Die UGA-Connection - Bert Schönauer - E-Book

Die UGA-Connection E-Book

Bert Schönauer

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Beschreibung

Kriminalkommissar Sven Gustavsen ist derb und sensibel, albern und ernst, liebt Kümmelbrötchen ohne Salz. Er ist Christ und Pazifist - und jederzeit bereit, den Frieden mit einem gezielten Faustschlag herbeizuführen. Ist es diese scheinbare Widersprüchlichkeit, die ihn für seine neue Assistentin Sandra Sabitzer so anziehend macht? Ein Leichenfund erschüttert das beschauliche mittelhessische Dörfchen Nanzenbach. Schnell wird den ermittelnden Kommissaren klar, dass der aufgedeckte Mordfall Jahrzehnte zurückreicht und sein Auslöser auf der Kanareninsel Lanzarote liegt. Als sie dort in Lebensgefahr geraten, realisieren sie, dass die Mörder selbst nach dieser langen Zeit alles dafür zu tun bereit sind, die Aufklärung zu verhindern. Gemeinsam mit einem bunt zusammengewürfelten Team aus Gustavsens Vergangenheit als Elitesoldat stellen sie sich ihrem Gegner, der in all den Jahren nichts von seiner Raffinesse und Skrupellosigkeit eingebüßt hat. Wird die UGA-Connection den Fall endgültig lösen und die Täter zur Strecke bringen?

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Seitenzahl: 356

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Epilog

Prolog

Gleich hatte er es geschafft. Nur noch zwei Kurven und ein kleines Stück geradeaus, dann war die Sportanlage erreicht, und dort würde er sich mit seinem schmalen Roller durch die Lücke zwischen der Schranke und dem danebenstehenden Baum zwängen. Dahin konnte ihm das Auto nicht folgen, und bis es um die komplette Anlage herumgefahren war, würde er bereits oberhalb des Fußballplatzes im Wald verschwunden sein.

Er vergewisserte sich, dass die Kamera sicher an ihrem Platz war, und gab der kleinen italienischen 125er noch einmal die Sporen. Das Sechs-PS-Motörchen heulte auf, ohne dass der Roller nennenswert an Geschwindigkeit zulegte; immerhin trug er seinen Fahrer so flott über den weichen, moosigen Waldweg, dass der Verfolger nicht entscheidend näher kam. Das war genau die richtige Wahl für meine Zwecke, dachte er mit einem kleinen Anflug von Stolz. Und fragte sich, warum sie, um ihn durch den Wald zu jagen, den tiefergelegten Audi genommen hatten, den er auf dem Hof des observierten Anwesens gesehen hatte, und nicht den Geländewagen, der ebenfalls dort stand.

Er bog um die letzte Kehre und sah die Schranke, die den Parkplatz des Sportplatzes begrenzte, unmittelbar vor sich. Fast geschafft! dachte er erleichtert.

Es traf ihn ohne jede Vorwarnung von rechts. Weder hatte er es kommen sehen noch über das knatternde Motorgeräusch des Rollers hinweg irgendetwas gehört. Sie mussten geahnt haben, welche Strecke er nehmen würde, und hatten sich an genau der richtigen Stelle postiert. Die Stoßstange des Jeeps – nun wusste er auch, wo der Lada Niva von vorhin abgeblieben war – traf sein Hinterrad so präzise, dass der Roller sich einmal vollständig drehte und er seitlich ins Unterholz flog.

Zum Glück prallte er nicht gegen einen Baum, sondern landete im weichen Gestrüpp neben dem Waldweg. Und war so geistesgegenwärtig, sich noch in der Luft so zu drehen, dass er mit dem gesunden Arm aufkam. Er tastete nach der Kamera, die sich immer noch am Halsriemen befestigt unter der Jacke befand und unbeschädigt zu sein schien. Gerade als er sich aufrappeln wollte, traf ihn ein fürchterlicher Schlag am Hinterkopf, und alles wurde dunkel.

***

Er erwachte von einem unkontrollierten Schaukeln und unsäglichen Schmerzen am rechten Arm. Offenbar war er an irgendetwas festgekettet und hing ansonsten frei in der Luft. Er schrie auf und versuchte, in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Aber die Nacht war stockfinster, weder Mond noch Sterne waren am Himmel zu sehen.

Plötzlich spürte er, wie seine Füße und Hosenbeine nass wurden. Wieder schrie er auf, diesmal mehr vor Entsetzen als vor Schmerz. Nun empfand er nackte Angst; er war sicher, er würde jetzt sterben, aber das Wie bereitete ihm tatsächlich noch größere Sorgen. Was haben die mit mir vor? dachte er voller Panik.

Im nächsten Moment flammte ein helles Licht auf. Ein Suchscheinwerfer, sagte er sich. Und nun sah er auch, woran er hing. Er war an den Roller gekettet und baumelte mitsamt diesem an der Seilwinde eines Traktors, die ihn langsam, aber stetig in ein dunkles, kaltes Gewässer hinabließ. Oh mein Gott, hilf mir, flehte er.

Nun hörte er eine Stimme, die kehlig lachte.

»Das hättest du dir nicht träumen lassen, dass dein Weg so endet, was?«, gluckste der Unsichtbare. »Und das alles für nichts. Wir haben die Kamera, und keiner wird je die Fotos sehen, die du geschossen hast. Und niemand wird dich hier jemals finden. Good bye, Schnüffler.«

Er antwortete nicht. Was hätte er auch sagen sollen? Stirb wie ein Mann, sagte er zu sich und klammerte sich an den letzten Rest Selbstachtung. Wenigstens haben sie die anderen Beweise nicht gefunden. Dann hat meine Mission vielleicht doch noch Erfolg gehabt.

Nun surrte die Seilwinde schneller nach unten. Er hatte mittlerweile festgestellt, dass es eine stählerne Handschelle war, die ihn an den Roller band. Dann gibt es nur noch einen Weg, dachte er, als ihm das übelriechende, brackige Wasser über den Kopf stieg.

Und biss zu.

01

Allein für diese Augenblicke hat es sich gelohnt, wieder nach Nanzenbach zu kommen, dachte Heide Cosovan, als sie mit ihrem Golden Retriever dem Ortsausgang entgegenging. Sie hatte einige Jahre mit ihrem moldawischen Mann Andrei und den Kindern in der Republik Moldau gelebt, wo sie gemeinsam ein Waisenhaus geleitet hatten, und war erst vor kurzer Zeit mit der ganzen Familie wieder nach Hause gezogen. Die schnurgerade Hauptstraße ihres kleinen Heimatdorfes, am Fuß des Rothaargebirges im waldreichen und beschaulichen Mittelhessen gelegen, führte direkt nach Osten, der gerade aufgehenden Sonne zu. Über eine Strecke von mehreren hundert Metern hinweg sahen alle Häuser beinahe identisch aus: schmale, langgestreckte Fachwerkbauten mit hinten angeschlossener Scheune – die mittlerweile bei den meisten jedoch in Wohnraum verwandelt worden war – und einer hohen, meist blumengeschmückten Treppe auf der Vorderseite. Diese mündete jeweils in ein etwa quadratisches Plateau, auf dessen Höhe im ersten Stock sich auch die Haupteingangstür befand. Früher – vor der Zeit des Kabelfernsehens, dachte Heide wehmütig – traf man sich allabendlich auf den Treppen und unterhielt sich über Gott und die Welt. Zudem waren die Häuser allesamt so ausgerichtet, dass man von der Treppe des einen den Hof des gegenüberliegenden Hauses überblicken konnte. Diese ungewöhnliche Anordnung basierte der Überlieferung zufolge darauf, dass nach dem verheerenden Brand im Jahr 1772 Baumeister Terlinden sicherstellen wollte, dass auf diese Weise ein womöglich ausbrechendes Feuer schneller entdeckt würde. Offenbar ein Plan, der funktioniert hatte.

In der Zwischenzeit hatten sie die liebevoll zu einer dörflichen Begegnungsstätte umgebaute alte Schmiede unterhalb des Brandweihers erreicht. Heide musste schmunzeln, als sie an den letzten Vereinsabend in der Schmiede dachte, an dem Jürgen Scheffler, einer der rührigen Dorfchronisten, eine Anekdote zu dem Brand erzählt hatte, die ihm zusammen mit irgendwelchen alten Aufzeichnungen in die Hände gefallen war. Demnach sei Nanzenbach von Goethe persönlich angesteckt worden, der zu dieser Zeit im ganz in der Nähe gelegenen Wetzlar lebte und dort Die Leiden des jungen Werthers schrieb. Dieser hatte sich ja letztlich aus unerfüllter Liebe zu seiner geliebten Lotte das Leben genommen, und es war bekannt, dass Goethe in dem Buch seine eigene tragische Liebe zu der in Wetzlar geborenen Charlotte verarbeitet hat. Das hatte ein offensichtlich gebildeter und ebenso offensichtlich mit zu viel Fantasie gesegneter Nanzenbacher zum Anlass genommen, in der Dorfkneipe ernsthaft zu behaupten, Goethes Charlotte habe sich seinerzeit unsterblich in einen Nanzenbacher Bergmann verliebt, was den verschmähten Dichter schlussendlich so erzürnt habe, dass er das Dorf ansteckte. Somit haben auch wir Nanzenbacher unsere eigene Mondlandungsgeschichte, dachte Heide belustigt.

Sie erreichten nun den Ortsausgang und bogen schließlich rechts ab ins Feld, vorbei am kleinen Wasserhäuschen. Nach einer Weile ging der Asphalt in einen festen und angesichts der Dauerbelastung durch Witterungseinflüsse und schweres landwirtschaftliches Gerät überraschend ebenen Lehmboden über. Am linken Rand der Wald, wechselten sich auf der rechten Seite unregelmäßig angeordnete Bäume und Sträucher sowie langgezogene grüne Wiesen ab.

Heide, eine blonde, schlanke Frau Mitte bis Ende vierzig, nahm dem Hund die Leine ab, und dieser sauste glücklich los, um das Gelände zu inspizieren und an jedem möglichen Baum sein Revier zu markieren. Die Sonne stand noch nicht hoch genug, um das gesamte Tal zu überfluten; lediglich dort, wo der Wald Lücken aufwies, kam ein dünner Sonnenstrahl zum Vorschein, wodurch ein schönes Wechselspiel von Schatten und Licht entstand. Auf den Blättern lag noch der Morgentau, und es roch nach frischer, unverfälschter Natur.

Der Hund immer fünfzig Meter voraus, spazierten sie an einigen Pferdekoppeln, kleinen Schuppen und dem Bauwagen vorbei, den die örtliche Motorradgruppe als Vereinsheim nutzte. Der Golden Retriever bellte fröhlich ein paar hinter einem elektrischen Weidezaun grasende, hellbraune Galloway-Rinder an, bevor sie auf der Kuppe ankamen und sich entscheiden mussten, ob sie in Richtung Hirzenhain weiterlaufen oder rechts zum Nanzenbacher Sportplatz abbiegen wollten. Der Hund nahm ihr die Entscheidung ab, indem er einfach geradeaus weiterrannte. Okay, dachte Heide, warum nicht? Schauen wir uns halt mal die Überreste der Donnerfichte an. Ist ja schon verrückt, dass ausgerechnet ein Baum mit dem Vornamen ›Donner‹ vom Blitz getroffen wird.

Allerdings hatte der Hund offenbar andere Pläne, denn anstatt an der nächsten Weggabelung nach links weiterzulaufen, nahm er die rechte Abzweigung und flitzte hangabwärts in Richtung Biebersteiner Weiher. Die gebürtige Nanzenbacherin erinnerte sich, dass vor dem düsteren, von Bäumen umrahmten Gewässer früher immer gewarnt worden war. Das sei tückisch, hieß es immer, man dürfe da auf keinen Fall hineingehen, um zu baden. Vermutlich war es mittlerweile vollständig ausgetrocknet.

Plötzlich fing der Hund, der in das Unterholz um den Weiher hineingelaufen war, aufgeregt an zu bellen. »Aidan, was ist los?«, rief Heide und beschleunigte ihre Schritte. Das Bellen verstärkte sich noch, bis es in ein klagendes Winseln überging. Heide rannte jetzt. Noch bevor sie eine Möglichkeit gefunden hatte, sich durch das kreuz und quer durcheinander wuchernde Gehölz zu winden, kam ihr der Hund entgegen. Er winselte und drückte sich vollkommen verängstigt an ihre Beine. »Aidan, was ist denn passiert? Was hast du gesehen? Wollen wir mal gemeinsam nachschauen?« Heide drückte nun entschlossen das Geäst zur Seite und kletterte auf die Böschung über dem Weiher zu. Verwundert nahm sie zur Kenntnis, dass der Hund ihr nicht folgte. Dem muss ja ein gewaltiger Schreck in die Knochen gefahren sein, dachte sie.

Als Heide sich vollständig durch das Unterholz gekämpft hatte und nun auf der steil abfallenden Uferböschung stand, stellte sie fest, dass ihre Annahme nicht ganz richtig gewesen war; der Weiher hatte zwar in den Jahren einiges von seiner einstigen Größe verloren, war aber noch immer ein Gewässer von beachtlichen Ausmaßen, der Wasserspiegel immer wieder unterbrochen von dicht bewachsenen, sumpfigen kleinen Inseln.

Sie ging vorsichtig noch ein paar Schritte die Böschung hinab und kniff die Augen zusammen, um das dunkle Bündel am Rand einer der noch nicht von der Sonne erfassten Inseln identifizieren zu können.

Ein entsetzter Aufschrei entrang sich ihrer Kehle, und Heide Cosovan erbrach sich auf den Rand des Weihers.

02

»Chef, es ist soweit!«, platzte Kriminalkommissaranwärterin Sabitzer in Gustavsens Büro und baute sich mit glühenden Wangen vor dem wie immer völlig aufgeräumten, um nicht zu sagen leeren Schreibtisch ihres Vorgesetzten auf.

»Sandra, irgendwann wirst du es fertigbringen, dass ich entweder an Herzinfarkt sterbe oder mich an meinem Brötchen verschlucke und ersticke. Schon mal daran gedacht, vorher anzuklopfen oder wenigstens die Klinke runterzudrücken, bevor du die Tür aufreißt?«

Kriminalhauptkommissar Sven Gustavsen, Ende vierzig, gut einen Meter fünfundachtzig groß und mindestens einhundertzehn Kilo schwer, versuchte wieder einmal vergeblich, streng zu wirken, konnte sich aber wie meistens ein Schmunzeln nicht verkneifen.

»Tschuldigung, Chef.«

»Schon gut. Sowas kriegt man im Grenzgebiet zwischen Siegerland und Westerwald wohl nicht beigebracht. Kannst du ja nichts für. Deswegen haben sie dich auch in den zivilisierten Dillkreis geschickt, damit du das lernst. Also, was ist soweit?«

»Wir haben unseren ersten Mord«, versetzte Sabitzer, seit mittlerweile zwei Monaten hochmotivierte Nachwuchsermittlerin der Kripo Dillenburg, und schaute dabei so staatstragend drein wie Kennedy bei seinem berühmten Spruch in Berlin.

»Einen Mord? Hat endlich jemand diesen unfähigen Bäcker vom Kaufland erschlagen?«

»Ach, daher die schlechte Laune. Gab’s wieder keine Kümmelbrötchen?«

»Ja. Die ganze Woche gab es gar keine, und heute waren sie voll Salz oben drauf; so mag ich sie nicht. Aber egal. Wo gibt es einen Mord?«

»In deinem Heimatort, Chef. Im Biebertaler Weiher in Nanzenbach liegt eine Leiche. Eine gewisse Heide Cosovan hat angerufen.«

»Biebersteiner. Biebersteiner Weiher heißt das. Warum soll denn eine Leiche im Weiher unbedingt ein Mord sein? Wahrscheinlich ist da einer nur ertrunken.« Gustavsen griff zur Kaffeetasse.

»Der Tote ist an eine Vespa gekettet.«

Die Hand des Kommissars erstarrte auf halbem Weg zum Mund, und etwas Milchschaum rann an der Außenseite seiner Sportfreunde-Lotte-Tasse herunter. Er achtete nicht darauf. »Wie bitte?«

»Frau Cosovan hat gesagt, der Tote sei mit Handschellen an eine Vespa gekettet.«

»Oha. Wenn das nicht eine besonders kreative Art von Diebstahlschutz war, sollten wir uns das besser mal anschauen.«

Gustavsen stellte die Kaffeetasse ab, wuchtete seinen großen, massigen Körper aus dem Stuhl und humpelte aus dem Büro.

»Wieder die Hüfte?«, fragte die attraktive, sportliche Brünette Ende zwanzig, die ihm auf dem Fuß folgte, mitfühlend.

»Nein, diesmal das Knie. Gestern beim Radfahren ist mir der Sattel runtergerutscht, und dadurch hatten die Beine nicht mehr die richtige Streckung. Hatte aber kein Werkzeug dabei, um den Sattel wieder zu befestigen. Das ist jetzt die Quittung.«

***

Sie kletterten in Gustavsens riesigen, rotbraunen Ford Flex und fuhren vom Polizeihof auf die Hindenburgstraße. In Höhe der Commerzbank bog der Kommissar erneut nach links ab und überquerte die neue Eisenbahnbrücke, um dann den schweren amerikanischen Wagen mit Tempo dreißig die steile Hohlstraße hinaufzulenken.

»Willst du dir nicht langsam mal ein neues Auto zulegen?«, fragte Sabitzer. »Der hier ist in Sachen Verbrauch doch nicht mehr zeitgemäß.«

»Dafür hat er Platz ohne Ende. Außerdem liebe ich das Design. Herrlich. Ausschließlich mit Geodreieck gezeichnet, ohne eine einzige Rundung. Tausendmal schöner als deine Hasenkiste namens Opel Klaus.«

»Karl!«

»Was, Karl?«

»Mein neuer Opel heißt Karl.«

»Ach so. Auch nicht viel besser.«

Mittlerweile fuhren sie auf der L3362 durch das von der Septembersonne beschienene Nanzenbacher Tal. Auf der Koppel neben Heuslers Weiher grasten ein paar Haflinger. Sabitzer schaute aus dem Fenster und sagte: »Das ist ja eine herrliche Landschaft hier. Richtig idyllisch.«

»Ja, das stimmt. Wenn man so etwas früher irgendwo unterwegs sah, sagte man: ›Hier müsste man mal Urlaub machen‹. Ich habe die Schönheit dieses Tals und des Dorfes und auch die Menschen darin erst richtig schätzen gelernt, als ich weggezogen war.«

Am Schützenhaus und dem benachbarten Aussiedlerhof vorbei erreichten sie schließlich die ersten Häuser des kleinen Dillenburger Vororts. Auf dem Platz in der Dorfmitte gegenüber der Gaststätte Jägerheim stand ein überdachtes Gebilde, das aussah wie eine Mischung aus Bushaltestelle und Hollywoodschaukel. Darin saßen einige ältere Männer und erwiderten Gustavsens freundliches Winken mit einem knappen Nicken und Handzeichen in Richtung obere Dorfhälfte.

»Die wissen längst Bescheid, das war mir klar«, meinte Gustavsen. »Das ist der sogenannte Nanzenbacher Maulaffenplatz. Der Treffpunkt für alle und Ausgangspunkt für alles. Außerdem erster Beurteilungsposten für sämtliche Auswärtigen. Jeder, der in Nanzenbach zu tun hatte, musste irgendwann hier vorbei und wurde dann entsprechend bewertet. Als in den Siebzigern der erste Langhaarige durchs Dorf marschierte, hat einer gemurmelt: ›Hier laufen sie rum, und der Grzimek sucht sie‹.«

»Wer ist Grzimek?«, fragte Sabitzer.

Als sie weiterfuhren, fing Gustavsen, der wusste, dass die junge Nachwuchskommissarin noch nie in dem Dorf gewesen war, an zu schmunzeln.

»Was ist los?«, fragte Sabitzer, um im nächsten Augenblick große Augen zu machen. »Was ist denn das?«

»Das ist Nanzenbach, verehrte Zugezogene. Im Volksmund auch Treppenhausen genannt.«

»War hier früher die Zonengrenze? Ist das die berüchtigte Planwirtschaft? Das sieht ja alles gleich aus«, wunderte sich Sabitzer.

»Keineswegs. Das Ganze ist respektive war Pragmatismus pur. Das Dorf ist im achtzehnten Jahrhundert vollständig abgebrannt. Dann hatte ein Baumeister die Idee, die Häuser so versetzt gegenüber aufzubauen, dass man von der Treppe des einen Hauses in den Hof des anderen schauen und somit einen etwaigen Brand frühzeitig bemerken konnte.«

»Und, hat es funktioniert?«

»Das Dorf steht noch, oder?«

Vorbei an der Grundschule, der Kirche und dem Brandweiher kamen sie zum Ortsausgang; Gustavsen blinkte und bog rechts ab.

»Jetzt kommt ein weiterer Vorteil meines Gefährts zum Tragen, meine Liebe«, sagte er. »Der Weg, der jetzt kommt, wäre für deinen Opel Kurt nix.«

»Karl. Opel Karl!«

»Oder so.«

Überraschenderweise erwies sich der Feldweg zunächst als sehr gut befahrbar. Der lehmige Boden war fest und eben, wie gerade erst mit einer Planierraupe bearbeitet. Die Bäume an den Fahrbahnrändern waren akkurat zurückgeschnitten, sodass nur selten Zweige an die ausladende Karosserie des amerikanischen Kombis klatschten. Dann jedoch zwangen tiefe Querrinnen den Kommissar dazu, teilweise im Schritttempo weiterzufahren, und schüttelten die beiden ordentlich durch, und jetzt war Sabitzer tatsächlich heilfroh, nicht mit ihrem eigenen Auto unterwegs zu sein.

Nachdem sie das kurze Waldstück hinter sich gelassen hatten, erreichten sie die Anhöhe. An einer Kreuzung parkte ein Streifenwagen quer zur Fahrbahn und blockierte die Geradeausfahrt.

»Sieh an, die Zebras sind auch schon da«, murmelte Gustavsen, während er den Ford auf der Wiese neben dem Einsatzfahrzeug abstellte.

»Wo ist denn dieser Bieberfelder Weiher?«, fragte Sabitzer. »Ich sehe nur Gras und Bäume.«

»Biebersteiner, Frau Nachwuchskommissarin, Biebersteiner Weiher! Wir müssen ein wenig laufen; wobei es mich wundert, dass sie daran gedacht haben, so großräumig abzusperren. Vermutlich wollten sie nur meinen müden Haxen etwas Bewegung verschaffen, und mit Sicherheit haben sie mittlerweile alles um den Weiher herum zertrampelt.«

Nach kurzem Fußmarsch kamen sie zu einem weiteren Wäldchen auf der rechten Seite. Am Rand einer steil abfallenden Böschung standen ein uniformierter Polizist und eine sehr blasse blonde Frau mittleren Alters mit einem Golden Retriever an der Leine.

»Moje Kümmel«, rief der Polizist schon von weitem.

»Moje Ulli, hallo Heide«, sagte Gustavsen. »Bist du wieder aus Moldawien zurück?«

»Hallo Sven«, sagte die Frau und gab dem Kommissar die Hand. »Ja, wir sind im Sommer wieder nach Hause gekommen, weil es Mutter so schlecht ging.«

»Na super, und dann musstest du gleich sowas erleben wie das hier. Ist es denn wieder besser mit deiner Mutter?«

»Ja, sie hat sich stabilisiert. Trotzdem braucht sie nun Betreuung rund um die Uhr. Glücklicherweise hat Andrei schnell wieder einen Job an seiner alten Arbeitsstelle gefunden.«

»Das freut mich für euch. Und schön, dass ihr wieder da seid. Grüße deine Familie bitte mal herzlich von mir.«

Nun schaltete sich Sabitzer, die dem gemütlichen Plausch unruhig zugehört hatte, ein und fragte: »Wo ist denn jetzt die Leiche?«

»Gemach, Sandra, wir haben uns ja noch nicht einmal vorgestellt. Der Mann wird uns schon nicht wegfahren; wenn eine Vespa einmal Wasser abbekommen hat, springt sie nicht mehr an, das weiß ich aus Erfahrung. Gestatten, das ist Heide Cosovan, frühere Schulkameradin und Schwester eines engen Freundes. Der Herr in Uniform ist Hauptwachtmeister Ulrich Fischer. Und unsere ungeduldige Kollegin hier ist Sandra Sabitzer, Kriminalkommissaranwärterin aus dem Siegerland, der ich gerade nicht nur das Einmaleins der Kriminalistik, sondern auch Sprache, Geschichte und Geografie unseres schönen Landstrichs nahezubringen versuche.«

»Angenehm«, sagte Sabitzer.

»Kannst mich Ulli nennen«, sagte Fischer.

»Moje«, sagte Heide, und selbst der Hund gab ein freundliches Bellen von sich.

»Und die Leiche?«, insistierte Sabitzer.

»Ja, die müssen wir uns wohl jetzt mal anschauen«, seufzte Gustavsen.

Nachdem sie die steile Böschung hinabgeklettert waren, standen sie am Rand des Weihers, welcher der Uferbeschaffenheit nach zu urteilen vielleicht noch die Hälfte seiner ursprünglichen Größe hatte und von brackig-grünem Wasser bedeckt war. Das Ufer war von dicht beblätterten Laubbäumen gesäumt, die kaum Sonnenlicht durchließen, was der ganzen Szenerie tatsächlich ein mysteriöses, düsteres Ambiente verlieh.

Der Anblick, der sich ihnen bot, als sie näher an den Weiher herantraten, ließ Sabitzer erschauern. Jeweils halb im Wasser lagen eine uralte Vespa, der berühmte italienische Motorroller, und ein menschlicher Leichnam, fast vollständig skelettiert und gut erkennbar tatsächlich mit einer Handschelle ans Hinterrad gekettet. Der andere, freiliegende Arm war teilweise von Fragmenten einer Plastiktüte umhüllt. Vermutlich sind Teile des Körpers durch die sumpfige Beschaffenheit des Weihers an der vollständigen Verwesung gehindert worden, dachte sie bei sich und schluckte ob des grauenhaften Zustands der Leiche.

»Ulli, sag mir, wo ich nicht hintreten darf«, rief Gustavsen dem Streifenpolizisten zu. Fischer schien leicht zu erröten und deutete verschämt auf einen kleinen Baum am linken Ende des Weihers.

»Hab ich irgendwas verpasst?«, fragte Sabitzer und schaute Gustavsen verwundert an.

»Och, nichts weiter«, schmunzelte Gustavsen, beobachtete seine junge Mitarbeiterin aber genau. Diese jedoch holte nur tief Luft und ging dann weiter, um sich tief über den Fund zu bücken. Dazu musste sie durch beinahe knietiefes Wasser waten, was ihr aber nichts auszumachen schien.

»Mord!«, rief sie kurze Zeit später im Brustton der Überzeugung.

»Ja, dass das kein Unfall beim SM war, ist auch mir klar«, brummte Gustavsen. »Aber was wäre mit Selbstmord? Kriminalbeamte dürfen nie etwas voreilig ausschließen«, dozierte er.

»Ein Selbstmörder hätte wohl eher nicht versucht, sich das Handgelenk durchzubeißen, um von der Handschelle loszukommen, oder?«, konterte Sabitzer trocken.

»Ach du Scheiße!«, ertönte hinter ihnen ein erstickter Ruf, und als sie sich umdrehten, sahen sie Hauptwachtmeister Fischer zu der Stelle eilen, vor der er Gustavsen zuvor gewarnt hatte, wo er sich lautstark erbrach.

Sabitzer sah ihren Vorgesetzten an, der jetzt breit grinste. »Ich kenne meine Pappenheimer, meine Liebe. Aber wie kommt es denn, dass du nicht auch kotzen musst, das ist doch auch für dich der erste Fall dieser Art?«

»Ich habe während der Ausbildung längere Zeit in der Pathologie verbracht, da wird man abgehärtet«, vermutete Sabitzer. »Dort wurde auch mein generelles Interesse für die Kriminalpolizei geweckt, nachdem ich eigentlich eher den Streifendienst angepeilt hatte. Aber verhindern, dass Menschen dort landen, das klang für mich nicht schlecht.«

»Nun gut«, sagte Gustavsen, »dann wird jetzt wohl das ganze Programm abgewickelt. Rufen wir mal die Weißkittel an.« Er holte sein brandneues Smartphone aus der Tasche und verdrehte beim Blick aufs Display genervt die Augen. »Kein Empfang, klasse. Wann gewöhnen sich Mörder endlich an, ihre Opfer in der Nähe eines Funkmastes abzulegen?«

»Dieser Mörder hier hat nicht gewusst, was ein Funkmast ist. Der hätte dein Xiaomi für eine Requisite vom Raumschiff Enterprise gehalten«, sagte Sabitzer.

»Wieso?«

»Der Mann liegt hier seit mindestens dreißig Jahren. Die Vespa wird zwar seit 1946 einigermaßen unverändert gebaut, aber das hier ist eine 125er Primavera, die nur bis 1982 produziert wurde. Wobei das natürlich kein Beweis ist, es spräche ja nichts dagegen, mit einer 35 Jahre alten Vespa herumzufahren. Aber die Kleidung ist definitiv aus den Achtzigern. Das sind mit Sicherheit Reste eines Overalls, wie sie in dieser Zeit in waren und wie sie beispielsweise die Jungs von Modern Talking trugen. Deshalb ist der hier auch noch einigermaßen erhalten, die waren offenbar tatsächlich mehr oder weniger aus Plastik. Und so etwas hat sich ab den Neunzigern niemand mehr zu tragen getraut. Wobei auch das selbstverständlich kein Beleg ist. Aber beides zusammen plus der Zustand der Leiche ergibt für mich ein klares Bild. Ich tippe auf mindestens dreißig Jahre, eher mehr.«

Fischer, der von seinem Baum zurückgekommen war und sich offenbar wieder etwas erholt hatte, schaute die junge Polizistin beeindruckt an. »Das scheint ein schlaues Mädel zu sein, dein Nachwuchs-Columbo. Pass auf, Kümmel, dass die dir nicht bald am Stuhl sägt«, grinste er Richtung Gustavsen.

Dieser reagierte nicht, sondern schaute gedankenverloren auf die Leiche.

»Sven, alles in Ordnung?«, fragte Sabitzer verunsichert.

»Ja, alles okay«, schien Gustavsen aufzuwachen. »Ich habe nur gerade an etwas gedacht. Aber das kann nicht sein.« Er straffte sich und schaute seine Assistentin an. »Warum gehst du nicht auf den Hügel beim Auto und rufst die Spusi an?«

Sabitzer trollte sich, und Gustavsen nutzte die Zeit, um noch ein paar dörfliche Anekdoten mit den beiden Einheimischen – Polizist Fischer war wie der Kommissar gebürtiger Nanzenbacher, wohnte jedoch seit vielen Jahren im hessischen Hinterland – auszutauschen und sich bei Heide zu erkundigen, was es Neues im Dorf gab. Nach ihrem Anruf gesellte sich Sabitzer wieder zu ihnen und versuchte verzweifelt, dem speziellen Dialekt, in dem die drei sich unterhielten, zu folgen.

Nach einiger Zeit tauchten am Rand des Hügels drei schneeweiße Gestalten auf. Die Leiterin der Spurensicherung marschierte vorneweg und begrüßte Gustavsen von weitem.

»Hallo Sven, endlich treffen wir uns wieder mal wieder im Außendienst, was?«, rief sie.

»Hallo Sabrina, wie läuft das Geschäft?«, dröhnte Gustavsen zurück.

»Naja, wie es halt so ist. Tatorte mit der Pinzette aufräumen, und dann die eintönigen Unterhaltungen mit Leuten, die nie eine Meinung haben.«

Sabitzer schaute verständnislos drein. Gustavsen sah ihren verwirrten Blick und sagte: »Darf ich vorstellen? Sabrina Hampe, Leiterin der Spurensicherung der Kripo Dillenburg und Pathologin in Personalunion, sowie die Kollegen Nadine Peukert und Mario Weishaupt. Und das ist Kriminalkommissaranwärterin Sandra Sabitzer, meine neue Assistentin.«

»Angenehm«, sagte Sabitzer.

»Moje«, antwortete die hochgewachsene, gleichermaßen zupackend und nett wirkende Frau Mitte vierzig und drückte ihr die Hand. Ihre beiden Mitarbeiter beschränkten sich auf ein knappes Nicken.

»Also, was haben wir hier?«, fragte die Pathologin.

»Kein besonders schöner Anblick. Ulli hat sich schon zweimal das Essen durch den Kopf gehen lassen. Ein Mann – vermutlich ein Mann – mit einer Vespa, der laut unserer Frau Google hier seit dreißig Jahren im Weiher liegt.«

»Klingt ja wieder einmal appetitlich. Aber ihr habt hier in der Gegend ja auch nicht unbedingt viel Erfahrung mit Mord, oder? Ist in Nanzenbach überhaupt jemals einer ermordet worden?« Die Frau mit dem schwarzen Pagenschnitt blickte fragend umher.

»Ich kann mich nicht erinnern«, überlegte Gustavsen, »weder während meiner Dienstzeit noch irgendwann davor. Selbst den Bürgermeister haben wir damals leben lassen, als der uns die Kanalgebühren so unglaublich hochgesetzt hat, stimmt’s, Ulli?«

»Oh ja«, prustete Fischer los. »Obwohl der vermutlich schon Angst hatte, er würde gelyncht, als die Busladungen voller Nanzenbacher Wutbürger vor dem Rathaus auftauchten.«

»Okay, genug Anekdötchen erzählt. Dann lasst uns den Armen mal anschauen.« Frau Hampe stapfte entschlossen los und ging durch das Wasser zu der Stelle, an der die Leiche lag. Nach einem ersten Blick auf das Szenario richtete sie sich wieder auf und drehte sich zum Ufer herum.

»Auf den ersten Blick hat Frau Sabitzer …«

»Sandra!«

»Was?«

»Sie können mich Sandra nennen.«

»Ach so, ja, und ich bin Sabrina. Dann können wir uns ja auch gleich duzen, oder?«

»Klar.«

»Prima«, sie schenkte ihr ein freundliches Lächeln, »dann weiter im Text. Wo waren wir stehengeblieben? Ach so. Ja, Sandra hat Recht, hier deutet auf den ersten Blick alles darauf hin, dass der Mann – und es ist ein Mann – seit Jahrzehnten hier liegt, entweder getötet wurde oder sich selbst getötet hat und nach und nach durch die fortschreitende Austrocknung des Weihers ans Licht gekommen ist. Genaueres wie immer nach der Obduktion, blablabla.«

»Sandra sagt, es war Mord«, ergänzte Gustavsen.

»Wie kommst du darauf? Was ist mit Suizid?«, fragte Sabrina die junge Nachwuchskommissarin.

Wieder ging Gustavsen dazwischen. »Sie meint, der Mann habe versucht, sich das Handgelenk durchzubeißen.«

Die Gerichtsmedizinerin beugte sich über den Leichnam und begutachtete die angekettete Hand des Toten – beziehungsweise was davon übrig war. »Respekt, junge Frau, gut beobachtet. Ich glaube, du liegst vollkommen richtig.«

Sabitzer wuchs sichtlich in die Breite.

»Okay«, sagte Sabrina, »dann lasst uns jetzt mal unsere Arbeit machen. Wir werden alles fotografieren, Spuren suchen – falls nach der langen Zeit wider Erwarten noch irgendetwas da ist - und dann die Leiche vom Roller trennen, um sie in die Pathologie zu bringen. Das wird einige Zeit dauern bei dem unwegsamen Gelände hier. Für die Vespa brauchen wir einen Traktor mit Seilwinde oder sowas. Obduktion am späten Nachmittag. Wollt ihr teilnehmen oder reicht es euch, wenn wir morgen früh die Ergebnisse besprechen?« Dabei grinste sie vielsagend.

»Wir kommen dazu«, sagte Sabitzer, bevor Gustavsen sich äußern konnte. Sabrina schaute ihn fragend an.

»Du hast es gehört, wir kommen«, seufzte er.

»Also gut«, beendete die Pathologin die Unterhaltung. »Dann bis heute Nachmittag.«

Während der Streifenpolizist bei den Spurensicherungsleuten am Fundort blieb, stapften die beiden Kriminologen wieder hinauf zum Ford und machten sich auf den Rückweg ins Präsidium.

»Ist ja eine echte Type, die Frau Spusi. Und nett«, meinte Sabitzer.

»Ja, die ist ein Original. Und fähig. Und in Ordnung. Sie war früher Krankenschwester, dann hat sie umgesattelt. Vermutlich haben die Patienten zu viele Widerworte gegeben«, feixte Gustavsen.

»Das Problem hat sie ja nun nicht mehr.« Sabitzer schüttelte sich, als die Bilder der Wasserleiche wieder vor ihrem geistigen Auge erschienen.

»Warum nennen dich eigentlich alle Kümmel? Wegen deiner Vorliebe für die Brötchen?« fragte Sabitzer, als sie die ungewöhnliche Hauptstraße entlangfuhren und sich der Dorfmitte näherten.

»Das ist eine längere Geschichte«, antwortete der Kommissar. Dann hielt er unvermittelt an, stieg aus und gesellte sich zu den Alten, die nach wie vor auf ihrer Bank hockten. Sabitzer stieg ebenfalls aus, begrüßte die Männer freundlich und erklärte Gustavsen, sie werde sich im nahegelegenen Dorfladen eine Kleinigkeit fürs Mittagessen holen.

»Was hast du denn mit denen besprochen?«, fragte sie, als sie zurück war und beide wieder einstiegen.

»Ach, hauptsächlich Schwänke aus der Jugend«, meinte der Kommissar lapidar und fuhr los.

***

Im Präsidium angekommen, trennten sie sich. Sabitzer ging hinunter ins Archiv, um in den alten, noch nicht digitalisierten Akten einen Hinweis auf die Identität des Toten zu suchen. Gustavsen suchte indes die Kantine auf, hielt ein Schwätzchen mit der Kollegin hinter dem Tresen und orderte schließlich eine Bockwurst und eine Dose Cola.

Zurück im Büro, machte er es sich in seinem Ergostuhl bequem und packte die Wurst aus. Gerade als er den ersten Bissen im Mund hatte, flog krachend die Tür auf.

»Sandra Sabitzer«, donnerte Gustavsen, »willst du mich unbedingt umbringen, indem du mich zu Tode erschreckst, wenn ich gerade den Mund voll habe?«

»Ich hab ihn, Chef, ich hab ihn!« Sabitzer platzte schier vor Selbstzufriedenheit.

»Lass mich raten, er heißt Luigi Chiellini und war ein italienischer Gastarbeiter.« Gustavsen strich sich genüsslich über den Bauch und schaute nun seinerseits sehr selbstgefällig drein.

»Woher weißt du denn das?« Sabitzer war sichtlich verärgert darüber, dass ihr der kleine Triumph versagt blieb. »Ah, ich kann es mir schon denken. Die Opas auf dem Dorfplatz. Die Schwänke aus der Jugend handelten von einem kleinen Italiener auf einer Vespa, stimmt’s? Wundert mich regelrecht, dass die dir kein Lied von den Flippers vorgesungen haben.«

»Gut kombiniert, Watson«, sagte Gustavsen gemütlich. »Wusstest du, dass Larry Page bei einem Verwandtenbesuch in Nanzenbach feststellte, dass die Opas vom Maulaffenplatz über alles und jeden Bescheid wussten, und dadurch die Idee mit seiner Suchmaschine hatte? So ist Google entstanden!«

»Na dann. Dieses Nanzenbach scheint von elementarer Wichtigkeit für die Weltgeschichte zu sein. Vermutlich war Steve Jobs bei dem Urlaub auch dabei, und ihm ist beim Bieberflurer Weiher ein fauler Apfel auf den Kopf gefallen. Und deshalb gibt es jetzt iPhones.«

»Biebersteiner. Biebersteiner Weiher! Aber du hast Recht, genau so war es«, grinste Gustavsen.

»Weißt du denn noch mehr über diesen Luigi? Vielleicht können wir ja unsere Wissensdatenbanken abgleichen«, meinte Sabitzer.

»Yepp, da ist noch einiges. Luigi, genannt Gigi, ist tatsächlich Ende der Siebziger als Gastarbeiter nach Nanzenbach gekommen, hat in der Hauptstraße gewohnt und im Stahlwerk in Dillenburg gearbeitet. Außerdem war er im Sportverein engagiert und hat dort die Jugend trainiert. Nach etwa drei Jahren ist er von einem Tag auf den anderen spurlos verschwunden. Sein Roller mit ihm, und viel Gepäck hatte er wohl nicht. Deshalb ist man damals davon ausgegangen, er sei wieder nach Italien zurückgekehrt. Was die Herren der Nanzenbacher Schöpfung offenbar auch überhaupt nicht bedauert haben, im Gegensatz zur Damenwelt, die kollektiv in Trauer gestürzt ist. Offenbar war Gigi das, was man heutzutage einen Womanizer nennt.« Seufzend biss Gustavsen in seine kalt werdende Wurst und fragte kauend: »Und was hast du in den Katakomben noch herausgefunden?«

»Naja, ehrlich gesagt nichts, was du nicht schon von den Google-Opas erfahren hattest«, gestand Sabitzer. »Der Mann ist laut Akte im Mai 1979 nach Deutschland gekommen und im September 1982 verschwunden. Und das weiß man nur vom Vermieter. Ansonsten völlig unauffällig, es gibt absolut nichts über ihn. Keine Heimatadresse, keine Informationen über Verwandte, nichts. Ich fürchte, hier werden wir nicht weit kommen mit unseren Ermittlungen.«

Schlagartig wurde Gustavsen ernst. »Junge Frau, hast du schon einmal von Harry Bosch gehört?«

»Nein«, sagte Sabitzer, leicht verunsichert von der Reaktion ihres Vorgesetzten. »Wer ist das?«

»Harry Bosch ist ein Romanheld von Michael Connelly. Er ist Mordermittler in der Hollywood Division in L.A. Und von ihm stammt der Satz: ›Jeder zählt!‹ Und damit meint er, jedes Mordopfer hat es verdient, dass alles dafür getan wird, um seinen Mörder zu finden. Und das ist auch mein Credo. Da draußen liegt ein ermordeter Mensch. Ein Mensch, der noch viele Jahre vor sich hatte, die ihm offensichtlich ein anderer genommen hat. Ein Mensch, um den seit Jahrzehnten andere Menschen trauern. Oder ihm womöglich fälschlicherweise unterstellen, er habe sie verlassen und sei durchgebrannt. Alle Beteiligten haben Anspruch darauf, dass diese Tat aufgeklärt wird, und deshalb werden wir sie aufklären. Da, wo ich arbeite, gibt es keine Kosten-Nutzen-Rechnung. Der Fall wird aufgeklärt. Basta.«

So hatte Sabitzer ihren Vorgesetzten, der normalerweise keinen Kalauer ausließ und immer einen flotten Spruch parat hatte, noch nie erlebt. Gustavsen schien tatsächlich Tränen in den Augen zu haben, als er seine Rede beendete. Offensichtlich verbarg sich hinter dem flapsigen Verhalten und der oftmals zur Schau gestellten Derbheit ein ganz empfindsamer Charakter, für den die Polizeiarbeit nicht bloß Beruf war, sondern Berufung. Sabitzer war beeindruckt und beschloss im Stillen, alles dafür zu tun, dass dieser Mordfall aufgeklärt würde.

»Okay, ich bin dabei«, sagte sie mit belegter Stimme. »Aber wie gehen wir jetzt weiter vor? Das klingt ja alles nach einer Nadel im Heuhaufen.«

»Da hast du wohl Recht. Aber unterschätz die Google-Opas aus Nanzenbach nicht. Ich schlage vor, wir fahren heute Abend mal ins Jägerheim und mischen uns unter die Leute. Da erfahren wir mit Sicherheit einiges.«

In diesem Moment klingelte das Telefon.

»Hallo Sabrina, alte Beinhauerin, was gibt’s?« Offenbar hat er wieder zur gewohnten Leichtigkeit zurückgefunden, freute sich Sabitzer.

Gustavsen schaltete den Lautsprecher an, damit seine Assistentin mithören konnte.

»Wir haben gerade noch an der Identität des Toten gearbeitet und wollten jetzt rüberkommen. Hast du schon mit der Obduktion begonnen?«

»Ja«, klang es blechern aus dem Verstärker. »Allerdings bin ich nicht weit gekommen.«

»Warum nicht?«

»Also, zunächst kann ich als Todesursache Ertrinken annähernd bestätigen. Es finden sich außer den Spuren am Handgelenk keine Verletzungen vorbehaltlich derer, die nach der langen Zeit nicht mehr sichtbar wären.«

»Und was noch?«

»Du erinnerst dich sicher, dass der Arm der Leiche mit Plastik umwickelt war. Dieses Plastik war eine Tüte, und die wiederum war offenbar dazu da, einen Gipsverband vor dem Regen zu schützen. Der Mann hatte einen gebrochenen Arm.«

»Das klingt gut, damit könnten wir, indem wir den damaligen Arbeitgeber oder die Hausärzte befragen, womöglich den Todeszeitpunkt enger eingrenzen. Gute Arbeit, Sabrina.«

»Das war ja bisher lediglich Glückssache«, antwortete die Pathologin, »ebenso das, was jetzt kommt. Als ich nämlich die Tüte und die Reste vom Gips abgenommen hatte, fand ich eine Tätowierung, die man noch einigermaßen erkennen konnte, weil der Arm in diesem Bereich noch nicht zu sehr geschädigt war.«

»Okay, das ist möglicherweise interessant, wenn es darum geht, den Toten endgültig zu identifizieren«, freute sich Gustavsen.

»Das habe ich mir auch gedacht und deshalb das Tattoo schon einmal gescannt und per Bildbearbeitungsprogramm vergrößert. Jetzt kann man es tatsächlich gut erkennen. Es ist ein Kamel.«

»Ein Kamel? Wie Camel Filter?«

»So ähnlich. Ein sitzendes Kamel mit Buchstaben auf der Seite.«

»Was für Buchstaben?«

»Drei Buchstaben: UGA.«

Mit einem Mal war Sven Gustavsen kreidebleich. Er rief in den Hörer: »Sabrina, bleib, wo du bist, wir kommen sofort!«, sprang auf, schnappte sich die Jacke und rannte los, ohne sich noch einmal zu Sabitzer umzudrehen.

Erst auf dem Hof holte sie ihn ein und fragte keuchend: »Was ist denn los, Chef? Was ist denn mit diesem Tattoo?«

»Später.«

Sie überquerten die Straße und wandten sich nach rechts, um gleich darauf links in die Uferstraße einzubiegen. An deren Ende ging es wiederum rechts über die Postbrücke, bevor sie über den Europaplatz hasteten und schließlich das langgestreckte Amtsgebäude in geschmackvollem Gelb mit roten Fenstern erreichten, in dessen Keller sich die Pathologie befand.

Gustavsen schnupperte und sagte: »Bayern-Grill.«

»Bayern-Grill?«, echote Sabitzer.

Als sie die Tür zur Pathologie aufstießen, wurde der Duft stärker. Auf einem von zwei großen Tischen lag die teilverweste Leiche, an der die Gerichtsmedizinerin gerade herumhantierte, auf dem daneben stehenden Rollwagen mit den Sezierwerkzeugen eine Pappschale mit Currysoße und einer großen Menge Pommes Frites.

»Ah, Bayern-Grill«, tippte Sabitzer. »Das war offenbar ein verspätetes Mittagessen. Die Bergung von Leiche und Roller hat demnach gedauert. Aber was ist denn das für eine Riesenmenge Pommes?«

»Riesenmenge? Die Hälfte habe ich schon zusammen mit der Currywurst vertilgt«, lachte Sabrina. »In der Geschichte des Bayern-Grills soll es noch keine zwei Personen gegeben haben, die ein zweites Mal eine große Portion bestellt haben. Es wundert mich regelrecht, dass Sven dir dieses und die anderen kulinarischen Highlights unserer schönen Gegend noch nicht vorgestellt hat.«

Gustavsen ging nicht darauf ein. »Zeig mir das Tattoo«, sagte er ernst.

Sabrina wies mit ihrem Skalpell auf den Tisch, auf dem ein einzelner Ausdruck lag. Gustavsen eilte hin und schaute sich das vergrößerte Bild mit der ominösen Tätowierung an. Dann ging er zu der Leiche und begutachtete das Original.

Die Pathologin sprach weiter. »Wie bereits am Telefon bestätigt hatte Sandra Recht. Der Mann ist, wenn ich mich nicht gewaltig täusche, an die Vespa gekettet und lebendig in den Weiher transportiert worden. Dieser war damals offenbar noch tief genug, um Mann und Roller vollständig untergehen zu lassen. Die Vespa ist aufgrund ihres Gewichts auf den Boden des Teichs gesunken, und weil er nur mit einem Arm an den Roller gekettet war, hatte der Mann zwar Bewegungsfreiheit, aber nicht genug, um wenigstens den Kopf über Wasser zu halten. Dann hat er verzweifelt versucht, sich das Handgelenk durchzubeißen, um aus dem Wasser zu kommen. Aber das hat er nicht mehr geschafft. Entweder ist er zu schnell ertrunken oder er hat es nicht über sich gebracht, richtig zuzubeißen. In jedem Fall kein schöner Tod, das steht mal fest.«

Gustavsen stand nur da und sagte nichts.

»Sven, ist alles in Ordnung mit dir? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen«, fragte die Gerichtsmedizinerin.

Gustavsen starrte weiterhin ins Leere und blieb stumm.

»Sven, hast du mich gehört? Ist es das, was ich glaube?«

Endlich reagierte der Kommissar. Er schaute Sabrina an und sagte tonlos: »Du ahnst überhaupt nicht, wie Recht du hast mit dem Gespenst. Und ja, du hast auch Recht mit dem, was du glaubst. Mir wird gerade eine Menge klar, und ich frage mich, wie ich das bis jetzt übersehen konnte. Sandra, wir machen für heute Schluss. Morgen früh bist du bitte um acht Uhr mit Gepäck für einige Tage in der Sonne im Büro. Und danke, Sabrina. «

Mit diesen Worten machte er kehrt und war zur Tür hinaus, ehe eine der beiden Frauen reagieren konnte.

»Was ist denn in den gefahren? So kenne ich ihn überhaupt nicht. Bis heute Mittag dachte ich, der Mann kann überhaupt nicht ernst sein«, wunderte sich Sabitzer.

»Oh doch, das kann er«, versetzte Sabrina. »Der Mann hat eine Menge Facetten, und er passt definitiv nicht nur körperlich in keine Schublade. In jedem Fall hast du einen tollen Vorgesetzten, von dem du eine Menge lernen und auf den du dich menschlich immer verlassen kannst, das kann ich dir garantieren.«

»Ja, das Gefühl habe ich zunehmend auch. Aber was meint er mit ›einige Tage Sonne‹? Wo will er mit mir hin? Und warum? Ich dachte, wir sind bei der Kripo und ermitteln? Und was weißt du über diese Geschichte?«

»Ich habe da so eine Ahnung«, antwortete Sabrina. »Und mir geht es genauso wie Sven, denn auch ich habe bis gerade eben vollkommen auf dem Schlauch gestanden. Aber das alles wird er dir schon selber sagen. Jetzt sieh mal zu, dass du rechtzeitig gepackt hast. Und wir beide gehen, wenn ihr aus der Sonne zurück seid, mal zum Bayern-Grill oder zum Kirchen-Döner oder bei mir in Eibelshausen zum China-Wok, okay?«

»Kirchen-Döner? Was ist denn das? Sind Döner-Menschen nicht normalerweise Muslime?«

»Kann schon sein. Aber Tatsache ist, in Frohnhausen, wo der Bayern-Grill ist, gibt es auch einen sogenannten Kirchen-Döner. Genaugenommen sogar zwei, einen ehemaligen, der jetzt schräg gegenüber ist, und einen, der die Räumlichkeiten des ersten übernommen hat. Und mittlerweile gekündigt ist und einen dritten eröffnen wird. Alles klar?«

»Alles klar. Oder auch nicht. In mir dreht sich alles. Nach den ersten beschaulichen Monaten in Dillenburg geht das alles irgendwie ein bisschen schnell«, seufzte Sabitzer.

»Das kriegst du schon hin. Und jetzt troll dich. Ach ja, pack dir ein gutes Buch ein für den Flug.«

»Stimmt ja, du hast so eine Ahnung, nicht wahr? Sagt deine Ahnung dir denn auch, wie lange der Flug ungefähr dauern wird und ob ich demzufolge ein dünnes oder ein dickes Buch brauche?«

Die Pathologin grinste nur und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über den verschlossenen Mund.

»Hast du wenigstens einen Tipp, wo ich in dieser schönen Stadt etwas vernünftigen Lesestoff finde?«

»Klar. In der Marktstraße gegenüber dem Thai-Imbiss ist die Buchhandlung Ohnezahn. Da wird es dir gefallen.«

»Okay, danke, Sabrina, und bis bald.«

***

Sabitzer verließ das Gebäude und ging Richtung Postbrücke, ehe sie sich vor der Ampel nach links wandte und das Untertor passierte. Sie ging die Ladenzeile auf der Rückseite des großen Parkhauses entlang und bog schließlich nach links in die Marktstraße ein. Nach kurzer Zeit erschnupperte ihre Nase bereits den köstlichen Duft, der aus dem thailändischen Imbiss wehte, und sie beschloss, sich nach dem Bücherkauf dort etwas fürs Abendessen zu holen.

Gleich darauf sah sie auf der rechten Seite das Türschild der Buchhandlung. Sie trat ein, und ein Glockenspiel ertönte. Sabitzer blickte sich um, und was sie hier sah, gefiel ihr wirklich. Die nette Pathologin hatte nicht zu viel versprochen. Die Buchhandlung war vollständig in dunklem Holz gehalten und die einzelnen Bereiche durch offene Fachwerkbalken voneinander getrennt. Es gab insgesamt drei Sitzgruppen mit jeweils zwei bequem wirkenden Einzelsesseln, einem ebensolchen Zweisitzer und einem kleinen Tisch davor. Die Bücherregale waren aus zum Fachwerk passendem, etwas hellerem Holz gefertigt und die Beleuchtung ein wenig schummrig. Kurzum, das Ganze wirkte absolut einladend, und Sabitzer beschloss spontan, dass dies ihr vorläufiger Dillenburger Lieblingsort werden würde. Sie war eine leidenschaftliche Leserin, hatte aber bei ihrem Umzug zunächst nur das Nötigste eingepackt und deshalb nur eine kleine Anzahl Bücher mit in ihre winzige Wohnung gebracht. Bisher hatte sie sich mit E-Books über die Abende gerettet, aber als sie die köstliche Duftmischung aus Holz und gebundener Literatur einatmete, wurde ihr wieder einmal bewusst, dass eben doch nichts über ein ordentliches Papierbuch ging.

Der Laden war leer; Sabitzer stand zunächst unschlüssig da, bevor sie begann, die angebotenen Bücher etwas näher in Augenschein zu nehmen. Als sie im zweiten Gang angekommen war, öffnete sich die Tür im hinteren Bereich, auf der Privat stand, und es erschien die perfekte Ergänzung zum Ambiente der Ladeneinrichtung. Ein Mann mittleren Alters und mittlerer Größe, etwas untersetzt und kräftig, braunhaarig mit einem Vollbart, bekleidet mit einer braunen Cordhose und einem dunkelgrünen Pullunder über einem karierten Holzfällerhemd. In der Hand trug er ein Tablett mit Kaffeeutensilien, im Mund eine brennende Pfeife von Poul Winslow.

Als er Sabitzer erblickte, flog ein Lächeln über sein Gesicht. Er stellte sein Tablett auf den Tisch der mittleren Sitzgruppe, nahm die Winslow aus dem Mund und reichte ihr die Hand. »Willkommen bei Ohnezahn. Ich bin Peter Kuhlmann. Wie kann ich Ihnen hinderlich sein?«