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»Es ist deine Bestimmung, die Welt zu retten. Das einzige Problem: Du hast keine Erinnerung daran, wer du bist.« Vor zwei Jahren hat der dunkle Magier Viis alle Länder der Welt Orbica unterworfen und sie gewaltsam zur Cosmica, einer Scheinwelt, vereinigt. Den Völkern hat er ihre Erinnerungen genommen, um jede Gegenwehr zu unterbinden. Nur einige Wenige konnten sich vor der Gehirnwäsche retten und versuchen nun, den Tyrannen zu stürzen. Denn sie kennen die schreckliche Wahrheit: Durch Viis' dunkle Magie ist die Welt aus dem Gleichgewicht geraten und in Gefahr, gänzlich zerstört zu werden. Die ebenfalls von der Gehirnwäsche betroffene Ruta Pez hat sich mit der grauen Scheinwelt, in der sie keine Freunde hat und außer ihrer Schwester keine Familie, abgefunden. Doch dann trifft sie Tomaki, einen Rebellen, der sich noch an die Zeit vor Viis' Herrschaft erinnert und Ruta von ihrem Schicksal erzählt: Sie ist dazu auserkoren, die legendären Drachen aufzuwecken, die vor Jahren in Schlaf versetzt wurden - zusammen sind sie die einzige Waffe, die Viis jetzt noch stoppen kann… Ein außergewöhnlicher Fantasyroman, der vor allem durch seine asiatische Atmosphäre und sympathischen Charaktere besticht. Der Leser wird eingeladen, eine vollkommen neue Welt zu entdecken, in der nichts so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Für Drachenfans ein absolutes Muss!
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Cosmica
Schwarz & Weiß
TOKIHARACOSMICATeil 1Schwarz & Weiß
Für Tiffy, Findus und meine Mutter
Erklärung der Landkarte
Orbica: Die Welt vor der Unterwerfung des mächtigen Magier Viis. Die Länder hielten sie im Gleichgewicht.
Cosmica: Die Scheinwelt nach der Unterwerfung von Viis. Die früheren Länder existieren nicht mehr und all ihre Bewohner leben nun in der Cosmica.
PrologWenn man ihn so sah, hätte man denken können, er sei ein alter Mann. So ausgelaugt sah er aus. Seine Beine bestanden nur noch aus Haut und Knochen, er musste sie mit einem Krückstock unterstützen. Mit gebuckeltem Rücken schleppte er sich an ein verkabeltes Bett heran und setzte sich schwer seufzend auf die Bettkante. Die Anstrengungen des Lebens spiegelten sich in den tiefen Falten, die er im Gesicht trug, wider.
Mit zitternden Händen angelte er nach einem Kabel, was ihn wieder mit Energie erfüllen sollte. Leise murmelten seine trockenen Lippen einen Spruch. In seinen rauen, knochigen Händen leuchtete ein helles Licht auf. Es tanzte um das Kabel herum, hob es an und schob es schließlich in eine Vene des Mannes hinein. Dabei zuckte der Mann noch nicht einmal mehr zusammen – den Schmerz war er mittlerweile gewohnt. Die Abstände, in denen er sich die Energie zuführen musste, wurden immer kleiner. Das bereitete ihm aber keine Sorgen. Bei dem, was er tagtäglich stemmen musste, war es kein Wunder, dass die Energie immer schneller aufgebraucht wurde. Besonders um das Schutzschild aufrechtzuerhalten, das seinen Palast von der Außenwelt abschnitt, verbrauchte er viel Energie. Langsam, wie seidener Honig, glitt die goldene Energie durch das Kabel in seinen Körper hinein. Von den Armen hin zum Herz und von dort aus weiter durch den ganzen Körper.
Die Falten des Mannes begannen sich wieder zu glätten, die Haut wurde wieder rein und jugendlich. An den Fingern kam das Fleisch zurück und die dürren Beine wurden wieder muskulös und stramm. Auch der Buckel ging zurück und das schöne breite Kreuz kam wieder zum Vorschein. Genau wie die Muskeln an den Armen und am Bauch. Plötzlich klopfte es laut an der Tür.
»Herein«, sprach die zuvor noch so leise und schwache Stimme jetzt stark und dominant.
»Vater, ich bin es nur«, murmelte jemand und betrat den Raum.
»Nun, berichte«, befahl der erfrischte Mann.
»Den Jungen habe ich noch nicht gefunden.« Sein Sohn trat an das Bett heran.
»Und das Mädchen?« Der Vater kniff die Augen zusammen.
»Wie ein Goldfisch im Glas. Unauffällig.« Der Sohn beäugte das leuchtende Kabel, das in den Arm seines Vaters führte, skeptisch.
Das, was sein Vater hier monatlich vollführte, war dem Sohn nicht ganz geheuer. Vor allem auch, weil er die Vorgehensweise nicht so recht verstand. Das Ganze grenzte wohl an höhere Magie, dessen Geheimnis nur sein Vater kannte. Ob dieser seinen Sohn irgendwann in jenes mysteriöse Geheimnis einführen würde?
»Hauptsache, das Mädchen trifft nicht auf diesen Jungen«, brummte der Vater. »Solange das nicht passiert, brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.«
»In Ordnung.« Der Sohn verbeugte sich.
»Halte trotzdem weiterhin Ausschau und lasse mich jedes noch so kleine Detail wissen. Du weißt, ich selbst habe keine Zeit für diese Art von Aufgaben.« Der Junge verbeugte sich erneut, dieses Mal noch tiefer.
»Sehr wohl, mein Herrscher!« Dann drehte er sich um und verschwand wieder so schnell, wie er gekommen war. Die goldene Energie war mittlerweile im ganzen Körper des Mannes angekommen und hatte sämtliche Speicher aufgefüllt. Der Mann fühlte sich wieder fit und gesund. Über seine vollen Lippen kam ein magischer Spruch. Wenig später verlor das Kabel immer mehr an Helligkeit und als es endgültig dunkel war, ließ der Mann es langsam aus der Vene gleiten. Nicht ein einziges Anzeichen seines vorherigen Ichs war ihm mehr anzusehen. Zufrieden stand er auf und stellte den Krückstock für das nächste Mal beiseite.
Kapitel 1 Schon wieder einer dieser grauen Tage. Ich hatte aufgehört, sie zu zählen. Jeder Tag glich dem anderen. Für mich unterschieden sie sich nicht mehr, und ich glaubte auch nicht daran, dass es einmal anders gewesen sein sollte. Schon lange hatte ich akzeptiert, ein Teil dieser gleichgültigen Routine geworden zu sein. So auch an diesem Tag, der an einem Ort namens »Schule« begann. Von diesem Ort hielt ich nicht viel. Es war laut in den Pausen und stickig im Unterricht. Beides bereitete mir unheimliche Kopfschmerzen. Ich war froh, mich bald wieder in meinem Zimmer verkriechen und die Stille genießen zu können. Bis dahin dauerte es auch gar nicht mehr lange, dies hier war die letzte Pause des Tages. Doch gerade diese Pause zog sich unendlich lange hin. Gefühlt saß ich hier schon eine halbe Ewigkeit.
Ich seufzte. Mein Blick glitt aus dem Fenster. So wie in den letzten Tagen wurde es auch heute einfach nicht hell. Die Wolken türmten sich derart, dass die Sonne keine Chance hatte, bis zur Erde hindurchzudringen. Ich wandte meinen Blick wieder ab.
Um mich herum war es laut. Die Schüler unterhielten sich über dies und das – stundenlang. Manchmal wollten sie einfach nicht mehr aufhören zu reden. Ich konnte das nicht verstehen. Wie man sich so lange und unaufhaltsam über etwas dermaßen Lapidares unterhalten konnte. Nein, ich verstand diese Menschen und ihre oberflächlichen Gespräche nicht, egal wie viele Gedanken ich mir dazu auch machte. Sie lebten anscheinend in einer völlig anderen Welt als ich. Ich stützte den Kopf auf meine Hände und rückte auf dem Stuhl hin und her. Eine Strähne meiner langen dunkelbraunen Haare fiel in mein Gesicht. Normalerweise hätte ich sie wahrscheinlich wieder nach hinten geschubst, aber ich konnte die Energie dazu nicht aufbringen. Mein Rücken schmerzte. Der harte Stuhl, auf dem ich Tag für Tag saß, trug nicht gerade zur Besserung der Situation bei. Im Gegenteil. Die Schmerzen waren mir nicht neu, inzwischen hatte ich sie als einen Teil von mir akzeptiert. Etwas anderes blieb mir nicht übrig. Ich hoffte einfach nur, dass dieser Schultag schnell vorbei sein würde, damit ich endlich nach Hause konnte.
Ich wusste nicht, was man überhaupt an diesem Ort sollte. Ich sah keinen Sinn in dem, was die Lehrer da vorn redeten. Vielleicht hing das aber auch damit zusammen, dass es mich nicht im Geringsten interessierte. Ich versank lieber in meinen eigenen Gedanken und Tagträumen. In meiner eigenen Welt, wo mir keiner dieser oberflächlichen Heuchler auf die Nerven ging.
Plötzlich wurde ich durch einen lauten Schrei aus meinen Gedanken gerissen. Ein Mädchen zwei Reihen neben mir stand an ihrem Tisch und hielt sich die Hand vor den Mund.
»Was?! Ernsthaft?!«, fragte sie dann ziemlich aufgeregt.
»Sch, nicht so laut!« Ein anderes Mädchen, welches ihr gegenüber am Tisch saß, hielt sich einen Finger vor den Mund. Mit Handbewegungen versuchte sie, das auf und ab springende Mädchen wieder zum Sitzen zu bringen. Dessen schulterlange violette Haare wippten im Rhythmus der Sprünge. Sie hüpfte hysterisch kreischend auf der Stelle, bis das zweite Mädchen endlich aufstand und sie mit einem tadelnden »Mensch, Shiina!« wieder zurück auf ihren Stuhl zerrte. Es war nicht das erste Mal, dass Shiina alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Außer dass wir in dieselbe Klasse gingen, hatte ich nicht viel mit ihr zu tun. Ich hatte sie noch nicht persönlich kennengelernt, verspürte aber auch nicht das Bedürfnis, das jemals zu ändern. Sie lächelte immer und gestikulierte meist wild mit ihren Händen in der Luft oder an ihrem Kinn herum. Ihre violetten Haare harmonierten perfekt mit ihren puppenhaften roséfarbenen Augen. Shiina war ein Mädchen, dass jeder andere gern zur besten Freundin hätte: Sie war süß, quirlig, immer freundlich und bei bester Laune. Nichts schien ihr den Tag verderben zu können und einfach jeder konnte sie gut leiden. So sah es zumindest von meinem Standpunkt aus. Ich stellte mir solch ein Leben unglaublich anstrengend vor.
Der Unterricht ging ziemlich schleppend voran. Schon sehr oft war ich dankbar über meinen Sitzplatz am Fenster gewesen. Meistens beobachtete ich die Bäume, wie sie langsam im Wind hin und her wogen. Der Anblick rührte etwas tief in mir. Etwas, das in mir schlummerte und nur darauf wartete, geweckt zu werden. Ich wusste nur nicht, wie. Und ich hätte auch nicht sagen können, was genau dort in meinem Innersten verborgen lag.
Mein Leben war träge und grau. Und das würde sich so schnell auch nicht ändern. Davon war ich felsenfest überzeugt.
»… Gruppenarbeit. Jeder sucht sich einen Partner«, riss mich die Stimme des Lehrers aus meinen Gedanken. Nie, wirklich NIE konnte ich hier in Ruhe nachdenken. Ebenfalls ein Grund, warum ich diesen Ort hasste.
Gruppenarbeit, na super. Die Schüler um mich herum suchten sich jeweils einen Partner. Namen wurden durch den Raum gerufen. Meiner war nicht dabei.
Nicht das ich wollte, dass jemand meinen Namen rief. Ich würde mich lieber aus dem Fenster stürzen, als mit einem dieser Heuchler zusammenzuarbeiten. Wirklich. Ich hoffte an diesem Tag auf eine ungerade Anzahl an Schülern – dann durfte ich vielleicht allein arbeiten. Aus dem Augenwinkel heraus konnte ich sehen, dass die Chancen nicht schlecht standen. Nach wenigen Minuten saßen die Paare beisammen.
»Ich meinte Paare und nicht drei Leute in einer Gruppe. Trennt euch!« Der Lehrer wies mit spitzem Finger auf eine Gruppe Mädchen. Mit seinen fast blinden Augen sah er streng über seine runde dicke Brille hinweg.
»Na, los jetzt!«, drängelte er ungeduldig. Die Einzelarbeit konnte ich wohl vergessen. Ich sah, wie ein Stuhl nach hinten gerückt wurde und Shiina in kleinen Schritten auf mich zukam. Ihre Haare wippten im Takt der Schritte, und sie lächelte, so strahlend wie die Sonne an einem heißen Sommertag.
»Ich arbeite lieber allein«, murmelte ich, ohne ihr ins Gesicht zu sehen, und schob noch ein lautes »Wirklich« hinterher. Aber das schien sie nicht zu stören.
»Ach was, das wird lustig«, lächelte sie nur, schob ihren Stuhl an meinen Tisch heran und setzte sich. Lustig?! Na klar.
Ich blickte wieder aus dem Fenster. Sollte ich mich vielleicht doch lieber hinausstürzen? Kurz spielte ich mit dem Gedanken.
Warum ausgerechnet Shiina? Es hätte doch jede andere sein können, also warum gerade sie? Die naive und kindische Shiina. Hoffentlich dauerte diese Gruppenarbeit nur kurz an. Keine Sekunde später wurde ich schon wieder vom Schicksal geohrfeigt.
»Ihr habt den Rest der Stunde Zeit sowie die drei darauffolgenden Stunden«, kündigte der Lehrer an. Dieser Tag war grau und blieb grau.
»Dann haben wir ja genug Zeit«, sagte Shiina mit einem Lächeln im Gesicht. Ich sah zu ihr auf.
»Ich bin übrigens Shiina«, fuhr sie fort. Ich weiß, wie du heißt. Innerlich rollte ich mit den Augen.
»Du bist doch Ruta Pez?«, flötete sie mit ihrem Zeigefinger ans Kinn gelegt.
»Ja«, antwortete ich schließlich widerstrebend.
»Wir haben bis jetzt ja nicht wirklich viel miteinander zu tun gehabt, aber ich hoffe, das ändert sich in Zukunft.«
Shiina strahlte mich an.
»Ich freue mich, dass ich mit dir zusammenarbeiten kann.« Sie beugte sich zu mir vor.
»Da wir ja ziemlich viel Zeit für dieses Projekt haben, können wir es langsam angehen lassen und ein bisschen quatschen. Was hast du gestern so gemacht?«
Was ging sie das an? Gott, war die oberflächlich! Als ob sie das wirklich interessieren würde.
»Nichts«, antwortete ich kühl.
»Oh…« Ihre Augen wurden groß und dank meiner abweisenden Antwort schien sie zum ersten Mal sprachlos zu sein.
»Nichts?«, wiederholte sie langsam und nachdenklich, als sie zurück auf ihren Stuhl sank.
»Also, wenn du möchtest, können wir dieses Wochenende etwas zusammen machen. Dann musst du nicht allein sein. Wir könnten zusammen backen oder in ein Café gehen…«
»Nein, danke.« Das hatte mir gerade noch gefehlt. Sie musste sich nicht für mich verantwortlich fühlen, nur weil ich die ganze Zeit allein an meinem Platz saß. Sie dachte vielleicht, ich sei einsam, aber ich hatte mich selbst und war damit wirklich zufrieden. Shiina sah mich etwas verwirrt an. Mit einem Nein hatte sie wahrscheinlich nicht gerechnet.
»Ein Freund hat mich zu seiner Feier eingeladen«, fuhr ich fort, um sie abzuwimmeln. Ihr Gesicht erhellte sich wieder.
»Toll!« Sie schrie es fast so laut wie in der Pause und klatschte wieder die Hände zusammen, was uns einen tadelnden Blick von unserem Lehrer einhandelte.
»Erzähl doch mal! Wer denn? Ist es jemand, den ich kenne? Wo –« Die Glocke erlöste mich endlich aus diesem sinnlosen Gespräch.
»Was, schon Schluss?«, wunderte sich Shiina. »Na, wir reden später weiter, ja?«
Ja genau. Später. Wer’s glaubt. Jetzt machte sie einen auf gute Freunde, aber nach diesem Projekt würde sie wieder kalt und abweisend sein. Ich kannte dieses Spiel nur zu gut. Ich rieb mir die Stirn. Ich konnte mich nicht an viel aus meinem Leben erinnern. Aber dieses Gefühl des Verrates, der Abweisung, der Schwäche und des Schmerzes – das alles hatte mich die letzten zwei Jahre geprägt. Die Erinnerung an die Zeit davor war wie ausgelöscht. Um mich herum packten alle ihre Blöcke und Bücher ein. Die entstehende Unruhe riss mich aus meinen Gedanken. Shiina stand hastig auf, lächelte mich an und rückte den Stuhl an den Tisch.
»Bis später«, sagte sie noch, bevor sie sich unter die anderen mischte.
Seufz. Das war überstanden. Ich löste meinen festen Zopf. Fuhr einmal mit den Fingern durch meine Haare. Ab und zu waren manche Strähnen tiefschwarz, was mich wundern sollte, da es doch etwas ungewöhnlich aussah. Aber das tat es nicht. Ich nahm meine Haare zusammen und band sie wieder zu einem Pferdeschwanz – dieses Mal war auch keine Strähne entwischt. Ich schob den unbeschriebenen Block mitsamt Stiften in meine Tasche. Das Klassenzimmer war jetzt fast leer. Einige Mädchen schwirrten noch um einen der Jungen herum und quiekten wie aufgeregte Meerschweinchen, wenn es Futter gab. Ich schob den Stuhl an den Tisch und verließ zügig den Raum. Im Flur stoppte ich vor meinem Spind. Ich nahm das Schloss in beide Hände und gab routiniert den Code ein. Das Schloss knackte und ich zog die Tür zu mir heran.
Flatsch. Meine Lehrbücher stürzten heraus, als wollten sie sich das Leben nehmen. Keines der Bücher war dringeblieben. Anscheinend Gruppenzwang. Das war an dieser Schule doch sowieso Trend. Genervt stellte ich die Tasche neben mir ab und hockte mich hin, um die Bücher einzusammeln. Sie waren über den halben Flur verteilt. Eins war sogar mehrere Meter über den Boden, bis hin zur Jahrgangspinnwand, geschlittert. Auch das noch. Ich stand seufzend auf, ging an den Spinden vorbei, bis zu der breiten Wand, an der die überfüllte Pinnwand hing. Trotz der vielen Plakate und Zettel fiel mir eins besonders ins Auge.
»Gütiger Herrscher der Cosmica: Viis spendete für den Bau eines Altenheims mehrere Millionen Bing«, prangte in großer Schrift auf dem Plakat. Darunter war ein Foto von Viis und einer alten Frau mit Gehstock, wie sie frohen Mutes Hände schüttelten. Viis war alleiniger Herrscher der Cosmica und ließ es sich nicht nehmen, hier und da gute Taten zu vollbringen, die dann durch die Presse publik gemacht wurden. Das Volk liebte ihn und es gab sogar Feiertage, die nach unserem gutherzigen Herrscher benannt wurden. Zumindest hatte ich ihm dadurch einige freie Schultage zu verdanken. Ja, das rechnete ich ihm ziemlich hoch an.
Ich hob das Buch auf, ging zu meinem Spind zurück und schmiss die Bücher in das Fach. Schnell warf ich die Tür wieder zu, bevor sie erneut auf den Boden fallen konnten. Beim nächsten Öffnen würde sicherlich dasselbe passieren, aber das interessierte mich nicht sonderlich. Sollen sie sich doch das Leben nehmen, diese Bücher. Meine Finger verdrehten den Code des Schlosses und ließen es lieblos an die Spindtür klatschen. Das Geräusch hallte im Gang nach, in dem es inzwischen still geworden war. Sosehr ich den Schulschluss auch herbeigesehnt hatte, beeilte ich mich trotzdem nicht besonders, nach Hause zu kommen. Obwohl es Freitagnachmittag war. Denn wer erwartete mich dort schon? Nur meine große Schwester und ihr oberflächlicher Freund Klarin. Meine Schwester und Klarin waren ein Jahr älter als ich und gingen in den Abschlussjahrgang unserer Schule. Hätten Klarin und sein älterer Bruder uns damals nicht in seinem Haus aufgenommen, dann würden wir wohl jetzt in irgendeinem Heim stecken.
Ich erinnerte mich noch genau an den Moment, wie ich mit Sue und einem Mann mit schwarzer Sonnenbrille in einem hohen und breiten Truck auf dem Weg zu Klarin saß. Der Mann erklärte mir, dass meine Eltern weit weg von hier arbeiten mussten und dadurch in der nächsten Zeit nicht mehr nach Hause kommen konnten. Deshalb hatten sich Klarin und sein älterer Bruder bereit erklärt, uns bei sich aufzunehmen. Mit den Eltern der Brüder war es wohl ähnlich wie mit unseren. Wenige Wochen nach unserer Ankunft wurde Klarins Bruder überraschenderweise ebenfalls zum Arbeiten eingezogen. Es hieß, seine Eltern brauchten dort dringend seine Unterstützung. Das traf mich sehr, denn er war bis dato meine einzige Bezugsperson gewesen.
An die Gesichter meiner Eltern konnte ich mich schon lange nicht mehr erinnern, das letzte Mal sah ich sie mit sechszehn gesehen. Das war vor zwei Jahren. Sue war alles, was von meiner Familie übrig geblieben war. Aber wir hatten kaum etwas miteinander zu tun – Sue behandelte mich wie Luft. Ich wusste schon gar nicht mehr, wann wir das letzte Mal ein Wort miteinander gewechselt hatten. Irgendetwas lag zwischen uns. Doch ich hatte keine Ahnung, was es war, geschweige denn, wie ich es wieder auflösen konnte.
Ich hatte schon oft versucht, mit ihr zu reden, doch egal wie viel Mühe ich mir auch gab, mir gegenüber öffnete sie sich einfach nicht. Schließlich hatte ich es aufgegeben, an unserem Verhältnis zu arbeiten. Wahrscheinlich war ich ihr die ganze Zeit höllisch auf die Nerven gegangen. Aber damit war nun Schluss. Ich ging keinem mehr auf die Nerven. Ich tappte den Schulflur entlang. Im Moment steckten Sue und Klarin bestimmt schon mitten in den Vorbereitungen für diese verdammte Party, die sie geplant hatten. Mir war ganz und gar nicht nach feiern zumute. Na, wann war es das schon? Träge schleppte ich mich aus dem Schulgebäude heraus und stieß einen schweren Seufzer aus. Oft überkam mich das Gefühl, gar nicht in die Cosmica, in diese ganze oberflächliche Welt zu gehören. Doch wo war mein Platz dann?
Ich wusste es nicht.
Kapitel 2 Langsam drehte ich den Schlüssel im Schloss und trat in den Hausflur.
»Ich bin wieder da«, flüsterte ich leise und kaum hörbar. Ich schlüpfte schnell aus den Schuhen, bevor es noch zu unangenehmen Gesprächen kommen konnte. Doch ich war zu langsam. Klarin streckte schon den Kopf aus der Tür, die zur Küche führte.
»Ah, Pez!« Er baute sich vor mir auf. Er hatte karamellfarbene Haare, giftgrüne Augen und eine weiße Schürze um und rührte angestrengt etwas in einer Schüssel. Er war nur eine Handbreit größer als ich. »Schön, dass du da bist. Wie war es heute in der Schule?«
Tse. Als ob dich das wirklich interessieren würde. Ab und zu sprach er mit mir. Wahrscheinlich, damit er sich nicht so schlecht fühlte, da er mich immer benachteiligte. Ohne einen Kommentar wandte ich mich ab und schlich die Treppe hinauf.
»Dann eben nicht.« Klarin zuckte mit den Schultern und schlurfte wieder zurück in die Küche. Ich hörte das Knatschen eines Bleches, als es in den Ofen geschoben wurde. Vermutlich Sue. Ich blieb auf der Treppe stehen. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete ich die beiden und konnte das Gespräch kurz mitverfolgen.
»Was ist denn mit deiner Schwester los?«, fragte Klarin. Ich sah, wie Sue für einen Augenblick erstarrte. Dann warf sie ihre goldblonden Haare über ihre rechte Schulter und rollte mit den Augen.
»Sie wird uns garantiert nicht den Abend versauen«, antwortete sie unfreundlich.
»Ja, warum sollte sie auch?«
»Mach einfach weiter.«
Sue tippte Klarins Schüssel an.
»Jaja.« Ich drehte mich weg und stieg die Treppe hinauf. Als ich die Tür meines Zimmers hinter mir schloss, umhüllte mich die Stille wie eine schützende Decke.
Endlich. Ich schmiss mich auf mein Bett und ließ mich in die weichen Tiefen sinken. Doch mit der friedlichen Ruhe war es schnell vorbei, schon wenige Minuten später hörte ich, wie ein Stockwerk tiefer die ersten Gäste eintrafen. Na toll. Unten im Wohnzimmer wurde die Musik angeschaltet. Mal lauter gedreht, mal leiser – immer wieder unterbrochen durch ein Klingeln an der Tür. Was fanden die alle so toll an Partys? Plötzlich kam ich mir in meinem eigenen Zuhause völlig fremd und falsch vor. Ich hatte niemanden außer mir selbst. Ich vergrub meinen Kopf in der wärmenden Decke. Auf einmal hörte ich energische Schritte auf dem Flur. Geradewegs in Richtung meines Zimmers.
»Pez?« Klarin klopfte heftig an die Tür. Eigentlich hatte ich keine Lust, aufzustehen. Doch Klarin würde keine Ruhe geben, ehe ich nicht die Tür öffnete. Langsam tappte ich zur Tür. Mit einem breiten Grinsen im Gesicht stand Klarin vor mir.
»Willst du nicht mit nach unten kommen? Es sind viele nette Leute da.«
Allein die Wörter »viele« und »nette« in Verbindung mit »Leuten« ließen mich schon erschaudern. Am liebsten hätte ich mich umgedreht und in die nächste Ecke gekotzt. Mit diesen Heuchlern wollte ich nichts zu tun haben! Nein danke. Ich war hier oben in meinem Zimmer wirklich mehr als zufrieden. Ich schüttelte den Kopf.
»Ach, komm schon.« Er quengelte wie ein kleines Kind. Wieder schüttelte ich den Kopf.
»Du bist wirklich komisch«, sagte er, nahm meine Hand und zog mich in den Flur hinaus. Die laute Musik begann durch meinen Körper zu dröhnen. Ich fühlte mich augenblicklich unwohl und wollte wieder in meine friedliche Stille zurück.
»Komm schon, nur dieses eine Mal«, flehte mich Klarin an. »Es wird dir Spaß machen, da bin ich mir sicher. Ich bleib heute auch den ganzen Tag an deiner Seite.« Gerade den letzten Satz hätte er sich sparen können. Er war so ein Lügner. Wie alle anderen. Ich wollte gerade die Tür schließen, als mich mein knurrender Magen daran erinnerte, dass ich heute noch nichts zum Abendessen gehabt hatte. Widerwillig nickte ich und folgte Klarin die Treppe hinunter. In dem Moment läutete es erneut an der Tür. Klarin hielt einen Finger hoch. »Gib mir eine Minute. Ich komme gleich wieder. Warte hier.«
Ich schnaubte. Hatte er nicht gerade gesagt, dass er mich nicht allein lassen würde? Was für ein Lügner. Na ja, egal – das war ich von ihm ja schon gewohnt. Ich schlurfte zum Herd und wurde bitter enttäuscht. Das Etwas, was da in der Pfanne vor sich rum brutzelte, war schwarz. Rabenschwarz. Es war mehr als ungenießbar, es sah so aus, als hätte der Tod es persönlich gekocht. Wem wollte er das denn zum Essen anbieten? Ich zog eine Grimasse, musste dann aber grinsen. Wenigstens hatte Klarin sich Mühe gegeben. Mein Blick schweifte durch die Küche und blieb an einer Packung Reis hängen. Eins der wenigen Dinge, die ich mir selbst kochen konnte – in der Küche war ich nicht viel besser als Klarin. Schnell war ein Topf gefunden. Während ich darauf wartete, dass der Reis gar wurde, begannen einige von Klarins Freunden um mich herumzuwuseln.
»Hey, wer bist du denn, Kleines?«, wurde ich jetzt schon zum dritten Mal gefragt. Einfach den Reis auf den Teller geben, würzen und fertig. Einfach diese »vielen und netten Leute« ignorieren, sagte ich mir selbst.
Ich nahm meinen Teller und ließ die Fragenden stehen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Besser so, sonst würde man die gar nicht mehr loskriegen. Im Hintergrund hörte ich Flaschen klirren. Natürlich. Ohne Alkohol ging es ja nicht. Das wäre doch viel zu langweilig, wo bliebe denn da der ganze Spaß?!
Ich schüttelte den Kopf und machte, dass ich wieder in mein Zimmer kam. Die ganze Zeit umringt von grölenden und laut lachenden Menschen – ohne Hemmschwelle. Das musste ich mir nicht antun. Vorsichtshalber schloss ich die Tür hinter mir ab. Die Musik war mittlerweile keine Musik mehr, sondern glich eher einem ohrenbetäubenden Dröhnen, das in meiner Brust nachhallte. Langsam löffelte ich mein Essen.
Mehr als einen Schrank, einen Schreibtisch, ein Bett und einen Wasserkocher mit ein paar Tassen und Teebeuteln hatte ich nicht in meinem Zimmer. Mehr brauchte ich einfach nicht. Klarin nannte mich deshalb oft minimalistisch. Das war mir ganz gleich. Schließlich war es ja mein Zimmer. Brauchte ihm ja nicht zu gefallen. Ich ließ etwas Wasser aufkochen und kramte dann einen Brennnesseltee aus einer kleinen Schachtel hervor. Als das Wasser brodelte, goss ich den Tee auf. Ich pustete auf die dampfende Flüssigkeit und nahm vorsichtig einen Schluck. Ich hatte schon einmal besseren Tee als diesen getrunken. Nur wo? Ich kam einfach nicht mehr drauf, egal wie sehr ich versuchte, mich zu erinnern. Es war wie ausgelöscht. Meine Hände umschlossen die warme Tasse. Der Tee wärmte nicht nur meine Finger, sondern auch meinen Geist.
Diese Woche war so aussichtslos grau und der einzige Lichtblick dieses Wochenende gewesen. Aber es würde wohl auch nicht heller als der Rest der Woche werden. Ich legte mich auf den Boden und wärmte einige Zeit meine Fingerspitzen an der nun leeren, aber noch warmen Tasse. Meine Augen fielen langsam zu. Ich löste den Haargummi und spürte, wie sich mein ganzer Körper entspannte. Es hielt nicht sehr lange an. Plötzlich hörte ich wieder Stimmen im Flur. Aufgescheucht riss ich meine Augen auf und schnellte reflexartig hoch. Ich hörte eine hohe und eine tiefe Stimme, deren Besitzer vor meiner Tür stehen blieben. Sie kicherte, er drückte die Klinke herunter. Die Tür gab nicht nach.
»Eh?! Hadde Klarin nisch gesagt, wir … hicks … können die Räume benutzen?«, plapperte das Mädchen.
»Na, nehmen wa den anderen… da.« Sie entfernten sich wieder. Jetzt schon hatten sie sich den Kopf mitsamt Verstand weggesoffen.
Ich seufzte. Noch nicht einmal im eigenen Raum hatte man seine Ruhe. Ich würde mich nicht erholen können, wenn mich ständig jemand störte. Ich musste hier raus. Ich griff nach einem Pulli und Schuhen, band mir die Haare wieder zusammen und schloss meine Tür sicherheitshalber hinter mir ab – falls noch irgendjemand auf den glorreichen Gedanken kommen sollte, in mein Zimmer gehen zu wollen Ich huschte unbemerkt nach draußen. Es war ziemlich frisch. Die Sterne funkelten friedlich am wolkenlosen Nachthimmel. Die grausame Musik war immer noch zu hören. Ich musste weiter weg. Eine kalte Brise erfasste mich und kühlte meinen Körper. Der Weg, den ich schnellen Schrittes einschlug, war gut beleuchtet. Die Häuser schienen an mir vorbeizufliegen. Allmählich mischten sich kleine Geschäfte unter die Wohnhäuser. In der Bauchtasche des Pullovers fand ich ein wenig Kleingeld. Vielleicht konnte ich das ja noch irgendwo ausgeben. Von Weitem sah ich eine kleine erleuchtete Tankstelle.
»Für Sie immer rund um die Uhr geöffnet«, prangte auf einem Schild im Fenster. Ich ging hinein. An der Kasse stand ein junger Mann etwa in meinem Alter, vermutete ich. Er hatte tiefschwarzes wuscheliges Haar, wobei eine Strähne, die in sein Gesicht fiel, so lang war, dass sie fast seine Nase berührte. Der Typ trug eine schwarz umrahmte Brille. Um den Hals baumelten Kopfhörer. Er legte gerade mehrere kleine Packungen auf den Tisch.
Als ich eintrat, sah er auf. Sein Blick bohrte sich in meinen. Für einen Moment war es, als ob die Zeit stehen geblieben wäre. Die blaue Farbe seiner Augen war wunderschön, aber auch kalt wie Eis. Es war, als ob sich in ihnen eine ganze Eislandschaft widerspiegelte. Doch sein Starren wurde von dem Kassierer unterbrochen. Der junge Mann wandte sich von mir ab und die entstandene Verbindung riss entzwei. Er sah dem Kassierer einen langen Augenblick in die Augen, griff dann nach den Packungen und verließ den Laden. Hatte er überhaupt gezahlt? Ich hatte nichts gesehen, obwohl ich doch direkt hinter ihm stand. Vor dem Geschäft wurde plötzlich ein Motor angelassen, der kurz aufjaulte. Dann entfernte sich das Auto ziemlich schnell. Ich steuerte auf den Kassierer zu.
»Gibt es etwas in diesem Laden, was man für das hier kaufen kann?« Ich legte mein Geld auf den Tresen.
Der Kassierer nahm es und zählte es durch. »2 Bing.«
»Ja.«
»Da werden Sie in meinem Shop nichts finden.«, schüttelte genervt den Kopf und schob mir die Münzen wieder entgegen. Enttäuscht ließ ich es in den Tiefen der Bauchtasche verschwinden. Als ich vor die Tür trat, wanderten meine Gedanken zurück zu dem jungen Mann mit den eisigen Augen. Irgendetwas an ihm rüttelte mich auf. Ich schüttelte meinen Kopf. Mein Blick fiel auf die Uhrzeit. Kurz nach halb zwölf. Ich beschloss, weiter in Richtung Stadtmitte zu gehen, nach Hause brauchte ich noch lange nicht zu kommen. Die Züge fuhren ab jetzt nur noch jede Stunde, es lohnte sich also nicht, den Bahnhof anzusteuern. Die Lampen beleuchteten den Fußweg, sodass man ihn gerade noch erkennen konnte. Orientierung zählte nicht zu meinen Stärken, aber solange ich auf dem Weg bleiben würde, sollte ich den Rückweg wohl finden. Auf einmal bemerkte ich etwas und blieb stehen. Rechts schräg hinter mir. Ich senkte meinen Blick und versuchte, unauffällig nach hinten zu sehen. Kurz schloss ich die Augen, um zu hören, ob sich eine Person hinter mir befand. Ich hörte ein leises Rascheln – ganz dicht. Langsam drehte ich mich herum. Doch niemand war zu sehen. Trotzdem sah ich aus dem Augenwinkel, dass sich irgendetwas bewegte. Es blitzte auf. Nun links von mir. Beim nächsten Aufblitzen war mein Blick schneller, ich riss meinen Kopf herum. Im Gebüsch funkelte etwas kleines Rundes. Es blinkte wieder auf und erlosch sogleich. Ich bückte mich, griff nach dem Stein. Doch als ich ihn hervorzog, erkannte ich, dass es gar kein Stein war. Es war ein Amulett! Ich hielt es an seiner goldenen Kette in die Höhe. Hatte es jemand hier verloren? Ich schaute mich um, doch es war niemand zu sehen. Der schwarze Stein im Amulett glitzerte geheimnisvoll. Nun ja, wenn es niemandem gehörte, dann konnte ich es doch sicher mitnehmen, richtig!? Ich legte es in meine Hände. Und plötzlich fing es an, hell aufzuleuchten.
Was dann mit mir geschah, war fast nicht in Worte zu fassen. Das Amulett hüllte mich in dunkles Licht. Es wuchs und wuchs, und es bildeten sich eine Spitze und ein kleiner Griff. Der entstandene Körper dehnte sich immer weiter und schneller aus. Schließlich nahm es die Gestalt eines Schwertes an. Das dunkle Licht, das mich umgab, erlosch abrupt. Was in aller Welt war passiert?! Wieso hielt ich plötzlich ein Schwert in den Händen? Ich betrachtete das Schwert. Es war wunderschön. Die Sterne spiegelten sich in der silbernen Klinge wider. Der Griff war weich und robust zugleich. Der schwarze Edelstein des Amuletts glitzerte im Griff. Was hatte das alles zu bedeuten? Ich wirbelte das Schwert nach links, zurück nach rechts, drehte es und stach nach vorn.
Halt! Woher kannte ich diese Bewegungen? Ich führte sie aus, als ob ich schon einmal ein Schwert benutzt hatte. Mir fiel eine Strähne ins Gesicht. Als ich sie hinter mein Ohr klemmen wollte, erstarrte ich. Es war eine tiefschwarze, hüftlange Haarsträhne. Langsam hob ich das Schwert auf Augenhöhe und betrachtete mein Spiegelbild in der scharfen Klinge. Ich erschrak. Ich war wie verwandelt! Neugierig sah ich an meinem Körper herunter. Ich trug ein langes fließendes blaues Gewand. Es war fast wie ein Kleid, aber so eins, in dem man sich gut bewegen konnte. Es ähnelte einer Art Kampfbekleidung – wie eine Tunika. In der Taille wurde sie von zwei dunklen dicken Bändern zusammengehalten. Auf dem Rücken liefen sie zu einer Schleife zusammen. Die Ärmel waren aus einem weichen glatten Stoff. An den Handgelenken war es enger geschnürt, mit einem Band wie an der Taille. Das Band wickelte sich weiter über den Handballen, sodass das Schwert nicht mit bloßen Händen geführt werden konnte.
Ich sah hinter mich. Auf meinem Rücken befand sich eine lange schmale Hülle. Vermutlich für das Schwert. Sofort fühlte ich mich in dieser Kleidung wohl. Doch was um alles in der Welt war hier gerade geschehen? Ich hatte dieses Amulett gefunden und mich plötzlich verwandelt?! Und das Amulett gleich mit? War es so eine Art Zauberamulett und warum hatte es sich dann ausgerechnet bei mir verwandelt? Gab es noch mehr solcher Zauberamulette in der Cosmica?
Ich blickte noch einmal an mir herunter. Ich sah aus wie eine Kriegerin. Es herrschte doch kein Krieg. Oder? Was hatte das nur zu bedeuten? Am liebsten wollte ich der Sache auf den Grund gehen und jemandem von diesem Amulett und meiner Verwandlung berichten. Ich schluckte die Aufregung in mir herunter. Wem sollte ich schon davon berichten? Da gab es niemanden. Ich war allein.
Kapitel 3 Der Tag heute war grau. Wie alle anderen, die vor ihm kamen. Trotzdem konnte er sein Ziel jetzt nicht aus den Augen verlieren oder sich von dieser tristen Stimmung einlullen lassen. Nein, er musste weiter suchen. Müde hievte er seinen Körper aus dem Bett und streckte gähnend die Arme in die Höhe. Er zog sich an und taumelte schlaftrunken in die Küche. Er goss sich einen heißen Tee aus frischen Kräutern auf und setzte sich an den kleinen Tisch in der Mitte des Raumes.
Er war allein. Die ganze Zeit schon. Es gab keinen, mit dem er reden konnte. Über das, was passiert war. Er war der Einzige, der überhaupt Bescheid wusste. Er lehnte sich zurück und nahm einen Schluck aus dem kleinen Becher. Der Tee und dieser alte Tempel waren alles, was ihm von der alten Zeit geblieben war – was ihm tagtäglich Hoffnung gab und an das Vergangene erinnerte. Dass er es bloß nie vergaß! Das Rezept des Tees stammte noch von seiner Uroma. In seinem Volk war der Tee eine Tradition gewesen … vor langer Zeit. Er stand auf und wusch den Becher ab, streifte sich dann einen großen olivgrünen Parka über und verließ seinen Tempel. In der Kälte war sein Atem als weißer Nebel sichtbar. Es war noch sehr früh am Morgen. Er liebte es, zeitig aufzustehen und spazieren zu gehen. Wenn die Luft am Morgen noch kühl war, das mochte er gern. Wenn eine leichte Brise ihm sanft über die Wange streichelte wie die liebevolle Hand einer kleinen Schwester oder ihm durch die Haare wuschelte wie ein großer Bruder, dann fühlte er sich seiner Heimat nah.
Sein Volk hatte die Tempel immer erhöht gebaut, damit sie der Wind besser erreichen konnte. Schließlich waren sie doch das Land der Winde gewesen. Der Wind war für sie immer ein willkommener Gast. Die Dächer der Tempel verliefen spitz nach oben zu und waren so geschwungen, dass der Wind gut an ihnen entlanggleiten konnte. Alle Tempel hatten die Form eines Quadrates und waren ebenerdig gebaut. In den Innenhöfen befanden sich kleine Gärten. Für Außenstehende mochte sein Tempel etwas marode und vernachlässigt aussehen, doch gerade das machte ihn aus. Das Holz, aus dem der Tempel erbaut wurde, war mindestens einhundert Jahre alt und an einigen Stellen morsch und sogar etwas löchrig. Auch eins der Dächer war bei Starkregen undicht. Trotz dieser kleinen Macken liebte er den Tempel über alles. Er hüpfte Stufe für Stufe hinunter zur Straße. Bei jedem Schritt schlug sein Amulett mit dem hellen Stein auf seine Brust und seine schneeweißen Haare wogen im Wind. Heute würde er sie in der Stadt suchen. Aber vielleicht traf er sie auch auf dem Weg zur Schule. Ja, er war sich ziemlich sicher, dass sie jetzt in die Schule gehen würde. Schließlich sollte ja jeder hier in der Cosmica ein normales Leben führen. Sie hatten versucht, auch ihn in dieses Leben hineinzuzwängen, doch da er die Wahrheit kannte, konnte er sich bis jetzt dagegen wehren. Er ging tiefer ins Stadtinnere. Heute würde er den Park aufsuchen. Viele Schüler mussten durch den großen Park zur Schule gehen. Vielleicht war sie mit dabei.
Er hatte aufgegeben, die Tage und Monate zu zählen, die er schon nach ihr suchte. Er steckte die Hände in seine Taschen und ging in aller Seelenruhe an den Schaufenstern vorbei, die mit allen Mitteln versuchten, die Vorbeigehenden in die Geschäfte zu locken. Dort vorn war der Park. Er wartete an einer Ampel, bis sie von Rosa auf Türkis schaltete. Dann schlenderte er weiter in den Park und sah sich um. Wie an den Tagen zuvor sah er viele Mädchen in schicken Uniformen. Es waren allesamt hübsche Mädchen. Manchmal sogar bekannte Gesichter. Aber eben nicht sie. Verdammt. Er wollte sich gerade abwenden, als er plötzlich wie angewurzelt stehen blieb.
»Tomaki«, sagte eine ihm bekannte Stimme. Er wusste genau, wem sie gehörte. Zu genau.
»Giove«, antwortete er kühl. Der hatte ihm gerade noch gefehlt! Sein Gegenüber schob sich seine Brille hoch.
»Was machst du hier, Tomaki?«, fragte Giove und es klang fast wie eine Drohung. »Sag mir nicht, du suchst immer noch nach ihr!«
»Und was, wenn doch?«, zischte Tomaki. Er sah, wie Giove einen Moment innehielt. Dann schien er sich wieder gefasst zu haben und räusperte sich.
»Das ist reine Zeitverschwendung.« Die Hand in Tomakis Jackentasche ballte sich zu einer Faust.
»Ist ja nicht dein Problem, Giove«, knurrte er.
»Deine Aufgabe ist zum Scheitern verurteilt.« Giove sah ihn herausfordernd an.
»Ich habe sie mir nicht ausgesucht und das weißt du auch ganz genau!« Tomaki kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen und sah Giove böse an.
»Wir wissen aber beide, dass du die Zeit nicht mehr zurückdrehen kannst, Tomaki.«
»Halt den Mund!« Tomaki wusste das besser als jeder andere.
»Sie ist nicht dasselbe Mädchen von früher. Sie ist jemand komplett anderes, es würde nie klappen. Selbst, wenn du sie finden würdest, sie würde sich nie auf dich einlassen. Du weißt, mit was für Tricks sie arbeiten. Wie stellst du dir das vor?!«
»Wie gesagt, es ist nicht dein Problem«, zischte Tomaki. Wieso ließ er einfach nicht locker? Giove versuchte schon lange ihm auszureden, weiter nach ihr zu suchen.
»Noch nicht einmal mein Volk konnte sich der Cosmica widersetzen. Wie soll sie das dann schaffen?«
»Weil sie stark ist. Und diese Stärke immer noch ganz tief in ihr steckt. Selbst wenn sie nun vom Wesen her anders ist, ihre Seele hat sie nicht verloren. Die Seele eines Lebewesens kann nicht einmal der mächtigste Magier verzaubern.«
»Nur weil sie dich damals wieder zurück ins Leben geholt hat, ist sie lange noch nicht für eine solche Sach-«
»Das hat nichts mit mir zu tun!«
»Anscheinend schon. Tomaki, ihre alte Stärke ist längst erloschen. Sie ist nicht mehr dieselbe. Du machst dir die ganze Mühe umsonst.«
»Hör endlich auf, dich in meine Angelegenheiten einzumischen!«
»Gut.« Giove schloss die Augen und schob seine Brille zurück auf den Nasenrücken. Dann drehte er sich um und verschwand so unvermittelt, wie er aufgetaucht war.
Tomaki seufzte. Ihm war klarer als jedem anderen, dass sie nicht dieselbe sein würde. Er wusste, dass es vielleicht nicht klappen könnte. Sie würde ihn wohlmöglich gar nicht wiedererkennen und sich erst recht nicht auf ihn einlassen. Das war alles seine Schuld. Wäre er damals schneller gewesen und hätte er besser aufgepasst. Er schlug mit der Faust gegen eine Parkbank.
All das wusste er. Aber er wusste auch, dass diese Welt endgültig verloren wäre, wenn er sie nicht fand.
Kapitel 4 Das Gewicht der schweren Bücher in meinem Rucksack zog mich nach unten, als ich die Schule verließ. Mein Rücken schmerzte schrecklich. Aber ich musste noch den Weg zur Brücke und dann zum Bahnhof schaffen, erst dann konnte ich meinem Rückgrat eine Pause gönnen. Ich quälte mich die Hauptstraße entlang und erreichte schließlich die einfach gebaute Betonbrücke, die über einen reißenden Fluss führte.
Ich legte eine Hand auf das Brückengeländer. Das Rauschen des Flusses übertönte die lärmenden Stadtgeräusche und schien zu mir zu sprechen. Tagtäglich ging ich über diese Brücke, doch heute erschien sie mir irgendwie anders. Es war, als ob der Fluss mich aufforderte, ihm zu folgen. Stromabwärts. In die Weite. In die Tiefe. In die Freiheit. Mich hielt hier nichts. Absolut gar nichts. Diese Welt war nicht meine Welt. Wer war ich hier schon? Wen hatte ich hier schon? Niemanden. Es gab niemanden, der es überhaupt bemerken würde, wenn ich weg wäre. Noch nicht einmal Klarin und Sue würden sich wundern, wenn ich eines Tages nicht mehr nach Hause kommen würde. Meine Finger krallten sich ans Brückengeländer. Ich brauchte nur noch auf die andere Seite zu klettern und zu springen…
Mein Blut schien geradezu durch meine Adern zu schießen und ich konnte meinen Blick nicht von der reißenden Flut unter mir abwenden. Meine Füße lösten sich wie von allein vom Boden, stellten sich auf das Geländer. Ichstemmte mich hoch. Alles um mich herum war vergessen. Ich würde endlich eins sein mit dem Fluss. Fernab der Cosmica. Fern von allem und jedem. Ich war so müde. Ich gehörte nicht in diese Welt. Ich sehnte den Moment herbei, in dem mein Oberkörper weit genug über das Geländer ragen und die Schwerkraft den Rest übernehmen würde.
»Hey! HEY!«, schrie plötzlich jemand und ich kam wieder zu mir. Eine starke Hand legte sich auf meine Schulter und ich wurde zurück auf die Brücke, hinter das sichere Geländer, gezogen.
»Du kannst doch da nicht einfach runterspringen, das ist lebensgefährlich!« Ich schloss meine Augen. Ein schriller Schmerz durchbohrte meinen Kopf. Verdammt, was war das denn gerade gewesen? Eine Art Trance?! Ich hatte mich gar nicht mehr unter Kontrolle gehabt!
»Geht es dir gut?«, fragte die Stimme jetzt besorgt. Ich drehte mich um. Ein junger Mann, der ungefähr einen Kopf größer war als ich, stand vor mir.
»R-Ruta …? Ruta Pez?«, hauchte er fassungslos. Er sah mich mit großen Augen an und legte seinen Kopf schief, sodass seine schneeweißen Haare in sein Gesicht fielen. Erst lächelte er, doch dann wurde er schlagartig traurig.
»Oh, Ruta! Ich bin so froh. So froh! Verdammt!«, wisperte er und ihm stiegen Tränen in die Augen. Schnell drehte er den Kopf weg.
»Endlich«, hörte ich ihn schluchzen. »Ich habe nie aufgegeben und jetzt, jetzt stehst du vor mir. Einfach so, wie aus dem Nichts!« Was zum …?! Heulte er etwa? Und wer war er überhaupt? Mein Kopf brannte immer noch vor Schmerz. Ich legte mir meine kalte Hand auf die Stirn. Und woher kannte der Typ überhaupt meinen Namen? Ich hatte ihn doch noch nie zuvor gesehen! Schnell fasste er sich wieder.
»Komm, ich bring dich nach Hause, Ruta.«
Was wollte er von mir? Ich kannte diesen Typ doch gar nicht?! All die Jahre hatte sich niemand, wirklich niemand für mich und mein bescheidenes Dasein interessiert. Ich war so gut wie Luft für alle anderen. Und wie aus heiterem Himmel tauchte jetzt plötzlich jemand auf, der mich nicht nur sah und ansprach, sondern auch noch meinen Namen kannte? Da war doch ganz sicher etwas faul. Vielleicht wollte er ja an mein Geld? Da konnte er lange warten, ich war quasi pleite. Oder wollte er mir etwa an die Wäsche?! Mein Herz begann zu rasen. Ohne Vorwarnung schnappte sich der Kerl meine Hand und zog mich in Richtung Bahnhof. W-Was zum…?! Ich rammte meine Füße in den Boden und entriss ihm meine Hand.
»Lass mich los! Was willst du eigentlich von mir? Und wer bist du überhaupt?« Ich runzelte die Stirn.
»Mein Name ist Tomaki.« Er zeigte mit einem Finger auf sich und lächelte.
»Tomaki, ah ja«, wiederholte ich skeptisch. Tomaki. Doch, das hatte ich schon einmal gehört.
Toma…Tomati… Tomata… Tomat…e? Tomate? Ich musste grinsen. Wer um alles in der Welt hatte sich so einen Namen einfallen lassen? Dann hielt ich inne. Meine Hand wanderte an meine Lippen. Ich kannte diesen Tomaki gerade einmal fünf Minuten und schon hatte er es geschafft, mich zum Lächeln zu bringen?! Das war mir vorher noch nie passiert. Etwas von diesem Grau in mir begann abzusplittern.
»Sag mal, was hattest du eigentlich da eben vor?«, fragte Tomaki und zeigte hinter mich auf den Fluss.
»Nichts«, murmelte ich und sah verloren in die Ferne. Was war da nur mit mir los gewesen? Wollte ich mich tatsächlich umbringen? So weit war ich also schon gesunken? Unfassbar. Wirklich unfassbar, dass mich das Grau in mir zu so etwas gedrängt haben könnte.
»Weißt du, da hab ich dich endlich wiedergefunden und dann jagst du mir so einen Schrecken ein!« Tomaki ging einen Schritt auf mich zu und sah mich durchdringend an.
»Wiedergefunden?« Ich wich eine Schritt zurück und sah ihn skeptisch an. Er nickte.
»Jetzt wird alles wieder gut, Ruta Pez. Die Welt ist gerettet.«
»Alles wird wieder gut?! Die Welt ist gerettet?!«, wiederholte ich. Was meinte er damit?
»Ja, du wirst schon sehen«, sagte er lächelnd. Dieser Typ war so voller Hoffnung, dass mir schon fast schlecht wurde.
»Wer um alles in der Welt bist du? Und was willst du überhaupt von mir?«, fragte ich wieder energisch. Tomaki trat ganz nah an mich heran. Ich wollte zurückweichen, doch ich spürte bereits das Brückengeländer im Rücken. Keine Chance, ihm zu entkommen. Er war so nah, dass ich seinen Atem auf meinem Gesicht spüren konnte. Sein Blick hielt meinen fest. Es war, als ob er für einen kurzen Moment direkt in meine Seele blicken konnte. Doch dann schloss er seine Augen und die Verbindung riss ab. Das hatte ich vorher schon einmal erlebt. Mit dem jungen Mann in der Tankstelle. Ein kleiner Windhauch fuhr uns durch die Haare.
»Wer ich bin und was ich will, das wirst du schon bald herausfinden, Ruta«, flüsterte Tomaki und lächelte geheimnisvoll. Ich sah ihn durch zusammengekniffene Augen an. Ich kannte diesen Typen! Aber ich kam einfach nicht drauf, woher.
Ich war völlig überfordert mit dieser Situation. Das lag vor allem auch daran, dass ich ihn überhaupt nicht einschätzen konnte. Wieso tauchte er nach all den Jahren hier auf? Bis jetzt war ich immer allein und von der Gesellschaft isoliert gewesen. Ja, sogar meine eigene Schwester wollte nichts mit mir zu tun haben. Wieso dann gerade er? Vielleicht verwechselte er mich auch? Jedoch war es sehr unwahrscheinlich, dass jemand denselben Namen wie ich trug. Was meinte er wohl damit, er habe mich wiedergefunden? So viele Fragen geisterten nun in meinem Kopf herum, dass mir ganz schlecht davon wurde. Außerdem war da dieses Gefühl, das ich in seiner Nähe spürte. Es war undefinierbar, teils Unbehagen, teils Skepsis und vielleicht etwas Furcht. Wieso spürte ich das bei ihm? All diese Fragen verlangten nach Antworten. Doch konnte ich ihn all das fragen? Was würde er mir erzählen? Die unzensierte Wahrheit? Vielleicht erzählte er mir auch nur irgendetwas, um schnell an sein Ziel zu kommen. Was auch immer das war. Ich sah den jungen Mann im großen olivgrünen Parka neben mir an. Er lächelte unbekümmert. Nein, ich konnte ihm einfach nicht trauen.
»Ich finde den Weg zurück auch allein«, sagte ich und wandte mich schnell ab. Ich würde ihm garantiert nicht zeigen, wo ich wohnte. Ich sprintete los. Den schweren Rucksack auf meinem Rücken versuchte ich so gut es ging zu ignorieren. Tomaki rief mir hinterher, doch ich hörte schon gar nicht mehr zu. Ich hatte Glück, am Bahnhof fuhr gerade ein Zug ein. Ich sah noch einmal hinter mich. Er war mir nicht gefolgt.
Ich stieg rasch ein. Gerade noch rechtzeitig, denn die Türen schlossen sich keine Sekunde später und der Zug fuhr los. Langsam ließ ich den schweren Rucksack von meinem Rücken gleiten und setzte mich auf einen Sitzplatz. Dieser Tomaki war mir irgendwie unheimlich. Besser, ich hielt mich von dem Typen in Zukunft fern. Sollte er seine Spielchen doch mit jemand anderem spielen. Ich wollte mich nicht ausnutzen lassen.
Kapitel 5 Die spitzen Äste ziepten an meinen Haaren. Ich befand mich in einem der engen Strauchwälder. Mein Körper bewegte sich, ohne dass ich ihm Befehle gab. Ich bückte mich und zwängte mich durch das Gestrüpp. Ich ruckte nach rechts und dann nach links. Vor einem der Bäume blieb ich stehen. Die Rinde sah merkwürdig aus. Langsam hob ich meine Arme und tastete an der Rinde des Baumes entlang. Ein Stück der Rinde löste sich, ein braunes Etwas fiel in meine Hände. Doch das war definitiv kein Holz. Es fühlte sich sehr rau und spröde an. Es sah mehr wie die Schuppe eines ziemlich großen Fisches aus.
Im nächsten Moment hörte ich hinter mir ein leises Rascheln. Blitzschnell drehte ich mich um. Mit einem Mal spürte ich die Schuppe nicht mehr in meinen Händen. Ich schaute auf sie runter, doch da war nichts mehr. Die Schuppe war verschwunden.
Biep. Biep. Biep.
Unsanft riss mich der Wecker aus einem Traum. Ich sah mich um. Der kleine schwarze Edelstein funkelte im Morgenlicht. Seit ich das Amulett gefunden hatte, träumte ich von diesem Wald, von dieser Schuppe. Und immer endete der Traum gleich: ich im Wald mit leeren Händen. Vielleicht würde es helfen, den Ort, von dem ich jetzt schon so oft geträumt hatte, aufzusuchen. Waren diese Träume möglicherweise so etwas wie eine Botschaft? Oder ein Zeichen? Auf jeden Fall musste dieser Traum etwas mit dem mysteriösen Amulett zu tun haben. Und dann war da auch noch dieser komische Typ. Wie war sein Name doch gleich? Tomaki. Ich hatte zwar gesagt, ich sollte mich lieber nicht auf ihn einlassen, aber er ging mir einfach nicht aus dem Kopf. Und dass er gerade jetzt aufgetaucht war, wo ich das Amulett wenige Tage vorher gefunden hatte … Ob da ein Zusammenhang bestand? Meine Gedanken kreisten um seine Aussage, mich wiedergefunden zu haben. Das verstand ich nicht. Ich hatte keine einzige Erinnerung an ihn. Ob er mich wieder suchen wird? Gestern konnte ich ihn abschütteln, doch was würde passieren, wenn ich ihm ein zweites Mal begegnete? Ich sollte lieber vorbereitet sein.
Mein Blick fiel auf das Amulett. Im Notfall würde ich das Schwert zur Verteidigung benutzen. Damit umgehen konnte ich ja. Irgendwie. Obwohl ich vorher noch nie ein Schwert in der Hand hatte. Es war fast so, als gäbe es noch ein anderes Ich.
Ich schüttelte den Kopf. Das war doch völlig absurd. Mit den Füßen schob ich die Bettdecke von mir herunter. Ich stand auf und machte mich fertig. Heute stand wieder ein sinnloser Besuch in der Schule auf dem Tagesplan. Die Zeit ging dort ziemlich schleppend vorüber, was mir wiederum genug Zeit gab, weiter über alles nachzudenken. Ich kam zu dem Entschluss, zuerst einmal diesen mysteriösen Wald aufzusuchen. Dass ich diesen Traum jede Nacht träumte, konnte doch kein Zufall sein. Danach würde ich mich um diesen Tomaki kümmern.
Ich verließ die Stadt und kam schon bald an den Waldrand. Ein kleiner Pfad führte hinein. Und je tiefer ich hineinging, desto dunkler wurde es. Die Baumkronen verschränkten ihre Äste ineinander und ließen kein Licht mehr bis zum Boden durch. Ich sah einige Bäume, die dem Baum aus meinem Traum ähnelten, aber eben nicht derselbe waren. Wie sollte ich auch unter so vielen den einen richtigen finden?
Ich seufzte. Nicht nur, dass die Sonne langsam immer tiefer sank, nein, auch die Bäume schienen immer näher aneinanderzurücken. Ich wusste ja noch nicht einmal, welche Richtung ich einschlagen sollte. Das war doch aussichtslos.
»Was um alles in der Welt wolltest du mir jetzt so unbedingt zeigen?«, murmelte ich genervt, als ich das Amulett aus meiner Tasche kramte.
Verdammt, war ich diesen ganzen Weg wirklich umsonst gegangen?! Ich kam mir wie ein Idiot vor – zu glauben, dass dieser Traum wahrhaftig etwas zu sagen hatte. Vielleicht hätte ich das Amulett in dieser Nacht nicht aufsammeln sollen. Es war ja auch möglich, dass es gar nicht für mich bestimmt war und ich es fälschlicherweise mitgenommen hatte. Was soll’s? Enttäuscht warf ich es zu Boden. Und dieser Tomaki, der hatte mich wahrscheinlich doch mit jemandem verwechselt. Dann gab es eben zwei Ruta Pez. Oder er war einfach nur ein verwirrter Typ. Mit mir hatte das jedenfalls nichts zu tun. Ich wollte mich frustriert auf den Heimweg machen, doch da sah ich etwas in meinem Augenwinkel schimmern.
Das Amulett leuchtete wieder! Blitzschnell wirbelte ich herum. Ich hockte mich hin und pulte es wieder aus dem Dreck. Ich betrachtete den Stein in der Kette genauer. Er schimmerte jetzt nur noch schwach. Langsam richtete ich mich auf. Dabei wurde der Stein immer heller. Ich ging einen Schritt nach vorn. Das Licht erlosch. Ich trat wieder zurück. Das Licht war wieder da, wenn auch etwas gedämpft. Ich ging noch mehrmals vor und zurück. Sehr interessant. Je nachdem, wie ich meine Position und Richtung wechselte, änderte sich auch das Licht des Steines. War das Amulett vielleicht so etwas wie ein Wegweiser? Ich hielt inne. Was für Fähigkeiten verheimlichte mir das mysteriöse Amulett außerdem noch?
Ich erinnerte mich an die Nacht zurück, als ich den Stein das erste Mal in meinen Händen gehalten hatte. Damals wurde ich in dunkles Licht gehüllt und in eine Kriegerin verwandelt. Würde es mich jetzt auch wieder in diese Gestalt verzaubern? Allein der Gedanke daran reichte schon aus. Dunkles Licht umgab mich. Reflexartig schloss ich meine Augen. Als ich sie wieder öffnete, trug ich erneut diese ungewöhnliche Kleidung und auch meine Haare waren anders. Ich mochte die Kleidung, ich fühlte mich geborgen. Aber an diese tiefschwarzen und vor allem langen Haare musste ich mich erst noch gewöhnen. Ich band mir einen Zopf. Der Edelstein im Griff des Schwertes blitzte auf, als ich mich einige Zentimeter weiter nach rechts drehte. Ich ließ mich von dem Leuchten des Steines noch tiefer in den Wald führen und blieb schließlich neben einem der Bäume stehen.
Der Stein leuchtete so hell er nur konnte. Ich trat an den Baum heran und betrachtete ihn genauer. Er glich dem aus meinem Traum bis ins kleinste Detail. Schnell orteten meine Finger die Stelle, wo sich im Traum die Schuppe befunden hatte. Mein Blick fiel auf das Schwert. Ohne nachzudenken, rammte ich die Klinge auch schon in die raue, knochige Rinde hinein. Sie glitt durch sie hindurch wie durch Butter. Ich zog das Schwert zurück und schob es in die schützende Hülle auf meinem Rücken. Dann trat ich näher an den Baum heran, legte meine Hand auf die gelockerte Rinde und zog sie ab.
Die Schuppe, die dahinter verborgen war, hatte die Farbe der Rinde. Ich tastete an ihr herum und versuchte, sie aus dem Holz zu lösen. Doch sie bewegte sich kein Stück. Hatte es etwas mit dem Amulett zu tun? War die Schuppe vielleicht auch magisch? Was würde wohl passieren, wenn ich versuchte, die Schuppe mit dem Schwert aus der Rinde zu holen? Ich zog das Schwert von meinem Rücken und berührte die Schuppe mit der Klinge. Wie von Zauberhand erleuchtete sie plötzlich, löste sich aus dem Baumstamm und fiel mir in die Hände. Ich betrachtete sie und fuhr mit einem Finger über die raue braune Oberfläche. Sie war etwa so groß wie meine Handinnenfläche. Hinter mir raschelte etwas. Gerade als ich mich umdrehen wollte, fiel mir mein Traum ein. Davor hatte er mich die ganze Zeit gewarnt. Ich würde jetzt schlauer sein als im Traum. Schnell steckte ich die Schuppe in meine Hosentasche. Als ich mich umsah, erschrak ich. Eine verhüllte Gestalt stand vor mir.
»Gib mir die Schuppe«, sagte sie mit düsterer Stimme.
»Sofort!« Vor Schreck bewegte ich mich nicht. Die Gestalt ließ den Mantel fallen. Ein junger Mann mit kurzen goldenen Haaren baute sich vor mir auf. Er trug eine goldene Rüstung und seine gierigen Augen glänzten wie frisch polierte Goldmünzen. Er kam mir bedrohlich nah.
»Bleib weg von mir!«, schrie ich.
»Gib sie schon her.« Er ignorierte meinen Schrei und verzog sein Gesicht hässlich. Ich wich nicht zurück. Ich holte zum Schlag aus, wollte mitten auf seine Schulter treffen, er war jedoch schneller und verpasste mir einen kräftigen Hieb auf den linken Unterarm. Ich jaulte auf. Der Kerl drückte mich zurück. Dann griff er nach mir und schmiss mich gegen einen Baum.
»Gah!«, ich schrie auf, als ich hart mit dem Rücken aufprallte und in mich zusammensackte. Den Schmerz verdrängend rappelte ich mich schnell wieder auf. Er holte zu einem erneuten Schlag aus. Ich wirbelte zur Seite und schlug mit meinem Schwert auf seine Rüstung. Immer und immer wieder. Erfolglos. Der Typ grinste nur hämisch.
»Netter Versuch«, lachte er halb. Es hatte keinen Zweck, seine Rüstung war einfach zu hart. Und bei jedem Schlag erschütterte es meinen Körper. Die Schmerzen in meinem linken Arm zerrissen mich fast. Ich sackte wieder zusammen. Verdammt, warum war mein Körper nur so schwach? Dieser Kerl kotzte mich an. Er beugte sich zu mir herunter und wollte etwas sagen – ich ballte meine rechte Hand zu einer Faust und sammelte meine letzten Kräfte. Ich schleuderte meine Faust nach oben und traf ihn direkt unterm Kinn. Es knirschte eklig, als die Zähne aufeinanderschlugen. Ich spürte meine rechte Hand für einen Augenblick nicht mehr, so betäubt war sie. Er schrie auf und sackte dann in sich zusammen.
»Verdammtes Miststück!«, röchelte er. Ich hechelte. Wer zum Teufel war dieser Typ? Der wollte mich umbringen, ich musste sofort hier weg! Schnell raffte ich mich auf, ließ das Schwert in die Hülle gleiten und setzte hastig taumelnd einen Fuß vor den anderen.
»Weiter! Weiter! Weiter!«, schrie meine innere Stimme. Jemand packte mich am Fuß. Mit einem Stöhnen schlug ich auf dem Boden auf. Er zerrte mich durch den Dreck zu sich heran. Ich wimmerte. Warum hatte ich ihm nicht einfach die Schuppe gegeben? Irgendetwas in mir hatte sich dagegen gesträubt. Ich keuchte. Ich hasste nichts mehr als meine eigene Schwäche. Wenn ich schwach war und nichts tun konnte – wie jetzt. Der Typ röchelte immer noch. Er richtete sich langsam auf, seine Lippen bluteten. Das Blut verschmutze die schöne goldene Rüstung. Wie zähflüssige Lava lief es ganz langsam an ihm herunter.
»Du weißt wohl nicht, wer ich bin?!« Er trat mir in den Rücken. Ich biss die Zähne zusammen.
»Gib sie endlich her, verdammt noch mal!«, schrie er. Dabei rotzte er sein Blut auf den Waldboden. Mein Kopf brummte. Er holte zu einem erneuten Tritt aus. Ich spannte meinen Körper an, schloss die Augen. Ich würde es aushalten, vielleicht. Ging es hier und jetzt zu Ende? Ich wartete auf den Schmerz, doch er kam nicht. Stattdessen hörte ich ein schweres Stöhnen und ein blechernes Scheppern. Mein Angreifer fiel zu Boden. Zuckte kurz und krümmte sich vor Schmerzen. Eine weitere Gestalt richtete sich vor mir auf.
»Ruta Pez!«
Woher … was war hier los?
»Ruta, alles in Ordnung? Was machst du hier überhaupt?« Ein junger Mann mit langen schneeweißen Haaren beugte sich über mich. Ein süßlicher Geruch hüllte mich ein.
»Hör zu, ich bringe dich hier weg. Ich kenne einen Arzt in der Nähe, der dir helfen kann.« Er hatte tiefblaue und so ehrliche Augen. Kurz versank ich in ihnen. Sie kamen mir so bekannt vor. Aber ich kriegte es jetzt einfach nicht mehr zusammen. Die Schmerzen ließen mich nicht klar denken. Doch plötzlich hallten seine Worte in meinem Kopf nach.
Zu einem Arzt?! Alles in mir zog sich zusammen. Ich mochte keine Ärzte.
»Ich hab alles unter Kontrolle«, erklärte ich. Ich wollte mich aufrichten und stützte mich mit der rechten Hand ab. Ein Fehler. Es war, als ob mein ganzer Körper aufgespießt werden würde. Der Schmerz durchfuhr jede Zelle. Ich sackte wieder auf den Boden zurück. Irgendetwas lief nun auch noch an meinem Gesicht herunter.
»Verdammt.« Er riss sich ein Stück Stoff vom Leib und band es mir um den Kopf. Die Welt um mich herum drehte sich. Die Schmerzen ließen mich fast ohnmächtig werden. Der junge Mann blickte auf. Seine Augen wurden groß. Hektisch sprang er auf und schlug den anrasenden Typen mit seinem Schwert wieder zu Boden. Schnell versuchte ich meinen Körper zu mobilisieren, raffte mich hoch. Ich stand etwas wackelig, aber es ging schon. Einen Fuß vor den anderen. Auf einmal hatte ich das Gefühl, es ging ganz leicht. War es doch schon so weit? War meine Zeit in dieser Welt vorüber? Nein, erkannte ich einen Moment später. Der junge Mann mit den schneeweißen Haaren trug mich in seinen Armen.
»Ich kann auch selbst laufen«, fauchte ich. Ich versuchte, mich zu wehren, doch die Schmerzen in meinem Arm wurden größer und so gab ich nach. Sein Blick ruhte kurz auf meinem Gesicht. Dann lächelte er und konzentrierte sich wieder auf den Weg. Warum machte er das? Er kannte mich doch gar nicht. Langsam wurde mir schwarz vor Augen. Wer war er bloß? Meine Augenlider fielen zu.