.

»Der Herr Direktor ist heute außer Hause. Folgen Sie mir bitte erst einmal zum Empfang.« Er hielt ihnen die Eingangstür auf.

Sie stiegen einige Stufen hinauf und traten zwischen roten Marmorsäulen hindurch in eine weihnachtlich geschmückte Empfangshalle mit einem langgestreckten Tresen. Kristallleuchter hingen von der Decke und verströmten ein weiches Licht. Überall standen Bodenvasen mit Kiefernzweigen und Ilex oder Amaryllis und Flamingoblumen. Goldgirlanden wanden sich am Rand des Tresens und über den Durchgängen. Von der Decke baumelten fußballgroße Posaunenengel, die aufblitzten, sobald sie sich bei einer Luftbewegung drehten. Auf einer Empore war ein Stall aufgebaut, den halbmetergroße Hirten und Vieh aus Holz bevölkerten. Die Heilige Familie fehlte noch, die Krippe war leer.

Tasso unterdrückte ein Schaudern. Diese ganzen Reize in Gold, Rot und Grün überforderten seine Augen. Hätte ihn ein Raumschiff auf dem Mond abgesetzt, könnte er sich nicht fremder fühlen.

»Vorsicht!« Ein kräftiger Griff packte seinen linken Oberarm, als für einen Moment die Halle vor seinen Augen verschwamm. Schmerz fuhr ihm durch den Knöchel. Doch zwei Hände um seinen Arm bewahrten ihn davor, der Länge nach hinzuschlagen. Er taumelte und fing sich wieder. Sein Blick klärte sich. Stattdessen stieg ihm eine zarte Parfumnote in die Nase.

»Geht es Ihnen gut?«, vernahm er Maras Stimme an seinem Ohr.

Er rieb sich kurz über die Augen, bis er Lichtblitze sah, dann befreite er sich mit einem Ruck aus ihrem Griff. »Ich bin nur über eine Teppichfalte gestolpert, nichts weiter.«

»Na gut.« Sie senkte den Kopf und ließ ihren Blick den Teppich entlangwandern.

Tasso ignorierte das. Da war keine Falte. Natürlich nicht.

Der Portier hatte vor einem Durchgang am Ende des Tresens angehalten und wandte sich ihnen zu. »Wenn Sie bitte einen Augenblick warten würden.«

Was aber gar nicht nötig war, denn bei seinen letzten Worten erschien ein ungefähr dreißigjähriger Mann in Uniform. Mit einem Schaudern registrierte Tasso eine Unmenge von Goldapplikationen. Immerhin war die Kleidung blau, andernfalls hätte der Mann sich als Teil der Dekoration mitten in den Raum stellen können und wäre nicht einmal aufgefallen.

Er stellte sich als Concierge Andrea Colletti vor. Der Schock, den ihm die Nachricht über einen Toten am Morgen nach seinem Dienstantritt beschert hatte, stand ihm noch deutlich ins Gesicht geschrieben.

Tasso zeigte abermals seinen Dienstausweis vor und fragte nach dem Direktor.

Andrea Colletti hob bedauernd die Schultern. »Er ist in einer geschäftlichen Angelegenheit unterwegs. Selbstverständlich wurde er über die Vorkommnisse informiert und befindet sich auf dem Rückweg. Er wird Ihnen aber frühestens heute Abend zur Verfügung stehen.«

Etwas ratlos schaute Tasso sich um. Er gewöhnte sich allmählich an den Eindruck der dekorativ völlig überladenen Empfangshalle. Insgeheim war er froh, den Direktor nicht sprechen zu müssen. Wenn er nicht anwesend gewesen war, während das Unglück geschah, konnte er ihm ohnehin nicht weiterhelfen. Abgesehen von den Beteuerungen, wie schrecklich das alles sei, wäre ein Gespräch somit überflüssig. Das war es meistens. Es diente lediglich dazu, die Unterstützung der Führungsetage sicherzustellen und den hohen Herrn das Gefühl zu geben, wichtig und Teil des Geschehens zu sein. Er würde lieber umgehend die Leiche und den Fundort begutachten.

»Möchten Sie den Toten ansehen?«, fragte Andrea Colletti, als habe er Tassos Gedanken erraten. Sein Adamsapfel hüpfte nervös auf und ab. »Ein Wagen von der Gerichtsmedizin soll bereits unterwegs sein und müsste jeden Augenblick eintreffen, um ihn abzuholen.«

»Sehr gut, ja.« Tasso nahm seinen Hut ab, zog ein Stofftaschentuch hervor und tupfte sich über die Stirn.

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen den Weg.«

Sie wurden zu einem Treppenhaus und in den ersten Stock geführt. Ein weiterer junger Mann in roter Livree stand dort vor einer Tür Wache. Andrea Colletti bedeutete ihm mit einem Wink, den Weg freizugeben, sodass sie einen weitläufigen Raum betreten konnten.

Es handelte sich um eine gemütliche Bibliothek. An einer Seite gab es drei bodentiefe Fenster, davor standen Nierentische mit Sesseln. Die übrigen Wände wurden von Bücherregalen aus schwerem dunklem Holz eingenommen, die bis zur Decke reichten. Weitere Regale ragten in den Raum hinein und teilten ihn in kleinere Abschnitte. Von je einer weißen Christrose auf den Tischen abgesehen war keinerlei Weihnachtsdekoration zu sehen, wie Tasso erleichtert feststellte.

»Habe ich nicht gesagt, dass Sie niemanden hereinlassen sollen?«, schnauzte eine Stimme hinter einem Bücherregal auf der rechten Seite. Schon kam ein hochgewachsener Mann mit silberfarbenem Lockenschopf und in einem Kittel auf sie zugeschossen und hielt abrupt vor Tasso an. Seine wütende Miene wechselte zu einem erfreuten Lächeln. »Commissario Tasso! Ihr Anblick ist das erste Erfreuliche an diesem Morgen.«

»Schön, dass ich mehr hermache als die Leiche, Dottore.« Er wandte sich um. »Mara, das ist Dottore Simone Agnelli. Er wird den Toten untersuchen, um festzustellen, auf welche Weise er ums Leben kam. Dottore, das ist Mara Oberhöller, meine derzeitige Assistentin.«

Dottore Agnelli nahm seine Hornbrille ab und runzelte die Stirn. »Oberhöller? Wie der Bürgermeister?«

Sie deutete einen verlegenen Knicks an. »Das ist mein Vater.«

»Wie …?«

»Bruno Viscontis Idee. Sie kennen ihn doch.« Tasso schob sich ungeduldig an dem Arzt vorbei. »Was können Sie mir denn schon über den Toten verraten?«

Dottore Agnelli folgte ihm und streifte dabei Gummihandschuhe über. »Sehen Sie selbst. Ein Mann um die dreißig, vermutlich bereits seit einigen Stunden tot. Wie mir die Direktion des Hotels verraten konnte, steht dieses Lesezimmer rund um die Uhr offen und wird von der Belegschaft nachts auch nicht großartig kontrolliert. Ich nehme an, dass es ungefähr um Mitternacht passiert ist. Ob er sofort tot war oder im Laufe der folgenden Stunden verblutet ist, kann ich Ihnen erst im Labor sagen.«

Vor Tasso lag bäuchlings und in merkwürdig verkrümmter Haltung ein Mann in einem modisch hell gestreiften Anzug. Über den oberen Teil des Torsos hatte Dottore Agnelli ein schwarzes Tuch ausgebreitet.

»Und wie kommen Sie zu diesen Schlüssen, Dottore?«

»Aufgrund der Körpertemperatur. Und des Blutes; die Spritzer waren bereits getrocknet. Sehen Sie, dort zum Beispiel.« Er deutete auf eine Stelle neben dem Toten. Mit viel Fantasie erkannte Tasso einige dunkelbraune Sprenkel, die genauso gut Teil der Maserung des Holzparketts hätten sein können. Aber wenn Dottore Agnelli das für Blutspritzer hielt, dann waren es welche, daran zweifelte Tasso nicht.

»Heben Sie mal das Tuch an, bitte.«

»Wirklich? Das ist kein schöner Anblick.«

Tasso wandte sich Mara zu, die zögerlich näher getreten war. »Sie wollten sich ein vollumfängliches Bild meiner Arbeit machen, oder? Was meinen Sie?« Er verkniff sich jegliche Gehässigkeit. Immerhin hatte sie vorhin in der Halle seine Behauptung, über den Teppich gestolpert zu sein, weder kommentiert, noch hatte sie eine Szene daraus gemacht. Das rechnete er ihr hoch an. Sie zu schonen fand er zugleich auch nicht richtig.

Sie streckte tapfer den Rücken durch, hob ihre Handtasche und griff hinein. »Wäre es erlaubt zu fotografieren?«

»Wie bitte?« Beide Männer starrten sie verwundert an.

Sie zog eine schwarze Hülle aus Kunstleder aus der Tasche und öffnete den Druckknopf. Eine Leica M2 kam zum Vorschein.

Dottore Agnelli stieß einen anerkennenden Pfiff aus. »Da haben Sie sich aber etwas Feines zugelegt, Signorina Mara.«

Tasso war sprachlos.

Sie neigte den Kopf und lächelte. »Darf ich?«

Der Arzt winkte sie heran. »Ich habe nichts dagegen. Selbstverständlich habe ich bereits selbst Fotos geschossen. Ich wäre sogar neugierig, wie groß der Unterschied zwischen meiner Profiausrüstung und Ihrem Gerät ist. Wenn Sie die Abzüge entwickelt haben, würde ich das sehr gern einmal vergleichen. Ich nehme ja an, dass Sie unseren Commissario nicht nur heute begleiten.«

»Nein. Ich darf bis Ende Januar mitkommen. Und ich stehe für diesen Vergleich sehr gern zur Verfügung.«

Darüber würde noch zu reden sein. Tasso war fassungslos, wie schnell seine Praktikantin den Dottore um den Finger gewickelt hatte. »Jetzt lupfen Sie schon das Tuch!«, verlangte er nachdrücklicher als unbedingt nötig. »Wo sind eigentlich meine Kollegen von der Wache aus Meran?«

»Die habe ich rausgeschickt, damit ich in Ruhe arbeiten kann.« Er hob das Tuch schwungvoll mit beiden Händen an.

»Oddio!« Tasso bekreuzigte sich. Hinter ihm atmete Mara hörbar tief ein.

»Die Männer warten in der Bar des Hotels und haben hoffentlich noch nicht so viel getrunken, dass sie mir nicht gleich noch einmal behilflich sein können, meine Ausrüstung zurück zum Lieferwagen zu bringen. Ist Ihnen nicht gut? Sie sind ganz blass um die Nase.«

Tasso schluckte mehrmals. »Sie haben nicht übertrieben, was diesen Anblick betrifft. Was genau ist dem jungen Mann passiert?«

»Er hat einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf bekommen.«

»Äußerst kräftig, schon klar. Bitte erzählen Sie mir, was ich nicht sehe.« Beiläufig nahm er das Klicken von Maras Kamera wahr.

»Nun, ich habe den Gegenstand, mit dem zugeschlagen wurde, bisher nicht gefunden. Ich nehme an, dass es sich um einen stumpfen Knüppel oder etwas Ähnliches handelt und dass der Täter ihn mitgenommen hat. In der Wunde waren auf den ersten Blick keine Rückstände zu erkennen, daher vielleicht etwas aus Metall. Das prüfe ich im Labor, dann kann ich Genaueres sagen. Vermutlich war es mehr als eine Person, aber auch darüber weiß ich erst mehr, wenn ich die Fingerabdrücke analysiert habe.« Er seufzte und machte eine weit ausladende Geste. »Das hier ist ein öffentlicher Raum. Was glauben Sie, wie viele Dutzend Menschen sich hier normalerweise aufhalten?«

»Ich nehme an, Sie meinen die Frage rhetorisch?«

»Ja. Ist nämlich egal, es sind zu viele. Ich konzentriere mich auf die Spuren auf dem Boden unmittelbar um die Leiche herum und an seiner Kleidung. Wobei Spuren auf Stoffen sehr schwer zu sichern sind. Ich gebe mein Bestes.«

Tasso hatte seinen revoltierenden Magen inzwischen im Griff und kniete sich neben den Toten. Er ignorierte den Anblick des Kopfes so gut wie möglich. »Hat er weitere Verletzungen?«

»Ja. Hier hat er einige Schläge in die Nieren bekommen. Oder Tritte, falls er schon am Boden lag.« Dottore Agnelli lupfte das gestreifte Sakko und enthüllte Blutergüsse auf dem unteren Rücken.