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Coronas Zeugen Eine fast wahre Erzählung aus Stuttgart Konrad Pfeiffer arbeitet als freier Journalist. Die Beschränkungen der ersten Corona-Verordnung im März 2020 lassen seine Verdienstmöglichkeiten wegbrechen. Von der Zeitschrift Magazin erhält er den Auftrag, einen Artikel über Verschwörungsgeschichten und ihre Anhänger zu verfassen, die auf 'Hygienedemonstrationen' in Stuttgart zusammenkommen. Sie versammeln unter dem Namen "Selberdenken" und sprechen von Diktatur und Unterdrückung. Die Gefahr durch das Coronavirus leugnen sie und halten sich nicht an die Regeln. Seine Recherchen konfrontieren Konrad Pfeiffer mit esoterischen Heilsideen, verqueren Ärzten für Aufklärung, fundamentalistischen Christen, AfD-Politikern, Q-Anon-Anhängern, impfkritischen Anthroposophen, hetzerischen Moderatoren, seltsamen Reichsbürgern, Neonazis und cleveren Geschäftsleuten. Er schwankt zwischen Spott für Spinner, Entsetzen über gewissenlose Fanatiker und Angst vor Neonazis. Für ihn sind Leugner und Verharmloser des Coronavirus Fehlgeleitete, die man mit Fakten in die Realität zurückholen muss. Diese Überzeugung verliert er nach und nach. Er taucht in die krude und verunsichernde Welt der sogenannten Selberdenker ein und erkennt den tiefen Riss, der die Gesellschaft durchzieht. Als seine wiedergefundene große Liebe aus der Studentenzeit ihm eine Zukunft als Festangestellter bei einer Zeitung anbieten kann, beschließt er, entgegen den Vorgaben des Verlags eine Satire zu schreiben. Die Übergabe seines Textes scheitert im Mai 2020 daran, dass der Verlag insolvent ist. Gründer und Profiteur der neuen Massenbewegung ist Frieder Welte, Inhaber einer Werbeagentur, der die 'Selberdenker' ins Leben gerufen und zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell entwickelt hat. Er plant, an der Spitze dieser heterogenen Schar von Kritikern nach Berlin zu gehen.
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Seitenzahl: 204
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Stefan Kuntze
Coronas
Zeugen
Erzählung
Über dieses Buch
Im Frühjahr 2020 erschüttert die Corona-Pandemie die Welt. Während in Deutschland die politisch Verantwortlichen versuchen, eine Ausbreitung des Virus zu begrenzen, regt sich gegen die beschlossenen Maßnahmen Widerstand, der in Stuttgart zur Entstehung einer Bewegung von selbsternannten Experten führt, die fast alles besser wissen und von einer Diktatur reden, die im Auftrag finsterer Mächte über das Land komme. Die Bewegung zieht Sonderlinge aus den verschiedensten Bereichen der Gesellschaft an und wird von Rechtsradikalen für ihre Zwecke benützt.
Der freie Journalist Konrad Pfeiffer taucht in diese krude und verunsichernde Welt der sogenannten Selberdenker ein und erkennt den tiefen Riss, der die Gesellschaft durchzieht.
Diese Erzählung ist erfunden und sie ist auch wahr. Manchmal kommt eine erfundene Geschichte der Wirklichkeit näher als einem lieb sein kann. Die Ähnlichkeit mit der Realität ist dann unvermeidlich.
Über den Autor
Stefan Kuntze, geboren 1947, lebt in Stuttgart. Bis 2013 Tätigkeit im Justizdienst des Landes, zuletzt Präsident des Verwaltungsgerichts. Verheiratet, eine Tochter und zwei Enkel.
2014 „Martha vor dem Spiegel“, Kriminalroman um ein nie gemaltes Bild von Otto Dix.
2018 „Sieben Leben“, Szenen einer Biografie, die das Leben von Karl Kuntze zwischen 1909 und 1951 als Widerstandskämpfer und Aufbauhelfer der deutschen Demokratie vor dem Hintergrund der Zeitgeschichte darstellen.
Stefan Kuntze
Coronas
Zeugen
Erzählung
März 2020
Frieder Welte war mit sich und der Welt zufrieden. Die fünf Jahre seit Ende 2014 waren viel besser gelaufen, als er es je zu hoffen gewagt hatte. Die kleine Werbeagentur, gegründet nach seinem Abschied von Daimler, hatte sich zu einem gut vernetzten, erfolgreichen Unternehmen gemausert. Die Firma war seine Familie, eine andere brauchte er nicht. Dafür hätte er gar keine Zeit.
Es war ihm und seinem Team mit einer Mischung aus Tiefstapelei und Kreativität gelungen, die weltweit agierende Maschinenbaufirma Huber als Kunden zu gewinnen. Seither rollte der Rubel, wie Frieder sich ausdrückte. Das von ihm entworfene Firmenprofil mit dem eher altbackenen Slogan: „Huber Maschinen, zu schade für die Provinz!“ hatte den Patriarchen und erfreulicherweise auch den Geschäftsführer überzeugt. Vor allem war es weltweit als Zeichen schwäbischen Understatements und Humors anerkannt worden. Sogar die Kunden in Übersee wussten, dass dahinter höchste Qualität stand.
Dieses Jahr würde Frieder die laufenden Geschäfte den anderen überlassen. Das konnte er sich erlauben. Sein Privatleben war all die Jahre auf ein Minimum reduziert gewesen. Nur wenn die Auftragslage es wirklich zuließ, hatte er sich ein paar wenige Tage Urlaub genommen. Er lebte nicht einmal in einer richtigen Beziehung.
Jetzt war der richtige Augenblick gekommen, sich um das eigene Wohlbefinden zu kümmern. Er wollte sich das gönnen, was ihm seit Urzeiten vorschwebte. Mit seinen vierzig Jahren fühlte er sich bereit für Neues. Raus aus dem Trott, hatte er sich gesagt. Zu Hause hocken kannst du noch lang genug. Mönche in Tibet, Fakire in Indien, mongolische Nomaden, es waren stets extreme Lebensentwürfe gewesen, die ihn seit Jugendzeiten fasziniert hatten.
Er hatte alles vorbereitet und würde sich endlich die lange und lehrreiche Reise zu seinen Träumen leisten und diese besonderen Menschen und Länder in der Realität kennenlernen. Und dann das! Seit Mitte März galten wegen dieser komischen Chinagrippe derart viele Beschränkungen und Verbote, dass er seine Pläne vergessen konnte. Zumindest musste er das befürchten.
Frieder Welte nippte an seinem Karotten-Apfel-Basilikum-Smoothie und streckte seinen Oberkörper auf dem original Thai-Sitzkissen, das dem hellen Raum mit der zum Dach hin schräg zulaufenden Decke einen asiatischen Anstrich gab. Er sah durchtrainiert aus, wie er in dem großen Wandspiegel seiner Loftwohnung in Sillenbuch feststellen konnte: Muskulöse Oberarme, breiter Brustkasten und entschlossener Blick aus blauen Augen im weichen Gesicht. Gepflegter Schnitt der dunklen Haare à la Jogi Löw. Seltsam, dass Frauen seine Vorzüge bisher noch nicht so richtig bemerkt hatten. Vielleicht hatte er ihnen keine Chance gegeben.
Er stellte das Glas so heftig auf den antiken Beistelltisch aus Cannstatter Travertin, dass es zersprang und der Rest des Inhalts den porösen Stein benetzte.
Frieder sprang auf und fluchte. Daran war die Merkel schuld! Die dämliche Politik der Regierung dieses Landes mit ihrer unsäglichen Kanzlerin war auf dem besten Weg, seine Pläne und Träume dauerhaft zunichte zu machen. Lockdown, Reisewarnungen, Einstellung des Flugverkehrs, Quarantäne. Und jetzt auch noch der wertvolle Tisch! Rasch holte er ein Wischtuch aus der Küche.
Ja, geht’s noch? Wegen einer Grippe? Was lief denn hier ab? Nach all den Mühen hatte er sich ein Sabbatjahr genehmigt und die Leitung der Firma in die Hände seiner Vertrauten übergeben. Er saß sozusagen auf gepackten Koffern. Statt Reiselust Coronafrust mit geradezu diktatorischen Beschränkungen. Wer hätte mit so etwas rechnen können?
Niemand konnte ihm sagen, ob er überhaupt nach Indien einreisen dürfte, selbst wenn es eine Fluggesellschaft gäbe, die ihn dorthin gebracht hätte. Dieser Wahnsinn musste beendet werden. Das war die einzige Lösung, nicht nur für ihn. Viele Menschen dachten wie er. Es war mit Händen zu greifen, und jeden Tag berichteten sogar die Mainstreammedien davon. Wenn er es geschickt anstellte, könnte er diese Massen organisieren und sie dazu bringen, eine richtig große Kampagne für die Rückeroberung der Freiheit zu finanzieren. Warum auf andere warten? Frieder für Freiheit! Ein toller Spruch. Seine Arbeit war ihm zur zweiten Haut geworden, sodass er sofort in Slogans dachte.
Der Fleck auf dem Travertin war kaum noch zu sehen. Frieder setzte sich an den PC und checkte die aktuellen Pandemie-Meldungen. Alles Panikmache! Die ganze Nation hing offenbar an den Lippen eines Virologen, den vorher keine Sau gekannt hatte. Gab es keinen anderen? Mit wenigen Klicks landete er bei einem HNO-Arzt, der genau das verkündete, was er auch dachte: Das Coronavirus ist harmloser als die Grippe, und Masken nützen nichts, sondern töten Kinder. Die Beschränkungen sind unnütz und berauben uns der Freiheit. Niemand hat das Recht, dem Volk die Freiheit zu nehmen. Frieder war beeindruckt. Endlich widersprach jemand diesem aufgeblasenen, arroganten Regierungsberater und machte klar, worum es eigentlich ging. Er las weiter, bis ihn die tief stehende Sonne über dem Silberwald blendete und er auf dem Bildschirm nichts mehr erkennen konnte.
Wie leicht war es doch, sich richtig zu informieren. Frieder erhob sich, ging in den Küchenbereich und lehnte sich an die Theke. Er goss sich den Rest des Smoothies in ein neues Glas und blickte versonnen aus dem Fenster. Drüben auf dem Hügel über dem Tiefenbachtal glänzten die Fenster der Häuser in der Frauenkopfsiedlung. Das empfand er als Bestätigung des kühnen Gedankens, der von ihm Besitz ergriffen hatte.
Dieser Arzt, der schon auf zahlreichen Demonstrationen Klartext gegen die Regierungspolitik gesprochen hatte, bot seinem Publikum ein Füllhorn mit wahren Informationen und Dutzenden von überzeugenden Videos. Tausende hatten ihm zugejubelt. Auf seiner Homepage konnte man alles nachlesen. Diese Menschen musste man erreichen. Sie ahnten, dass etwas falsch war. Sie waren bereit aufzustehen und dies auch zu zeigen.
Frieder überschlug im Kopf, wieviel Tausend Menschen seit ein paar Wochen immer wieder zusammenkamen, um zu demonstrieren. Es war ganz einfach. Dafür brauchte er keinen Rechner. Wenn nur jeder zweite der Demonstrationsteilnehmer ein T-Shirt, ein Sweatshirt, einen Beutel oder Schal zu einem anständigen Preis kaufen würde, könnte man ordentlich verdienen. Natürlich müssten die Produkte mit zugkräftigen Parolen bedruckt sein. Die zu finden war eine leichte Übung für ihn als Werbeprofi.
Mittlere Stoffqualität reichte sicher aus. Die Botschaft steht im Vordergrund, nicht der Tragekomfort, sagte er sich. Es wäre bestimmt ein gutes Gefühl, mit einem lukrativen Geschäft zugleich das Wohl aller Menschen zu fördern. Liebe, Freiheit und Grundrechte, darum ging es doch! Das hatte er sofort verstanden.
Wie beflügelt eilte er zurück in den Wohnbereich, setzte sich an den Schreibtisch und begann ein neues Dokument. Man musste den Unzufriedenen vermitteln, dass sie Teil eines großen Ganzen waren und vor allem, dass sie zu den Guten gehörten. Dafür brauchte es weniger ein schlüssiges Konzept als vielmehr gute Parolen. Slogans mussten griffig sein, damit sie die Leute packten.
Politisch zuordnen sollte man sie nicht so leicht können. Vor allem mussten sie harmlos klingen. Es wäre gelacht, wenn ihm da nichts einfiele! ‚Frieder für Freiheit‘ war zwar gut, aber er wollte sich den Anschein von Bescheidenheit und Zurückhaltung geben. Das kam besser an als auch nur der Anschein von Angeberei.
Zunächst musste das Ganze nach einer echten Bewegung klingen, etwa so: ‚Besorgte Bürger fordern ihre Rechte zurück‘. Naja, in der Art. Dieser Spruch war aber zu politisch. Irgendwie musste es lockerer daherkommen. Er war schließlich kein verbissener Ideologe. Und Spaß machen musste die Demonstrierei auch. Die Leute würden vielleicht sogar in der ganzen Republik umherreisen, um dabei zu sein. Was für eine gigantische Bewegung könnte entstehen, wenn er es richtig anpackte.
Auf dem Bildschirm schimmerte immer noch das leere Dokument. Er zog die Tastatur heran und gab Kundgebung 2.0 ein. Das klang gut. Eine Kombination von Wort und Zahl war moderner und schlagkräftiger als ein bloßer Name. Ein guter Oberbegriff wäre vielleicht ‚Denken 2.7‘. Nein, so etwas verstand kein Mensch. Es geht darum, den Leuten einzureden, dass sie es selber sind, die etwas bewegen in diesem Land.
Natürlich, warum hatte er das nicht schon längst gefunden: Selber denken 2.7 war die passende Parole. Das betonte Eigenständigkeit und gleichzeitig ungeheuren Fortschritt, weit über 2.0 hinaus. Die Sieben könnte darüber hinaus seiner Heimatstadt Stuttgart zugeordnet werden. Das war es. Lokal verwurzelt, offen gegenüber dem Fortschritt: ‚Selber Denken 7000‘. Frieder, dachte er, ich will zwar nicht übertreiben, aber das ist genial!
Um der Konkurrenz von vorneherein keine Chance zu geben, wäre es angebracht, die Postleitzahlen aller Großstädte in Deutschland schützen zu lassen. Der Rechtsanwalt, der die Firma betreute, sollte sich darum kümmern, ob das über Patent oder Warenzeichen möglich war.
Als er kurz nach Mitternacht wie betäubt ins Bett fiel, hatte er folgende Parolen entwickelt: „Freiheit, Frieden, Güte!“, „Lächeln macht frei“, „Menschenskind“ und „Glaube, Liebe, Glück“. Das klang alles schön unbestimmt und griffig. Vor allem war es allgemeingültig. Manche mochten die Aussagen banal finden. Das störte ihn nicht. Über Preise musste er mit der Druckerei reden. Eine Gewinnspanne von 60 % war sicher zu realisieren. Und das Wichtigste: Die Slogans waren kurz. Sie passten sogar auf Kleidung der Größe S und auf Kindershirts.
Alles war richtig an diesen Ideen und Slogans. Niemand könnte ihn politisch in eine bestimmte Ecke stellen, und wer konnte schon etwas gegen diese Botschaften haben? Frieder Welte schlief tief und fest. Er hatte viel zu tun in den nächsten Tagen. Er würde die Kundgebungen auf ein neues Level heben. Der Schlossplatz, ja sogar die ganze Stadt Stuttgart würden nicht ausreichen für das, was er vorhatte. Es gab viele Strömungen in der Gesellschaft und Menschen, die man ansprechen konnte mit dieser Aktion. Der Anwalt musste ihm auch noch ein paar griffige Formulierungen zu den Grundrechten liefern. Um die ging es schließlich! Morgen würde er für Anfang Mai eine Großkundgebung anmelden. Bis dahin musste alles fertig sein.
Die Demos auf dem Schlossplatz konnten nur den Anfang bilden. Ihm schwebte Größeres vor. Die Zeit war reif!
Mittwoch, 15. April 2020
Es fing ganz harmlos an, wie meistens. Die Telefonbasis blinkte, als er die Wohnung betrat. „Lieber Herr Pfeiffer, hier ist der Magazin-Verlag. Der neue Ressortleiter hat vielleicht ein Projekt für Sie. Könnten Sie morgen so gegen 10 Uhr einmal vorbeischauen?“ Natürlich konnte er. Eine Reise in den Osterferien war finanziell nicht drin. Konrad zog ein Zigarillo aus der flachen Blechschachtel und suchte auf dem winzigen Balkon eine windstille Ecke.
Ein Projekt wollten sie ihm anbieten! Seit der Pensionierung des alten Ressortleiters Ende letzten Jahres hatte er nichts mehr vom Verlag gehört. Endlich bot sich die Chance, wieder etwas Geld zu verdienen. Das war bitter nötig. Termine hatte er morgen keine, wie seit vielen Wochen schon. Hoffentlich konnte er den Neuen davon überzeugen, dass man den renommierten Herrn Pfeiffer viel öfter, eigentlich sogar auf Dauer brauchte.
Er hatte keine Vorstellung davon, wie und wovon er in Zukunft leben sollte. Ohne Aufträge fehlte es an ausreichendem Einkommen und ohne Partnerin an einem befriedigenden Familienleben. Wenn es schlecht lief, müsste er die Wohnung aufgeben und vielleicht sogar seine geliebte Heimatstadt verlassen. Die Lebenshaltungskosten waren zu hoch für einen freien Journalisten mit mäßigem Erfolg. Konrad verkniff sich ein zweites Zigarillo.
Seine Wohnung befand sich im 5. Stockwerk eines Altbaus am Eugensplatz über der Stuttgarter Innenstadt. Oft und gerne genoss Konrad den weiten Blick über den Talkessel bis zur gegenüber liegenden Hügelkette zwischen Doggenburg, Kräherwald und dem höchsten Berg der Stadt, dem Birkenkopf. Schräg vor dessen Silhouette ergoss sich der grüne Rücken der Karlshöhe wie ein erkalteter Lavastrom hinab in die Stadt. An dessen Fuß begann der Innenstadtbereich. Der Tagblattturm, etwas westlich des zentralen Schlossplatzes, ragte wie ein Ausrufezeichen aus dem Häusermeer empor.
Es war aber auch zum Auswachsen! Diese verdammten Einschränkungen, die im ganzen Land angeordnet waren, machten sein übliches Arbeiten unmöglich. Wie sollte man mit Menschen Gespräche führen, Bibliotheken und Archive durchstöbern, wenn Abstand, Maske und Schließung öffentlicher Einrichtungen die Antwort der Regierung auf die Seuche waren? Zu Beginn des Jahres hatte er eine vielversprechende Recherche begonnen: Die Sanierung des historischen Opernbaus und die Spaltung der Stadtgesellschaft in Fragen der Hochkultur. Er war kurz davor gestanden, ein Komplott aufzudecken, was einige angesehene Größen in Kultur und Politik ins Schwitzen gebracht hätte.
Missmutig erinnerte er sich an die Interviewabsagen, die ihn seit den ersten Meldungen über die endemische Ausbreitung eines neuen Virus im März ausgebremst hatten. Seither war Sendepause! Das kleine Spardepot war zusammengeschmolzen. Nicht einmal Kurzarbeitergeld konnte er beantragen. Er war schließlich selbständig. Von den Hilfen für Soloselbständige hatte er bislang nicht profitiert. Sein Antrag schlummerte seit Wochen bei den städtischen Ämtern.
Vielleicht kam jetzt die Wende! Das Magazin zahlte ziemlich ordentlich. Konrad Pfeiffer war kein Nobody in der Stuttgarter Kulturszene. Als eleganter Kenner von Oper, Theater und Ballett hatte er regelmäßig seine Leser und vor allem Leserinnen gefunden. Geschätzt wurde auch seine Fähigkeit, juristische Fragen so zu durchleuchten, dass jeder Interessierte die Sache verstehen konnte. Aber irgendwie war er in den letzten Jahren nicht mehr so recht zum Zuge gekommen. Das Magazin kam ihm seit den letzten Ausgaben langweiliger vor, als er es in Erinnerung hatte. Mutige Denkanstöße und Kritiken waren rar. Alles wirkte bürgerlicher. Vor allem fehlten seine eigenen Essays, Features und Reportagen die manchmal sogar von überregionalen Kulturmagazinen übernommen wurden.
Vorbei war auch der September 2019, als man ihn für zehn Jahre erfolgreicher Arbeit mit einem Portrait im Magazin geehrt hatte. Auf dem Foto war nicht zu erkennen, dass seine Haare sich schon etwas verfärbt hatten. An seinem 40. Geburtstag im letzten Jahr waren ihm zum ersten Mal graue Strähnen aufgefallen. Die hatte der Fotograf sauber wegretuschiert und den Aufnahmewinkel so perfekt gewählt, dass der leicht gekrümmte Rücken und vor allem die geringe Körpergröße nicht auffielen.
Konrad Pfeiffer, der Erklärer auch schwieriger Zusammenhänge, so hatte der Chef ihn genannt. Der damalige Ressortleiter Kultur und Gesellschaft hatte ihn während des Empfangs auf die Seite genommen und ihm angedeutet, dass diese Ehrung der Einstieg in eine Festanstellung werden könnte. „Konrad, das ist deine Chance! Du solltest allerdings ein bisschen mit dem saloppen Ton aufpassen. Mein Nachfolger scheint mir stromlinienförmig zu sein, und der Chef hat erst kürzlich erklärt, unser Blatt müsse sein seriöses Profil betonen.“
Unmittelbar nach der Feier begann die Recherche zur Opernsanierung, und an Sylvester hatte er mit ehemaligen Kommilitonen von der Hochschule der Medien ein phantastisches Fest gefeiert. Seine erste große Liebe war mit dabei gewesen, die großartige, kluge Ingrid mit den roten Haaren und der Traumfigur. Das neue Jahr durfte er nach atemberaubendem Sex in ihrem Bett mit einem starken Morgenkaffee und der festen Überzeugung begrüßen, dass jetzt alles besser werden würde. Zum Abschied stand sie im Bademantel an der Wohnungstür.
„Wann sehen wir uns wieder in diesem besonderen Jahr 2020?“
Sie war immer noch so zielstrebig und direkt wie in ihren Studentenzeiten. Hatte er sich deshalb damals nicht getraut, ihr seine Liebe zu erklären? War er so ein Feigling? „Bald, Ingrid, ganz bald. Es hat mich sehr gefreut, dich wieder zu sehen.“ Was für eine dämliche und nichtssagende Floskel. ‚Du bist eine Pfeife, mein lieber Pfeiffer‘, beschimpfte er sich selber, als er das Haus in der Urbanstraße verlassen hatte.
Ingrid Graser und er kannten einander seit dem ersten Semester an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Konrad war bis über beide Ohren in die stattliche rothaarige Schönheit verliebt gewesen. Erst kurz vor den Prüfungen hatte er ihr seine Liebe gestanden. Es war zu spät gewesen. Ihre Wahl war auf einen Lokalredakteur der Frankfurter Rundschau gefallen, der an der Hochschule ein Seminar angeboten hatte. Sie war mit ihm nach Frankfurt gegangen und hatte dort Karriere gemacht. Seit ihrer Scheidung im Herbst des letzten Jahres lebte sie wieder in Stuttgart und sie war frei! Er musste sich endlich trauen!
Über ihre beruflichen Wege hatten sie an Sylvester natürlich auch gesprochen. Als Journalistin hatte Ingrid Erfolg und arbeitete jetzt auf einer Stelle als regelmäßige Kolumnistin des Wochenendmagazins der beiden Stuttgarter Zeitungen. Die großen Verlage interessierten sich für ihre Arbeit. Ihr wurden Angebote gemacht, von denen er nur träumen konnte. Als freier Journalist war er von der allgemeinen Marktlage abhängig. Und die war zurzeit denkbar schlecht. Das hatte er natürlich nicht erzählt.
Wie sollte es weitergehen? Im Februar begann die allgemeine Unsicherheit über ein neues Virus, eine Art chinesische Seuche. Im Magazinverlag war keine Rede mehr von einem Vertrag. Sein Freund war im Ruhestand, und der neue Ressortleiter hatte bis zu dem Anruf nichts von sich hören lassen. Er seufzte. Eine dauerhafte Beziehung mit Ingrid wäre der Beginn eines neuen Lebens, aber solange er nicht wirklich auf eigenen Beinen stand, gönnte er sich nicht mehr als gelegentliche Treffen.
„Du bis viel zu ängstlich, so kenne ich dich gar nicht“, hatte sie ihm nach der stürmischen Nacht ins Ohr geflüstert, bevor er aufbrach. Er selber kannte sich aber so! Von ihrer Wohnung bei der Friedenskirche wanderte er in Richtung des nicht weit entfernten Eugensplatzes. Leichter Regen hatte eingesetzt. Im Zentrum des Kreisverkehrs, zu dem sich die Kernerstraße im unteren Drittel erweitert, ragte die silberglänzende Metallskulptur des Bildhauers Erich Hauser wie ein erstarrter Blitz in den Himmel. Sei zielstrebig, optimistisch und stark, so verstand Konrad ihre Botschaft. ‚Lass dich davon inspirieren‘, sagte er halblaut zu sich selber.
Am Schützenplatz wechselte er die Straßenseite. „Idiot!“ Erschrocken wich er einem Radfahrer aus, der ihm auf dem Gehweg in hohem Tempo entgegenfuhr. Der junge Mann bremste scharf und streifte den Kotflügel eines geparkten Mercedes, bevor er zum Stehen kam. „Was bist du für eine Trantüte? Schau nach vorne, wenn du in der Stadt unterwegs bist.“ Er musterte kurz den Kratzer an dem Auto. „Hui, eine S-Klasse, Sechszylinder. Das hat sich gelohnt.“
Er grinste Konrad an. „Daran bist du schuld!“
„Wie bitte? So eine Frechheit! Sie dürfen auf dem Gehweg gar nicht fahren. Und außerdem hätten Sie fast mich auch noch erwischt.“
„Leck mich doch, du Kleinbürger. Wir Selberlenker lassen uns von kleinlichen Verkehrsregeln in unserer Freiheit nicht einschränken. Pass halt besser auf! Und den Bonzen, die solche Schlitten fahren, denen geschieht es gerade recht.“ Er stieg wieder auf den Sattel und verschwand talwärts.
Konrad betrachtete den Schaden am Lack. Wer dafür verantwortlich war, lag auf der Hand, natürlich dieser komische Typ. Aber was änderte das? Trotzdem fühlte er sich irgendwie selber schuldig. Er nahm seinen Weg wieder auf und ärgerte sich über seine Gefühle. Regeln und Gesetze galten offenbar für manche Leute nicht. Selberlenker, dachte er, was für ein Unsinn!
Am Morgen des 15. April verließ er seine Wohnung sehr früh, um keinesfalls den Termin zu verpassen. Er wollte nicht durch Unpünktlichkeit auffallen. Die Redaktion des Magazins befand sich im Stuttgarter Tagblattturm, dem ersten Stahlbetonhochhaus Deutschlands. Der Bau mit den auf allen Ebenen die ganze Breite ausfüllenden Fensterbändern ist Zeugnis einer Zeit, in der die Stadt mit ihrer Architektur die Moderne prägte. Konrad hatte zu dessen 90-jährigem Jubiläum im Jahr 2018 einen flammenden Appell zum Erhalt der Denkmäler des Neuen Bauens geschrieben, den der alte Ressortleiter gerne zitiert hatte, wenn er von der Abrissbarbarei in der Stadt sprach, was er oft getan hatte.
Beim Betreten des Großraumbüros im achten Stockwerk deutete die junge Dame am Empfang dezent auf den Teil ihres Gesichts, an dem unter einer bunten Designermaske der Mund verborgen sein musste. Wie peinlich! Konrad hatte vergessen, eine Maske einzustecken. Die waren hier im Verlag besonders vorsichtig und verlangten die Dinger sogar von Besuchern. Das hatte ihm das Büro gestern noch mitgeteilt. Er fand das richtig. Wer die täglichen Meldungen des Robert-Koch-Instituts verfolgte, musste erkennen, dass das Land von einer bisher nicht gekannten Gefahr bedroht war. Ein neues Wort war über Nacht in aller Munde: Pandemie.
Warum die Bundesregierung sogenannte Alltagsmasken als nutzlos bezeichnete, konnte Konrad nicht verstehen. Zu Recht plante die Landesregierung die Einführung einer allgemeinen Maskenpflicht für den öffentlichen Nahverkehr und Einkaufsgeschäfte, die öffnen durften. Allerdings wusste niemand, wo er diese Mund-Nasen-Bedeckung, wie sie offiziell hieß, bekommen konnte. Viele Menschen begannen, aus Stoffresten selber welche herzustellen. Im Internet fand man Bastelanweisungen und gute Ratschläge.
Er lächelte die Dame entschuldigend an. Man war hier auf solche Besucher vorbereitet, denn ohne, dass er etwas gesagt hätte, reichte sie ihm eine blaue Einmalmaske. „Guten Morgen, Herr Pfeiffer. Der Ressortleiter erwartet Sie. Sie finden ihn ganz hinten rechts im Raum 8.08.“ Sie schenkte ihm ein professionelles Lächeln und wandte sich wieder dem Bildschirm zu.
Als er im September das letzte Mal hier angekommen war, hatte ihn der Ressortleiter gleich am Eingang mit den Worten „Na, alter Junge, wir haben uns lange nicht gesehen!“ begrüßt und ihn vor der Feierstunde in sein winziges Büro gelotst. Dort fläzte er sich auf den Drehstuhl und legte seine Füße wie in amerikanischen Filmen aus den Fünfzigerjahren auf den mit Papieren überladenen Schreibtisch. „Komm, wir trinken erst mal einen auf deinen Erfolg!“
Sein Nachfolger saß in einem größeren Büro mit Blick auf den bewaldeten Höhenzug in Richtung Degerloch. Sein Schreibtisch war groß und leer bis auf eine dünne Mappe und eine Biedermeiervase mit bunten Tulpen. „Kommen Sie herein, Herr Pfeiffer. Es freut mich, Sie persönlich kennenzulernen.“
Konrad nahm vorsichtig auf einem modernen Besucherstuhl Platz. „Vielen Dank. Auch für Ihren Anruf. Ich weiß das sehr zu schätzen. Es ist in diesen Zeiten nicht einfach, als selbständiger Journalist …“
Der Ressortleiter unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Das ist uns bekannt, lieber Kollege. Seien Sie versichert, …. aber setzen wir uns doch zusammen an den Besuchertisch am Fenster.“ Konrad nutzte die Unterbrechung, um den Mann in Augenschein zu nehmen.
Er mochte so alt sein wie Konrad selber. Die kurzen Haare waren akkurat geschnitten. Er trug einen Anzug undefinierbarer Farbe, der nach Boss oder Armani aussah und locker und leger wirkte. Im offenen Hemdkragen war ein dezentes burgunderrotes Tuch drapiert. Das eckige Gesicht strahlte Professionalität und eine gewisse Härte aus. Er trug keine Maske.
„Darf ich Ihnen einen Kaffee bringen lassen?“
„Nein, danke. Ich …“
„Also gut, kommen wir gleich zur Sache. Wir möchten Ihnen gerne einen Vorschlag machen.“
In Konrads Ohren klang das, als hätte er „den Sie nicht ablehnen können“ hinzugefügt. Das hätte der Wahrheit entsprochen. Er musste nach jedem Strohhalm greifen. Sogar über die Richtlinien des städtischen Tierheims würde er schreiben, wenn jemand dies bezahlte.
„Das freut mich sehr. Zu welchem Thema wünschen Sie etwas? Sie kennen sicher meine bisherigen Arbeiten und wissen, in welchen Bereichen ich mich auskenne.“
„Allerdings, deshalb möchte ich auch persönlich mit Ihnen sprechen. Übrigens, hier drin können sie ihren Mund-Nasen-Schutz gerne abnehmen. Manche Menschen fragen sich sowieso, ob er etwas nützt. Aber wie dem auch sei, wir wollen ein ganz aktuelles Thema aufgreifen.“
„Meinen Sie Corona?“
„Ja, schon, aber nicht so simpel. Die Pandemie spielt eine Rolle. Es geht allerdings weder um Medizin noch um Virologie, eher um ein gesellschaftspolitisches Thema.“
„Für Virologie wäre ich kaum der Richtige.“
„Das wissen wir. Nein, uns interessiert etwas anderes. Etwas, das in mein Ressort passt. Und auch Ihr Steckenpferd, das Recht, spielt mit hinein.“ Er machte eine Pause und blickte versonnen auf seine Hände. „Wir beobachten in diesen Frühjahrstagen einen Riss in der Gesellschaft. Immer mehr Menschen kritisieren die politischen Entscheidungen und die Corona-Verordnungen nicht nur, sondern sie lehnen sie auf eine radikale Weise ab. Man bekommt den Eindruck, dass diese Kritik teilweise berechtigt sein könnte. Das wollen wir ergründen.“
„Sie denken, das geht tiefer, oder was meinen Sie mit dem Riss?“
„Das meine ich allerdings! Es gibt keinen Austausch mehr, sondern nur Konfrontation und Ablehnung. Vor allem von den Kritikern der Kritiker. Also, um es kurz zu machen. Wir brauchen eine Geschichte, besser eine Analyse über Menschen, die …“
Konrad war von seinem Stuhl aufgesprungen. „Wollen Sie sich etwa mit den grassierenden Verschwörungsmythen beschäftigen?“