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In der Welt von Corio regiert eine geheimnisvolle Kraft, die unvorsichtige Seelen hinaus in die Leere verschleppt. Nur im Zentrum der Welt, sind die Kräfte so schwach, dass sich die Kultur der Mittleren dort niederließ. Die humanoiden Krusten-tiere verteidigen ihre ummauerte Oase mit ihrem Leben. Eines Tages landet plötzlich ein Fremdling auf dem Eis und warnt vor einer riesigen Katastrophe - die Mittleren sollen umsiedeln, und zwar sofort ...
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Seitenzahl: 295
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Auf einem Planeten im ewigen Eis Auf einer Insel, die keiner weiß
Im Zentrum der Welten Strom Sind die Mitths im eisgen Dom
Als der Schläfer erwachte Über das Leben wachte
Nach Jahrhunderten im AllKommt der ewigen Scheibe Fall
In der Welt von Corio regiert eine geheimnisvolle Kraft, die unvorsichtige Seelen hinaus in die Leere verschleppt. Nur im Zentrum der Welt, sind die Kräfte so schwach, dass sich die Kultur der Mittleren dort niederließ. Die humanoiden Krustentiere verteidigen ihre ummauerte Oase mit ihrem Leben. Eines Tages landet plötzlich ein Fremdling auf dem Eis und warnt vor einer riesigen Katastrophe – die Mittleren sollen umsiedeln, und zwar sofort …
Felix Terborg wurde 1998 in Kassel geboren und schreibt Science Fiction. Fremdartige Welten, unübliche Erzählformen – diese Dinge stehen im Zentrum seiner Geschichten.
Mehr Infos und Hintergründe zur Welt unter:www.felixterborg.de/Corio
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Nachwort
LOG 2302 / 460 Jahre nach T0, 7 Tage nach Cryophase 2
Als ich vom Himmel stieg, da fand ich eine ganz andere Welt vor als jene, die ich kannte. Man könnte jedoch sagen, dass diese Welt, die ich Corio genannt hatte, emsig versuchte, wiederherzustellen, was sie einst gewesen war.
Man hatte ihnen oft Geschichten davon erzählt, wie ihre Vorfahren drei Generationen und mehr als fünfhundert Mondzyklen daran schufteten. Einhundert Steine bildeten die unterste Reihe des großen Iglus im Zentrum des Dorfs. Jeder Stein war so groß wie ein ausgewachsener Stammesvertreter und so schwer wie ein kleiner Schuppen.
Blöcke aus der ganzen Welt hatten sie herangeschafft, in glorreichen Siegeszügen sogar andere Stämme überfallen und deren Eis-Blöcke geraubt. Unter dem ganzen Eis, im Kern des Gebäudes, so hieß es weiterhin, war harter schwarzer Stein. Der widerstandsfähigste, den es im ganzen Universum gab. Er wärmte das Innere und strahlte immer eine gewisse … Zuflucht aus.
Als die Blumen auf die Wege geworfen wurden, und alle Frauen ihre Männer verabschiedet hatten, sammelte sich der gesamte Stamm vor der Pforte. Der Häuptling rief seinen Segen aus: »Möge Eure Reise keine Gefahren mit sich bringen! Mögen unsere Feinde durch unsere Speere sterben!«
Alle Wurfhaken und Lanzen wanderten nach oben und stachen nach dem blauen Himmel. Die Menge rauschte vor Zustimmung und begeisterten Rufen. Der oberste Medizinmann packte noch Kräuter in die Sattelbeutel der Zugtiere und schon waren sie bereit, loszuziehen.
Der Nordstern hatte diese Nacht eine volle Umdrehung abgeschlossen. Immer, wenn der Stern, um den sich alle anderen Sterne drehten, vor das Tor des großen Iglus rückte, brachen ihre Jäger auf. Es brachte Glück, am Anfang des neuen Zyklus die Stadt zu verlassen.
Als alle Schalen sich um das große Iglu tummelten und die Wachen von ihren Mauern aus zuschauten, da nutzten Rox und Gin ihre Chance und rannten los. »Los jetzt!«, zischte Rox.
Ihr Bruder sah mit weit geöffneten Augen an ihr vorbei in die Ferne. »Alles klar.«
Mit einem Satz hüpften sie über den Zaun, am anderen Ende der Siedlung hinaus. Ihre sechs Beine waren schon stärker ausgebildet als die ihres Bruders. Deshalb rannte sie nicht so schnell, wie sie eigentlich gekonnt hätte.
Zwanzig Zugtiere grasten da auf der Weide und stierten Rox und Gin dämlich an als sie vorbeihetzten. Vorbei an den Rissen in der Erde, wo die Meißler viereckige Löcher hinterließen. Vorbei an den dürren Feldern, wo das bisschen Gemüse wuchs, das sie anbauten.
Die Musik, vor allem die Trommeln, klang noch lange hinter ihnen, ehe sie sich im Heulen des Windes verlor.
Jeden Monat brach eine Gruppe von fünfzig Jägern auf. So lang hielten die Vorräte, ehe sie aufgefüllt werden mussten. Immer wurde der Aufbruch gefeiert – der Abschied dauerte fast einen halben Tag. Wenn die Sonne den Boden verließ und schräg über das Blau wanderte, waren die Jäger bereits ausgerückt. Und im Dorf begannen derweil die Vorbereitungen für ihre Rückkehr.
Das war der Moment. Die rote Scheibe wagte sich hinter der weißen Leere hervor und zog orangene Streifen durchs Land. Die Karawane zog langsam los, derweil ihr Weg hinaus von allen möglichen Leuten gesäumt war.
Niemand wird uns vermissen. Sie könnten am nächsten Morgen erzählen, sie hatten bei Freunden übernachtet. Wer würde schon bei so vielen Leuten den Überblick behalten?
Nur einmal sah sie zurück und erkannte die Herde, die in die andere Richtung auf das Eis hinausging.
Ihr Ziel waren die trüben Fischgründe. Einen Tagesmarsch von Mitth entfernt war der Boden so dünn, dass das Eis mit Speeren durchbrochen werden konnte.
Doch sie waren in die andere Richtung unterwegs.
Rox zählte die Sekunden. Bald schon würden die Wachen wieder ihren Blick nach draußen wenden. Wenn sie es nicht rechtzeitig schafften, wurden sie gesehen.
»Pass auf die Löcher im Eis auf!«, riet sie ihrem Bruder, während sie einen Spurt einlegten und das Eis unter ihnen knacksen hörten.
»Jaja, ich weiß!«
Ein bisschen später erreichten sie schon den ersten Wald, der Innere, der Mitth wie ein Ring umgab.
Niemals weiter als die Bäume gehen, hatte ihre Mutter ihnen gesagt. Eigentlich auch ihr Vater. Und ihr Onkel. Und der Häuptling bei allen Veranstaltungen. Wenn sie so darüber nachdachte, fiel ihr niemand ein, der je etwas anderes behauptet hatte.
Es war allgemein bekannt, dass Mitth, ihre Heimatstadt, in der besten Gegend der gesamten Welt lag. Hier waren die Stürme schwach und die Nebel dünn.
Die weisen Medizinmänner behaupteten deshalb, es handele sich um das Zentrum der Welt und alles was Rox erlebte, schien das zu bestätigen. Der Häuptling sagte, selbst die Bäume kannten diese Wahrheit.
Vor allem seht ihr es an den Bäumen, hatte der Häuptling immer wieder betont. Auf Feiern, nach erfolgreichen Jagden und jeden Abend am Lagerfeuer. Alles im Universum zeigt uns, wo wir wohnen. Und alles verbeugt sich vor uns!
Niemals sollten sie diesen Ort verlassen.
Der innere Wald war der dichtere – hohe Nadelbäume sprießen hier und da aus dem eisigen Grund, doch eine große Anzahl war ihnen nicht gegeben. Keiner ihres Alters war je weiter gegangen.
»Siehst du was?«, fragte sie, als sie eine halbe Stunde später noch immer liefen. Der weiße Wind schnitt tief in ihre Schale und der Boden hielt nur noch schwerlich ihre Füße. Bei jedem Schritt drohte sie, den Halt zu verlieren.
»Eine weitere Baumreihe«, brüllte Gin zurück, doch er drehte sich nicht um. Wahrscheinlich wollte er seinen sicheren Stand nicht riskieren. Rox sah, dass Gin seine sechs Beine weit ausgebreitet hatte, um möglichst stabil zu stehen. Und doch schlotterte er und kam kaum vorwärts.
Über ihnen waren die Wipfel vorgeneigt. Wie ein Zaun aus Partisanen, nur dass sie nach innen und nicht vom Dorf wegzeigten
Der zweite, äußere Wald markierte die Grenze ihres Reichs. Unzählige Stämme, weit auseinander und schwarz in den Blättern, verteilten sich am Horizont und umgaben Mitth in jeder Himmelsrichtung.
Dort wollten sie hin.
Vom Äußeren hatten sie bisher nur Bildnisse im großen Iglu ihres Dorfes gesehen. Handwerker und Maler hatten sie in die Eisklötze gemeißelt oder gemalt. So bekamen sie einen Eindruck von der Größe dieser Wälder, die Mitth in einiger Entfernung umgaben. Stunden über Stunden musste man laufen, wenn man das Ende erreichen wollte.
Die legendären Bäume zu sehen, das war eines ihrer Ziele. Aber die ganz weit entfernten – jene, die sprechen konnten. Ob sie wirklich sprechen konnten, oder ob das nur so eine Geschichte war, die die Eltern ihren Kindern erzählten, das würde sich noch herausstellen. Aber auf jeden Fall würden sie sich noch tiefer verneigen.
Dahinter jedoch lag der Rest der Welt, die niemals endete. Die Fläche hatte kein Ende, das wussten die beiden aus der Stammesschule. Der alte Medizinmann Loota kannte die meisten Stämme, die außerhalb dieser Wälder lagen. Manchmal erzählte er auch Legenden riesiger behaarter Kreaturen, die sie jagten und bei lebendigem Leibe fressen konnten. Aber stimmte das auch? Oder waren das auch nur Gruselgeschichten?
Sie krabbelten vorwärts und als die letzte Rinde des ersten Waldes hinter ihnen lag, breitete sich eine vollkommen glatte und weiße Welt vor ihnen aus. Eis, flach und glitschig, soweit das Auge reichte. Kratzer, nicht tiefer als eine Nadel, überzogen den Boden und verloren sich in der Ferne. Kurz über dem Grund schwebte ein stiller Nebel.
Ihre Herzen machten Sprünge.
Das war die Weite – die Leere – wie sie auch von einigen genannt wurde.
»Und?« Gin wurde misstrauisch als seine Schwester innehielt und den Horizont taxierte. Seine Fühle unter den Augen stellten sich auf und senkten sich wieder. Als sie merkte, dass sein Mantel nicht bis oben zugeknöpft war, legte sie die Zangen an und korrigierte seinen Fehler. »Wir haben die Wärme unseres Dorfes längst verlassen. Es ist gefährlich.« Sie deutete nach vorn: »Na los. Ab jetzt mit Kapuze.«
Je weiter sie voranschritten, desto mehr begann ihr Herz zu klopfen. Ihre Schritte wurden nervöser, das merkte Rox nicht nur an ihrem Körper. Auch die sechs Beine ihres Bruders stakten nur so vor sich hin und machten jeden Tritt doppelt. Damit sie auch ja richtig im Eis verankert waren. »Na los, Gin! DU traust dich ja nicht! Hab‘ ich mir gedacht«, quiekte Rox, und schob so ihren Bruder weiter vor sich her. Gin, der niemals den Kürzeren ziehen wollte, kämpfte sich voran und hielt schon bald die Scheren vor die Fühler, denn die Schneeflocken hier draußen brannten. Gin hielt sich schon für einen der Jäger, wollte später zu den Soldaten des Häuptlings gehören. Also ging er auf jede Mutprobe ein.
Rox tat es ihm gleich, wobei sie in seinem Windschatten und etwas niedriger über dem Boden lief, was ihr zugutekam.
Sie vergruben sich tiefer in ihre Mäntel, doch der stechende Wind schnitt schon bald einfach hindurch. Trotzdem gingen sie weiter, der nächste Wald war schon in Sicht …
Aber dort draußen gibt es furchtbare Gefahren. Eislöcher, die wie fester Boden aussehen. Schnee, der eure Krallen festhält. Umherstreifende Wilde, die eure Kleidung klauen und euch erfrieren lassen … Wenn sie es gut mit euch meinen.
Schlimmstenfalls packen sie euch und werfen euch in ein Loch, wo Ihr ertrinkt.
»Sind wir da?«, fragte sie wieder.
»Noch … Ähh … Nicht.«
Ein paar Schritte weiter begannen ihre Augen zu schmerzen.
Sollten Sie umkehren? Derart weit waren sie noch nie gekommen. Sie spürte es an einem unangenehmen Glühen in der Brust. Der Sinn, Neues zu entdecken – oder zumindest kurz davor zu sein, etwas Neues zu entdecken.
Die Böen piksten und kratzten so unangenehm, wie sie es noch nie erlebt hatte. Vielleicht war das der Grund, weshalb die Jäger ihre Schlitten mit Leder bespannten. Sie schützten sich so vor dem Wind. Schon öfter hatten sie Ausflüge unternommen. Jedes Mal stießen sie weiter vor. Letzte Woche hatten sie wegen der scharfen Winde abgebrochen.
»Wir sollten umkehren!«, riet ihr Bruder, als ihm bei einer besonders starken Böe die Kapuze vom Kopf wehte.
»Noch nicht!«
Rox bekam es schon mit der Angst zu tun. Aber sie wollte dem nicht nachgeben. Denn mittlerweile machte sich eine neue Kraft bemerkbar: Das Entfliehen. Sie stemmte sich gegen die unsichtbaren Hände, die sie nach außen schieben wollten. Es war, als gingen sie einen Hang hinab.
Der zweite Wald war direkt vor ihnen.
Dann konnte sie es sehen: Die Bäume verneigten sich tatsächlich. Auch so fern von ihrer Heimat stimmte das heilige Gesetz der Natur.
Mitth war von vielen Wäldern umgeben, doch die Wipfel neigten sich, egal wo ein Baum auch stehen mochte, immer in die Richtung ihres Dorfes.
So gibt uns die Natur ihre Früchte in die Hand, und die Wurzeln gehen nach außen, weil sie nur Schlechtes in sich tragen, hatte Häuptling Klark erzählt und die Wurzeln vom Tisch geschoben. Der Boden ist kalt und hart, also ziehen die Bäume all das Wertvolle aus dem Grund und geben es uns.
»Rox, was ist das?«, hörte sie plötzlich ihren Bruder fragen. Rox sah nach vorn. Es fiel ihr schwer, geradeaus zu sehen. War das Gesicht so doch stärker dem scheidenden Eiswind ausgesetzt.
Dann sah sie es: Die ferne Wand aus Nadelbäumen. Sie erstreckte sich über den ganzen Horizont wie ein grüner Streifen auf dem Weiß.
Nur an einer Stelle unterbrach sich der Nadelwall. »Merkwürdig«, gestand Rox und sah sofort wieder auf den Boden. Der Wind wurde stärker. Mittlerweile musste sie die Kapuzenkante mit den Schnüren an ihren Stielaugen festknoten. »Von einem Durchgang hat der alte Loota noch gar nichts erzählt. Es ist, als hätte der Boden die Bäume dort verschluckt … Ob das unsere Erkunder auch schon gesehen haben?«
»Das meinte ich gar nicht!«, rief ihr Bruder, fast panisch, zurück. Seine Klaue zeigte gen Himmel.
Plötzlich erfüllte ein grelles Kreischen die Luft.
»Was … ist …« Panisch suchte sie den Boden vor ihren Stummelfüßen ab. Vergebens.
Es kam von oben.
Gin wandte seinen Blick langsam gen Himmel. In seinem Gesicht las Rox ab, dass er etwas Schreckliches gesehen hatte. Sie wirbelte herum und sah in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sofort stach ihr eine schwarze Kugel ins Auge – umhüllt von Flammen flog sie schneller als jeder Vogel. Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Wie konnte etwas … den Boden verlassen haben? Das konnte nicht sein. Niemals hat etwas die Welt mehr verlassen als die obere Fahne auf dem Hauptiglu. Das hatte der Weise in ihrem Dorf gesagt. Er hatte erzählt, dass kein Iglu größer gebaut werden konnte, da sonst der Boden unter ihren Füßen nachgab!
Aber dieses Ding … es war höher als das Iglu. Deutlich. Und es bewegte sich durch die Lüfte, ganz ohne Stelzen oder Flügel. Wie war es da raufgekommen? Und woran klammerte es sich? Oder war es von dort oben gekommen?
Vielleicht war das eine der Gefahren, vor denen man sie gewarnt hatte. Furcht ergriff sie.
»Ist das ein Stern?«, fragte ihr Bruder voll und ganz fasziniert.
»Weg hier!«, schrie sie und packte ihn am Ärmel.
Sie rannten und rannten, ohne zurückzublicken. Ohne ein genaues Ziel. Irgendwie jedoch wurde das Kreischen immer lauter und schmerzvoller in ihren Ohren.
Auf einmal hoben sie vom Boden ab und landeten unsanft im Schnee.
Schnell war der Knall verklungen. Doch Trümmer und herausgesprengtes Eis fielen noch Sekunden danach vom Himmel. Die Angst blieb. Erst tastete sie ihren Körper ab, dann sah sie nach Gin. wandte sie sich herum.
Direkt vor ihrer Nase erhob sich eine dunkle Wand über drei Meter. Das Ding war hinter ihnen ins Eis eingeschlagen. Diese Kugel aus … glänzendem schwarzen Stein stak in einem Krater, in der Mitte eines Spinnennetzes aus Rissen im Eis. Es war kein Lebewesen. Es war nicht größer als ein kleiner Stand und aus der Hülle strömten unzählige Stränge und Sehnen.
Eine Klappe, die bisher noch unsichtbar gewesen war, trennte die Kugel in zwei Hälften. Dampf strömte aus. Warm wie aus einem Ofen, trocken wie der Wind über der Leere. Was sich hinter dem Dampf abspielte, war schlimmer als die schlimmsten Gruselgeschichten, die ihnen der Weise je erzählt hatte. »Was ist das?«, rief Gin.
Der Dampf verzog sich und gab den Blick frei auf das Innere … Kugelförmige Augen, dicht in einen bleichen Schädel gedrückt, fixierten sie. Tropfen von Wasser sammelten sich überall auf dem … was war es?
Dieses Tier … es hatte keine Haut. Keine starke Schale, auf der sich die Welt spiegelte. Oder war dieser schwarze Stein seine Schale? Es bestand nur aus Fleisch und Haaren und Wasser und die Schere hatte fünf Ausläufer!
»Rox verschwinde!«, brüllte ihr Bruder und klackte mit den Scheren. »Ich nehm‘ es allein mit dem Ding auf!«
Ein schmerzerfülltes Stöhnen war alles, was dieses Wesen von sich gab. Es packte mit seinen Ausläufern die Kugelhälften und zog sich weiter aus seiner Kugel heraus.
Rox ging ein paar Schritte rückwärts – langsam, um das Viech nicht zu provozieren. Sie stürzte um und krabbelte weiter nach hinten.
Dieses Tier war vom Himmel gefallen und ganz plötzlich stieß es Töne aus, die ihnen bekannt vorkamen. »Hallo … Ich grüße die beiden … die vor mir stehen!«, sprach es unbeholfen aber laut.
Hatten sich Rox und Gin gerade verhört? Sprach das Wesen etwa in ihrer Sprache?
Robben und Taucher sprachen nicht. Die Bäume sprachen nicht. Nur die Stammesmitglieder. Es gab sogar Stämme außerhalb von Mitth, deren Einwohner kaum Wörter zustande brachten.
»Mögen die … Ach, Geister der Natur den Boden …« Es klang wie eine verzerrte Version der Begrüßung vom Häuptling zum Hauptmann der Jäger, wenn diese zurückkehrten. Aber warum sprach dieses Ding diese Worte?
»Ich hab‘ es für das Beste gehalten, wenn ich zuerst mit zweien spreche, bevor ich das ganze Dorf … nun ja … infiltriere. Das versteht Ihr doch?«
»Es spricht wie ein Erwachsender!«, quiekte Gin und ergriff die Flucht. Er machte sich hinter Rox klein und hielt sich mit den Scheren an ihrem vorderen linken Bein fest.
Das Wesen hob die Klauen in die Höhe. Fünf Finger zitterten auf jeder Seite. »Ich komme in freundlicher Absicht.«
Rox und Gin wussten nichts zu antworten.
»Die größeren Gruppen habe ich bis jetzt gemieden, da die nur mit Speeren außer Haus gehen. Eure … Spezies ist allgemein sehr scheu und verlässt ihren Sitz nicht gern. Wie kommt das?«, redete das Wesen weiterhin und saugte sich mit seinem Blick an ihrem Bruder fest.
Gin lief blassgrün an. Er wich zurück, klackte nervös und stürzte über eine schwarze Wurzel, die aus dem glitzernden Haus des Wesens hing.
»Ahhh!«, schrie ihr Bruder auf. Irgendetwas hatte er sich getan. Aber seine Schreie endeten, als das Wesen sich zu seiner vollen Größe aufrichtete. Zwei Meter über dem Boden starrten sie gelbe Augen von oben herab an. Es dampfte, es stank und plötzlich hatte es sein Bein mit seinen wurmigen Fingern gepackt. Summend schob sich ein Stein-Arm über das verletzte Bein.
»AHHH!«
LOG 112 / 260 Jahre nach T0, 2 Tage nach Cryophase 1
Die intelligente Spezies hier erinnert mich an die Zentauren aus der griechischen Mythologie. Jedes Mal, wenn ich ihnen gegenüberstehe, läuft es mir kalt den Rücken runter. Ihre Unterleibe sind halbe Krabben mit sechs Beinen, vorne entwächst das Oberleib eines beschalten Menschen, der Klauen als Hände besitzt. Ein dicker Panzer umhüllt fast die gesamte Kreatur – im Falle eines Angriffs ziehen sie die empfindlichen Stellen in das Innere zurück. Ich weiß nicht, was gruseliger an diesen Wesen ist. Ihre Fremdartigkeit oder doch die Tatsache, dass sie teils starke Ähnlichkeiten zu Menschen haben.
»Stillhalten. Gleich wird’s besser.« Ein Bündel Lichtstrahlen kam aus dem Stein, den das Wesen in der Hand hielt. Nicht nur das Blau des Himmels oder das Weiß des Mondes. Auch das Rot einer alten Flamme und Gelb. Ein Fächer aus allen verschiedenen Farben tastete Gins Schale ab und … Das konnte nicht sein! Die Schramme bildete sich zurück!
Gin wusste nicht, wie ihm geschah. Eben noch hatten sie um ihre Leben gefürchtet. Nun zog das Wesen seinen Arm zurück und senkte seinen Kopf ruckartig nach unten. Als wollte es damit sagen, dass es fertig war.
»Bist du ein Medizin-Mann?«, fragte Gin, seine Stimme noch heiser.
»Ich … Na ja, nicht unbedingt.« Schwere und bedächtige Schritte machte es. Setzte die langen Glieder unsicher auf das Eis.
Rox blieb noch auf Distanz, doch ihr Bruder hatte das Wesen ohne Schale offenbar schon ins Herz geschlossen. Wir kennen dich nicht. Bleib, wo du uns nicht gefährlich werden kannst.
Und plötzlich blieb es genau dort verharren. »Ich muss zu …« Es sank auf die Knie.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte Gin und sprang wieder auf. Ohne Probleme konnte er wieder auf seinen sechs Beinen stehen. Er war so gesund wie nie. Sogar seine Narbe am hinteren Gelenk war zurückgegangen.
»Ich …« Es stieß undeutliche, tiefe Töne aus. Dann sah es nach oben in den Himmel und nach unten zum Boden. »Das ist ein besonderer Ort hier? Nicht?« Es lächelte und brach zusammen.
Gin warf Rox einen verwirrten Blick zu. »Meint er die Leere? Was soll an diesem Eis so toll sein?«
Rox sah so weit nach oben, wie es ihr Nacken erlaubte. »Na ja, er kam aus dem Himmel gestürzt. Der Boden muss für ihn so besonders sein, wie für uns der Himmel.«
Niemand im Dorf wollte ihr zuhören, wenn sie davon berichtete, was sie sich in ihrer Fantasie ausmalte. Aber sie hatte einmal den Traum gehabt, vom Boden abzuheben und aufzusteigen. Unter ihren Füßen zog sich das Eis zusammen, die Welt wurde immer kleiner. Je höher sie kam, desto weiter konnte sie über die Leere blicken – bis der Nebel den Rest verschlang.
Ohne Schwere dann reiste sie weiter. Am Ende ihres Traums erreichte sie die Kuppel, auf der die Sterne lagen. Nur dass es keine Sterne waren …
Rasch weiteten sich die kleinen Lichtchen zu Lagerfeuern auf. Sie hatte geträumt, wie sie zur anderen Seite übersetzte und da sah sie es: Kleine Stämme waren überall auf der schwarzen Scheibe versammelt. Das Firmament war auch nur eine Welt wie die endlose Weite, in der Mitth seinen Platz hatte.
Der alte Loota aus dem Dorf erzählte jedoch eine andere Geschichte. Sterne seien keine Lagerfeuer, aber brennen taten sie dennoch. Nie hatte er was von Leuten erzählt, die da oben lebten.
Sie konnte das nicht nachvollziehen. Auch ihre Jäger schützten sich in der Nacht mit einem Feuer vor der Kälte. Wieso sollten es die Bewohner des Firmaments nicht genauso halten?
Das Wesen musste zu den Stämmen der anderen Seite gehören. Rox breitete ihre Vorderbeine ein Stück aus und lehnte sich vor. Wenn dieses rosafarbene Glibber-Viech sie angriff, konnte sie schnell zurückweichen.
Als sich das Wesen nicht mehr rührte und nur vom Boden aus in den Himmel starrte, beschlossen die beiden, ihn mit zu ihrem Dorf zu nehmen. Gin meinte, sie könnten ihn nicht einfach dort liegen lassen. Wenn er nicht im Schatten seines schwarzen Kugelhauses gelegen hätte, wär es ganz schnell mit ihm vorbei gewesen – das Entfliehen hätte ihn ergriffen und hinaus gezogen. So benebelt, wie es war, könnte es leicht auf unsicheres Terrain geraten. Erst trugen sie das Ding auf ihrem starken, gepanzerten Rücken. »Was ist mit seinem Haus?«, fragte Gin noch.
»Es wird hier auf ihn warten.«
Als sie ein paar Minuten unterwegs waren, stieß das Wesen die Worte »Bringt mich ins Zentrum, ja? Sagt, ich bin nur ein Reisender …« aus und hielt sich dann wieder benommen den Kopf.
Gin lief weiter voraus und sprach vor sich hin. »Woher weiß er, dass Mitth im Zentrum der Welt liegt?«
Rox schaute nach oben. »Er kommt von dort oben. Er hat es gesehen.«
Sie gingen weiter. Und auch die Kraft der Leere nahm wieder ab. Bald, wenn sie den ersten Wald wieder durchquerten, würden sie die Feuer ihrer Heimat sehen. Und die Wachtürme, die wegen der Nachtfackeln von unten orange leuchteten.
Kurz, nachdem sie den Wald betraten, schien der von den Sternen Kommende lebendiger zu werden. Vielleicht lag es an den Baumwipfeln die er im Liegen an sich vorbei bewegen sah. Wenig später stützen sie ihn nur noch beim Gehen.
Als sie den Wald überwunden hatten, begann er wieder zu reden. Als sie den kargen Boden hinter sich brachten und die Bäume des inneren Waldes erreichten, konnte er wieder von alleine laufen. Doch ständig lehnte er sich zu weit ins Nichts und stürzte erneut. Das weiße Gras auf seinem Kopf wehte im Wind wie das Fell auf Robbenhäuten.
Es war seltsam – je mehr sie sich Mitth näherten, desto aktiver wurde der Reisende von den Sternen.
Der Tag neigte sich dem Ende zu und der Himmel färbte sich über dem Horizont rosa.
Als sie die Stadt durch den Nebel erblicken konnten, ging es ihm so prächtig, dass er vorauslief. »Das ist die Stadt! Wahrlich faszinierend.« Er blieb auf einer gewissen Entfernung zu Mitth stehen. Erstaunlich, das war ziemlich genau die Entfernung, die Rox und Gin ausfindig gemacht hatten (Dort konnten nämlich die Wachen auf der Mauer sie nicht mehr erkennen).
Gin beugte sich zu Rox rüber. »Vielleicht war das doch keine so gute Idee, ihn mitzunehmen. Was werden die anderen sagen?«
»Er brauchte Hilfe. Ihm ging es nicht gut.«
»Jetzt scheint es ihm gut zu gehen«, entgegnete Gin trocken.
Einschätzend trabte das Wesen hin und her. Nahm mehrere Perspektiven an, hob den Kopf manchmal weiter nach oben, manchmal gebeugt. Unfassbar, dass es bei seiner Körpergröße nicht wie ein Fahnenmast umfiel.
Es näherte sich wieder den Beiden. »Ihr baut eure Hütten aus dem, was der Boden euch hergibt?«
»Ja«, erzählte Gin aufgeregt. »Die Erde ist nicht fest genug, deswegen nehmen wir das Eis.«
Es stimmte nicht so ganz, wusste sie zu sagen. Das große Iglu in der Mitte zum Beispiel, es hatte ein Fundament aus stärkstem Gestein. Die Jäger auf ihrer Reise konnten keine Iglus bauen. Es war zu zeitaufwendig und schwer. Wenn sie weiterzogen, wäre so ein Bau auch völlig umsonst gewesen.
Nein, sie bauten ihre Hütten aus Knochen und Fellen, die von ihrem Heimatdorf vom Fleisch getrennt wurden. Rox schaute zum Himmel. Das Abendgrau hatte das ganze Firmament eingenommen. Deswegen geht es dem Reisenden so gut. Die Nacht ist seine Welt. Bald sieht er die Lagerfeuer seines Stammes.
Die Leute im Dorf mussten gerade dabei sein, die nächsten Felle zu präparieren. Es war eine interessante Angelegenheit. Den Reisenden würde das bestimmt interessieren.
»Los.« Sie winkte ihren Bruder und den Fremden hinter sich her. So gingen sie um die kreisrunde Stadt, bis sie auf der Seite der niedrigen Mauern waren. Von dort näherten sie sich.
Bevor sie das Dorf erreichten, bemerkte der Reisende die Löcher im Boden. Sie waren tief und Holzgerüste waren spärlich um einen Spalt verteilt. Sie hielten einen nur manchmal vom Sturz in den sicheren Tod ab. Erfahrene Arbeiter seilten sich von ihnen ab und holten mit ihren Meißeln Blöcke aus dem Inneren.
Unerfahrene durften erst gar nicht in ihre Nähe.
Trotzdem trabte er gelassen darauf zu und blieb eine Haaresbreite vor dem Abgrund stehen. Unvermittelt hielt er plötzlich wieder so einen Arm aus glänzendem Stein in der Hand. Aus dem Greifer an der Spitze kam ein blauer Fackelschein heraus. Die Lichtkugel löste sich und reiste nach unten in die Tiefe. Die Schwerkraft zog sie hinab, bis die Dunkelheit des Tagebaus das Feuer verschluckte.
»Ist er ein Zauberer?«, fragte Gin flüsternd.
Der Reisende drehte sich zu den beiden herum, als hätte er sie gehört. Seine Augen funkelten. Dann plötzlich blendete sie ein blauer Schein, der aus dem Spalt drang. Als wäre urplötzlich ein großes Feuer am Grund des Schlunds ausgebrochen. So schnell, wie es angefangen hatte, so schnell war es auch wieder vorbei.
Darauf folgten noch kurze Windböen, die allesamt in den Abgrund führten, als hätte die Erde dort eingeatmet.
»Was war das? Wer ist da?«
Gin und Rox erstarrten. Eine Wache kam über die niedrige Mauer gesprungen, die Speerspitze voran. Es war Olf, der mit sechs zittrigen Beinen in die Nacht hinausrannte. Schnell hatte er die beiden gefunden. Er blieb stehen.
»Rox … und Gin. Seid Ihr wieder ausgebüchst?«
»Wir … Wir …«, sagten Rox und Gin im Chor.
»Was stellt Ihr nun wieder an? Seid Ihr diesmal weitergekommen, als der zweite Wald? Was habt Ihr gesehen?«
Obwohl man sie nun »erwischt« hatte, war Rox froh, dass Olf es war, der sie entdeckte. Von allen Wachen, die Mitth sicherten, hatte Olf am meisten Verständnis … für ihre »Ausflüge«. Oftmals gab er vor, nichts bemerkt zu haben, wenn sie spät abends heimkehrten. Ihn interessierte es, was da draußen abseits der Wälder lag. Diesmal jedoch befürchtete sie, zu weit gegangen zu sein. Würde Olf sie auch dieses Mal verteidigen?
Der Rückweg von der Leere hatte lang gedauert. Außerdem hatten sie den Reisenden tragen müssen. Nun war es Nacht und der halbe Stamm war in der großen Halle beisammen.
Gin und Rox sahen einander an. Dann drehte sich ihr kleiner Bruder (soweit das mit sechs verankerten Füßen möglich war) nach hinten. Rox tat es ihm gleich. Halb in der Dunkelheit verschluckt, stand der Reisende am Abgrund – so unbeweglich wie ein Baum. Plötzlich kam es ihr unendlich dumm vor, den Fremden mit hierher genommen zu haben.
Olf schien den Neuankömmling gar nicht zu bemerkten. Er lehnte an seiner Lanze und sprach mit geschlossenen Stabaugen: »Eure Eltern haben sich schon Sorgen gemacht. Ich gehe sie wecken.« Die Wache trat einen Schritt näher und kam lässig an der Mauer entlang. Da sah er plötzlich den Reisenden, wie er aus dem dunklen Vorhang der Nacht trat und im Fackelschein stehen blieb. Voller Schreck und Entsetzen wich Olf zurück und fiel von seinen sechs Beinen auf seinen Rumpf. Strampelnd kämpfte er um jeden Zentimeter. Bloß weg wollte er. »Ein Monster! Kinder, geht weg von ihm!« Er hielt den Speer wieder nach vorn und brüllte laut: »Soldaten! Kommt her! Ein Mo- … Eindringling!«
Schleunigst kamen die wenigen Krieger, die Mitth noch hatte. Mit erhobenen Klingen und Lanzen kamen sie durch das Haupttor. Der Block teilte sich in zwei Ströme aus Soldaten, die an ihnen vorbei schlüpften und sich hinter ihnen wieder zu einer Kette aus Speerträgern verband.
Sie waren umzingelt. Bestimmt zwanzig Stammesmitglieder standen um sie herum, und niemand sagte etwas. Es war so ruhig wie an einem windstillen Tag in der Leere.
Rox sah sie an. Alle hatten weit aufgerissene Augen, die im Mondlicht aufblitzten. Sie hatten panische Angst. Dabei gab es keinen Grund, Angst zu haben.
»Na, jetzt ist ein unauffälliges Heimkehren garantiert unmöglich«, sagte Gin beladen.
Der erste Mann der Wache brüllte: »Nehmt die Kinder und bringt Sie in Sicherheit!«
»Jawohl«, sprachen zwei mit Rüstung im Chor. Sie traten aus der Reihe und packten sie und Gin an den Schultern. Schon waren sie außerhalb des Kreises, der sich rasch wieder um den Besucher schloss.
»Es gibt keinen Grund für diese Aufregung«, versicherte der Umzingelte den Soldaten. Er hob seine beiden mächtigen Pranken, was noch mehr Angst schürte. »Ich bin nur ein Besucher aus fernen Welten!«
Doch die Speere blieben auf ihn gerichtet, auf die zwei Meter große Statue einer Kreatur. Alle sahen sie hoch zu diesem Wesen, das in perfekter Sprache Worte formte.
Es dauerte nicht lange, da stach der erste mit voller Kraft zu.
Rox brüllte, eher aus Schock, denn so schnell war etwas passiert, das sie nicht hatte kommen sehen. Ein Lichtblitz blendete alle. Als das Glühen verschwunden war und die Dunkelheit alle erblinden ließ, dauerte es eine Weile, bis sie merkten, der Kreis war leer. Nur ein verkohlter Stab mit zerfetzter Spitze landete auf dem Boden und klapperte übers Eis.
Der Soldat, der diese Lanze geführt hatte, fiel zu Boden und sah abwechselnd auf seine Mitstreiter und den blanken Grund.
»Es ist entkommen! Das war eine Täuschung«, rief einer voreilend und trat aus dem Ring.
»Irgendein Zauberer, der Dämonen beschwört«, brüllte ein anderer.
»Er ist nicht gefährlich! Und er ist auch kein Zauberer!«, schrie Rox aufgebracht, doch niemand hörte ihr zu. Nur ihr Bruder sah sie seltsam an. Harte Schatten zeichneten sich vom Fackelschein auf seinem Gesicht ab, als wollte er sagen: »Zaubern kann er doch!«
Die Wachen schwärmten aus und tasteten sich langsam übers Eis. Niemand ging weiter als der Schein der Fackeln ihnen den Weg wies. Ein Lanzenträger ging zwei Schritte zu weit und wurde vom Oberoffizier zurückgezogen. »Nicht, sonst stürzt du in den Tagebau! Du Idiot!«
Egal wo sie auch suchten, sie fanden nichts.
Dann trat der Häuptling auf den Plan. Ein stämmiger Krieger war er gewesen, der den Wilden das Fürchten gelehrt hatte. Nun war er fast im Greisenalter, doch seine Stärke hatte er noch. Klark besaß zudem noch die Weisheit von über sechzig Jahren Jagd.
»Was soll dieser Radau?«, rief er mit fester Stimme in die Nacht hinaus. Die prächtig verzierten Pelzränder seines Mantels klickten, während er langsam übers Eis krabbelte.
Zwei seiner privaten Wachen trabten hinter ihm her und deckten ihn zu jeder Seite.
Noch bevor irgendjemand etwas sagen konnte, gab es einen weiteren Blitz, doch diesmal kam er von innerhalb des Dorfes.
Die Armee brauchte nicht lange, um zu überlegen. Sie stürmte zurück und richtete ihre Speere auf die Silhouette der Kreatur aus, die oben auf dem Dach eines Iglus stand. Unsicher hielt der Reisende sein Gleichgewicht, was durch das Eis erschwert wurde.
»Ihr könnt mich eh nicht angreifen!« Plötzlich stand er gerade und richtete sich weiter auf. »Also hört mich an!«
Schon flog der nächste Speer los, doch er verfehlte sein Ziel.
»Wartet« Der Häuptling ging dazwischen. »Was wollt Ihr hier? Wie konntet Ihr eindringen?«
»Die zwei haben mich auf meinem Weg begleitet.« Der Reisende zeigte auf Rox und Gin, die er sofort in dem Kuddelmuddel gefunden hatte. Unangenehme Blicke wanderten auf sie.
Der Häuptling hingegen sah Olf wütend an. Die junge Wache, die außerdem der Sohn des verstorbenen Bruders des Klark war, hielt diese Musterung nur schwerlich aus.
»Ich komme her, um meine Hilfe anzubieten«, sprach das Wesen vom Dach her.
Für einen kurzen Moment hielt der Anführer ihres Dorfes inne. Sie beide hatten ihn schon dabei erlebt, wie er Entscheidungen traf und rigoros Strafen austeilte. Wer wusste schon, was er diesmal für ein hartes Urteil zurechtgelegt hatte?
Die beiden privaten Wachen des Klark schoben sich langsam vor ihren Boss. Zwischen Klark und dem Iglu war kaum ein Meter Platz, also quetschten sie sich.
»Komm erst mal da runter. Vom Dach eines Hauses lässt es sich schwer unterhalten.«
Trotz der Dunkelheit konnten sie dem Reisenden ansehen, dass er skeptisch den Häuptling musterte. »Einverstanden.«
Er rutschte die Eiswand herunter und kam stehend im Schnee auf. Abermals schreckten die Krieger vor seiner schieren Größe zurück.
Leises Gemurmel und unterdrücktes Raunen ging durch die Menge. Als sich der Reisende vor dem Häuptling und seinen Wachen aufstellte, da zeigte Klark mit der Schere zum großen Iglu. Der Reisende verstand die Geste.
Zusammen gingen sie zur großen Halle und spürten die nervösen Blicke der Stammesmitglieder, die überall aus ihren Löchern guckten und sich nicht hinaus in die Nacht trauten.
LOG 2325 / 460 Jahre nach T0, 7 Tage nach Cryophase 2
Die Mittleren. Das faszinierendste aller Völker. Ihr Name muss nicht erklärt werden – denn jeder kann und würde im Moment ihrer Entdeckung "Bullseye" rufen. Die Doppeldeutigkeit kann später erschlossen werden …
Ihr technologischer Stand gleicht dem einer frühen Hochkultur wie den Sumerern oder den Olmeken. Ackerbau, Jagd, Handel, Gebäude, Schrift. All dies gibt es hier.
Ein Beispiel: Ihre Kleidung. Die Mittleren kleiden sich in Mäntel, die sowohl ihre Beinrümpfe als auch ihre Oberkörper überziehen. Sie stellen sie aus der Haut der Tiere her, die sie selbst wohl Robben nennen. Sie sind raffiniert der Anatomie angepasst. Während obere Beinpartien und Oberkörper bis zu den Scherenansätzen verkleidet sind, sind es die Klauen selbst, die wieder unbedeckt sind. Ähnlich die Mäntel der Menschen, wobei die Krebsähnlichen weder Handschuhe noch Stiefel tragen.
Es ist erstaunlich. Wenn ich bloß mehr Zeit hätte, all meine Beobachtungen in Worte zu fassen …
Der Medizinmann saß am oberen Ende des Robbenfells neben Klark und sagte etwas leise zu ihm. Aus dieser Entfernung war es unmöglich, Wörter aus dem Säuseln herauszulesen. Doch die Chancen standen gut, dass sie sich über die Kreatur berieten, die ein paar Meter weiter hockte und mit dem Kopf an die Decke stieß.
Sie hätten das Wesen in die Mitte bitten sollen, nicht an den Rand, wo die Wände in den Boden übergingen.
Es war sehr ruhig. Die Herdflammen raschelten leise. Über siebzig Leute schwiegen, und alle stierten sie in dieselbe Richtung mit einer Mischung aus Angst und Verstörung.