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Mitten in der Coronakrise wird im Dillenburger Vorort Frohnhausen der Geschäftsführer einer Firma, die kurz vor der Vorstellung eines wirksamen Impfstoffes steht, erhängt aufgefunden. Sabrina Hampe, Dillenburger Pathologin und Mitglied der UGA-Connection, ist mit dem Opfer befreundet und glaubt nicht an einen Suizid. Gerade als die Kommissare Sven Gustavsen und Sandra Sabitzer die Ermittlungen aufnehmen, kommt ein Anruf von der Kanareninsel Lanzarote. Dort ist ein Flüchtling aus Nigeria angekommen, der eine unfassbare Geschichte zu erzählen hat - die noch dazu mit dem vermeintlichen Selbstmord in Frohnhausen im Zusammenhang zu stehen scheint. Über Nacht befindet sich das UGA-Team in einem gnadenlosen medizinischen Wettbewerb, in dem die Kontrahenten auch vor den übelsten Mitteln nicht zurückschrecken. Noch dazu scheint ihr alter Widersacher Ernesto, der ihnen beim letzten Fall durch die Maschen geschlüpft ist, wieder die Hände im Spiel zu haben. Ist es ein Vorteil für die Ermittler, ihren Gegner und seine Vorgehensweise zu kennen? Wird sich die UGA-Connection in einem paramilitärischen Umfeld in einer unbekannten Umgebung behaupten können? Werden sie diesmal endlich ihren alten Konkurrenten zur Strecke bringen? Und welche Rolle spielen die Israelis, die plötzlich auf der Szene erscheinen?
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Prolog
Kapitel 01
Kapitel 02
Kapitel 03
Kapitel 04
Kapitel 05
Kapitel 06
Kapitel 07
Kapitel 08
Kapitel 09
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Epilog
Akono Torunarigha berührte vorsichtig seine verbrannte Stirn. Seit mittlerweile zwölf Tagen hockte er mit den beinahe fünfzig anderen Flüchtlingen in dem maroden Holzkahn mit dem altersschwachen, stinkenden Dieselmotor. Die Sonne brannte unerbittlich vom wolkenlosen Himmel und bescherte selbst ihm, dem dunkelhäutigen Afrikaner, unangenehme Verbrennungen.
Vor fast drei Wochen waren sie von einem der Flüchtlingslager in Maiduguri im Norden Nigerias aufgebrochen und mit dem Bus vier Tage lang in brütender Hitze nach Saint-Louis im Nordwesten des Senegal gefahren. Dort hatten sie weitere zwei Tage im Bus ausharren müssen, bis die Schleuser sie endlich an Bord des Seelenverkäufers ließen. Die Hitze und die fehlenden Möglichkeiten, sich waschen oder ihre Notdurft vernünftig verrichten zu können, hatten alle an die Grenze ihrer Belastbarkeit getrieben. Drei von ihnen, darunter ein Kind, sogar darüber hinaus – sie waren während der Bootsüberfahrt gestorben und von den Schleusern einfach über Bord geworfen worden. Akono hatte das alles ohnmächtig mitansehen müssen. Obwohl ausgebildeter Arzt, konnte er mangels Ausrüstung und ohne jegliche Medikamente niemandem auf dem Boot helfen. Lediglich reden konnte er und versuchen, den Menschen, die aus dem unbeschreiblichen Elend ihres Flüchtlingslagers gleich in die nächste Katastrophe geraten waren, ein wenig Hoffnung zu machen. Hoffnung darauf, dass es in Europa besser werden würde. Aber selbst dabei fühlte er sich unbehaglich, wusste er doch, dass sich der Traum eines besseren, sichereren Lebens für die meisten nicht erfüllen würde.
Plötzlich vernahm er Aufruhr im vorderen Teil des Bootes. Die Menschen riefen aufgeregt durcheinander. Offenbar war Land in Sicht. Akono stand auf und versuchte, an den anderen Passagieren vorbei einen Blick zu erhaschen. Es sah tatsächlich so aus, als steuerten sie auf eine Insel zu. In der Ferne sah er braune Berge mit unregelmäßigen Schattenspielen – mittlerweile waren ein paar vereinzelte Wolken aufgezogen – und davor kleine weiße Flecken. Das müssen Häuser sein, Dörfer, Städte, folgerte er. Vielleicht die Kanarischen Inseln?
War das die Freiheit?
»Die Scones sind wunderbar, Peter!«, schwärmte Kriminalkommissarin Sandra Sabitzer und bestrich ein weiteres kleines Stück des köstlichen englischen Gebäcks südafrikanischer Art mit Butter und Marmelade.
Der Gelobte lächelte.
»Das freut mich zu hören, Sandra. Ist glaube ich das erste Mal, dass du sie probierst, nachdem du dich lange erfolgreich davor gedrückt hast.«
»Schuldig im Sinne der Anklage«, lachte Sabitzer. »Nach unserem ersten gemeinsamen Fall musste ich dringend Diät halten, sonst hätte ich am Ende Sven als weltbesten FSO-Schwimmer abgelöst.«
Die übrigen Besucher der heutigen Lesung in der Dillenburger Buchhandlung Ohnezahn schauten verständnislos drein.
Peter Kuhlmann, gebürtiger Südafrikaner, ehemaliger Elitesoldat und Scharfschütze, heutiger Inhaber der Buchhandlung sowie offensichtlicher Meisterbäcker, beeilte sich, die Abkürzung zu erklären.
»FSO bedeutet ›Fett Schwimmt Oben!‹«, grinste der mittelgroße, drahtige und ansonsten recht unauffällige Mann, den man fast nie ohne seine geliebte Pfeife von Poul Winslow antraf, in die Runde. »Unser Sven hier beherrscht das so gut, dass er im Schwimmbad bewegungslos Zeitung lesen kann. Nicht wahr, Svennie?«
»Das stimmt. Schließlich lebe ich nach dem Motto Alles, was man mit einem Motor erledigen kann, macht man nicht selbst. Also musste ich mir im Schwimmbad etwas anderes einfallen lassen, um jegliche Anstrengung zu vermeiden«, grinste der Kommissar, neben Jürgen Emmerich das vierte anwesende Mitglied der UGA-Connection.
Gustavsen war ein großgewachsener, kräftiger Mann Ende vierzig. Vor seiner heutigen Position als Kriminalhauptkommissar im mittelhessischen Dillenburg hatte er bereits eine bemerkenswert bunte Laufbahn hinter sich gebracht. Nach einer Ausbildung zum Handwerker hatte er zum Kaufmann umgeschult und als Vertreter für Landmaschinenzubehör die ganze Welt bereist. Bei einer seiner vielen Dienstreisen in die USA hatte sein Leben eine drastische Wendung genommen, als er ein kleines jüdisches Mädchen aus den Händen amerikanischer Neonazis befreite. Dadurch lernte er seinen heutigen besten Freund, den Holländer Willem van Meulen, genannt Wim, den Onkel der kleinen Naomi, kennen und wurde von diesem später als Berater für eine übernommene marode Firma angestellt. Diese führte er innerhalb weniger Jahre bis in die berühmten Fortune 500 und hatte anschließend finanziell ausgesorgt. Dann schloss er sich durch Wims Neffen Jo der Sajeret an, einer israelischen Eliteeinheit zur Terrorismusbekämpfung, und nahm an diversen sogenannten Black Ops teil. Das waren Geheimoperationen, die üblicherweise von Regierungen eines Landes angeordnet wurden, um bestimmte Interessen durchzusetzen, deren Ausführung jedoch entweder gegen geltendes Recht verstieß oder öffentliche Empörung hervorrief und daher glaubwürdig abstreitbar sein musste.
Bei diesen Einsätzen hatten sich die Männer kennengelernt, die sich schnell durch ihren gemeinsamen christlichen oder jüdischen Glauben verbunden fühlten, Freunde wurden und sich heute in Anlehnung an Wims Wohnsitz auf der Kanareninsel Lanzarote scherzhaft die UGA-Connection nannten. Diese Verbindung war in eine von Wim und Gustavsen geführte und finanzierte offizielle Firma im Bereich Sicherheit und Personenschutz aufgegangen, kümmerte sich jedoch unauffällig auch um Missstände, derer die eigentliche Obrigkeit nicht Herr wurde. Sie unterstützten Mobbingopfer, standen Menschen in Notlagen gegen zahlungsunwillige Versicherungen bei und kümmerten sich um alle denkbaren Fälle, bei denen sie der Ansicht waren, dass jemand übervorteilt, betrogen oder unterdrückt wurde oder in irgendeiner anderen Form in Not geraten war. Bisheriger Höhepunkt dieser Arbeit war der Neubau eines Hauses für eine türkische Familie, deren Domizil durch einen Brand vollständig vernichtet worden war und die keine Feuerversicherung besaß.
Neben diesen Aktivitäten unterstützte die UGA-Connection Gustavsen auch bei der Aufklärung diverser Kriminalfälle. Denn dieser war mittlerweile zur Kripo nach Dillenburg gewechselt. Wie es Wim mit seinen vorzüglichen politischen Kontakten geschafft hatte, dass sein Freund ohne adäquate Ausbildung diesen Posten bekam, wusste keiner so richtig. Aufgrund seiner bisher makellosen Aufklärungsquote waren jedoch alle Beteiligten zufrieden, und Gustavsens direkter Vorgesetzter, Erster Kriminalhauptkommissar Ebert, ließ ihm sämtliche Freiheiten, stand er doch selbst mit den Ergebnissen nach außen hin hervorragend da.
Im Rahmen eines aufsehenerregenden Mordfalls im vergangenen Jahr war auch Sandra Sabitzer, die junge Kriminalkommissarin, feierlich in die Truppe aufgenommen worden. Außerdem gab es mittlerweile noch zwei weitere Frauen, nämlich Sabrina Hampe, die Leiterin der Spurensicherung und Pathologin der Dillenburger Kripo in Personalunion, sowie Anja, die Ehefrau Wolframs. Dieser war früher ebenfalls Elitesoldat gewesen und lebte heute mit ihr in Wims Anwesen oberhalb Nanzenbachs, das sie schmunzelnd als deutsches UGA-Hauptquartier bezeichneten. Anja und Wolfram waren auch die Einzigen aus dem Team, die immer in Nanzenbach gelebt hatten. Wolfram fungierte als Kampfsporttrainer sowie Sicherheitsbeauftragter, Anja nannte sich selbst scherzhaft Schnittstellenmanagerin, was die amerikanisierte Version des Mädchens für alles darstellen sollte, wie ihr der weitgereiste Gustavsen erklärt hatte. Nichtsdestotrotz war sie kein Anhängsel, sondern ein vollwertiges Mitglied der Truppe, das auch schon an Außeneinsätzen teilgenommen hatte. Die anderen waren jedoch auch keineswegs traurig darüber, dass Anja obendrein eine hervorragende Köchin war und sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit kulinarisch verwöhnte.
Sabitzer, eine zierliche, sportliche Brünette Ende zwanzig aus dem Grenzgebiet zwischen Siegerland und Westerwald, war gemeinsam mit Gustavsen in diesen jahrzehntealten Mordfall gestolpert, hinter dem Ernesto, Wims Schwager, steckte und der sie schnell in Lebensgefahr brachte. Sie hatten den Fall innerhalb kürzester Zeit gelöst und Ernestos gesamte Gangsterbande hochgenommen, der Drahtzieher selbst war ihnen jedoch entkommen.
Jürgen Emmerich war ein nur durchschnittlich großer, schlanker Mann mit gepflegten dunkelblonden Haaren. Heute Apotheker kurz vor dem Ruhestand, war er früher ebenfalls Elitesoldat, Scharfschütze und außerdem Sanitäter gewesen. Meist hielt er sich unauffällig im Hintergrund und überließ wie sein Freund Peter das Reden Gustavsen und Wim – die dieses Privileg nur zu gern ausnutzten.
Die anderen Teilnehmer am heutigen Zusammentreffen waren vornehmlich ältere Herrschaften aus Dillenburg und Umgebung, entweder Literaturfreunde oder mit den Ausrichtern befreundet – manche waren vielleicht aber auch nur wegen der tatsächlich köstlichen Scones da, mutmaßte man.
Es war Sommer. Auch das Leben im beschaulichen Dillkreis war in den letzten Monaten vom Corona-Virus bestimmt worden. Zum großen Glück hatte die Regierung nach anfänglichem Zögern konsequent die richtigen und notwendigen Maßnahmen ergriffen, um Deutschland vor Horrorszenarien wie in Italien, Spanien oder den USA zu bewahren – und war dafür anschließend öffentlich in nie dagewesener Weise angegriffen worden, obwohl sämtliche Zahlen und Fakten ihr Vorgehen eindrucksvoll bestätigten und das Ausland wieder einmal bewundernd auf Deutschland schaute.
Mittlerweile waren viele Maßnahmen wieder gelockert worden. So war es jetzt auch wieder möglich, die gewohnten Lesungen bei Ohnezahn abzuhalten. Sabitzer war sehr gespannt, hatte sie doch bei ihrem ersten Besuch in der Buchhandlung erfahren, dass an diesem Tag eigentlich ihr Vorgesetzter hätte lesen sollen, was aber aufgrund des Auftauchens von Alejandros Leiche im Nanzenbacher Weiher kurzfristig nicht zustande gekommen war. Umso mehr hatte sie sich auf diesen Tag und das gemütliche Zusammensein mit ihren neuen Freunden und Kameraden gefreut.
Besonders angenehm überrascht war sie nun von der Anwesenheit der vier älteren Nanzenbacher Herren, die sie anlässlich der Ermittlungen zu ihrem ersten Mordfall im vergangenen Herbst im dortigen Jägerheim beim Doppelkopfspiel kennengelernt hatte.
Dieser Herbst hatte es in sich gehabt. Nach einigen beschaulichen, stressfreien Monaten bei der Dillenburger Kripo war es für die junge Frau plötzlich Schlag auf Schlag gegangen. Ausgangspunkt war der Leichenfund im Biebersteiner Weiher in Nanzenbach, der sie, ehe sie es sich versah, per Privatjet auf die Insel Lanzarote führte. Dort geriet sie gemeinsam mit Kommissar Gustavsen prompt in Lebensgefahr und wurde anschließend in die verschworene Gemeinschaft aufgenommen, die sich die UGA-Connection nannte.
Innerhalb einer Woche lösten sie den mehr als drei Jahrzehnte alten Mordfall und brachten die Bande des Drahtziehers und Mörders Ernesto zur Strecke; nur dieser selbst konnte flüchten und war seither wie vom Erdboden verschluckt.
Zu allem Überfluss entwickelte die junge Frau plötzlich auch noch romantische Gefühle für ihren viel älteren Vorgesetzten, den sie bis dahin überhaupt nicht als Mann wahrgenommen hatte.
Diese Zuneigung beruhte offensichtlich auf Gegenseitigkeit, was auch die anderen Teammitglieder registrierten und immer wieder frotzelnd zum Ausdruck – und Sabitzer damit ständig zum Erröten brachten.
Seither hatte sich jedoch außer einem gelegentlichen Wangenkuss nichts weiter zwischen ihnen ereignet. Beide schienen irgendwie vor dem entscheidenden Schritt zurückzuschrecken. Dies war für Sabitzer sowohl spannend als auch manchmal verunsichernd. An der Situation hatte sich auch nichts geändert, als das gesamte Team inklusive ihrer Familienmitglieder über Silvester Urlaub auf Lanzarote machte. Markus, der ehemalige Kampfflieger und heutige Pilot der sogenannten UGA Airways, Jürgen und Sabrina hatten jeweils ihre gesamte Familie, in Jürgens Fall bereits mit Enkelkindern, mitgebracht; dazu kamen Anja und Wolfram sowie zur Freude des alleinstehenden Peter auch Ariane Hohmann, die sympathische Frau aus Hirzenhain, die, wie sich im Laufe der Ermittlungen herausgestellt hatte, von dem im vergangenen Herbst aufgeklärten Mord gleich zweifach geschädigt worden war. Denn sie hatte mit Alejandro, den Wim zur Observierung seines Schwagers Ernesto nach Nanzenbach geschickt hatte und der enttarnt und ermordet worden war, ihren besten Freund und gleichzeitig auch noch ihren Ehemann verloren, weil Ernesto diesen als Mörder Alejandros präsentiert und ebenfalls ermorden hatte lassen. Obendrein hatte die arme Frau mehr als dreißig Jahre lang mit dem ungerechtfertigten Makel leben müssen, eine Affäre mit Alejandro gehabt zu haben, worauf, so die Vermutung der einheimischen Bevölkerung, ihr Ehemann zur Tat geschritten war. Von ihr war durch die Aufklärung eine Riesenlast abgefallen, und seither war die Verbindung zur UGA-Connection nicht mehr abgerissen – worüber sich neben Peter auch Sabitzer herzlich freute, hatte sie die nette Endvierzigerin doch von Anfang an gemocht.
Alle miteinander verlebten – aufgeteilt in Gustavsens Ferienanlage in Nazaret und Wims Haus in UGA – einige wunderbare Tage. Auch Gustavsens mittlerweile erwachsene Kinder Helena und Josia waren dabei und erwiesen sich als ziemlich klug und sehr nett. Sie hatten schnell erkannt, dass es da ein ganz besonderes Band zwischen ihrem Vater und der jungen Polizistin gab, was sie aber, obwohl diese nicht viel älter war als sie selbst, erkennbar nicht störte. Im Gegenteil, sie verstanden sich von Anfang an blendend miteinander, und so wurde der gemeinsame Urlaub auf der Trauminsel zum Hochgenuss.
Endlich hatten sie auch Zeit für die Ausflüge, die Gustavsen versprochen hatte. Sie besuchten die Feuerberge, ritten natürlich auf den Dromedaren, die, wie der Kommissar erklärte, ausgerechnet in UGA gehalten und gezüchtet wurden. Sie bestaunten die Vorführungen, als Bedienstete eine Gabel Heu in ein Erdloch warfen, das in Sekundenschnelle lichterloh brannte, oder einen Eimer Wasser in ein Loch kippten, woraufhin unverzüglich eine Fontäne gen Himmel schoss, und genossen die mit reiner Erdwärme gegrillten Hähnchenschenkel im dazugehörigen Restaurant.
Sie besuchten all die anderen Sehenswürdigkeiten und fuhren auch für einen Tag mit der Fähre auf die Nachbarinsel Fuerteventura und an einem anderen nach Teneriffa in den Loro Parque.
Als ihre vorläufigen Lieblingsorte auf den Kanaren definierte Sabitzer den faszinierenden Kaktusgarten – was sie selbst am meisten überraschte, hatte sie doch eigentlich überhaupt kein Faible für Botanik oder Gartenarbeit –, vor allem jedoch Jameos del Agua, wo sie die blinden, weißen Albinokrebse bestaunten. Und wo Wim alle überraschte, indem er den unterirdischen, in einer Lavahöhle befindlichen Konzertsaal mitsamt dem kompletten Areal für einen Abend mietete und ein kostenloses Essen für alle Interessierten inklusive einer biblischen Andacht durch Osvaldo, den früheren Armeepriester, und einem Karaoke mit christlichen Liedern ausrichtete. Dieser Abend war, wie man an den fröhlichen Gesichtern der anwesenden Urlauber erkennen konnte, ein voller Erfolg gewesen, und Sabitzer dachte noch heute freudig daran zurück.
Anfang des neuen Jahres passierte in Dillenburg und Umgebung nicht viel. Die Freunde trafen sich zwei- bis dreimal pro Woche im UGA-Hauptquartier, um zu trainieren und Gemeinschaft zu haben. Sabitzer ging noch etwas häufiger hin, weil sie leidenschaftlich gern schwamm und außerdem gern die Gelegenheit wahrnahm, sich von Wolfram, dem Sicherheitsmann und Trainer, intensiv in brasilianischem Jiu Jitsu und israelischem Krav Maga unterrichten zu lassen.
Dann kam Corona, und entsprechend der Auflagen der Regierung mussten die persönlichen Kontakte heruntergefahren werden. Glücklicherweise geschah dasselbe auch bei der Kriminalität, sodass die Kommissare kaum in unangenehme Situationen gekommen waren. Mittlerweile waren einige der Beschränkungen aufgehoben worden, und indem sie sich alle auf eigene Kosten regelmäßig testen ließen, konnten sie es bald wieder riskieren, sich persönlich zu treffen. Trotz der positiven Entwicklung achteten sie jedoch weiterhin auf Distanz und Hygiene, um nicht etwa unerkannt als Virusüberträger zu fungieren und womöglich gefährdete Personen anzustecken. So lief es auch bei Ohnezahn, wo Peter gehörig umgeräumt, ein Einbahnstraßensystem installiert und die Sitzgelegenheiten so angeordnet hatte, dass den Vorschriften Genüge getan und der größtmögliche Schutz gewährleistet wurde.
»So, ihr Lieben«, ergriff nun der Gastgeber das Wort, »ich denke, wir können jetzt anfangen. Sven wird uns heute etwas von Adrian Plass lesen. Wer ihn nicht kennt, Adrian ist ein christlicher englischer Autor, der sich auf unnachahmlich humorvolle, teilweise sarkastische, aber immer sehr tiefgründige und liebevolle Weise mit den Eigenheiten der Christen auseinandersetzt. Sein wohl bekanntestes Werk ist das Tagebuch eines frommen Chaoten. Trotz des scheinbar trivialen Titels absolut lesenswert, wie ich finde, weil uns Christen damit in einer nie verletzenden Art sehr gekonnt der Spiegel vorgehalten wird – was wir oftmals sehr nötig haben! Heute jedoch geht es um ein anderes Buch, nicht wahr, Sven?«
»Richtig«, sagte der Kommissar und räusperte sich. »Heute lese ich uns etwas aus dem Buch Ansichten aus Wolkenkuckucksheim.«
Er schlug das Buch auf und begann die Geschichte zu lesen, in der es darum ging, dass Adrian sich einen Müllcontainer bringen ließ, um seine Garage und den Garten aufzuräumen, um dann festzustellen, dass einige seiner Freunde und Nachbarn – teilweise heimlich in der Nacht – die Gelegenheit genutzt hatten, ihren eigenen sperrigen Abfall kostengünstig bei ihm abzuladen. Dies erzürnte Adrian über die Maßen, und er schimpfte wie Rumpelstilzchen persönlich.
»Und das tat er«, schlug Gustavsen das Buch zu, »bis er eine Stimme hörte, die ihn fragte, ob er einen menschlichen Müllcontainer sehen wolle. Und dann sah er vor seinem geistigen Auge einen Hügel. Darauf stand ein Kreuz, an dem ein Mann hing und unermessliche Qualen litt. Dieser Mann ermunterte jedoch die Umstehenden mit lauter Stimme, ihm ihren eigenen Müll, ihre Sünden, ihr Versagen, ihren Ungehorsam zu bringen. Er würde das alles für sie entsorgen.
Adrian fragte daraufhin seine innere Stimme, wer das alles bezahlen solle. Der Mann in seinem Inneren antwortete, er habe den Preis bezahlt, und Adrian solle jetzt gehen und sich um seinen Garten kümmern.«
Gustavsen machte eine Pause und griff nach seiner Kaffeetasse. Sabitzer kannte ihren Vorgesetzten mittlerweile lange genug, um zu wissen, warum. Denn als er wieder zu sprechen begann, konnte jeder im Raum an seiner brüchigen Stimme hören, wie bewegt er war.
»Tja, Leute, das ist es, worauf es ankommt. Jesus ist ans Kreuz gegangen, um meine Sünden, alles, was mich von Gott trennt, auf sich zu nehmen. Und das war eine Menge und ist es noch heute.
Da reicht ein Abfallcontainer nicht aus. Und Er hat es auf sich genommen. Ich musste nichts dafür tun. Hätte ich sowieso nie geschafft – oder hat es von euch schon mal jemand fertiggebracht, beispielsweise ein Jahr lang die Zehn Gebote zu halten? Denn das wäre die Alternative gewesen, um letztlich in den Himmel zu kommen: immer und zu jeder Zeit Gottes Gebote einhalten. Das hat kein Mensch jemals fertiggebracht, selbst die größten Figuren in der Bibel nicht. Schaut euch David an; dieser Kerl sieht die Frau eines seiner Heerführer beim Sonnenbaden, wird scharf auf sie, nimmt sie sich einfach, und um das Ganze offiziell zu machen, lässt er ebendiesen Heerführer in der nächsten Schlacht ganz vorne stehen – ihr wisst ja, im Krieg und im Kino sind die besten Plätze hinten – wo er zwangsläufig umgebracht wird.
Und genau über diesen David heißt es in der Bibel: ›Er war ein Mann nach Gottes Herzen!‹ Wie kann das sein? Nach so einem Ding?
Es ist der Glaube. Nur der Glaube. Nichts anderes ist nötig, um in Gottes Gegenwart treten zu dürfen. Das sollten wir nie vergessen. Und anhand des Beispiels vom Müllcontainer sollten wir noch etwas anderes nicht vergessen: Wir könnten ja, weil wir durch unseren Glauben gerettet sind und das ewige Leben im Himmel versprochen bekommen haben, jetzt fröhlich weiter sündigen; es kann uns ja nichts mehr passieren. Aber genau deshalb müssen wir uns manchmal vor Augen führen, was es Jesus gekostet hat. Dann verbietet sich jeder leichtfertige Umgang mit Sünde von selbst!
Amen.«
Genau in dem Moment, als einige der Anwesenden ebenfalls leise Amen sagten, klingelte Sabitzers Handy. Sie schaute entschuldigend in die Runde und nahm das Gespräch an. Nach einigen Sekunden sagte sie »Wir sind unterwegs!« und drückte das Telefonat weg. Sie schaute Gustavsen an, beide standen auf, nickten in die Runde und verließen rasch die Buchhandlung.
»Was ist passiert?«, fragte Gustavsen seine Assistentin, nachdem sie schweigend bis zum großen Parkplatz hinter der Bäckerei Stoll gelaufen und dort in seinen rotbraunen Ford Flex geklettert waren.
»Sabrina hat angerufen. Ein als Selbstmord getarnter Mord in Frohnhausen, sagt sie. Und meint, du wüsstest, wo die sogenannte Auerhahnhütte liegt.«
»Ja, das weiß ich«, entgegnete der Kommissar und fuhr los. An der Pathologie am Europaplatz vorbei und durch den Schlossbergtunnel sowie über die Dietzhölzbrücke ging es durch den stockenden Feierabendverkehr Richtung Frohnhausen.
»Die flehen seit vielen Jahren um eine Ortsumgehung. Das ist wirklich eine Katastrophe«, sagte Gustavsen. »Eine gute Freundin von mir hat mal hier an der Hauptstraße gewohnt, und das auch noch am Ortsausgang. Wenn sie im Sommer bei geöffnetem Fenster nicht schlafen konnte, hat sie sich auf die Fensterbank gesetzt und Autos gezählt statt Schafe. Furchtbar.«
An der Kreuzung in der Ortsmitte von Frohnhausen ordneten sie sich links ein und bogen ab, als die Ampel grün zeigte. An der ehemaligen Grundschule vorbei ging es bergan Richtung Weidelbach. Nach knapp drei Kilometern durch den Wald bog der Kommissar erneut links ab. Die Straße führte in einer Rechtskurve zu einer größeren Kreuzung, von der gleich vier Waldwege abgingen. Auf der gegenüberliegenden Seite der Kreuzung stand eine rotweiße Hütte im Fachwerkstil mit einem vorgezogenen Erker, der auf vier Pfählen ruhte.
Um die Hütte herum sah man das Absperrband der Polizei, außerdem standen davor ein Streifenwagen und Sabrina Hampes dunkelgrauer Hyundai Tucson.
Gustavsen parkte den Ford am Straßenrand, und die beiden stiegen aus.
Sie wurden bereits von Ulli Fischer, dem Polizeioberkommissar und ehemaligen Nanzenbacher, sowie dessen Kollegin Susanna Taubert erwartet.
»Hallo Kümmel, hallo Sandra«, grüßte Fischer die beiden Neuankömmlinge.
Gustavsen und Sabitzer grüßten ebenfalls und nickten auch der jungen Wachtmeisterin zu, bevor der Kommissar fragte: »Was haben wir hier? Ich hörte von Mord, der als Selbstmord getarnt wurde?«
»Das ist zumindest Sabrinas Theorie«, ließ sich die rothaarige, relativ kleine Streifenpolizistin vernehmen.
»Ja, und im Laufe der Jahre kann ich mich an keine falsche von ihr erinnern«, versetzte der Kommissar und strebte der Rückseite des Hauses zu, nicht ohne zu bemerken, dass die Vordertür augenscheinlich aufgebrochen worden war.
Hinter dem Haus waren Sabrina und ihre Mitarbeiterin Nadine Peukert zugange, während Mario Weishaupt, der andere Dillenburger Spurensicherer, sich an einem geöffneten Fenster im ersten Stock des Gebäudes zu schaffen machte.
Als die Kommissare nach oben blickten, mussten sie ob des grauenhaften Anblicks, der sich ihnen bot, schlucken. An einem dicken Seil, das aussah wie ein klassisches Seemannstau und offenbar an einem der Dachsparren im Innern des Hauses befestigt war, hing eine männliche Leiche. Offenbar ein Mann mittleren Alters, braunhaarig, mit grotesk verzerrten Gesichtszügen und heraushängender Zunge. Die Haut war im wahrsten Sinne des Wortes leichenblass; offensichtlich hing der Mann schon eine ganze Weile dort.
Die beiden Kommissare nickten den Spurensicherern und der Pathologin nur kurz zu und betrachteten stumm das Bild an der Hauswand. Schließlich schüttelte sich Gustavsen und fragte kurz:
»Sabrina, warum Mord und nicht Selbstmord?«
Erst jetzt registrierten die beiden, dass die leitende Pathologin und Chefin der Dillenburger Spurensicherung aschfahl im Gesicht war.
»Hey Sabrina, was ist los mit dir?«, fragte Sabitzer und drückte die Schulter ihrer Freundin.
Diese schaute gedankenverloren zu der Leiche, straffte sich dann und setzte ihr professionelles Gesicht auf.
»Ich bin aus zwei Gründen sicher, dass es Mord war«, sagte sie mit fester Stimme. »Der erste Grund ist, dass ich den Mann kenne. Das ist Jens-Uwe Klein, ein Schulfreund von mir – ich bin ja gebürtige Frohnhäuserin – und der Mann einer guten Freundin. Um es kurz zu machen, ich habe ihn erst vorletzte Woche getroffen; er war nie im Leben der Typ für Selbstmord, hat in sich geruht, seine Frau und die beiden Kinder …«, jetzt brach ihre Stimme, und eine Träne lief die Wange herunter. Sie holte tief Luft und redete weiter. »Für ihn war die Familie alles, und er hätte sich niemals so davongestohlen. Außerdem hatte er sich gerade erst ein Motorrad gekauft, eine Honda Varadero, in die er total verliebt war. Deshalb war ich mir von Anfang an sicher, dass er sich nicht umgebracht hat, und deshalb – jetzt kommt Grund zwei – habe ich sofort sehr genau hingeschaut. Seht euch mal die Strangulationsmerkmale von dem Seil am Hals an und sagt mir, ob euch daran etwas auffällt.«
Sabitzer stellte sich seitlich zur Leiche, die lediglich einen halben Meter über dem Boden hing.
»Es kommt mir so vor, als seien diese Striemen weniger schräg, als sie bei einem Selbstmord sein müssten«, mutmaßte sie und schaute Sabrina fragend an.
»Du hast es erfasst, Sandra«, bestätigte die Rechtsmedizinerin anerkennend, während Gustavsen etwas verständnislos von einer zur anderen blickte.
»Kommt, klärt mich auf, Mädels, was bedeutet das?«, grummelte er ungeduldig.
»Ganz einfach, Sven«, antwortete Sabrina. »Wie würdest du aus einem Fenster springen, wenn du dich umbringen wolltest?«
Gustavsen überlegte kurz und sagte: »Ich denke, so wie ich in ein Schwimmbecken springen würde.«
»Kopfüber oder Füße voraus?«, schaltete sich Sabitzer ein.
»Nicht kopfüber, da hätte ich Angst vor zu starken Schmerzen oder dass das Seil sich straff zieht, mich aber trotzdem nicht umbringt.«
»Genau das ist es«, sagte Sabrina. »Man würde mit den Füßen zuerst runterspringen, und dabei würde sich der Körper ziemlich senkrecht halten. Das ist aber hier nicht der Fall, die Striemen am Hals deuten darauf hin, dass Jens-Uwe mehr oder weniger in einem Fünfundvierzig-Grad-Winkel aus dem Fenster geflogen ist. Und deshalb gehe ich davon aus, dass ihn jemand hinausgestoßen hat. Vielleicht auch mit einem Tritt von hinten«, sagte Sabrina traurig.
»Jetzt, wo du es sagst, leuchtet mir das ein«, sagte Gustavsen nachdenklich. »Und schon sind wir beim Motiv. Du sagst, er war glücklich mit seiner Familie und seinem neuen Moped, und er war sowieso nicht der Typ für Suizid.«
»Richtig«, sagte Sabrina fest.
»Okay, Liebe scheidet demnach vermutlich aus. Bleibt das Geld. Wie sieht es da aus? Was machte er beruflich?«
»Geldsorgen haben Kleins sicher keine. Er ist Doktor der Medizin und hat irgendeinen leitenden Job bei Sa-med in Marburg. Birgit – das ist seine Frau – hat ein kleines Nagelstudio in der Ortsmitte.«
»Sa-med? Das ist doch dieses Biotech- oder Pharmaunternehmen in den Gebäuden der Behring-Werke, oder?«, versuchte sich der Kommissar zu erinnern.
»Genau«, sagte Sabrina.
»Corona«, sagte Sabitzer.
»Was ist mit Corona, Sandra?«, fragte Gustavsen stirnrunzelnd.
»Corona ist das Motiv!«, sagte die junge Frau mit fester Stimme. »Das ist zumindest meine erste Arbeitshypothese. Wenn heute ein leitender Mitarbeiter eines Pharmaunternehmens ermordet wird, dann geht es um Corona, um Impfstoffe, Medikamente, Studien, was weiß ich. Und wenn man sieht, wie aufgeheizt die Stimmung im Land gerade genau deswegen ist, und weiß, wieviel Geld im Spiel ist, dann springt mich das als Motiv geradezu an. Allerdings müssen wir selbstverständlich den Ball flach halten, solange wir noch so wenig wissen, das ist klar.«
Gustavsen schaute seine kluge Mitarbeiterin, die auch im Weiher-Fall im letzten Jahr einige Male ihre hervorragende Intuition unter Beweis gestellt hatte, versonnen an.
»Was du da sagst, ergibt von vorne bis hinten Sinn«, bestätigte er. »Aber du hast recht, wir dürfen nicht von Anfang an den Tunnelblick aufsetzen. Als Erstes …«, er seufzte, »… kommt wohl jetzt der Besuch bei der Familie. Sabrina, würdest du …«
»Ich bin dabei, klar!«, sagte die hochgewachsene, schlanke Frau Mitte vierzig mit dem Pagenschnitt entschlossen, bevor sie sich nach einem letzten traurigen Blick auf den Toten abwandte und Nadine Peukert ihren Autoschlüssel übergab.
»Ich fahre mit Sven und Sandra und du kannst das Auto mit nach Hause nehmen, wenn ihr hier fertig seid«, trug sie ihrer Mitarbeiterin auf.
»Wird gemacht, Boss«, sagte Frau Peukert.
Bevor sie in Gustavsens Auto stiegen, wurde der Kommissar auf zwei Waldarbeiter aufmerksam, die auf der anderen Straßenseite zugange waren. Er überquerte schnell die Straße und näherte sich ihnen. Beide trugen die typischen orange-grünen Arbeitsanzüge.
Der Größere sah sich um, als er Gustavsen kommen hörte.
»Ach, Kümmel, du bist das«, begrüßte er den Kommissar. »Was geht denn da drüben an der Hütte vor?«
Gustavsen erkannte erst jetzt den Nanzenbacher, der in der Grundschule eine Klasse unter ihm gewesen war.
»Hallo Jörg, lange nicht gesehen. Da drüben geht nichts Gutes vor, das steht mal fest. Seid ihr schon länger hier am Arbeiten?«
»Schon den ganzen Tag, wir säubern die Waldränder von den Windrädern bis zur Straße«, antwortete Jörg.
»Ist euch irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen heute?«
»Nee, ich wüsste nicht«, sagte der Waldarbeiter und kratzte sich am Kopf. »Alles wie immer. Ein Haufen Spaziergänger, aber sonst?«
»Vielleicht der Golf?«, mischte sich nun sein Kollege in die Unterhaltung ein.
»Golf? Was ist damit?«, merkte Gustavsen auf.
»Ach ja, der Golf«, grinste nun Jörg. »Ja, das war ein echter Könner. Ist mit seinem tiefergelegten TCR losgefahren wie ein Irrer und prompt voll auf dem Waldweg aufgesetzt. Das dürfte teuer werden.«
»Könnt ihr das noch etwas besser beschreiben? Welche Farbe? Kennzeichen? Und wer saß drin?«, hakte Gustavsen nach.
»Es war ein weißer GTi TCR, Marburger Nummer. Mehr habe ich mir nicht behalten. Und es saßen zwei Männer drin, stimmt’s, Dirk?«
»Stimmt!«, bestätigte der Kollege. »Und ich weiß die Nummer leider auch nicht.«
»Trotzdem danke, das hilft uns vielleicht schon mal weiter«, sagte der Kommissar und machte Anstalten, sich zu verabschieden.
»Aber was ist denn jetzt dort passiert, Sven?«, fragte Jörg hinter ihm her.
»Mord oder Selbstmord. Scheußliche Sache«, sagte Gustavsen.
»Mensch, deinen Job wollte ich auch nicht haben. Ich wünsche dir viel Erfolg und dass du die Kerle erwischst.«
Gustavsen winkte und lief wieder über die Straße.
Nachdem sie sich auch von den beiden Streifenpolizisten verabschiedet hatten, stiegen sie in den Flex und fuhren hinunter in den Ort. Gustavsen informierte seine Mitfahrerinnen kurz über die Unterredung mit seinem Schulkameraden.
»Birgit weiß übrigens bereits Bescheid, nicht dass ihr euch gleich wundert«, warnte Sabrina die beiden Kommissare vor. »Sie hat Jens-Uwe schon gestern Abend als vermisst gemeldet und mich dann genau in dem Moment angerufen, als ich vor der Leiche stand. Und ich konnte sie in dem Moment nicht belügen.«
»Das ist total verständlich«, beruhigte sie Gustavsen.
Dirigiert von Sabrina bog der Kommissar am Ortseingang links ab und nahm sofort die nächste Abzweigung nach rechts. Nach zweihundertfünfzig Metern hielt er vor einem rotbraunen Klinkerhaus mit Doppelgarage, vor welcher ein schwarz-weißer VW TRoc stand.
Die drei stiegen aus und gingen zur Haustür. Noch bevor sie klingeln konnten, ging diese auf und eine mittelgroße dunkelblonde, sympathisch wirkende Frau, der man aber ansah, dass sie geweint hatte, stand vor ihnen. Wortlos ging Sabrina auf sie zu und nahm sie fest in den Arm.
Als sich die beiden Frauen wieder voneinander lösten, schaute die Frau die beiden Kommissare an. Das sind die schlimmsten Momente für jeden Polizisten, dachte Gustavsen, und je jünger, desto schlimmer. Und wurde überrascht, als die Frau ihm ein freundliches Lächeln schenkte und ihm fest die Hand drückte.
»Ich bin Birgit Klein, bitte kommen Sie!«, sagte sie mit fester Stimme und gab auch Sabitzer die Hand.
Sie führte ihre Besucher in ein einladend und gemütlich gestaltetes Wohnzimmer und bot ihnen Platz an.
»Sind sie so nett und trinken Sie einen Kaffee mit mir?«, fragte sie. »Ich habe gerade frischen gekocht.«
Als die drei nickten, ging sie zur Küche und kam bald darauf mit einem Tablett zurück, auf dem eine Kaffeekanne, vier Tassen mit Untersetzern sowie Milch und Zucker standen.
Sie verteilte die Tassen, schenkte nacheinander allen ein und forderte sie auf, Milch und Zucker je nach persönlichem Geschmack selbst zu nehmen.
Nachdem sie alle einen tiefen Schluck genommen hatten, holte Frau Klein tief Luft und sagte zu Sabrina:
»Also los, Sabrina, bringen wir’s hinter uns. Sag mir, was passiert ist.«
Sabitzer und der Kommissar tauschten einen verstohlenen Blick; sie waren erstaunt, wie gefasst die Frau auftrat, die gerade zur Witwe gemacht worden war.
Sabrina holte ihrerseits Luft und sagte:
»Zuerst einmal möchte ich dir Sven Gustavsen und Sandra Sabitzer von der Dillenburger Kripo vorstellen.«
Ihre Gastgeberin lächelte.
»Ich weiß, wer Sie sind, Sabrina hat schon viel von Ihnen erzählt. Und Ariane Hohmann ebenfalls; die ist nämlich auch eine Freundin, die ich aus der Frauenstunde unserer Gemeinde kenne.«
Gustavsen und Sabitzer waren noch immer überrumpelt. Schließlich räusperte sich der Kommissar und sagte:
»Ehrlich und auf gut deutsch gesagt ist das ein beschissener Anlass, sich kennenzulernen, Frau Klein. Ich möchte Ihnen meine tiefempfundene Anteilnahme aussprechen.«
»Ich ebenfalls«, schloss sich Sabitzer an.
»Vielen Dank«, sagte Frau Klein. »Nennen Sie mich einfach Birgit, in Ordnung?«
Wieder einmal war Sabitzer von der unkomplizierten Art der Menschen im Dillkreis überrascht. Mein Vater würde ganz schön staunen, wie die muffeligen Hessen sein können, dachte sie und schmunzelte innerlich. Allerdings war sie noch mehr von der offenkundigen Stärke dieser Frau beeindruckt, und es fiel ihr schwer, dieses Verhalten ausschließlich aus Sicht eines Mordermittlers zu beurteilen – und die Ehefrau automatisch als Verdächtige anzusehen.
Nun schaltete sich Sabrina wieder ein.
»Birgit, es ist genauso abgelaufen, wie ich es dir vorhin am Telefon bereits angedeutet habe. Jens-Uwe hat sich entweder an einem Seil an der Auerhahnhütte erhängt oder ist dort auf diese Weise ermordet worden.«
»Er hat sich niemals selbst umgebracht«, sagte Birgit mit Bestimmtheit. Nun glitzerten doch Tränen in ihren Augen. »Er war der ausgeglichenste und optimistischste Mensch, den man sich denken kann. Gerade erst haben wir uns über das Abitur unserer Tochter gefreut, das trotz Corona termingerecht durchgeführt werden konnte. Außerdem hatte er seit ein paar Wochen dieses Motorrad und war total happy, wenn er damit durchs Hinterland cruisen konnte. Nein, mein Mann hatte nicht den geringsten Grund, aus dem Leben zu scheiden. Er hatte niemals Depressionen oder so etwas, er hatte mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Leichen im Keller. Er wusste sich von uns allen geliebt. Das alles Entscheidende aber ist, dass er sich von seinem Herrn geliebt wusste. Er war ein ganz leidenschaftlicher Jesus-Anhänger und glücklich damit.«
Nun schaute sie nacheinander die beiden Kommissare an.
»Ihr habt euch, das konnte man euch ansehen, seit eurer Ankunft gefragt, warum ich so gefasst wirke, stimmt’s?«, fragte sie mit einem Lächeln.
»Nun, äh, …« stammelte Gustavsen.
»Es ist ganz einfach«, fuhr die Witwe fort. »Wir haben ja in den letzten Wochen wegen Corona keine Präsenz-Gottesdienste gehabt. Deshalb haben wir uns umgeschaut, wo es Online-Veranstaltungen gibt. Und die evangelische Kirchengemeinde Frohnhausen hatte kürzlich eine Vortragsreihe laufen, in der ganz viel von Liebe und Vergebung die Rede war. Tja, und daran habe ich mich gestern Abend erinnert, als Jens nicht nach Hause kam. Natürlich konnte ich – ebenso wie unsere Kinder – keine Minute schlafen. Also haben wir die Predigtreihe nochmal gehört. Und nun kann ich einfach nicht anders als erstens anzunehmen, dass Jens jetzt im Himmel ist und vermutlich auch nicht mehr zurück wollte, und zweitens den Menschen, die ihn ermordet haben, zu vergeben.
Und für mich selbst am meisten überraschend ist, dass das nicht nur eine Entscheidung ist, gegen die meine Gefühlswelt angesichts dieses schlimmen Verlustes Sturm läuft, sondern dass ich bei aller Trauer – ich war bereits heute Morgen sicher, dass Jens nicht mehr lebt – tatsächlich unglaublich ruhig bin. Dabei ist mir klar, dass noch schlimme Zeiten kommen werden und vielleicht auch ein Zusammenbruch, aber auch dann will ich versuchen, die Bitterkeit nicht an mich herankommen zu lassen. Ja, das ist die ganze Geschichte«, sagte die sympathische Frau und atmete tief durch.
Sabitzer und Gustavsen waren tief beeindruckt und sagten das ihrer Gastgeberin auch.
»Da hat Gott dir in der Tat genau den Richtigen geschickt«, sagte der Kommissar. »Ich habe diese Vorträge auch gehört, kenne den Referenten auch persönlich, und vor allem mein Sohn war total begeistert von ihm.«
»Meiner leider nicht so sehr«, sagte Birgit nun traurig. »Ihn hat das Ganze furchtbar getroffen, und er steckt mitten in der Pubertät. Ich hoffe und bete, dass er klarkommen wird. Aber ich denke, ihr müsst jetzt eure Fragen stellen nach dem Motiv und so weiter, oder?«
»Ja, das ist leider so«, sagte Sabitzer. »Hatte Ihr Mann …«
»Dein Mann!«, sagte Birgit.
»Nein, äh, ich bin nicht verheiratet«, stammelte Sabitzer, bevor ihr dämmerte, dass ihr das schon einmal passiert war.
»Also, dein Mann, klar. Hatte dein Mann vielleicht Feinde, hatte er irgendein Problem auf der Arbeit oder sonstige Probleme?«
»Absolut nichts«, sagte die Witwe. »Ich habe mir den ganzen Tag den Kopf zerbrochen, warum er sich umbringen oder warum es ein anderer tun sollte. Aber mir fällt überhaupt nichts ein. Wie gesagt führen wir ein wirklich harmonisches Familienleben, haben eine lebendige Gemeinde, in der wir uns wohlfühlen, sind gesund, haben keine Geldsorgen. Im privaten Bereich kann ich mir absolut nichts vorstellen. Dabei ist mir durchaus klar – ich lese auch gerne Krimis …«, lächelte sie, »… dass man natürlich nie vollständig ausschließen kann, dass jemand unerkannt ein Doppelleben führt.