Cool Hunter - Scott Westerfeld - E-Book

Cool Hunter E-Book

Scott Westerfeld

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Beschreibung

Er ist jung, er ist cool, er ist Cool Hunter

Lifestyle, Labels und Logos bestimmen die Welt des siebzehnjährigen Hunter Braque. Als sich der coole Trendscout auf der Jagd nach den neusten Innovationen in die lässige Jen verliebt, gerät er in mysteriöse Verstrickungen: Plötzlich fehlt von seiner Auftraggeberin jede Spur, dafür entdeckt Jen ein Paar absolut megahippe Sneaker in einer leer stehenden Fabrikhalle, die sie begeistert an sich nimmt. Die beiden Trendjäger ahnen nicht, dass sie in eine Falle getappt sind. Denn es geht um die Macht der Marken …

Spannender, actionreicher Thriller mit coolem Schauplatz New York.

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Seitenzahl: 326

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DER AUTOR

Scott Westerfeld wurde in Texas geboren. Er ist Komponist, Software-Designer und Autor zahlreicher renommierter Science-Fiction- und Jugendbücher. Mit seiner Frau, der Autorin Justine Larbalestier, lebt er in New York und Australien.

Inhaltsverzeichnis

DER AUTORKapitel - NULLKapitel - EINSKapitel - ZWEIKapitel - DREICopyright

Kapitel

NULL

Wir sind mitten unter euch.

Ihr kriegt nur nichts von uns mit, weil wir unsichtbar sind. Okay, es gibt welche von uns, die sich ihre Haare vierfarbig färben, Schuhe mit Zehn-Zentimeter-Plateauabsätzen tragen oder so dermaßen zugepierct sind, dass Metalldetektoren am Flughafen zum Problem werden können, und wenn ich so darüber nachdenke, muss ich zugeben, dass wir eigentlich wahrscheinlich so ziemlich das Gegenteil von unsichtbar sind.

Aber uns steht nicht auf die Stirn geschrieben, wer oder was wir sind. Wenn ihr das wüsstet, könnten wir unseren Job auch nicht machen. Wir beobachten und lenken euch, ohne dass ihr etwas davon merkt, und dabei lassen wir euch wie gute Lehrer in dem Glauben, ihr wärt von ganz allein darauf gekommen.

Ihr braucht uns. Jemand muss euch zeigen, wo es langgeht, muss euch formen und dafür sorgen, dass heute pünktlich nach Plan zu gestern wird. Wer weiß, was für einen Blödsinn ihr machen würdet, wenn wir nicht ständig ein wachsames Auge auf alles hätten.

Schließlich ist es nicht so, als könntet ihr plötzlich einfach eure eigenen Entscheidungen treffen.

Stellt sich natürlich die Frage, warum ich das alles hier aufschreibe, wenn wir so ultrageheim sind.

Tja, das ist eine lange Geschichte. Und zwar genau die, die ihr gerade in den Händen haltet.

Sie handelt davon, wie ich Jen kennengelernt habe. Jen ist übrigens keine von uns, aber sie ist auch keine von euch. Sie steht an der Spitze der Pyramide und macht von dort oben aus unbemerkt ihr Ding. Glaubt mir, ihr braucht sie. Wir alle brauchen sie.

Diese Geschichte handelt außerdem von einer Gruppe von Leuten, die sich die Spalter nennen.

Ich bin mir sicher, dass es sie nach wie vor gibt. Ziemlich sicher jedenfalls. Und wenn es sie wirklich noch gibt, haben sie verdammt viel auf dem Kasten und Großes vor. Sie sind unsere Gegenspieler in dieser Geschichte. Diejenigen, die das System stürzen und Leute wie mich überflüssig und zu Lachnummern machen wollen.

Sie sind die, die euch befreien wollen.

Und das Allerkomischste ist – ich glaube, ich bin auf ihrer Seite.

Reicht das als Teaser? Meint ihr, ihr könnt euch lang genug konzentrieren, um euch die Geschichte von Anfang bis Ende reinzuziehen? Seid ihr bereit für den Hauptfilm? Okay. Dann mal los.

Kapitel

EINS

»Kann ich deinen Schuh fotografieren?«

»Hm?«

»Mir geht’s vor allem um die Schnürsenkel. Wie du sie gebunden hast, meine ich.«

» Äh. Ja klar, mach ruhig. Tipptopp, was?«

Ich nickte. Tipptopp war diese Woche das Wort für »cool«, so wie man früher geil oder fett gesagt hat. Und die Schnürsenkel dieses Mädchens waren sehr cool. Sie waren leuchtend rot und auf der einen Seite erst mehrmals durch die mittlere Öse und dann so durch die übrigen Ösen auf der anderen Seite gefädelt, dass eine Art Fächermuster entstanden war. Das Ganze erinnerte ein bisschen an die alte japanische Flagge, auf der die aufgehende Sonne noch Strahlen hat, nur eben auf der Seite liegend.

Ich schätzte sie auf siebzehn, also mein Alter. Graues Kapuzenshirt über Camo-Hose, die Haare so schwarz gefärbt, dass sie da, wo die durch die Bäume fallenden Sonnenstrahlen ihren Kopf trafen, bläulich schimmerten. Die Schuhe waren schwarze Laufschuhe, das Logo des Herstellers mit schwarzem Stoffmarker übermalt.

Eine Innovatorin, dachte ich. Eindeutig. Innovatoren sehen auf den ersten Blick oft wie Logo-Verächter aus, bis man dann näher kommt und das eine Detail bemerkt, auf das sie ihre ganze Energie konzentrieren. Meistens ist es nur ein einziges Element.

Schnürsenkel zum Beispiel.

Ich zog mein Handy aus der Tasche und richtete es auf ihre Schuhe.

Ihre Augen weiteten sich und sie deutete ein anerkennendes Nicken an. Mein aktuelles Handy war das Produkt eines finnischen Unternehmens und wurde ziemlich oft mit diesem Nicken bedacht – einer fast unmerklichen Neigung des Kopfes, die signalisiert: Hey, das hab ich erst neulich in einer Zeitschrift gesehen. Das wollte ich mir bei Gelegenheit auch holen. Natürlich kann das Nicken auch heißen: Jetzt wo ich jemanden gesehen hab, der das Teil tatsächlich besitzt, muss ich es mir aber schleunigst zulegen.

Genau das war der Effekt, den sich das finnische Unternehmen erhofft hatte, als es mir sein neuestes Gerät kostenlos zur Verfügung stellte. Oder anders ausgedrückt: Ich erledigte gerade zwei Jobs gleichzeitig.

Das Handy signalisierte mir den erfolgreich durchgeführten Speichervorgang, indem es mit der Stimme des Vaters einer bekannten und ziemlich gestörten gelben Zeichentrickfamilie »Mhmmmmmm, Schokolade« sagte. Nachdem dieses Soundfile allerdings nicht mit dem Nicken bedacht wurde, machte ich mir sofort eine mentale Notiz, es zu ändern. Homer war anscheinend out.

Ich betrachtete das Foto auf dem Display und prüfte, ob es scharf genug war, um die Schnürung bei Bedarf nachbinden zu können.

»Danke.«

»Keine Ursache.« Ein Hauch von Argwohn mischte sich in ihre Stimme. Was wollte ich mit einem Foto von ihren Schnürsenkeln?

Einen Moment lang herrschte zwischen uns das unbehagliche Schweigen, das häufig folgt, wenn ich gerade irgendeinen Unbekannten auf der Straße gefragt habe, ob ich seine Schuhe fotografieren kann. Man sollte meinen, ich wäre mittlerweile daran gewöhnt.

Ich ließ meinen Blick über den Fluss schweifen. Die Schnürsenkel-Innovatorin war mir im East River Park über den Weg gelaufen – einem schmalen Streifen Rasen plus asphaltiertem Gehweg zwischen dem FDR-Drive und dem Wasser. Einer der wenigen Orte der Stadt, an dem man erkennen kann, dass Manhattan eine Insel ist.

Sie trug einen Basketball unterm Arm, wahrscheinlich hatte sie auf einem der unkrautüberwucherten Plätze unter der Manhattan Bridge Körbe geworfen. Ich war – wie gesagt – zum Arbeiten hier. Auf dem Wasser schipperte so langsam wie der Minutenzeiger einer Uhr ein riesiges Containerschiff an uns vorbei. Am gegenüberliegenden Flussufer lag Brooklyn und sah extrem postindustriell aus. Die Domino-Zuckerfabrik wartete geduldig darauf, in eine Kunstgalerie umgewandelt zu werden oder in Luxusapartments für Millionäre.

Ich wollte lächeln und dann weitergehen, als sie sagte:

»Und was kann es noch?«

»Mein Handy?« Ich setzte automatisch dazu an, eine Liste der vielen Zusatzfeatures abzuspulen, zögerte dann aber. Das war der Teil meines Jobs, der mir keinen Spaß machte (weshalb ihr in diesem Text auch keine Markennamen finden werdet, falls es sich nur irgendwie vermeiden lässt). Also zuckte ich mit den Schultern und gab mir Mühe, mich nicht nach Handyverkäufer anzuhören. »Na ja, 20 Gigabyte Speicher, WLAN, Browser, Kamera mit 14-fach Zoom.«

Sie biss sich auf die Unterlippe und bedachte das Handy wieder mit dem Nicken.

»Nur ein Digitalzoom, kein echter«, gab ich zu. Lügen gehörte nicht zu meinem Job.

»Und telefonieren kann man damit auch?«

»Klar, es …« Ich kapierte, dass sie mich verarschte. »Ja, man kann damit sogar telefonieren.«

Ihr Lächeln war sogar noch besser als ihre Schnürsenkel.

Als Alexander Graham Bell das Telefon erfand, stellte er sich vor, dass alle Menschen im ganzen Land durch einen riesigen Gemeinschaftsanschluss miteinander verbunden wären. Dass wir alle übers Telefon Konzerte hören oder vielleicht auch alle gleichzeitig den Hörer abheben und zusammen die Nationalhymne singen würden. Es kristallisierte sich allerdings ziemlich bald heraus, dass die Leute lieber Zweiergespräche führten.

Die ersten Vorläufer unserer Computer wurden entwickelt, um Marine-Manöver durchzuführen und Geheimcodes zu entschlüsseln. Auch das Internet wurde ursprünglich vom Verteidigungsministerium eingerichtet, um im Falle eines Atomkriegs eine störungsfreie Kommunikation zu ermöglichen. Aber was ist? Die meisten Leute nutzen das Netz, um zu mailen und zu chatten. Zweiergespräche eben.

Das Muster ist klar, oder?

»Ich heiße übrigens Hunter«, sagte ich und lächelte.

»Jen.«

Ich nickte wissend. »Jennifer war in den Siebzigern die Nummer eins auf der Beliebtheitsskala der Mädchennamen und stand in den Achtzigern immer noch auf Platz zwei.«

»Aha.«

»Oh, äh … tut mir leid.« Manchmal langweilen sich die in meinem Gehirn gesammelten Fakten und beschließen, in meinem Mund spazieren zu gehen. Das kommt meistens nicht so gut.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ist schon okay. Es wimmelt nur so von Jennifers. Ich hab schon daran gedacht, meinen Namen zu ändern.«

»In den Neunzigern fiel Jennifer dann auf den vierzehnten Platz ab, wahrscheinlich war der Name einfach zu abgelutscht.« Ich zuckte zusammen, als mir klar wurde, dass ich das laut gesagt hatte. »Dabei finde ich ihn echt schön.«

Puh, gerade noch mal die Kurve gekriegt.

»Ich auch, aber er fängt an zu langweilen, verstehst du? Immer derselbe alte Name …«

»Zeit für ein Rebranding.« Ich nickte. »Klar. Machen alle.«

Sie lachte, und ich stellte fest, dass wir uns unmerklich in Bewegung gesetzt hatten und nebeneinander herschlenderten. Es war Donnerstag und der Park war ziemlich leer. Außer uns waren hauptsächlich Jogger und Hundebesitzer unterwegs, und am Ufer saßen zwei alte Männer, die im Fluss zu angeln versuchten. Wir duckten uns unter ihren in der Sommersonne flirrenden Angelschnüren hindurch. Hinter dem Metallgeländer schwappte der durch ein kleines Motorboot aufgewühlte Fluss gegen den Beton der Uferbefestigung.

»Und wo steht Hunter so?«, fragte sie. »Namensmäßig meine ich.«

»Interessiert dich das echt?« Ich überprüfte ihr Lächeln nach Anzeichen von Hohn und Spott. Nicht jeder kann meine Leidenschaft für das Ranking der beliebtesten Vornamen nachvollziehen.

»Na klar.«

»Okay, an Jennifer kommt er nicht ran, aber er macht sich. Bei meiner Geburt war Hunter noch nicht einmal unter den Top Vierhundert, inzwischen hat er sich einen stabilen zweiunddreißigsten Platz erkämpft.«

»Wow. Dann warst du deiner Zeit also voraus.«

»Könnte man sagen.« Ich warf ihr aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Hatte sie mich womöglich schon durchschaut?

Jen prellte den Basketball einmal fest vor sich auf den Asphalt, und er flog mit einem sirrenden Echo in die Höhe, bevor sie ihn mit ihren langen Fingern auffing. Sie betrachtete einen Moment lang die Nähte und ließ ihn dann vor ihren grünen Augen wie einen Globus um die eigene Achse kreiseln.

»Aber du willst natürlich auch nicht, dass dein Name zu beliebt wird, oder?«

»Nein, das wäre gruselig«, sagte ich. »Man denke nur an die Britney-Epidemie Mitte der Neunziger.«

Jen schüttelte sich und genau in dem Moment meldete sich – wie aufs Stichwort – mein Handy mit der Titelmelodie von einer bekannten Mystery Serie.

»Siehst du?« Ich hielt es in die Höhe. »Man kann sogar angerufen werden.«

»Beeindruckend.«

Auf dem Display las ich shugrrl und das bedeutete Arbeit.

»Hey, Mandy.«

»Hunter? Bist du gerade schwer beschäftigt?«

»Äh, eigentlich nicht. Nein.«

»Kannst du zu einer Coolnessprobe vorbeikommen? Wir haben hier so eine Art Notfall.«

»Jetzt sofort?«

»Ja. Der Klient will am Wochenende einen Spot schalten, ist aber noch nicht ganz überzeugt.«

Mandy Wilkins nannte ihren Arbeitgeber immer nur »Den Klienten«, obwohl sie schon seit zwei Jahren für das Unternehmen arbeitete. Es handelte sich um einen bekannten Sportartikelhersteller, der nach einer griechischen Göttin mit vier Buchstaben benannt ist.

»Ich versuche zusammenzutrommeln, wen ich kann«, sagte sie. »Der Klient will in ein paar Stunden eine endgültige Entscheidung treffen.«

»Was gibt’s dafür?«

»Offiziell nur ein Paar Treter.«

»Ich hab schon zu viele«, sagte ich. Bestimmt einen Koffer voll – und da waren die, die ich verschenkt hatte, noch nicht mal mitgerechnet.

»Und wenn ich noch fünfzig Dollar drauflege? Aus meiner eigenen Tasche? Ich brauche dich, Hunter.«

»Okay, Mandy. Geht klar.« Ich sah zu Jen rüber, die geistesabwesend auf ihrem eigenen Handy herumdrückte und irgendwie ein bisschen frustriert wirkte, vielleicht weil es schon so alt war (mindestens sechs Monate). Ich traf spontan eine Entscheidung.

»Kann ich noch jemanden mitbringen?«

»Äh … klar. Je mehr wir sind, desto besser. Aber ist derjenige auch … du weißt schon?«

Jen hob plötzlich den Kopf, sah mich an und verengte die Augen. Sie hatte wohl gemerkt, dass über sie geredet wurde. Die Sonne ließ ihre Haare noch bläulicher schimmern. Erst jetzt bemerkte ich, dass sie ein paar dünne Strähnen purpurrot gefärbt hatte, die unter der schwarzen Haarschicht verborgen lagen und nur aufblitzten, wenn der Wind ihre Haare zauste.

»Ja. Auf jeden Fall.«

»Was für eine Probe?«

»Eine Coolnessprobe«, wiederholte ich. »Aber so nennen das bloß Mandy und ich. Offiziell heißt so eine Veranstaltung ›Fokusgruppe‹.«

»Und worauf liegt der Fokus?«

Ich nannte ihr den Namen des Klienten, der nicht mit dem Nicken quittiert wurde.

»Ich weiß schon«, seufzte ich. »Aber du kriegst dafür ein Paar Schuhe geschenkt und fünfzig Dollar.« Als ich das sagte, fragte ich mich, ob Mandy für Jen auch Geld springen lassen würde. Na ja, wenn nicht, konnte Jen meinen Fünfziger haben. Ich hatte sowieso nicht mit der Kohle gerechnet.

Aber warum wollte ich sie eigentlich dabeihaben? Normalerweise reagieren wir in meiner Branche eigentlich eher empfindlich auf potenzielle Konkurrenten. Das ist ähnlich wie in der Politik, wo auch zu viele Leute um zu wenige Posten rangeln und jeder, der den Job noch nie gemacht hat, sich einbildet, er wäre besser als alle anderen.

Jen zögerte. »Das hört sich irgendwie komisch an.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Es ist bloß ein Job. Du wirst dafür bezahlt, dass du deine Meinung sagst.«

»Und wir schauen uns Schuhe an?«

»Wir schauen uns einen Werbespot an. Eine Minute Kino für fünfzig Dollar.«

Sie blickte in die Strömung des Flusses und beriet sich zwei Sekunden lang mit sich selbst. Ich wusste, was ihr durch den Kopf ging. Beuten die mich aus? Verkaufe ich meine Seele? Ist das nicht totaler Beschiss? Ein Trick? Wer interessiert sich überhaupt für das, was ich denke?

Alles Gedanken, die ich mir selbst schon gemacht hatte.

Sie zuckte mit den Schultern. »Hey. Fünfzig Dollar.«

Ich atmete aus und merkte erst in diesem Moment, dass ich die Luft angehalten hatte. »Genau so sehe ich das auch.«

Kapitel

ZWEI

Auf der Coolnessprobe waren neben ein paar unbekannten Gesichtern die üblichen Verdächtigen versammelt. Antoine und Trez, die beide bei Dr. Jay’s, einem Laden für Streetwear in der Bronx, arbeiteten. Hiro Wakata, der sich sein Brett unter den Arm geklemmt und einen Kopfhörer um den Hals hängen hatte, der groß genug war, um von einem dieser Menschen getragen zu werden, die auf dem Rollfeld mit orangen Leuchtstäben Flugzeuge einweisen. Die Silicon-Alley-Crew, angeführt von Lexa Legault, die eine schwarze Nerd-Brille auf- und einen hauchdünnen Laptop mithatte (das Produkt eines bekannten Computerherstellers, der nach einer Obstsorte benannt ist). Außerdem Vivienne de Winter, die sich von der Fifth Avenue in den Slum herüberbequemt hatte, sowie Tina Catalina, auf deren pinkfarbenem T-Shirt ein englischer Spruch stand, der eindeutig von jemanden verfasst worden war, der nur Japanisch sprach. Alles junge, hippe Stadtmenschen wie aus der Kartei einer Castingagentur.

Ich fühlte mich auf den Treffen der Fokusgruppe immer ein bisschen deplatziert. Die meisten Leute meines Alters geben ihre Meinung umsonst preis und freuen sich fast tot, wenn sich überhaupt jemand dafür interessiert, weshalb sie es niemals in den erlauchten Kreis der bezahlten Fokusgruppenteilnehmer schaffen. Dementsprechend waren Jen und ich auch die Jüngsten im Raum. Verglichen mit den anderen fielen wir auch klamottenmäßig extrem auf. Jen trug ihren Innovatorinnen-Look und ich meinen Cool-Hunter-Tarnanzug. Mein labelloses T-Shirt hatte die Farbe von getrocknetem Kaugummi, meine Kordhose war grau wie ein Regentag und der Schirm meiner Basecap (Mets, nicht Yankees) zeigte schnurgerade nach vorn. Wie ein Spion, der sich möglichst unauffällig unter die Menge mischt, oder wie jemand, der sich in seine ausgedientesten Klamotten wirft, um seine Wohnung zu streichen, vermied ich es, mich für die Treffen der Fokusgruppe cool anzuziehen. Man geht ja auch nicht betrunken zu einer Weinprobe.

Antoine knallte mit seinem üblichen Spruch »Hey, Hunter – alles klar, Mann?« seine Faust auf meine, während er Jen abcheckte. Er verzog kurz das Gesicht, als er den Basketball unter ihrem Arm bemerkte, den er offensichtlich für einen zu verkrampften Versuch hielt, Street Cred vorzutäuschen. Als sein Blick auf ihre Schuhe fiel, zog er allerdings respektvoll die Brauen hoch.

»Nicht unschick, die Schnürsenkel.«

»Die hab ich aber zuerst gesehen«, informierte ich ihn.

Ich hatte das Foto schon an Mandy gemailt, aber wenn Antoine sich die Schnürsenkel zu genau ansah, würde sich die Schnürtechnik wie ein hochansteckender Grippevirus in der ganzen Bronx ausbreiten. Das heißt, falls man dort aus irgendeinem Grund nicht immun dagegen war – so genau ließ sich das nämlich nie vorhersagen.

Antoine hob beschwichtigend die Hände und vermied es anschließend, den Blick unterhalb von Jens Waden zu senken.

Ehrenkodex unter Dieben.

Wieder fragte ich mich, warum ich Jen eigentlich mitgenommen hatte. Um sie zu beeindrucken? Viel wahrscheinlicher war, dass sie extrem unbeeindruckt sein würde. Um die anderen zu beeindrucken?

Aber wen interessierte deren Meinung schon? Okay, mal abgesehen von einer Handvoll multimilliardenschwerer Unternehmen und fünf oder sechs Trendmagazinen.

»Oh. Neue Freundin, Hunter?« Auch Vivienne Von-und-Zu unterzog Jen einer eingehenden Musterung, allerdings tat sie es auf eine vollkommen andere Weise – ihre blauen Augen glitten kühl über Jens Outfit. Vivienne selbst trug ein schwarzes Kleid, eine schwarze Handtasche und schwarze Wedges, jedes Teil besaß Vor- und Nachnamen, die als verschlungene Initialen aus Goldblech dezent daran befestigt waren, und stammte wie sie selbst von der Fifth Avenue. Sie ersparte mir die Mühe einer Antwort. »Ach, ich vergaß. Es gab ja gar keine alte.«

»Jedenfalls keine, die so alt gewesen wäre wie du«, sagte Jen wie aus der Pistole geschossen.

Hiro stieß einen Pfiff aus, wirbelte quietschend einmal um die eigene Achse und gab damit das Signal zum Arbeitsbeginn. Ich zog Jen auf die Stuhlreihen am anderen Ende des Konferenzraums zu, mitten hinein in Mandys Schutzzone und außer Reichweite von Viviennes luxusmanikürten Hundert-Dollar-Krallen (pro Hand).

»Hey, Hunter. Schön, dass du’s geschafft hast.« Mandy war von Kopf bis Fuß in rot-weiße Klamotten des Klienten gekleidet, auf denen sein berühmtes geschwungenes Logo prangte. Sie starrte stirnrunzelnd auf ein Schaltbrett mit verschiedenen Knöpfen, dessen raumschiffartige Komplexität sie etwas einzuschüchtern schien.

Als sie versuchsweise einen der Knöpfe drückte, surrten schwarze Vorhänge zu und versperrten den Panoramaausblick vom sechzigsten Stock auf den Central Park. Einen zögernden Fingerdruck später glitten hölzerne Schiebewände zur Seite und enthüllten einen überdimensionierten Fernseher, der wahrscheinlich mehr kostete als ein Van Gogh, aber wesentlich flacher war.

»Hi. Das hier ist Jen.«

»Coole Schnürsenkel«, meinte Mandy, ohne sich die Mühe zu machen, auf Jens Schuhe zu schauen. Ich erhaschte einen Blick auf ihr Brett, auf dem ein Ausdruck des Fotos klemmte, das ich ihr gemailt hatte – die innovative Schnürtechnik stand also kurz davor, demnächst in Massenproduktion zu gehen. Während ich Jen eilig zu den Stühlen zog, flüsterte ich: »Sie findet dich gut.«

»Und ich finde alles ziemlich seltsam hier.«

»Was du nicht sagst.«

Vivienne Von-und-Zu, die kürzlich die große Zwei mit der Null dahinter erreicht hatte, schaffte es, den Mund zu halten, als das Licht langsam ausging.

Der Spot spielte in der üblichen Fantasiewelt des Klienten. Es war später Abend, es regnete, alles war von schimmernder Nässe überzogen, und in sämtlichen Metalloberflächen spiegelten sich blaue Lichtreflexe. In schnellen Schnitten wurden zum Beat eines von einem deutschen DJ geremixten Songs, der älter war als Vivienne, drei extrem gut aussehende, die Kleidung des Klienten tragende junge Menschen gezeigt, die offensichtlich in den Feierabend starteten. Selbstverständlich war dem Zuschauer sofort klar, dass sie alle unglaublich coole Jobs hatten. Einer der Typen raste auf einem chromblitzenden Motorrad davon, der andere trat in die Pedale eines Rennrads mit mindestens fünfzig Gängen und die Frau joggte in ihren Laufschuhen durch Pfützen, in denen sich »DON’T WALK«-Zeichen spiegelten.

»Okay, verstehe. Nicht gehen. Rennen!«, flüsterte Jen.

Ich kicherte. Die Sprache des Klienten bestand zwar nur aus ungefähr zwölf Wörtern, aber die beherrschte dafür jeder fließend.

Die drei gut aussehenden jungen Erfolgsmenschen strebten, aus unterschiedlichen Richtungen kommend, alle dieselbe coole Bar an, die aussah wie eine Mischung aus einer Fabrik für Plüschsofas und einem Operationssaal. Sie bestellten bernsteinfarbenes Bier in Gläsern ohne Markenaufdruck und strahlten vor Begeisterung darüber, sich hier getroffen zu haben. Auf ihrer dynamischen Reise durch die Fantasiewelt hatten sie sichtlich Energie und Lebensfreude getankt.

»Bewegung macht Spaß«, flüsterte ich.

»Spaß ist gut.« Jen nickte.

Der Spot kam zu einem fulminanten Ende, als unsere drei Helden ihr Bier unberührt stehen ließen und spontan beschlossen, wieder rauszugehen, weil sie erkannten, dass sie viel mehr Lust hatten, sich gemeinsam weiterzubewegen. Ich fragte mich nur, wie sie das machen wollten – würde die Frau neben dem Motorrad und dem Fahrrad herjoggen oder was? Egal.

Das Licht ging wieder an.

»Also?« Mandy breitete die Arme aus. »Was halten wir von ›Don’t Walk‹?«

Ja, ihr habt richtig gelesen. Werbespots bekommen tatsächlich richtige Titel, als wären sie kleine Kinofilme. Allerdings kennen diese Titel nur diejenigen, die sie drehen, und Leute wie ich.

»Das Motorrad passt«, sagte Tina Catalina. »Japanische Straßenmaschinen sind wieder angesagt.«

Mandy sah Hiro Wakata, den Meister aller fahrbaren Untersätze, fragend an. Als er nickte, hakte sie zufrieden ein Kästchen auf ihrem Klemmbrett ab. Ich hatte geglaubt, amerikanische Maschinen wären angesagt, aber die Motorradgurus hatten offensichtlich anders entschieden.

»Der Track ist ziemlich steil«, fand Lexa Legault, was von den übrigen Cyber-Geeks mit einem Nicken bestätigt wurde. Der deutsche DJ hatte ihr Okay.

»Die Schuhe gehn auch klar«, sagte Trez in die darauf folgende kurze Stille hinein. Er und Antoine hatten sie mit Sicherheit schon vor Monaten abgenickt. Schuhe, die es in der Bronx nicht schafften, wurden nach Sibirien, nach New Jersey oder in eine ähnlich abgelegene Gegend verschickt.

Abgesehen davon ging es bei dieser Coolnessprobe aber gar nicht um die Schuhe, sondern darum, ob die vielen kleinen Elemente der Fantasiewelt in sich stimmig waren.

»War das in der Schlussszene etwa das ›Plastique‹?«, fragte Vivienne Von-und-Zu mit gerümpfter Nase. »Der Laden hat nämlich schon im April sein Verfallsdatum erreicht.«

Mandy warf einen Blick auf ihr Klemmbrett. »Nein, das war ein Club in London.«

Vivienne kniff die Lippen zusammen. Der Klient war gewitzt genug, die Straßenszenen in New York zu drehen und die Innenszenen in einer ganz anderen Trendmetropole. Es durfte auf keinen Fall zu viel Realität in die Fantasiewelt einsickern. Die Wirklichkeit altert zu schnell.

»Dann hat uns der Spot also gefallen?«, fragte Mandy in die Runde. »Oder hat sich für euch irgendwas falsch angefühlt?«

Sie sah sich erwartungsvoll um. Cooles zu entdecken, war nur die eine Hälfte unseres Jobs. Der wichtigere Teil bestand darin, Uncooles aufzuspüren, bevor es schlimme Folgen haben konnte. In der Beziehung ähnelte der Klient einem Rennfahrer, der lieber mal eine Runde nicht der Schnellste ist, als zu riskieren, einen Unfall zu bauen und in Flammen aufzugehen.

Niemand sagte etwas, und Mandy wollte ihr Klemmbrett gerade bestens gelaunt auf dem Tisch ablegen, als Jen sich meldete. »Mich hat die Fehlende-schwarze-Frau-Konstellation ein bisschen gestört«

Mandy blinzelte. »Die was?«

Jen zuckte unbehaglich mit den Schultern und schien zu spüren, dass alle Augen plötzlich auf sie gerichtet waren.

»Ja, ich weiß, was du meinst«, behauptete ich, obwohl ich keinen blassen Schimmer hatte.

Jen holte langsam Luft und ordnete ihre Gedanken. »Na ja, der Motorradfahrer war schwarz. Der Typ auf dem Rennrad war weiß. Die Frau war auch weiß. Das ist die klassische Zusammensetzung. Man hat das Gefühl, dass jeder in dieser Gruppe vertreten ist, oder? Aber das stimmt nicht. Es war keine schwarze Frau dabei. Ich nenne das die ›Fehlende-schwarze-Frau-Konstellation‹. Die gibt’s öfter.«

Einen Moment lang herrschte absolute Stille, aber es war deutlich zu spüren, dass sämtliche Hirne fieberhaft arbeiteten. Nach einer Weile stöhnte Tina Catalina auf, als hätte sie eine Erleuchtung. »Stimmt! Bei ›The Mod Squad‹, dieser Copserie aus den Siebzigern, ist es auch so!«

»Du hast recht«, sagte Hiro. »Oder in …« Er nannte eine bekannte Filmtrilogie über Cyberrealität und Zeitlupen-Kung-Fu, deren Name auf x endet und ein geschütztes Markenzeichen ist, weshalb ich ihn auf diesen Seiten nicht nennen werde.

Damit war der Damm gebrochen. Die Titel diverser Comics, Bücher und Fernsehserien wurden in den Raum gerufen und ein Dutzend bis zum letzten Byte mit Daten gefüllte popkulturelle Erinnerungsspeicher nach Beispielen für die Fehlende-schwarze-Frau-Konstellation durchforstet, bis Mandy aussah, als würde sie gleich anfangen zu heulen.

Sie knallte das Klemmbrett auf den Tisch.

»Hätte ich das etwa wissen müssen?«, fragte sie scharf und sah finster von einem zum anderen. Unglückliches Schweigen senkte sich über den Konferenzraum. Ich fühlte mich wie in einem der Filme über diesen britischen Geheimagenten, dessen Name aus drei Ziffern besteht: Als wäre ich der Assistent des genial-verrückten Bösewichts und hätte gerade einen üblen Fehler begangen. Ich erwartete fast, Mandy würde jeden Moment einen Knopf auf ihrem Schaltbrett drücken, um Jen und mich mitsamt unseren Stühlen durchs Fenster in einen der Seen im Central Park zu katapultieren.

Antoine rettete uns vor den Piranhas. »Tja.« Er räusperte sich. »Also ich hab noch nie was von diesem Fehlende-schwarze-Frau-Dings gehört.«

»Ich auch nicht«, sagte Trez.

Lexa Legault, die – ihren Laptop auf dem Schoß – hektisch vor sich hin getippt hatte, blickte auf. »Im Netz kann ich nichts dazu finden. Keine relevanten Treffer bei …« Sie nannte eine bekannte Suchmaschine, die nach einer sehr, sehr großen Zahl benannt ist.

»Das ist ja auch kein stehender Begriff«, sagte Jen. »Bloß so eine private Beobachtung von mir.«

»Hallo? Wer schaut denn heutzutage noch ›The Mod Squad‹?« Vivienne Von-und-Zu verdrehte die Augen und bedachte Jen mit einem besonders verächtlichen Blick. Es bereitete ihr sichtlich Genugtuung, dass wir Welpen an unseren Platz verwiesen worden waren.

Mandys Gesichtsfarbe begann sich wieder etwas zu normalisieren. Es handelte sich also nicht um ein welterschütterndes neues Konzept, das der Klient durch ihre Unachtsamkeit verpasst hatte, sondern nur um einen Gedanken, der heute zum ersten Mal laut gedacht worden war.

Als alle sich zum Gehen wandten und Mandy mir das Honorar gab (auch für Jen, wie sich herausstellte), war ihr Blick trotzdem sehr kühl, und ich begriff, dass ich mich in Schwierigkeiten gebracht hatte. Hier in diesem Raum war eine Idee in die Welt gesetzt worden, die sich gnadenlos verbreiten würde. Die Zeit der Suchmaschinen-Anonymität war für die FSF-Konstellation bald vorbei. Der Klient würde eine Woche Zeit haben, seinen Spot zu senden und ihn dann schleunigst wieder abzusetzen, bevor Jens radikal neue Wortschöpfung ihn so alt aussehen lassen würde wie eine Polizeiserie aus den Siebzigern.

Mandys Blick sagte mir, dass ich einen unverzeihlichen Fehler begangen hatte.

Ich hatte eine Innovatorin zu einer Coolnessprobe mitgenommen, auf der nur Trendsetter zugelassen waren.

Kapitel

DREI

An der Spitze der Pyramide stehen die Innovatoren.

Leute, die als Erste mit irgendeiner neuen Idee um die Ecke kommen: zum Beispiel ihren Geldbeutel an eine lange, grobgliedrige Kette zu hängen. Absichtlich in viel zu weiten, fast unter dem Arsch hängenden Hosen rumzulaufen. Ihre Jeans mit Kalkreiniger zu waschen. Eine Sicherheitsnadel durch ihre Klamotten zu stecken. Ein Kapuzenshirt unter ihrer Lederjacke anzuziehen. Leute wie der sagenumwobene erste Basecap-Träger, der darauf kam, den Schirm nach hinten zu drehen.

Dabei sehen die meisten Innovatoren noch nicht mal besonders cool aus, jedenfalls nicht im modischen Sinn. Irgendetwas an ihnen wirkt immer ein bisschen unstimmig, so als würden sie sich in dieser Welt nicht sonderlich wohlfühlen. Im Grunde sind Innovatoren Logo-Verächter, die versuchen, mit den zwölf Grundkleidungsstücken auszukommen, die nie in Mode waren beziehungsweise nie aus der Mode kommen werden.

Und doch gibt es an jedem Innovator ein Detail – so wie die Schnürsenkel bei Jen –, das hervorsticht. Etwas in dieser Form noch nie Dagewesenes.

Auf der darunter liegenden Stufe der Pyramidenhierarchie stehen die Trendsetter. Ein Trendsetter hat den Ehrgeiz, der zweite Mensch auf der Welt zu sein, der sich mit dem neuesten Virus ansteckt. Er hält ständig die Augen nach Innovationen offen und ist allzeit bereit, sofort auf einen Zug aufzuspringen. Viel entscheidender aber ist, dass Trendsetter von anderen Menschen beobachtet werden. Im Gegensatz zu den Innovatoren sind sie cool, wodurch die Innovation, die sie aufgreifen, automatisch cool wird. Die wichtigste Aufgabe eines Trendsetters ist die Wächterfunktion. Er ist der Filter, der die wahren Innovatoren von den Spinnern trennt, die sich Klamotten aus Mülltüten basteln. (Wobei ich mal gehört hab, dass es in den Achtzigern tatsächlich ein paar Trendsetter gegeben haben soll, die in Mülltüten rumliefen. Dazu sage ich lieber nichts.)

Auf der nächsten Stufe stehen die sogenannten »Frühen Übernehmer«.

Frühe Übernehmer besitzen immer das neueste Handy, stöpseln sich den neuesten MP3-Player ins Ohr und haben den Trailer des neuesten Films schon ein Jahr vor dem Kinostart aus dem Netz runtergeladen. (Die Abstellkammern der Frühen Übernehmer füllen sich im Laufe der Jahre mit Dinosaurierelektronik: Betamax-Videorekordern, Laser Discs, Acht-Spur-Tonbandgeräten.) Sie testen einen Trend, loten ihn aus und schleifen seine Ecken und Kanten ab. Ein ganz wesentlicher Unterschied zu den Trendsettern besteht darin, dass Frühe Übernehmer die Objekte ihrer Begierde in Zeitschriften entdecken, nicht auf der Straße.

Noch ein Stück weiter unten stehen die Konsumenten. Das sind die Leute, die ein Produkt im Fernsehen, in zwei Kinofilmen, fünfzehn Printwerbungen und auf einem riesigen Regal im Einkaufszentrum gesehen haben, bevor sie sagen: »Hey, das Teil ist ziemlich cool.«

Was es zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr ist.

Ganz zuletzt kommen die »Stehengebliebenen«. Irgendwie mag ich sie. Hoch erhobenen Hauptes tragen sie ihre Vokuhila-Frisuren spazieren und widersetzen sich tapfer jeder Veränderung – zumindest jeder, die stattgefunden hat, seit sie die Highschool abgeschlossen haben. Einmal alle zehn Jahre packt sie leichtes Unbehagen, wenn sie merken, dass ihre braunen Lederjacken mit den breiten Revers für kurze Zeit cool werden. Aber sie stopfen sich ihr Kiss-T-Shirt in die Jeans und marschieren wacker weiter.

Die unausgesprochene Regel lautete, dass zu den Fokusgruppen bei Mandy ausschließlich Trendsetter zugelassen waren. Oder jedenfalls Leute, die Trendsetter gewesen waren, bevor Mandy sie engagiert hatte. Keine Ahnung, was man wird, sobald man Geld dafür bekommt, trendy zu sein. Ein Cool Hunter? Ein Marktforscher? Ein Trickbetrüger?

Eine Witzfigur?

Aber Jen war ganz bestimmt keine Witzfigur, auch wenn sie für ihre Meinung bezahlt worden war. Sie war eine Innovatorin. Und ich hätte damit rechnen müssen, dass sie die Todsünde begehen würde, einen eigenständigen Gedanken zu äußern.

»Hast du jetzt meinetwegen Ärger bekommen?«, fragte sie mich, sobald wir wieder auf der Straße standen.

»Nö«, sagte ich. (Nö ist Hunter-Sprech für Ja.)

»Ach komm. Ich hab doch gesehen, dass Mandy vor Wut fast ihren Schnuller ausgespuckt hätte.«

Ich musste über den Vergleich grinsen. »Okay. Ja, ich hab deinetwegen Ärger bekommen.«

Jen seufzte und starrte auf den mit eingetretenen Kaugummis gesprenkelten Asphalt. »Das passiert mir ständig.«

»Was passiert dir ständig?«

»Dass ich die falschen Sachen sage.« In ihre Stimme mischte sich eine Spur von Traurigkeit, was ich auf keinen Fall zulassen konnte.

Ich holte einen wortschwallgroßen Atemzug. »Du meinst, dass du jedes Mal, wenn du mit Leuten zusammen bist und alle sich einig sind, dass irgendein neuer Film oder eine neue Band total genial ist, das dringende Bedürfnis hast, zu sagen, dass der Film oder die Band total scheiße ist – weil es nun mal die Wahrheit ist – und plötzlich starren dich alle entgeistert an?«

Jen blieb abrupt vor einem der riesigen Schaufenster des NBA-Stores stehen. Ich blinzelte in die von grellen Scheinwerfern angestrahlte überwältigende Ansammlung von Basketball-Devotionalien der diversen Teams.

»Ja, kann sein«, sagte sie zögernd. »Ich meine … ja, genau so ist es.«

Ich lächelte. Ich bin in meinem Leben schon so manchem Innovator begegnet. Diese Leute haben kein leichtes Schicksal. »Und weil deine Freunde damit nicht klarkommen, hältst du lieber von vornherein die Klappe?«

»Das ist ja das Problem.« Sie drehte sich um und wir bewegten uns durch das Feierabendgewühl weiter Richtung Downtown. »Das mit dem Klappehalten krieg ich irgendwie nicht hin.«

»Ist doch gut so.«

»Aber genau deswegen hast du jetzt Stress bekommen, Hunter. «

»Na und? Dass du das gesagt hast, ändert doch nichts. Den Spot hätte man aus Zeitmangel sowieso nicht noch mal neu drehen können. Es wäre viel schlimmer gewesen, wenn du gesagt hättest, das T-Shirt von dem Radfahrer wäre nicht eng genug gewesen. Dann hätten die wirklich was unternehmen müssen.«

»Toll, jetzt fühl ich mich gleich besser.«

»Jen, mach dir keinen Kopf deswegen. Du warst die Einzige, die was Interessantes gesagt hat. Wir haben alle schon Hunderte von diesen Coolnessproben mitgemacht. Vielleicht haben wir im Lauf der Zeit einfach den nötigen Biss verloren.«

»Vielleicht gab’s in eurer Fokusgruppe auch eine Fehlende-schwarze-Frau-Konstellation. «

»Im Ernst?« Ich guckte zu dem Wolkenkratzer hoch, den wir vor ein paar Minuten verlassen hatten, und ließ die Gesichter der anderen Teilnehmer vor meinem geistigen Auge Revue passieren: Alle Stadtteile New Yorks, alle Trendgruppen und sämtliche Wahlkreise waren repräsentiert gewesen. Ich setzte jeden Einzelnen an seinen Platz im Coolness-Diagramm. Einer blieb leer.

Jen hatte recht. Die Fokusgruppe war eine einzige massive Fehlende-schwarze-Frau-Konstellation gewesen. »Das ist mir gar nicht aufgefallen.«

»Wirklich nicht?«

»Wirklich nicht.« Ich musste lachen. »Aber dann ist es doch noch besser, dass du was gesagt hast. Vielleicht war es nicht das, was Mandy hören wollte, aber definitiv etwas, das sie hören sollte.«

Jen schwieg, als wir die Treppe zur U-Bahn runtergingen, unsere Tickets in die Automaten steckten und uns durchs Drehkreuz schoben.

Auf dem Bahnsteig herrschte um diese Zeit dichtes Gedrängel. Wir standen uns gegenüber, eingequetscht zwischen Anzugträgern, die ihre Jacketts in der Sommerhitze über einen Arm gehängt, und Frauen in Businesskostümen, die ihre hochhackigen Pumps gegen Turnschuhe getauscht hatten. (Welche Innovatorin wohl als Erste auf diese Idee gekommen ist? Jedenfalls hat sie eine Menge malträtierte Füße gerettet.) Jen schaute immer noch auf den Boden, aber ich bemerkte, dass sich ihr Gesichtsausdruck geändert hatte. Ihre gerunzelte Stirn verriet, dass dahinter schwer nachgedacht wurde. Mir kam flüchtig der Gedanke, dass sie wahrscheinlich eines dieser Mädchen war, die kleinen Kindern in der U-Bahn Grimassen schnitt, wenn deren Eltern nicht hinschauten. Und zwar richtig gute Grimassen.

Jen zog die Nase kraus, weil es in dem stickigen U-Bahn-Tunnel ziemlich abartig roch. »Aber hast du nicht gerade eben noch gesagt, dass es nichts ändern wird?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Nicht was ›Don’t Walk‹ betrifft. Aber vielleicht wird beim nächsten Spot …«

Mein Handy klingelte. (In der U-Bahn! Selbst auf die Gefahr hin, Schleichwerbung zu machen, muss ich zugeben, dass die Jungs aus Finnland echt gute Handys herstellen.)

Ich schaute aufs Display: shugrrl.

Sie verliert keine Zeit, dachte ich.

Und während ich auf das Handy starrte und mir ziemlich sicher war, meinen Job los zu sein, stellte ich komischerweise fest, dass mir der Job, die Kohle und die Gratisschuhe egal waren. Mich ärgerte bloß, dass Jen alles mitkriegen und sich gleich wieder total mies fühlen würde, weil ich ihretwegen meinen wichtigsten Klienten verloren hatte.

»Hi, Mandy.«

»Ich hatte gerade eine Konferenzschaltung. Der Spot geht am Wochenende so raus. Keine Änderungen.«

»Gratuliere.«

»Ich hab das, was du und deine Freundin gesagt haben, an den Klienten weitergegeben.«

Ich hatte schon den Mund geöffnet, um sie darauf hinzuweisen, dass das Ganze nicht meine Idee gewesen war, klappte ihn aber wieder zu. Das hätte jetzt auch nichts mehr gebracht.

»Sie waren fasziniert«, sagte Mandy.

Unser Gespräch wurde für zehn Sekunden unterbrochen, weil auf dem anderen Gleis ein Zug an uns vorbeiraste. Jen warf mir einen fragenden Blick zu, den ich mit einem ratlosen Schulterzucken erwiderte.

Der Zug verschwand ratternd in der Tunnelöffnung.

»Fasziniert im Sinne von sauer? Fasziniert im Sinne von, sie haben schon einen Killer auf mich angesetzt?«

»Fasziniert im Sinne von interessiert, Hunter. Sie fanden es gut, dass jemand mal einen originellen Gedanken äußert.«

»Hey, Mandy, kein Grund, persönlich zu werden. Ich werde bloß dafür bezahlt, Fotos für euch zu schießen.«

»Ich meine es ernst. Sie fanden das, was ihr gesagt habt, interessant.«

»Aber nicht interessant genug, um den Spot zu ändern.«

»Nein, Hunter. Nicht interessant genug, um einen Zwei-Millionen-Dollar-Spot neu zu drehen. Aber es gibt da eine andere Geschichte, bei der sie Unterstützung gebrauchen könnten. Eine Angelegenheit, die eigenständiges Denken erfordert.«

»Ach ja?« Ich warf Jen einen verwirrten Blick zu. »Um was für eine Angelegenheit handelt es sich denn?«

cbt ····· C. Bertelsmann Taschenbuch Der Taschenbuchverlag für Jugendliche Verlagsgruppe Random House

Für die Innovatoren.Ihr wisst, wer ihr seid.

1. Auflage Deutsche Erstausgabe März 2010 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

© 2004 der Originalausgabe bei Scott D. Westerfeld

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel »So Yesterday« bei Razorbill in der Penguin Group, New York

© 2010 für die deutschsprachige Ausgabe bei cbt/cbj Verlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH, München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Übersetzung: Katarina Ganslandt und Anja Galić Umschlagabbildung: Gettyimages\Photographer’s Choice\ Hiroyuki Matsumoto Umschlagkonzeption: Zeichenpool, München st · Herstellung: AnG Satz: dtp im Verlag · AnG

eISBN 978-3-641-06069-5

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