Cornelias Entscheidung - Amanda McGrey - E-Book

Cornelias Entscheidung E-Book

Amanda McGrey

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Beschreibung

Im schönen Sauerland, irgendwo bei Arnsberg, liegt die Seniorenresidenz "Abendgold". Dort lebt man als große Familie zusammen. Und wenn es einmal Streit gibt, weiß Residenzleiterin Cornelia Habermann den Frieden zu wahren. Sie fürchtet sich vor nichts und niemandem, schon gar nicht vor ihrem Chef Jürgen Baumann. Der reagiert nämlich cholerisch, sobald er sich die Anliegen seiner Objektleiterin anhören muss. Doch Cornelia weiß sich durchzusetzen – sehr zum Missfallen von Harald Fürst von und zu Feldenbruch, dem Hauptaktionär der Residenz. Plötzlich aber entwickeln sich die Ereignisse in eine Richtung, die weder Cornelia noch der Adlige haben voraussehen können. Eine verstorbene Residenzbewohnerin hat in ihrem Testament verfügt, Cornelia solle sich um ihren kleinen Enkel Joschi kümmern. Und mit dem aufgeweckten Jungen und seiner Freundin Sandra weht schlagartig ein neuer Wind durchs "Abendgold". Als Cornelia sich dann auch noch in den Moor-Ranger Phil Berner verliebt, gerät ihr geordnetes Leben vollends aus den Fugen … Ein Roman um Liebe und Leid, Bangen und Hoffen – garniert mit einem Schuss Humor und angesiedelt in der faszinierenden Welt des Hochadels. Mit Herz und Verstand gelingt es Autorin Amanda McGrey, den Leser auf eine turbulente Gefühlsreise mitzunehmen, deren Ausgang ungewiss scheint.

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Seitenzahl: 300

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AMANDA McGREY

CORNELIAS

ENTSCHEIDUNG

Deutsche Originalausgabe

© der Originalausgabe: Amanda McGrey

© dieser Ausgabe: Verlag Romantruhe

Röntgenstr. 79, 50169 Kerpen-Türnich

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, auch auszugsweise, Verleih und

Reproduktion sowie Speichern auf digitalen Medien

zum Zwecke der Veräußerung sind nicht gestattet.

Konvertierung und Satz:

DigitalART, Bergheim

Umschlagmotiv: Shutterstock

Produced in Germany.

www.romantruhe.de

Dieses Buch ist auch als

Printausgabe lieferbar.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 1

Mit Schwung bog das Mercedes-Cabrio auf den Parkplatz ein.

Die Frühsonne reflektierte in der modernen Glasverkleidung der Senioren-Residenz Abendgold.

Cornelia Habermann schwang die langen, gebräunten Beine in den roten High Heels aus dem Wagen, ordnete mit einer lässigen Handbewegung das ungebändigte schwarze Haar und schlug die Tür zu. Die Handtasche unter dem Arm schritt sie auf den gläsernen Eingang zu, der sich automatisch öffnete.

Es würde wieder ein wunderbarer Tag werden.

Angenehme Luft und das lustige Plätschern des Alabaster-Springbrunnens empfingen sie. Hinter der Rezeption hatte Marion Grauberger Dienst.

Mit einem strahlenden Lächeln empfing sie die Ankommende. »Morgen Chefin!«, rief sie fröhlich.

»Hi Marion, alles gut?« Cornelia Habermann lehnte sich über die Teakholz-Theke.

Die junge Rezeptionistin lächelte. »Nur das Übliche. Die Nachtschicht hat vermerkt, dass Frau Brinkmann wieder mal genachtwandelt ist. Frau Frings hat viermal den Ambulanten angerufen, weil sie Langeweile hatte …« Sie blätterte in den Unterlagen. »Sonst alles im grünen Bereich.«

»Aha«, machte Cornelia Habermann. »Und unser Dr. Jensen?«

Marion Grauberger lachte herzlich auf. »Hat mal durchgeschlafen. Er kam eben etwas mürrisch zum Frühstück«, sie beugte sich zu ihrer Chefin vor, »weil er den Ruf des weißen Adlers verpasst hat.«

Die Leiterin der Residenz verdrehte die Augen. »Er sollte weniger Karl May lesen in seinem Alter.« Sie fasste die Handtasche fester und durchquerte die Lobby, um in einem kleinen Nebentrakt ihr Büro zu erreichen.

Senta, ihre Sekretärin, hatte bereits einen Kaffee bereitgestellt. Auf dem halbrunden Schreibtisch tummelten sich einige Faxe. Cornelia überflog diese und murrte: »Die Münchener Geschäftsleitung sollte mal einen Tag hier arbeiten, dann würden die unsinnigen Vorschläge vom Tisch sein.« Sie gab den Ausdrucken einen Schubs, dass diese in den Papierkorb wedelten. In München kannte man die aufmüpfigen Meinungen der Stiftsleiterin. Man wurde aber nicht müde, sich immer mal etwas Neues auszudenken. Jürgen Baumann, ihr oberster Chef, bekam immer Asthmaanfälle, wenn Cornelia wieder mal zynische Kommentare zu diesem und jenem abgab.

»Beantworten?«, fragte Senta und warf einen Blick zum Papierkorb.

Cornelia lachte. »Unnötig! Den Unsinn kann Baumann selber kundtun.« Sie tauschte die High Heels gegen bequeme Schuhe aus.

»Oh! Er kommt?«

Cornelia kicherte. »Wie immer zum Quartalsende.« Dann nahm sie Platz.

Das Telefon meldete sich. Senta wollte den Anruf entgegennehmen, aber ihre Chefin winkte ab.

»Seniorenresidenz Abendgold, Habermann«, meldete sie sich.

Es war … Baumann.

»Haben Sie mein Fax erhalten?«

Cornelia runzelte gespielt die Stirn, was ihr Gesprächsteilnehmer aber nicht sehen konnte.

»Fax? Senta, haben wir heute ein Fax bekommen? Tut mir leid, ist wohl stecken geblieben.«

Einen Moment blieb es still. Dann kam es sanft: »Frau Habermann, vielleicht schauen Sie mal in ihren Papierkorb und rufen mich gleich zurück.«

Klick! Gespräch unterbrochen.

Senta grinste.

Cornelia lehnte sich zurück. Ihr Chef kannte längst ihre Mucken.

Eigentlich war er ein netter Kerl. Um die Fünfzig, grau melierte Haare, immer schick gekleidet und … im ewigen Stress mit den Anteilseignern. An letzterem war Cornelia nicht so ganz unschuldig.

Sie nahm einen Schluck Kaffee.

Sie überlegte noch, ob sie das Fax genau lesen sollte, als es an die Bürotür klopfte.

»Ja?«

Jürgen Drechsler, der Leiter des Pflegedienstes, trat ein.

»Guten Morgen Frau Habermann.«

»Hi Jürgen, was haben Sie für mich?«

»Schlechte Nachrichten.«

Über Cornelia Habermanns Nase entstand eine Falte. Sie blickte Drechsler fragend an.

»Frau Valow aus der Sieben ist eben verstorben.«

Die Residenzleiterin atmete schwer. »Oh … das tut mir leid«, kam es leise aus ihrem Mund. Sie hatte die alte Dame sehr gemocht. Sie stammte ursprünglich aus dem Kosovo und war sehr gebildet. Cornelia hatte sich viel mit ihr unterhalten. Hauptsächlich über Musik und das Theater.

»Herzversagen?«, vermutete sie. Es war seit einiger Zeit absehbar.

Drechsler nickte. Dann zog er einen Briefumschlag aus der Kitteltasche. »Ihr Name steht darauf.«

Zögernd nahm Cornelia den Brief entgegen. Drechsler räusperte sich und meinte: »Ich werde dann mal alles veranlassen. Verwandte gibt’s ja nicht.«

Nachdem der Pflegedienstleiter gegangen war, öffnete Cornelia den Umschlag. In der unverkennbaren, feinen Handschrift von Svetlana Valow kam ein zweiseitiger Brief hervor.

Senta blickte von ihrem PC her zu ihrer Chefin, deren Hände etwas zu zittern begannen. Endlich ließ sie den Brief sinken. »Oh Gott …«, hauchte sie.

Senta verhielt ganz in ihrer Arbeit. »Was ist?«

Cornelia schluckte und wandte dann den Blick zu ihrer Sekretärin. »Das Vermächtnis von Frau Valow.«

»Hm«, machte Senta. »Das kannst du ja nicht annehmen.«

Cornelia Habermann schüttelte den Kopf. »Es geht nicht um Werte oder … Geldsachen.«

»Sondern?«

»Frau Valow hatte eine Tochter. Die ist vor sieben Jahren gestorben. Diese hatte wiederum einen Sohn. Der ist jetzt neun. Der Vater fiel einem Attentat im Kosovo zum Opfer. Das Kind befindet sich in einem Heim bei Köln. Svetlana war als Vormund bestellt und nun soll … ich das übernehmen.«

Senta machte runde Augen. »Du? Vormund?« Senta schüttelte die braune Haarmähne. »Aber wieso war Svetlana Vormund? War sie nicht schon zu alt? Es gibt doch da Grenzen, oder?«

Cornelia lehnte sich weit in ihrem Sessel zurück. »Svetlana war noch nicht so alt. Nur wegen ihres Herzleidens ist sie vor drei Jahren hierher gezogen. Sie besaß eine große Villa in Hamburg.«

»Ach«, machte Senta. »Weshalb hat sie den Jungen nicht zu sich genommen?«

Cornelia Habermann stand auf, machte ein paar Schritte, griff zu ihrer Handtasche und angelte nach einer Zigarette. »Weiß ich nicht!«

»Hallo!«, kam es da von Senta. »Ich denke, du hast aufgehört. Außerdem ist das hier …«

Ihre Chefin und Freundin winkte ab. »Geschenkt!« Sie nahm die Zigarette und ihr Feuerzeug, öffnete die Terrassentür und trat ins Freie. Wie vergoldet wirkten die Erhebungen des Sauerlands.

Tief inhalierte sie den Rauch. Himmel!, durchzuckte es sie. Vormund! Für einen Jungen, den ich gar nicht kenne. Das geht nicht. Vermutlich schon rechtlich nicht. Außerdem … sie war Single. Sie mochte keine Bindungen.

Sie warf die halb gerauchte Zigarette über das Blumenbeet in den Lehmboden. Abrupt drehte sie sich um und kam ins Büro zurück. Senta sah sie abwartend an.

Ein Kripobeamter kam. Das passierte automatisch, um zu sehen, ob in den Heimen alles mit rechten Dingen zuging. Hier im Abendgold mehr eine Formalität.

Cornelia unterzeichnete die Papiere. Dann rief sie den Hausanwalt der Firma an. Sie legte Dr. Wilkins den Fall dar.

»Auf alle Fälle muss der Junge Sie kennenlernen. Dann muss er wollen und am Ende steht da nach gewissen Prüfungen ein Gerichtsbeschluss aus. Nur der Brief der Dame reicht nicht.«

Eigentlich hatte das Cornelia schon geahnt.

Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte.

Das Telefon klingelte. An der Nummer sah sie, dass es Baumann war.

Sie ignorierte den Anruf.

Senta nahm ihr einen guten Teil des Tagesgeschäftes ab. Cornelia Habermann selbst hatte einen Entschluss gefasst. Sie rief in dem Kinderheim in Köln an und meldete sich für einen Besuch an.

Die Leiterin des Kinderheims bat Cornelia Habermann in ihr Büro. Diese zeigte ihr den Brief von Svetlana. Gerda Obert las ihn aufmerksam, dann blickte sie Cornelia an.

»Aus dem Brief hier geht hervor, dass Frau Valow Ihnen großes Vertrauen und … Zuneigung entgegen bringt.« Sie schwieg und ließ den Brief sinken. Dann fuhr sie fort: »Kennen Sie den Jungen?«

Cornelia musste das verneinen.

Gerda Obert nickte. »Ja, so ohne Weiteres funktioniert das nicht.«

Cornelia hob ein wenig die Hände. »Das ist mir klar, nur …«

»Nur?« Die Heimleiterin blickte ihr Gegenüber abwartend an.

»Ich fühle mich dem letzten Wunsch von Svetlana … Frau Valow … verpflichtet. Andererseits …«

»Ja?«

Cornelia Habermann sprang auf. »Ich weiß nicht, ob ich das kann!«

Nun lächelte Gerda Obert. »Die Hauptfrage ist doch, ob Sie das wollen!«

Sie stand gleichfalls auf. »Kommen Sie.« Sie machte eine einladende Armbewegung. »Ich zeige Ihnen den Jungen. Er spielt im Garten.«

Cornelia war schon aufgefallen, dass es sich um ein sehr großzügiges und auch freundliches Haus handelte. Unter einem Waisenhaus oder einem Kinderheim hatte sie sich anderes vorgestellt.

Gerda Obert führte sie in einen wunderbar angelegten Garten. Eine große Horde Jungen und Mädchen tollte dort herum.

Die Leiterin zeigte auf einen eher in sich gekehrten Jungen mit braunen Haaren. Er saß abseits auf einer Bank.

»Joschi ist ein Träumer. Er hat wenig Anschluss«, kam es leise. »Er schreibt Gedichte. Sehr traurige.«

»Er hat keine Freunde?«, fragte Cornelia erstaunt.

Gerda Obert zuckte die Achseln. »Nur Sandra – die Kleine dort hinten – sitzt öfter mit ihm zusammen. Sie liebt seine Gedichte.«

Cornelia fuhr sich durch das bis über die Schulter reichende Haar. »Ich möchte ihn kennenlernen«, sagte sie dann mit fester Stimme.

Die Leiterin des Kinderheims sah ihre Besucherin lange an. Dann bemerkte sie leise: »Am Wochenende haben wir ein kleines Fest. Die Kinder haben es selbst ausgerichtet. Wenn Sie möchten …«

Cornelia schloss für einen Moment die Augen, dann schaute sie wieder zu dem Jungen hinüber, der gedankenverloren etwas auf einen Block schrieb. Sie konnte nicht verhindern, dass ihr Herz schneller schlug.

Himmel!, durchzuckte es sie. Was passierte eben mit mir?

Sie straffte sich und schien wie aus einer Trance zu erwachen.

»Ich werde kommen.«

Marion Grauberger empfing Cornelia mit dem Ausruf: »Gott sei Dank! Da bist du ja!«

»He, was ist los?«

»Seine Hoheit hat schon viermal angerufen. Seine Durchschlaucht«, sie betonte es, »is not amused.«

Cornelia verzog das Gesicht abfällig. »Mr. Dekadenz meint wohl, weil er Hauptanteilseigner ist, könne er wieder mal nerven.«

Marion hob etwas die Hände. »Ruf ihn bloß an. Der nervt sonst den ganzen Tag.«

Cornelia hob den rechten schlimmen Finger.

In ihrem Büro wieselte Senta sogleich hinter ihr her.

Die Residenzdirektorin winkte ab. »Harald Fürst von und zu Feldenbruch, ich hab’s schon gehört.«

Senta verdrehte die Augen. »Soll ich die Verbindung herstellen?«

Cornelia blieb kurz vor dem Fenster stehen. Dann seufzte sie: »Okay. Nützt ja nix.«

Vier Minuten später vernahm sie die näselnde Stimme des Hauptanteilseigners.

»Frau Habermann! Wo stecken Sie denn?«

»Ich habe keine Zeit, an meinem Bürosessel zu kleben, Hoheit«, kam es zynisch.

Einen Moment blieb es still. Dann sagte der Fürst: »Hören Sie, es geht hier nicht um Befindlichkeiten. Wie ich sehe, müssen die Anteilseigner Ihrer Meinung nach investieren. Mehr Einzelzimmer im Pflegebereich, mehr Komfort in den Bädern der Wohnungen … Also ich sehe da keinen akuten Grund.«

Cornelia holte tief Luft, ehe sie entgegnete: »Hoheit, Sie kennen doch die neuen gesetzlichen Bestimmungen für den Pflegebereich. Außerdem sind die Bäder der Wohnungen im betreuten Bereich nicht gerade auf dem aktuellen Stand.«

»Na, na, lassen Sie mal die Kirche im Dorf. Die Einzelzimmer, da haben wir noch Karenz. Die Bäder zu bearbeiten ist völlig unnötig.«

Cornelia unterdrückte nur mühsam ihren Zorn. Der Fatzke hat genug Geld, durchzuckte es sie.

»Wenn wir in den kommenden Jahren konkurrenzfähig sein wollen, müssen wir auch mit der Mode gehen und …«

»Was und?«, kam es schnippisch von ihm zurück.

»Es fehlen zu einigen Wannen und Duschen die behindertengerechten Einstiege. Das sollte schon vor einem Jahr geändert werden.«

Sie vernahm das Rascheln von Papier. »Ich werde darüber nachdenken. Aber wir haben nicht in das Haus investiert, um ständig neues Geld hineinzustecken. Guten Tag, Frau Habermann.«

Die Residenzdirektorin blickte irritiert auf den Telefonhörer, dann legte sie auf. Sie sah Senta an, die den Kopf fragend durch die Tür steckte.

»Ich bringe ihn eines Tages um«, kam es hohl.

Senta lachte. »Immer diese leeren Versprechungen. Wenn der Bursche nicht mindestens eine Million Euro auf dem Portokonto hat, dreht er durch.«

Cornelia schleuderte die Schuhe von sich.

Über Sentas Gesicht zog ein unwirscher Ausdruck. Sie ging zu der kleinen Sitzecke, nahm die Schuhe auf und stellte diese ordentlich neben den Schrank. »Wut bringt dich nicht weiter.«

Cornelia seufzte. »Du hast ja recht, aber der Kerl fordert es heraus.«

Senta verschwand und kehrte mit Kaffee zurück. »Wie war’s in Köln?« Sie stellte eine Tasse vor ihre Chefin und Freundin auf den Schreibtisch. »Was ist das für ein Junge, dieser Joschi?«

Cornelia lächelte nun. »Ein liebenswertes Kind. Aber sehr in sich gekehrt. Schreibt Gedichte.«

»Oh«, hauchte Senta.

Cornelia lächelte vertieft. »Ein wahrlich guter kleiner Poet. Ein kleines Mädchen himmelt ihn an.«

Senta hob die Augenbrauen. »Und?«

Die Residenzdirektorin zuckte mit den Schultern. »Ich weiß noch nicht. Man machte mir klar, dass es da bürokratisch nicht so einfach geht. Trotz Verfügung von Svetlana. Es gibt da gesetzliche Bestimmungen.«

Senta nickte. »Ja, das Adoptionsgesetz und … und …«

Sie trat mit ihrer Tasse etwas näher an Cornelia heran und blickte ihr direkt in die Augen. »Willst du es überhaupt?«

Cornelia lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

»Das stellt eine große Verantwortung dar. Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ob ich innerlich bereit dazu bin.« Sie richtete sich auf und legte die Hände auf die Korrespondenzmappe. »Eigentlich geht es ihm in dem Heim doch gut.«

»Sicher«, kam es trocken von Senta. »Wie das so in einem Waisenhaus ist.«

Cornelia schaute auf die Uhr und dann auf die Mappe. »Wie dem auch sei, wir haben noch einiges zu tun.« Mit diesen Worten schlug sie die Mappe auf.

»Klar«, kam es von Senta. »So kann man Dinge auch verdrängen.«

Cornelia schlief unruhig. Im Halbschlaf sah sie immer wieder den kleinen, in sich gekehrten Joschi vor sich.

Irgendwann gegen sechs Uhr in der Früh stand sie auf. Sie schaute aus dem Fenster. Die erste schüchterne Morgendämmerung zog auf.

Barfuß stakste sie müde in die kleine Küche ihres Appartements. Ein starker Kaffee wäre jetzt gut.

Während die Maschine ihre Arbeit aufnahm, marschierte Cornelia ins Bad.

Nach zwanzig Minuten, frisch geduscht, fühlte sie sich besser.

Sie würde Kurt Hermann anrufen, einen alten Freund und … Rechtsanwalt.

Gegen halb acht saß sie bereits in ihrem Büro. Rot ging die Sonne auf. Es würde wieder ein herrlicher Tag werden.

Sylvana hatte Frühdienst an der Rezeption und Frau Miele aus der Dritten kaufte bereits ihre zwei Brötchen.

Senta staunte nicht schlecht. »He, es ist gerade acht und du schon hier?«

Cornelia grinste verunglückt. »Wollte mal deine Arbeitszeit kontrollieren.«

»Aha«, kam es zurück.

»Was heißt hier aha?« Cornelia lehnte sich in die Tür des Vorzimmers und sah zu, wie Senta ihre Jacke in den Schrank hing und dann ihr Mobiltelefon aus der Handtasche kramte.

»Ich hab schei… geschlafen.«

Senta lächelte und nahm die Freundin in den Arm. »Joschi«, sagte sie nur leise.

Cornelia nickte. »Ich weiß nicht, was ich tun soll!«, stieß sie hervor.

Senta löste die Umarmung und schaute ihre Chefin ernst an. »Folge einfach deinem Herzen.«

Cornelia seufzte. »Ja, das hab ich schon mal gehört.«

Senta warf die kleine Kaffeemaschine an. »Um dich etwas abzulenken – die Handwerker für die Steigleitung auf der Vierten kommen um halb neun.«

Die Residenzdirektorin runzelte die Stirn. »Ist mir da was entgangen?«

Ihre Sekretärin und Freundin schüttelte den Kopf. »Nee. Bernd hat sie bestellt. Bei seinem hausmeisterlichen Kontrollgang war ihm vorige Woche aufgefallen, dass der Schlauchanschluss porös ist.«

Cornelia lehnte sich in ihrem Sessel zurück. »Wieso hat das die Feuerwehr bei der letzten Inspektion nicht angemerkt?«

»Hat sie! Der Bericht ging direkt nach München.«

Die Zornesader an Cornelias Schläfe schwoll an. »Die Feuerwehr hat … Wann?«

Senta wieselte ins Büro. Cornelia vernahm das Klicken der Tastatur. »Vor einem Monat«, hörte sie dann ihre Sekretärin rufen.

»Baumann! Na warte!« Die Residenzdirektorin tippte die Kurzwahl ein.

»Hauptverwaltung Abendrot Residenzen, Grauber«, hörte sie die Stimme von Jürgen Baumanns Vorzimmer-Sekretärin.

»Habermann. Bitte Herrn Baumann!«

»Der ist in einer Besprechung, sorry«, flötete die Dame.

»Dann unterbricht er eben. Es ist dringend.« Bei Cornelia war Madam an der falschen Adresse.

»Also hören Sie mal …«

»Sofort!« Cornelias Stimme wurde gefährlich eisig.

»Moment …«, kam es gestottert.

Es dauerte etwas. Cornelia trommelte mit ihren langen Klavierspielerfingern auf der Schreibtischplatte.

Endlich vernahm sie ungehalten: »Frau Habermann! Es ist wirklich ungünstig. Die Anteilseigner …«

»Die Anteilseigner können mich kreuzweise! Sie werden sich nämlich freuen, wenn unsere Hütte hier abbrennt!«

Ein paar Sekunden lang war es still. Dann: »Wie darf ich das interpretieren?«

Cornelia sagte es ihm.

»Ach so. Meine Güte … ja, das werden wir reparieren.«

»Sehr schön«, höhnte die Residenzdirektorin. »Ist bereits in Auftrag. Unser Hausmeister hat die Gefahr erkannt. Schneller als sie, Herr Baumann!«

Ihr Chef in München räusperte sich. »Also lassen Sie mal die …«

»Nichts werde ich«, kam es leise. »Sagen Sie Ihren Anteilseignern Folgendes: Noch so eine Verschlampung eines Sicherheitsberichtes und ich gehe an die Presse.« Damit legte sie auf.

Wütend schlug sie mit der flachen Hand auf die Mahagoni-Schreibtischplatte.

»Hauptsache, die Geldgeber schlürfen Champagner«, stieß sie aus.

Senta kam lachend um die Ecke. »Beruhige dich. Du hast dem Baumann auf alle Fälle die Stimmung vermiest.«

»Dem vermiese ich noch ganz andere Dinge!« Cornelia sprang auf und lief zum großen Wandkalender. »Morgen früh ist Treffen des Seniorenfestausschusses. Wegen des Herbstfestes.«

Senta nickte. »Dr. Beuer hat schon gefragt, ob es stattfindet.«

»Na klar!«

»Okay, sag ich ihm.«

Senta verschwand wieder.

Das Telefon auf Cornelias Schreibtisch meldete sich. Es war Harald Fürst von und zu Feldenbruch.

»Frau Habermann, was soll dieser Stress mit der kaputten Steigleitung?«

Verblüfft schwieg Cornelia.

»Frau Habermann?«

Die Residenzdirektorin fing sich wieder. »Hoheit, sind Sie sich der Gefahr bewusst? Ganz zu schweigen von der Ordnungsstrafe, wenn das nicht repariert wird?«

»Sie übertreiben«, kam es ungehalten.

»Tue ich das? Dann sollten Sie sich mal der Verantwortung als Hauptanteilseigner bewusst werden.« Sie legte einfach auf. »Idiot!«, zischte sie.

Ehe sie einen anderen Gedanken haben konnte, stürmte die Leiterin der Ambulanz herein. »Chefin da?«

»Ja«, kam es von Senta.

Kerstin Schulz stürmte durch die zweite Tür. Cornelia blickte sie mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Ist der Teufel hinter dir her?«

Etwas außer Atem kam es von Kerstin Schulz: »Aufzug zwei steckt fest und …«

Cornelia war aufgesprungen. »Was?«

»Herr Tölle steckt drin. Er hat sein Beatmungsgerät vergessen.«

»Schei…«

Cornelia raste los. »Ruf Bernd an!«, schrie sie über die Schulter. Da wählte Senta bereits die Nummer des Hausmeisters.

Da stockte Cornelia, lief zurück und schlüpfte in die Ballerinas, die neben ihrem Schreibtisch standen.

In der Lobby herrschte bereits Aufregung.

»Ist Bernd Hartmann schon da?«, rief Cornelia noch während des Laufens.

»Er ist oben«, erklärte Martina Mertens, die eben den Rezeptionsdienst übernommen hatte.

Wenig später meldete sich Cornelias Mobiltelefon. Es war der Hausmeister. »Die Notkurbel klemmt!«

Die Residenzdirektorin verdrehte die Augen. Dann wählte sie die 112.

Es knirschte im Aufzugschacht. Sie drückte Martina das Handy in die Hand und betätigte die Notöffnung der Fahrstuhltür.

Die Kabine stand so, dass das Dach mit der Wartungsklappe sich in drei Metern Tiefe zeigte.

Cornelia wandte sich an die Leiterin der Ambulanz. »Hol das Sauerstoffgerät! Schnell!«

»Ich muss erst den Hauptschlüssel …«

»Das Notfallgerät aus meinem Büro!« Mit diesen Worten sprang Cornelia bereits auf das Doppeltragseil zu, umkrampfte es und rutschte an der Ölschicht ab, fing sich aber wieder. Wie in der Turnhalle ließ sie sich auf das Kabinendach herab.

Von oben vernahm sie einen bewundernden Ausruf.

Es interessierte sie nicht.

Hastig zog sie den Riegel der Wartungsklappe auf dem Liftdach zurück. Er öffnete sich nur schwer. Dann sah sie im Kabinenlicht Alfons Tölle auf dem Boden kauern. Er atmete hektisch.

»Herr Tölle! Hören Sie mich?«, rief Cornelia. Der alte Mann rührte sich nicht.

Die Residenzdirektorin ließ sich in die Kabine hinab. Diese knirschte, als sie auf dem Boden aufkam, bedenklich. Immerhin waren es noch neun Meter bis zum Keller.

Sie kniete vor dem Mann und hob seinen Kopf. Die Augen flackerten ängstlich.

»Cornelia!«, hörte sie dann den Ruf von oben. Es war Martina.

»Lass das Gerät herunter! Schnell!«

Martina ließ das Sauerstoffgerät an dem Verbindungsschlauch vorsichtig nach unten. Cornelia fing es auf. »Jetzt den Rest!«

Martina ließ den Schlauch los.

»Stromverbindung!«, rief Cornelia nun nach oben. Es dauerte noch eine Minute, dann flackerte die Betriebslampe auf. Cornelia drückte Alfons Tölle die Maske auf Mund und Nase.

»Tief atmen! Herr Tölle! Einatmen!«

Weit entfernt vernahm sie das Signalhorn der Feuerwehr.

Cornelia sah dem entschwindenden Blaulicht nach. Kerstin und Martina standen neben ihr.

»Noch mal gut gegangen«, flüsterte die Ambulanzleiterin.

Senta gesellte sich zu ihnen. »Die Aufzugswartung ist erst zwei Wochen her.«

Die Wangenmuskeln der Residenzdirektorin mahlten. »Okay«, sagte sie dann, »ich werde mit dem Techniker gleich reden.« Sie griff zum Telefon.

»Ich habe Ihrer Direktion in München doch geschrieben, dass wir …« Er nannte einen Fachbegriff.

»So«, machte Cornelia. »wann sollte der Austausch stattfinden?«

»Man war der Meinung, das Ding würde noch halten. Es bestünde ja nur meine Vermutung, es könne sich festsetzen.«

Cornelias Adrenalin stieg an. »Danke!«, entgegnete sie. »Tauschen Sie das sofort aus.«

»In Ordnung! Ich bin in zwei Stunden bei Ihnen. Solange müssen Sie leider den Lift sperren. Aber es gibt ja zum Glück noch zwei weitere.«

Senta kam herein. »Herr Baumann auf Leitung zwei.«

Cornelia lächelte diabolisch. »Das passt! Dem werde ich jetzt mal einen Schock versetzen.«

»Habermann«, flötete sie überfreundlich ins Telefon.

Eine Sekunde war es still. Dann kam: »Frau Habermann, wenn Sie so betont nett sind, ist was im Busch.«

»Oh … nein … wir hatten nur Besuch von der Kripo.«

Sie spürte förmlich, wie Baumann blass wurde. »Kripo? Weshalb?«

»Wegen des Aufzugs.«

Baumann wurde arg nervös. Glücklicherweise sah er nicht, wie Cornelia grinste.

Sie berichtete knapp und sachlich. »Herr Tölle befand sich in arger Bedrängnis.«

»Äh, wenn er sein Gerät nicht mithat, ist das doch nicht unser Versagen.«

»Richtig. Da Ihnen aber der Bericht des Wartungsdienstes vorliegt, sieht man hier fahrlässige Gefährdung.«

Sie hörte Baumann schwer atmen. »Feldenbruch blockiert immer. Sofort das Teil austauschen lassen!«

»Passiert heute Nachmittag.«

»Gut! Unseren Fürsten knöpfe ich mir jetzt mal vor. Bis später.« Er legte auf.

Cornelia lachte auf. »Geht doch!«

Senta zwinkerte mit einem Auge. »Der Tag ist wieder versaut. Aber das mit der Kripo, war das nicht ein bisschen dick aufgetragen?«

Die Residenzdirektorin kniff die Augen zusammen. »Wäre Herrn Tölle ernsthaft etwas passiert, wäre es noch dicker gekommen.«

Der restliche Tag verging mit unaufregender Verwaltungsarbeit.

Cornelia wollte gerade nach Hause gehen, als Kurt Hermann sich meldete.

»Ich habe mir die ganze Geschichte mit dem Jungen noch mal durch den Kopf gehen lassen. Es gibt da eine Möglichkeit. Aber der Junge muss es wollen.«

Er setzte ihr das Prozedere auseinander.

Zum Schluss meinte er: »Aber überlege dir das gut. Es ist eine große Verantwortung.«

»Ja, ich weiß. Danke Kurt. Ich fahre am Wochenende jedenfalls nach Köln.«

Sie parkte auf dem kleinen Platz vor dem Haupttor.

Die Sonne schien warm und zauberte verspielte Schatten auf die liebevoll angelegten Blumenrabatten. Zahlreiche Kinder tummelten sich in dem Garten hinter der rötlichen Steinmauer.

Das Haus selbst in seiner weißen Farbe und mit den Bogenfenstern sowie den bunten Vorhängen wirkte hell und freundlich.

Mitten im Getümmel sah sie Gerda Obert.

Ein kleines Mädchen kam auf Cornelia zugerannt. Sie wusste, dass es Sandra war.

»Hallo!«, rief sie fröhlich mit einem strahlenden Lächeln. »Kommst du zu unserem Fest?«

Cornelia beugte sich zu der Kleinen herab. »Ja, eure Heimleiterin hat mich eingeladen. Du bist Sandra, richtig?«

Nun strahlte die Kleine noch mehr. »Ja! Komm!« Damit ergriff sie Cornelia bei der Hand.

Gerda Obert wurde nun aufmerksam und kam den beiden entgegen.

»Frau Habermann, schön, dass Sie gekommen sind.« Sie drückte der Residenzdirektorin herzlich die Hand.

Cornelia reichte ihr eine Tüte. »Ich wusste nicht so recht, was ich mitbringen sollte, da habe mal eine große Tüte Schokolade und andere Süßigkeiten gepackt.«

Gerda Obert lachte auf. »Oh weh, da muss ich die Kinder aber ausbremsen!«

Ein junger Mann kam nun auf sie zu. »Das ist Bert Urban. Er ist Praktikant und unterstützt uns.«

Der sympathische junge Mann begrüßte Cornelia.

Gerda Obert deutete auf die kleine Terrasse. »Dort hinten ist noch Franziska Hausmann. Wir drei«, sie lachte wieder, »managen den Laden hier.«

Aufgrund des fröhlichen Kinderlärmes bemerkte Cornelia: »Wie es aussieht, machen Sie das hervorragend.« Dann schaute sie sich um. »Wo ist Joschi?«

Ein kleiner Schatten huschte über die Züge von Gerda Obert. »Er sitzt dort ganz hinten, abseits und allein. Er schreibt wieder Gedichte.« Sie deutete auf den schattigen Baumhof, der sich auf der anderen Seite der Terrasse anschloss.

»Kann ich mal zu ihm?«, wollte Cornelia wissen.

Gerda Obert nickte. »Natürlich. Aber …«

Cornelia lächelte. »Ich bin behutsam.«

Joschi saß auf einem Baumstamm. Auf den Knien hielt er eine Art Kladde und schien zu schreiben. Als Cornelia sich näherte, sah er nicht auf.

Sie blieb an einem Birnbaum mit tief hängenden Ästen stehen. Dann kam sie durch das Gras langsam näher.

Als sie fast neben dem Jungen stand, schaute der kurz auf.

Cornelia lächelte freundlich. »Hallo Joschi.«

Der Junge antwortete nicht. Er schien aber auch nicht verängstigt.

»Man sagte mir, du schreibst wunderschöne Gedichte.«

Joschi sagte nichts. Sein Blick war auf das Gras gerichtet.

Cornelia atmete tief durch. »Ich bin Cornelia. Frau Obert hat mich zu eurem Fest eingeladen. Weshalb bist du nicht bei den anderen?«

»Keine Lust«, kam es nur kurz und leise.

Cornelia deutete auf den breiten Baumstumpf. »Darf ich mich setzen?«

Der Junge nickte stumm.

Cornelia schaute auf das Buch. In sehr feiner, schon beinahe künstlerischer Schrift hatte Joschi ein Gedicht begonnen. Cornelia las:

Von des Sonnengottes Gefährt

Liegen Wald und Flur versengt,Drüber, wie mit Stahl bewehrt,Wolkenlose Bläue hängt.

»Das ist wunderschön«, flüsterte sie.

Joschi klappte das Heft zu. »Die anderen finden es albern und lachen über mich.«

Cornelia runzelte die Stirn. »Wie können sie solche Poesie verlachen?«

»Sie finden es dumm und albern lieber herum.«

»Hm … außer Sandra.«

Der Junge seufzte. »Ja, sie kommt oft zu mir und möchte, dass ich ihr Gedichte vorlese.«

»Und?«

Joschi zuckte die Achseln. »Na ja. Aber ich glaube, sie spielt sonst lieber mit den anderen.«

Cornelia nickte. »Nun, das kann man auch verstehen. Du schreibst doch auch nicht den ganzen Tag Gedichte, oder?«

Joschi schüttelte den Kopf. »Nein, aber das Herumrennen im Garten ist mir zu langweilig. Ich lese dann lieber.«

»Oh! Was denn?«

Einen Moment blieb es still. Man hörte nur die Vögel in den Bäumen und vom Haus gedämpft das Jauchzen der anderen Kinder.

»Heinrich Heine.«

Cornelia war verblüfft.

»Heinrich Heine? He, das habe ich früher in meiner Jugendzeit auch gern gelesen. Ein bisschen habe ich noch behalten.« Sie überlegte kurz. »Ganz bekomme ich es nicht mehr zusammen:

Die blauen Frühlingsaugen, Schau’n aus dem Gras hervor; Das sind die lieben Veilchen, Die ich zum Strauß erkor.  

Ich pflücke sie und denke, Und die Gedanken all, Die mir im Herzen seufzen, Singt laut die Nachtigall.«

»Ja, was ich denke, singt sie Laut schmetternd, dass es schallt; Mein zärtliches Geheimnis …

»… weiß schon der ganze Wald«, vollendete der Junge.

»He, das ist ja toll! Ich musste das früher immer mühsam auswendig lernen.«

Nun sah Joschi sie zum ersten Mal richtig an. »Ich kann mir Gedichte immer merken. Jedenfalls die, die mir gefallen.«

Die Residenzdirektorin wusste, dass auch die verstorbene Svetlana lyrisch sehr gebildet gewesen war.

»Sag mal«, kam es leise von Cornelia, »vermisst du deine Oma?«

Der Junge nickte. »Ja sehr. Als sie ins Heim kam, da mussten wir uns trennen und ich konnte sie nur einmal noch besuchen.«

Cornelia schloss die Augen. Von all dem hatte sie nichts gewusst. Sonst hätte sie den Jungen öfter geholt.

Sie räusperte sich. »Ich mache dir einen Vorschlag – wir gehen zusammen auf die Terrasse, essen Kuchen und du erzählst mir mehr über deine Gedichte.«

Der Junge sah sie zweifelnd an. »Wollen Sie das wirklich? Die anderen werden wieder dumme Bemerkungen machen.«

Cornelia stand auf. »Ha, das wollen wir mal sehen! Vielleicht merken sie schnell, wie dumm sie sind.«

Als Cornelia sich am Abend verabschiedete, sagte Gerda Obert leise: »Ich habe den Jungen während der gesamten Zeit bei uns nie so fröhlich und gelöst erlebt. Wie haben sie das geschafft?«

Cornelia zog fröhlich eine Augenbraue hoch. »Ich mag Gedichte. Joschi ist ein ganz bemerkenswerter Junge.«

Die Heimleiterin lächelte nun. »Ja. Ja, das ist er.« Sie blickte Cornelia fest in die Augen. »Sie mögen ihn und er mag Sie.«

Etwas verlegen umkrampfte die Residenzdirektorin ihre Tasche. »Ja«, kam es dann etwas gepresst. Dann schaute sie auf die Uhr. »Ich muss leider los.«

Gerda Obert nickte verstehend.

Sie sah dem Wagen nach, wie er über die Einfahrt zur Hauptstraße entschwand.

Sie würde bald wieder von Cornelia hören, da war sie sich sicher.

Sonntagmorgen. Das Telefon mischte sich unaufgefordert und aggressiv in Cornelias Halbschlaf.

Noch im Dämmerzustand tastete sie nach dem schnurlosen Festanschlussgerät.

»Ja«, murmelte sie.

Als sie Sentas Stimme vernahm, wurde sie hellwach.

»Bei Frau Harmsen brennt die Küche. Die Feuerwehr ist schon da, aber die kommen nicht rein.«

Cornelia saß aufrecht im Bett. »Wieso kommen die nicht rein?«

»Etwas blockiert die Tür.«

»Über den Balkon?«

»Vom Regen ist der Boden so weich, dass der Leiterwagen wegsackt.«

Während des Telefonats sprang die Residenzleiterin schon in die Jeans. »Ist Bernd im Haus?«

»Nein«, kam es gehetzt.

»Okay, im Gerätekeller steht die lange Leiter. Schnapp dir einen Feuerwehrmann. Im Keller liegen auch Bretter. Verstanden?«

»Leiter, Bretter …«

»Herrgott Mädchen! Streng deine grauen Zellen an!«

Cornelia legte auf und streifte das T-Shirt über. In weniger als fünf Minuten jagte das Mercedes-Cabrio aus der Tiefgarage. Bis zur Seniorenresidenz waren es nur vier Kilometer.

Der Himmel zeigte sich tiefgrau.

Auf der Umgehungsstraße blitzte es und dann sah sie die Polizeikelle.

»Scheiß drauf!«, rief sie zu sich selbst und gab Vollgas. Der Polizist sprang zur Seite.

Noch einen Kilometer. Sie sah bereits die Rauchwolke. Hinter ihr raste Blaulicht heran. Cornelia gab noch etwas mehr Stoff.

Die Einfahrt zum Zufahrtsweg.

Feuerwehr.

Das Cabrio sauste über die Vorwiese. Schlingernd kam es zum Stehen.

Die Residenzdirektorin sprang aus dem Wagen. Da sah sie Senta.

»Habt ihr die Leiter?«

»Ein Feuerwehrmann ist schon oben!«

»Hallo!«, vernahm sie da eine Stimme hinter sich und spürte eine Hand auf der Schulter. »Was denken Sie …«

Weiter kam der Polizist nicht. »Klappe!«, herrschte Cornelia ihn an. Das Gesicht unter der Mütze wurde finster. Er griff fester zu, als Cornelia loslaufen wollte. Das hätte er besser gelassen. Im hohen Bogen flog er über Cornelias Schulter und landete im Matsch.

»Lassen Sie den Scheiß! Sie sehen doch, was hier Priorität hat!« Damit rannte die Residenzdirektorin um das Haus.

Ein Feuerwehrmann hatte Frau Harmsen nun im Rettungsgriff, ein weiterer half. Die 82jährige schien bewusstlos.

Ein Rettungswagen rauschte heran.

Nach weiteren zehn Minuten hatte die Feuerwehr alles unter Kontrolle.

»Sie wollte scheinbar etwas kochen und ist dabei ohnmächtig geworden. Dabei geriet sie wohl mit ihrem Schal an die Herdplatte. Das Zeug hat neunzig Prozent Plastikfasern. Normalerweise schmilzt das, aber hier fing das Zeug Feuer«, erklärte der Einsatzleiter. »Die Dame hat Verbrennungen an den Händen erlitten, als sie den Schal noch abstreifen wollte. Das hat sie wohl auch noch geschafft, aber der Teppich fing dann durch den Schal Feuer.«

Er sah Cornelia fest an. »Wieso liegt da kein feuerfester Teppich?«

»Weiß ich nicht«, kam es lahm von Cornelia. »Ihre Tochter hat letzte Woche das Ding angeschleppt.«

Der Einsatzleiter fuhr sich mit den unteren Zähnen über die Oberlippe. Dann nickte er. »Klären Sie das mit der Kripo.«

Da tauchten die beiden Verkehrspolizisten auf. »Sie sind vorübergehend festgenommen.«

Doch da waren sie bei Senta an der falschen Adresse.

»Was soll der Quatsch? Sie haben doch gesehen, dass hier ein Ausnahmezustand vorlag. Statt hier herumzuhängen, gehen Ihnen die echten Verkehrsrowdys durch die Lappen!«

Die Polizisten waren einen Moment sprachlos.

Da kam ein Mann in Zivil heran. »Dr. Brenner, Staatsanwalt«, stellte er sich vor. »Was ist los?«

Cornelia fuhr sich genervt durch das ungekämmte Haar. Dann sagte sie es ihm.

»Eujeujeujeujeu!«, machte Brenner. »Da haben Sie sich was eingehandelt.«

»Ich hörte, dass die Feuerwehr nicht in die Wohnung kam. Da ging es um Leben und nicht um so …«, sie wedelte mit den Armen, »… ach … egal. Tut mir leid. Verknacken Sie mich eben.«

Brenner sah die Polizisten an. »Ich verbürge mich für Frau Habermann. Wir kommen gleich auf die Wache.«

Widerstrebend stimmten die Beamten zu.

Der Staatsanwalt sog die Luft durch die Nase. »Das kann teuer werden, Frau Habermann.«

Cornelia seufzte. »Ja, aber ich hatte Angst um Frau Harmsen.«

»Das klären wir nachher. Jetzt benötige ich ein paar Auskünfte.«

Die Residenzdirektorin deute auf das Haus. »Gehen wir in mein Büro.«

Die Tochter von Frau Harmsen wurde informiert. Sie war außer sich. Senta kümmerte sich um sie.

Nach einer Stunde erhob sich Staatsanwalt Brenner. »Ich werde noch mit der Tochter reden.« Dann blickte er Cornelia ernst an. »Tun Sie sich selber einen Gefallen und fahren Sie zur Polizeiwache. Sie zeigen dann guten Willen. Ich werde mal telefonieren. Widerstand gegen einen Polizeibeamten ist keine Leichtigkeit.«

Cornelia nickte. »Es war ein Affekt.«

Dr. Brenner schaute zur Zimmerdecke. »Hm, wir werden sehen.«

Nachdem er gegangen war, legte Cornelia den Kopf auf die Schreibtischplatte.

Senta kam. »So, alle sind weg, die Wohnung ist allerdings im Moment nicht brauchbar. Frau Jäger, also die Tochter von Frau Harmsen, sagt, dass sie diesen Schal schon zweimal in den Müll gepackt habe. Über den Teppich hat sie sich keine Gedanken gemacht.« Senta hob die Arme zur Decke. »Verdammt! Wer denkt denn an solche unglücklichen Zusammenhänge?! Das kommt unter einer Million Fällen einmal vor.«

Cornelia setzte sich aufrecht. »Ja, aber es ist passiert.« Sie stand auf. »Ich muss erstmal duschen gehen. Hast du ein Handtuch für mich?«

Bei einer Tasse Kaffee im Restaurantbereich eine Stunde später konnte Cornelia wieder ruhiger denken. Die Feuerwehr war abgerückt, nur ein Brandinspektor hielt sich noch in der Wohnung auf.

»Du musst das nach München melden«, erinnerte Senta.

»Später«, kam es von Cornelia.

Auf der Polizeiwache wurde sie nicht gerade herzlich empfangen. Aber ein Anruf von Dr. Brenner hatte bewirkt, dass sie bis zu einer möglichen Verhandlung ihren Führerschein behalten konnte. Sie entschuldigte sich bei dem Beamten, der ihrer Judoabwehr zum Opfer gefallen war.

Der nahm dann auch nach einigem Zögern diese Entschuldigung an.

Wieder im Büro bat sie den Hausmeister, die Wohnung von Frau Harmsen zu verschließen.

Danach hatte sie noch ein ausgiebiges Gespräch mit Frau Jäger.

»Ich habe mir darüber … also über den Teppich … gar keine Gedanken gemacht. Wer denkt auch an solche Zusammenwirkung?«

Die Residenzdirektorin beruhigte die verzweifelte Frau. »Hauptsache ist doch, dass Ihrer Mutter nichts Schlimmeres passiert ist.«

Als sie wieder allein war, griff sie zum Telefon. Doch dann zog sie die Hand zurück. Den Tanz mit der Zentrale verschob sie auf den nächsten Tag. Den Montag.

Martina winkte bereits von der Rezeptionstheke, als Cornelia die Halle betrat.

»Der neue Praktikant für den Ambulanzdienst sitzt in deinem Büro.«

Cornelia blieb abrupt stehen. »Der was?«

»Der Praktikant. Hatte sich über München beworben und soll hier ins Haus.« Sie schob ihrer Chefin einen Umschlag mit Unterlagen zu.

Cornelia schürzte die Lippen. »Schön, dass ich das nun auch weiß.«

Die Rezeptionistin kicherte.

Cornelia klemmte sich den Umschlag unter den Arm und nahm den Weg über die Marmorfliesen zu ihrem Büro. Das Klacken ihrer Absätze entfachte ein kleines Echo.

Der junge Mann – groß, schlank, sportlich, mit wuscheligem blonden Haar – stellte sich als Gerhard Berg vor.

Cornelia kam nicht umhin, sich einzugestehen, dass sie ihn sympathisch fand.

Sie gebot ihm, wieder Platz zu nehmen.

Sie zog die High Heels aus und schlüpfte wieder in die bequemeren Ballerinas.

»Weshalb möchten Sie gerade in unserem Haus ihr Praktikum machen?«, wollte sie wissen.

Der junge Mann lächelte. »Ich wohne in der Nähe und Ihr Haus hat einen guten Ruf.«

Wenn du wüsstest, wo die faulen Ecken sind, durchfuhr es Cornelia spontan.

Sie legte den Umschlag ungeöffnet zur Seite. »Was zieht Sie in den Pflegebereich?«

»Ich bin ausgebildeter Rettungssanitäter und möchte mein Examen als Pfleger machen. Besonders hilfsbedürftige alte Menschen liegen mir am Herzen. Früher waren sie für die Jugend da, nun sind wir für ihr Wohlergehen verantwortlich.«

Cornelia hob eine Augenbraue. »Noble Ansichten. Nun – wir werden sehen. Melden Sie sich bei Frau Schulz im Trakt zwei. Ich sage Bescheid.«

Gerhard Berg bedankte sich und verließ das Büro.

Senta kam. »Was Neues?«, fragte sie.