Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der Maler Otto Dix, war gnadenloser Beobachter der Gesellschaft und begnadeter Porträtist. Aufmerksamkeit erregten sozialkritische Darstellungen und Bilder aus der Bordellszene, die ihm den Vorwurf einbrachten, er produziere Pornografie. Im Nationalsozialismus wurden zahlreiche Werke zerstört oder beschlagnahmt. Einige tauchten im Oktober 2013 im Schwabinger Kunstfund auf. Otto Dix hat ein Doppelleben geführt. Von 1923 bis zu seinem Tod 1969 war er mit Martha verheiratet. Ab 1927 war er Professor in Dresden und mit Käthe König liiert, die 1939 die gemeinsame Tochter Katharina zur Welt brachte. Von Martha existieren Porträts, von Käthe ist keines bekannt. Eine Lithografie von 1966 zeigt Katharina als Halbakt. Otto Dix lebte in der DDR und in der BRD. Fünf Schüler des Abiturjahrgangs 1960 leben 1990 noch in Stuttgart. Bernd Köhnle ist Bauunternehmer und Vorsitzender des Beirats der Galerie der Stadt, welche die weltweit größte Dix-Sammlung besitzt. Lorenz Jakobi betreibt eine Galerie und vertreibt Dix-Lithografien. Jochen Klinger ist Verwaltungsrichter. Arnd Abelein hat nach gescheitertem Jurastudium mit Stichen gehandelt. Er will eine nach der Wende sich bietende Chance nutzen, um sich zu sanieren. Armin von Au ist Leiter des städtischen Sozialamtes. Er missbraucht dienstliches Wissen für private Bereicherung. Als Käthe 1984 stirbt, findet Katharina Briefe ihres Vaters, die pornografische Zeichnungen enthalten. Ihr Schulkamerad Falk Heinrichs verkauft einige über Abelein nach Westdeutschland. Im Frühjahr 1990 findet sie das Gemälde 'Martha vor dem Spiegel', welches dem verschollenen 'Mädchen vor dem Spiegel' ähnelt, das Dix 1923 eine Anklage wegen Verletzung der Sittlichkeit eingebracht hatte und als "entartete Kunst" vernichtet worden ist. Sie will es loswerden. Die Öffnung der Grenzen 1989 führte dazu, dass es mehrere Interessenten gibt. Heinrichs verhandelt mit Abelein, der das Bild im April 1990 nach Stuttgart holt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 197
Veröffentlichungsjahr: 2014
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Stefan Kuntze
Martha vor dem Spiegel
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Martha vor dem Spiegel
1) Ein Ausstellungsprojekt
2) Klinger verliebt sich
3) Mord in der Wellingstraße
4) Klinger findet einen Toten
5) Richterbesuch in Dresden
6) Fund in der Galerie
7) Die Druckerei Ehrhardt
8) Jakobis Rettungsversuch
9) Letzte Hoffnung
10) Von Au hat einen Plan
11) Abeleins Geschäfte
12) Eine Versteigerung
13) Abelein stellt einen Sozialhilfeantrag
14) Klinger ermittelt
15) Verhandlung am Verwaltungsgericht
16) Ein Ausverkauf
17) Ein Gerichtsbeschluss
18) Die Rückkehr
19) Dix lernt eine Frau kennen
20) Der Stammtisch
21) Röcker lädt ein
22) Mayers verlassen die Weimarstraße
23) Röcker erfährt etwas
24) Klinger geht fremd
25) Ein Transportproblem
26) Fund unter der Brücke
27) Nelly geht zum Zirkus
28) Otto Dix malt ein Bild
29) Dix muss gehen
30) Schwangerschaft in Dresden
31) Die zweite Tochter
32) Klinger will etwas wissen
33) Armin von Au greift zu
34) Klassentreffen
35) Eine Fotografie
36) Ein hoher Preis
37) Klinger besucht die Kunsthalle
38) Abelein schließt einen Vertrag
39) Klinger fährt Fahrrad
40) Tod am Bodensee
41) Käthe König erbt etwas
42) Katharina König findet etwas
43) Martha vor dem Spiegel
44) Heinrichs goes West
45) Ein Anruf
46) Treffen am Feuersee
47) Hotel Weimar
48) Von Au geht in den Ruhestand
Nachbemerkung
Impressum neobooks
Roman von Stefan Kuntze
Handelnde Personen
I. Vorgeschichte 1927 bis 1984
Otto Dix, malender Grenzgänger, Hemmenhofen und Dresden
Martha Dix, häufig porträtierte Ehefrau von Otto Dix, Hemmenhofen
Käthe König, lange Zeit unbekannte, nie porträtierte Gefährtin von Otto Dix, Dresden
Katharina König, Tochter von Otto Dix, Dresden
II. Hauptteil 1989 bis 1990
Abiturienten des Jahrgangs 1960 in Stuttgart:
Jochen Klinger, Dix-Liebhaber und Verwaltungsrichter
Bernd Köhnle, Dix-Liebhaber und Bauunternehmer
Lorenz Jakobi, Dix-Kenner und Galerist
Arnd Abelein, Merian-Kenner und Kunsthändler
Armin von Au, Dix-Hasser und Leiter des Sozialamts
Weitere Personen:
Rudi Werner, Journalist in Stuttgart
Clemens Gruber, Kollege und Freund von Jochen Klinger in Stuttgart
Ulf Röcker, Obdachloser, Mittel zum Zweck in Stuttgart
Stuttgart, Mai 1990
Der goldene Hirsch auf der Kuppel des Kunstgebäudes störte Bernd Köhnle nicht. Was für eine ironische Anspielung auf das röhrende Tier, das viele Wohnzimmerwände der Fünfzigerjahre geziert hatte! Dieser Teil des Kunstgebäudes hatte die Bombennächte des Jahres 1944 überlebt, ein kleines Wunder. Es schien fast, als hätten die alliierten Bomberpiloten vor Kulturgütern mehr Respekt zeigen wollen als vor Wohnungen und Betriebsstätten.
Der Bauunternehmer Köhnle trug heute eines seiner dezenteren Jacketts mit hellgrauem Karomuster. Es konnte seinen imposanten Bauch nicht verdecken. Die Abendsonne brachte die Stirnglatze unter den schütteren, ehemals blonden Haaren zum Glänzen. Er stand vor dem Galerieeingang und rauchte schon die vierte Zigarette. Vielleicht sollte er versuchen, den Nikotinkonsum etwas zu reduzieren. Er blickte über den Schlossplatz in Richtung Königsbau, in dem Lorenz Jakobi seine Galerie betrieb. Er fühlte sich weit entfernt von dem Dunst aus Sauerkraut und Staub, der ihm als Erinnerung an seine Kindheit geblieben war. Während des Ingenieurstudiums hatte er sich in einer der christlichen Partei nahestehenden Studentenverbindung hervorgetan. Die Wahl zum Vorsitzenden des Beirats der Galerie der Stadt Stuttgart war die Krönung seiner steilen Karriere. Die Landeshauptstadt wollte und konnte an dem geschäftlich erfolgreichen und kunstsinnigen Bauunternehmer nicht vorbei gehen. Er hatte mit seinen Spenden die Anschaffung einiger Werke von Otto Dix ermöglicht, unter anderem das Bild der Familie des Rechtsanwaltes Dr. Glaser, eine Ikone der Kunstrichtung der Neuen Sachlichkeit.
Das Dillmann-Gymnasium war 1960, dem Jahr von Köhnles Abitur, noch eine reine Knabenschule gewesen. Er und seine Klassenkameraden Lorenz Jakobi und Jochen Klinger hatten mit heißen Köpfen die Bildbände verschlungen, die der Kunstlehrer in einem Nebenraum aufbewahrte. Der exzentrische Blubach gehörte zum Freundeskreis des Galeriedirektors, der unmittelbar nach Kriegsende mit dem Aufbau der inzwischen einmaligen Stuttgarter Otto-Dix-Sammlung begonnen hatte. Als ihm bei der Behandlung der klassischen Moderne die Begeisterung der Siebzehnjährigen aufgefallen war, durften sie manchmal an den freien Nachmittagen in den Zeichensaal kommen.
„Als Dirnenmaler ist er beschimpft worden, der Dix, dabei hat er nur gezeigt, was ist, wenn auch ziemlich drastisch.“ Das konnte man sagen! Die Aquarelle von Vergewaltigung und Lustmord hatten sie erregt, die Lithografien mit Bordellszenen ihnen ganz schön eingeheizt. Das war etwas anderes als die fade kirchliche Aufklärungsbroschüre, die sie von ihren Eltern bekommen hatten. Auch in den Gemälden, die in feinster Lasurmalerei ausgeführt waren, konnte man ungeniert weibliche Geschlechtsteile betrachten und die Hände beneiden, die Brüste drücken und füllige Pobacken quetschen.
Lorenz Jakobi war es als einzigem gelungen, aus der gemeinsamen Kunstbegeisterung seinen Beruf zu machen. Nach dem Kunststudium an der Akademie hatte er 1970 eine Galerie eröffnet, die seit fünf Jahren im Königsbau residierte. Die Geschäfte mussten wohl gut gehen. Jakobi passierte gerade den kleinen Pavillon an der Nordseite des Schlossplatzes und strebte in Richtung Kunstgebäude. Sogar auf die Entfernung erkannte Köhnle das Seidentuch, das er lässig um den Hals trug. Heute hatte es einen leichten Aubergineton. So ein Dandy! Er konnte sich nicht erinnern, Jakobi je ohne Tuch gesehen zu haben.
Köhnle dachte wieder an Otto Dix und die Ausstellung. Die Leidenschaft für diesen Maler mit dem extremen Blick war nach dem Abitur nicht erkaltet, was ihn mit Klinger und Jakobi immer noch verband. Schon beim gemeinsamen Besuch der wiederaufgebauten Galerie am Schlossplatz im Sommer 1961 hatten sie mit großen Augen vor dem Rot der Anita Berber und dem Schmelz von Martha Dix verharrt. Vom Großstadt-Triptychon trennten sie sich erst nach Ewigkeiten. Sex und Elend, Glanz und Schmutz, Eros und Tod: Die Zwanzigjährigen waren davon überzeugt, den Maler verstanden zu haben.
Köhnles erster Kunstkauf konnte die Beziehung zu Klinger nur vorübergehend beeinträchtigen. Den Abzug der Lithografie ‚Salon II‘ mit den ausgemergelten, halbnackten Frauengestalten hatte er Klinger weggeschnappt. Dieser kleine Verwaltungsrichter hätte sie sich sowieso nicht leisten können – bei dem bescheidenen Gehalt!
Heute Abend sollte der Beirat der Galerie abschließend über das Projekt der großen Dix-Ausstellung beraten, die ab Herbst 1991 stattfinden und später sogar nach Berlin wandern würde. Sie sollte die erste umfassende Werkschau seit 1971 sein und Köhnle verstand sie zugleich als Lohn für die jahrzehntelangen Aktivitäten der Galerie und vor allem als Belohnung für seine eigene Arbeit. Leihgaben der Dix-Stiftung aus Vaduz, aus Dresden und aus Gera waren zugesagt. Die jüngste politische Entwicklung hatte Schluss gemacht mit der Zweiteilung dieses Künstlers. Die ‚Wende‘ genannte Öffnung der DDR und die sich abzeichnende Aufnahme in die Bundesrepublik hatten der Galerie phantastische Perspektiven erbracht.
Sein Besuch in Dresden im letzten April war äußerst erfolgreich verlaufen. Die hatten dort keine Ahnung, was sie wirklich besaßen. Diese Situation musste entschlossen ausgenutzt werden.
Die Ausstellung würde auf jeden Fall ein Erfolg werden. Sollte aber der eingefädelte Deal klappen, wäre die Sensation perfekt und er ein Großer in der Kunstszene. „Guten Abend.“ „Hallo, Lorenz, wir tagen heute oben im Künstlercafé.“
Jakobi nickte. Das Tuch hatte einen Stich ins Lila und glänzte matt in der Abendsonne. Die ersten Beiräte hatten die Vorhalle erreicht. Köhnle trat auf den Platz hinaus und legte sich in Gedanken zurecht, was und wie viel er sagen wollte.
Die Sitzung war nach einer Stunde beendet. Er war bei Andeutungen geblieben, aber anschließend wies er den städtischen Kunstbeauftragten darauf hin, dass es nötig werden könnte, den Sonderfonds zu aktivieren. Der Beiratsvorsitzende war zufrieden mit sich und der Welt.
Als er nach Hause kam, fand er eine Einladung zum Klassentreffen am 16. Juni vor. Jochen Klinger hatte das dreißigjährige Abi-Jubiläum nicht vergessen. Zuverlässig war er. Wenn alles vorbei sein würde, könnte man sich wieder einmal treffen.
Stuttgart, Mai 1990
Jochen Klinger war unzufrieden mit sich und dem Leben. Seit zehn Jahren lebte er nach einer gescheiterten, viel zu früh geschlossenen Ehe mit seiner Karla zusammen. Sie entsprach nicht dem burschikosen Frauentyp mit der Bubikopffrisur, den er seit der Schulzeit begehrenswert gefunden hatte. Sie war nur wenig kleiner als er und ihr breites Gesicht war voller Lebensfreude, wenn sie lachte, was sie oft tat. Ihre Beziehung war von Anfang an intensiv und gleichberechtigt. Er musste nicht den großen Bruder einer verunsicherten Professorentochter geben, sondern durfte selber schwach, sogar unsachlich sein, ohne dass sich an ihrer Liebe zu ihm etwas geändert hätte.
Karla wusste, was sie wollte, und wenn sie mit ihm schlief, war sie wirklich ganz bei ihm. Sie ließ sich gerne verwöhnen und genoss seine Aufmerksamkeit. Sie war aber auch darauf bedacht, ihren eigenen Bereich zu erhalten und zu entfalten. So entwickelte sich eine Ehe, wie er sie sich gewünscht hatte.
Fast zwanzig Jahre war Klinger nun schon als Richter am Verwaltungsgericht tätig und er liebte seinen Beruf, genoss seine Freiheit und Eigenverantwortung. Vor vier Jahren hatte Karla den lang ersehnten Sohn Felix geboren. Er hätte rundum glücklich sein müssen.
Dennoch plagten ihn seit drei Monaten rezidivierende Kreuzschmerzen, die sein Bruder Andreas, ein Psychiater, als psychosomatisch bezeichnete. Richtig war, dass auch seine allgemeine Stimmung gedrückt war. Klinger war ein kräftiger, vollschlanker Mann, dessen Körpergröße von 1,85 Meter zurzeit deshalb nicht zu erkennen war, weil er sich ständig leicht nach vorne beugte, als trüge er eine schwere Last. Nicht einmal bei seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Radfahren, konnte er sich entspannen.
Die Geburt von Felix war eine lange Angelegenheit und für seine Frau sehr anstrengend gewesen. Das viele Blut, der Kopf, der zwischen Karlas Beinen endlich auftauchte und leicht bläulich angelaufen war, hatten Jochen Klinger nachhaltig beeindruckt. Nach den ersten Wochen des Glücks über das neue Leben war die Erinnerung an diese Szene immer wieder hochgekommen, wodurch ihr körperliches Zusammensein beeinträchtigt wurde. Natürlich hatte sich auch Karlas ganzes Geschlecht durch die Geburt verändert, was Jochen Klinger irritierte. Darüber zu sprechen, hatte er nicht geschafft.
Gestern war in der Zeitung zu lesen gewesen, dass die Städtische Galerie 1991 eine große Dix-Retrospektive vorbereitete. Sofort waren ihm die Nachmittage im Zeichensaal wieder eingefallen. Die Zeit am Dillmann-Gymnasium, das er erst ab der Oberstufe besuchte, war für ihn voller problematischer Erfahrungen gewesen, da die Mitschüler ihn nie ganz akzeptierten. Mit einigen Klassenkameraden konnte er über die gemeinsame Begeisterung für Otto Dix enger zusammenfinden. Bernd Köhnle gehörte dazu. Er war zwar ein eher grober Typ, besaß aber umfangreiche Kenntnisse über Otto Dix. Klinger musste auch seine Durchsetzungsfähigkeit und den geschäftlichen Erfolg anerkennen. Gegenüber Köhnle kam er sich schwach und unterlegen vor. Das würde er ihm natürlich nie sagen. Stattdessen führte er lieber Fachgespräche und demonstrierte seine geschliffene Sprache und das angelesene Wissen.
Den Dritten im Bunde, Lorenz Jakobi, bewunderte Klinger von Anfang an ehrlich, wenn auch mit etwas Neidgefühlen. Dem gelang alles und er kannte sich in Kunst, Literatur und Theater aus wie kein anderer. Das extravagante Äußere mit den schicken Halstüchern und später den Designerjeans machte ebenfalls Eindruck auf ihn, auch wenn er selber etwas dezentere Kleidung bevorzugte.
Vor zwei Monaten hatte eine andere Frau Klingers Leben aus ruhigen Bahnen auf einen Schlingerkurs gebracht. Sonja Buri war direkt nach dem Zweiten juristischen Staatsexamen an das Verwaltungsgericht gekommen. Seither wusste Klinger nicht mehr richtig, wo er hingehörte. Sie hätte zwar seine Tochter sein können, aber sie besaß bei aller Zerbrechlichkeit einen eisernen Willen und sie interessierte sich für Jochen Klinger.
Sonja Buri war eine sehr kleine Person mit kurzen, braunen Haaren, aber die Proportionen ihres Körpers erschienen Klinger perfekt. Sie akzeptierte ihn schnell als selbst ernannten Mentor und bewunderte sein Wissen und seine gebildete Ausdrucksweise grenzenlos. Wenn sie ihn aus ihren graublauen Augen anstrahlte, war Klinger nicht mehr der fünfzigjährige Kollege, sondern der verliebte Kommilitone. Fast widerwillig gestand er sich ein, dass er sich bei ihr wohl fühlte.
Er freute sich auf das nächste Wochenende, an dem sie gemeinsam einen zweitägigen Ausflug nach Hohenlohe machen wollten. Seiner Frau Karla hatte Klinger vorgelogen, die Neue Richtervereinigung führe ein Seminar im ehemaligen Kloster Schöntal durch und er müsse die jungen Kolleginnen und Kollegen dort betreuen. Sie glaubte ihm, jedenfalls kam es ihm so vor. Wie er sein Gewissen zum Schweigen gebracht hatte, war ihm selber nicht klar.
Er starrte aus dem Fenster seines Hauses auf der Gänsheide auf die gegenüberliegende Talseite und das frische Grün des Waldes, aber er nahm es nicht wahr. Im Fensterglas spiegelte sich die Lithografie, die er letztes Jahr in Dresden erworben hatte. Damals war ihm klar geworden, dass der Maler Otto Dix tatsächlich mit zwei Frauen und zwei Familien gelebt hatte. War das für ihn auch ein Modell? Apropos Dix, Bernd Köhnle war in dem Artikel zitiert worden. Er prahlte damit, dass die Städtische Galerie etwas Großes vorbereite, die erste Dix-Retrospektive nach der Wende in der DDR. Das Telefon stand auf dem Fenstersims. Er musste auf andere Gedanken kommen.
„Hallo, Bernd, Jochen hier, wie geht’s denn so? Was machen die Vorbereitungen für die Ausstellung?“
„Jochen, schön, dass du anrufst. Wegen der Dix-Ausstellung habe ich nämlich diese Woche an dich gedacht.“
„Nicht wegen des Klassentreffens?“
„Nein, wir haben über die Vorbereitungen im Beirat der Galerie diskutiert und da habe ich etwas gehört, das ich dir erzählen möchte.“
„Da bin ich gespannt.“
„Stell dir vor, der Lorenz war in Dresden …“
„Da war ich letztes Jahr auch. Das ist heute keine Kunst.“
„Ha, ha, du bleibst ein Witzbold. Nein, was ich dir berichten wollte: Er hat Katharina König besucht.“
„Oho, das klingt schon interessanter … und was weiter?“
„Er meinte, dass es bei ihr oder dem Drucker, dem Ehrhardt, noch einige Sachen zu holen gibt.“
„Da hast du deine Greiftrupps sicher schon losgeschickt.“
„Ich sagte ja, Witzbold! Aber jetzt mal im Ernst, vielleicht gelingt es wirklich, im nächsten Jahr in Stuttgart eine Sensation zu präsentieren.“
„Na, da wünsche ich euch viel Erfolg.“ Jochen Klinger ärgerte sich über den angeberischen Ton. Er beendete das Gespräch. Der Wald war immer noch grün. Er fragte sich, ob in Dresden außer ein paar Lithografien oder Zeichnungen noch etwas Unbekanntes vorhanden sein würde. Was nicht in den Museen hing, war von den Nazibarbaren oder durch den von ihnen angezettelten Krieg zerstört worden oder die von dem Unrechtsregime beauftragten Aufkäufer hatten es ins Ausland verhökert. Das galt auch für die beschlagnahmten Sachen. Die Gerüchte von gebunkerten Kunstschätzen, die Jakobi gerne verbreitete, nahm Klinger nicht ernst. Er beschloss, an einem der nächsten Tage mit Sonja Buri in die städtische Galerie zu gehen.
Stuttgart, 20. Juni 1990 nachmittags
Bürgerlicher Friede lag über der Wellingstraße. Die frühsommerliche Wärme trieb die Rosenblüte auf einen ersten Höhepunkt. Im nahe gelegenen Bädle, dem kleinsten Stuttgarter Freibad, tummelten sich Mütter mit Kleinkindern. Dieser Bereich des Stadtteils Sillenbuch mit seinen üppig bewachsenen Grundstücken war vom Durchgangsverkehr auf der Kirchheimer Straße durch zwei Straßenzeilen getrennt. Man fühlte sich in eine vermeintlich ruhigere Zeit versetzt, in der die meisten Häuser in diesem Stadtteil errichtet worden waren. Mit der Eingemeindung nach Stuttgart im Jahr 1937 war es allerdings mit der Gemütlichkeit erst einmal vorbei.
Zwischen den behäbigen Dreißigerjahrebauten stach der Flachdachbungalow ins Auge. Arnd Abelein war als Jugendlicher von der Modernität seines Elternhauses begeistert gewesen, jetzt machte er sich Sorgen wegen des undichten Daches und des Efeus, der die Seitenwand aufzufressen drohte. Abelein war nach dem vergeblichen Versuch, einen juristischen Abschluss zu erreichen, früh zum Erben seiner Eltern geworden und stieg anschließend mit dem Verkauf der ansehnlichen Sammlung der Familie in den Kunsthandel ein, wo er leidlich erfolgreich agierte. Seine Spezialität waren Stiche und Lithografien und sonstige grafische Werke. Wegen seiner Spielsucht hatte die Ehefrau ihn vor drei Jahren verlassen und seither wirkte seine äußere Erscheinung etwas ungepflegt.
Zwar trug er nach wie vor am liebsten schwarze Rollkragenpullover, wie er es in den Jahren vor dem Abitur begonnen hatte. Köhnle, Klinger und viele andere in der Klasse hatten ihn deswegen oft gehänselt, aber er war dabei geblieben. Im Oberstufenunterricht war auch Sartre und sein Werk Thema gewesen. Ihr Klassenlehrer, der alte Stegmann, hatte zwar keine Ahnung vom Existenzialismus, aber Abelein war von dem Thema fasziniert. Er las sogar einige einschlägige Literatur. Endlich konnte er sich von den ganzen Überfliegern absetzen und da keiner seine Leidenschaft teilte, bestand auch nicht die Gefahr, dass er sich in einer Diskussion blamierte. Das galt vor allem für diesen eingebildeten Lorenz Jakobi.
Heute steckte Abelein in einer unpassenden, hellen Cordhose. Die schwarze war in der Reinigung. Er war leicht irritiert. Auf den überraschend angekündigten Besuch konnte er sich keinen Reim machen. Es lief doch bestens. Heute Vormittag war es ihm endlich gelungen, das Geschäft seines Lebens abzuschließen. Was sollte es noch zu besprechen geben?
Abelein goss die Grünpflanzen auf dem Fenstersims. Er war nicht richtig bei der Sache und musste anschließend die nass gewordene kleine Bronze-Eva abwischen, die dort wie eine Amazone im Urwald versteckt war. Aus dem halb zugewachsenen Fenster konnte er nur einen Teil des Nachbargartens bis zu seinem Hauseingang sehen. Der Mann stand vor der Tür und suchte nach dem vom Efeu überwucherten Klingelknopf. Abelein hatte kein Motorengeräusch gehört. Er öffnete die Hautür.
„Hallo, schon da? Komm rein!“
„Danke! Schönes Haus hast du und so modern.“
„Das war es vielleicht einmal.“
Sie nahmen am Esstisch Platz mit Blick auf den ungepflegten Garten.
„Darf ich dir etwas anbieten: Whisky, Cognac, Wasser?“
„Gerne ein Glas Wasser.“ Abelein brachte das Gewünschte für seinen Gast und einen doppelten Whisky für sich selber. Den hatte er sich verdient.
„Du bist sicher nicht hier aufgetaucht, um über Architektur zu sprechen. Was willst du von mir?“
„Siehst du, es ist so, naja, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll…“ Der Gast betrachtete die unregelmäßig geformte Statuette der nackten Frau, die auf dem Sims vor dem kleinen Fenster stand. Abelein hatte die Bronze von dem Bildhauer Nuss aus dem Remstal erstanden. Sie war auf einem Marmorsockel befestigt.
Der Besucher setzte erneut an und was der Hausherr in den nächsten zehn Minuten zu hören bekam, konnte ihm nicht gefallen.
„Das geht nicht. Wo denkst du hin?“ Eine rot getigerte Katze saß auf Abeleins Schoß. Sie war während des Gesprächs laut maunzend auf ihn gesprungen.
„Du hast mich wohl nicht richtig verstanden. Ich bestehe auf…“
Das Telefon gab Laut. Die Katze verschwand beleidigt in der Küche und Abelein war froh über die Unterbrechung.
„Abelein, …. Ach, Jochen, du bist es. Was gibt’s?“ Er sah aus den Augenwinkeln, dass auch sein Besucher aufgestanden war und sich vor das kleine Fenster stellte.
„Jaja, das Klassentreffen war wirklich nett. Dass du die Vorbereitung auf dich genommen hast, ist aller Ehren wert. … Doch, wirklich ... Was willst du denn wissen? … Hör mal, dass du am Verwaltungsgericht Dinge machen musst, die dir nicht passen, ist doch kein Grund …“ Der Besucher wandte den Kopf. Er sah nachdenklich aus. „Ich bin gleich fertig … Entschuldige, Jochen, meinetwegen können wir ja einmal darüber reden. ... Nein, dem Röcker hab ich geholfen. Die Wohnung … also wirklich. Jochen, ich hab jetzt noch zu tun. …. Einverstanden. Bis dann!“
„Entschuldige die Unterbrechung. Das war mein Klassenkamerad Jochen Klinger. Also, es tut mir wirklich leid, aber ich kann deinem Wunsch nicht nachkommen. Da du schon einmal hier bist, hätte ich dir ein paar andere interessante Sachen anzubieten, echte Merian-Stiche zum Beispiel.“
Der Besucher schien interessiert. „Gut, gehen wir in dein Magazin.“
„So dick habe ich es nicht. Meine Sachen sind hier im Haus.“
Abelein öffnete die Tür zum Nebenzimmer, das wohl beim Bau als Schlafzimmer geplant worden war. Ein paar Regale und Ständer waren zu sehen. Er streifte sich ein Paar weiße Handschuhe über, wie sie Restauratoren und Galeristen benützen. Ein zweites reichte er seinem Gast. Er wandte sich wieder dem kleinen Nebenraum zu. Der Besucher trat hinter ihn und betrachtete den über eine Mappe gebeugten Kopf Abeleins. Die Haare waren so kurz geschnitten, dass man in der Bürstenfrisur die grauen Strähnen nicht erkennen konnte.
Der Marmorsockel der Bronzefigur traf Abelein über dem linken Ohr. Die Wucht war so groß, dass man das Bersten des Schädelknochens hören konnte. Der zweite Schlag wäre nicht notwendig gewesen. Die Katze stürzte schreiend aus dem Wohnzimmer.
Eine Stunde später hatte der Besucher den ganzen verdammten Bungalow ohne Erfolg auf den Kopf gestellt. Das Objekt, das er gesucht hatte, war nicht zu finden. An Merian hatte er kein Interesse. Er blickte noch einmal auf die leblose Gestalt. Der Tote lag mit angewinkelten Beinen auf dem Boden. Wie ein Embryo, schoss es ihm durch den Kopf. Die Blutlache hatte sich ausgedehnt und einen hässlichen Fleck in der hellen Cordhose gebildet.
Vorsichtig verließ der Gast das Grundstück. Es gab noch eine Möglichkeit, wie er an die notwendige Information kommen konnte. Jetzt tat Eile not. Im Nachbarhaus hörte er lautes Rufen. Gut, dass er sein Auto nicht vor dem Haus geparkt hatte. Ohne äußerlich erkennbare Hektik strebte er der Querstraße zu.
Stuttgart, 20. Juni 1990 abends
Der Beschluss vom 30. Mai 1990 lag Klinger im Magen. Er selber ordnete damit die Zahlungen an Abelein an! Bis das Sozialamt eine Überprüfung vor Ort durchführen würde, konnte viel Zeit vergehen. Er brachte die dünne Akte auf die Geschäftsstelle. Zu einem Gespräch mit Frau Mohr, seiner Urkundsbeamtin, hatte er keine Lust. Er trug sein liebstes Polohemd, das rote. Sonja Buri hatte ihm gesagt, dass sie diese Farbe gern mochte.
Wie hilfreich wäre es gewesen, hätte er sich mit seiner Frau Karla austauschen können. Letzte Woche war ihr durch eine Bemerkung von Clemens Gruber die Beziehung zu Sonja bekannt geworden. Sie hatte sich seither zurückgezogen.
„Ich dachte immer, du wärst anders, aber offenbar musst du mit Fünfzig genauso eine jüngere Frau haben wie…“
„Sag nicht so etwas!“
„Ich will unserem Kind eine Familienkonstellation mit zwei Frauen nicht zumuten!“
„Aber…“
Karla hatte ihn stehen gelassen und sich Felix zugewandt, der seine Eltern verständnislos ansah. Klinger wollte noch nicht zu einer Entscheidung gezwungen sein. Sein Kreuz meldete sich mit einem leichten Ziehen.
„Gehst du mit in die Kantine?“ Er hatte nicht gehört, dass der Kollege Clemens Gruber sein Zimmer betreten hatte. „Ich sehe schon, du träumst. Vielleicht kommst du ja nach.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, war er verschwunden.
Fünf Minuten später stand Klinger vor der Imbissbude an der Rotebühlstraße und erläuterte der Verkäuferin seinen stets gleichen Wunsch.
„Eine Currywurst ohne Ketchup mit Pommes frites und etwas Majo.“
„Wie bitte?“
„Ja, mit Majo.“
„Ohne Curry?“
„Nein, ohne Ketchup.“
„Ich dachte, Sie wollten eine Currywurst.“
In der Schlange hinter Klinger kam Unruhe auf. Ein paar Tauben flatterten auf die Überdachung des Eingangs der S-Bahnstation Feuersee.
„Ich habe Sie nicht verstanden, die Tauben…“
„Also, was wollen Sie jetzt?“
Klinger resignierte. „Eine Currywurst mit Pommes.“
„Warum sagen Sie das nicht gleich?“ Sie richtete sich hinter dem Schalter auf und griff eine der braunen Fettstangen. Beim Essen ließ er möglichst viel von der sauren, roten Pampe abtropfen.
Als er wieder in seinem Dienstzimmer war, suchte er die Adressenliste heraus, die er aus Anlass des Klassentreffens vom letzten Samstag aktualisiert hatte. Er griff zum Telefon. Mit dem Hörer in der Hand zögerte er. Arnd Abelein drehte irgendein Ding. Dass er das Geschäft mit den Hotelzimmern alleine hinkriegen konnte, war sehr unwahrscheinlich. Überhaupt schien es unglaubhaft, dass er mit eigenem Geld das Gebäude erworben haben sollte. Der gute Arnd hatte nun einmal das Talent zum Scheitern. Das war schon in der Schule so gewesen. Außerdem hatte er sein Geld beim Spielen durchgebracht. Klinger wählte die Nummer.
„Hallo, Arnd, dein Vorschlag mit Rotenberg war klasse. Das Klassentreffen war sehr gelungen … Aber das war doch keine große Mühe! Du, ich sollte mich einmal mit dir unterhalten … Diese Geschichte mit dem Röcker gefällt mir gar nicht … wie bitte? … Wie kommst du überhaupt da hinein? … Und dieser Obdachlose …. Ja, das stimmt natürlich. Sag mal, kann ich heute Abend kurz bei dir vorbeikommen, sagen wir so um Sechs? … Bis dann!“