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Die Wahrheit hat viele Gesichter... Das Abenteuer der vier Freunde geht weiter. Doch Giove ist immer noch nicht aufgewacht und Neko bleibt verschwunden. Ruta Pez, Fundus und Tomaki beschließen den Kater zu suchen. Was sie dabei entdecken, lässt sie erstmalig das Ausmaß von Viis Herrschaft erkennen und hebt abermals die Dringlichkeit ihrer Mission hervor. Und dann ist da auch noch Shiina, die allein im Tempel zurückbleibt und einen fatalen Fehler begeht. Mit Folgen für das ganze Team…
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Cosmica
Freund oder Feind
TOKIHARACOSMICATeil 2Freund oder Feind
Für all diejenigen, die meinem ersten Band »Schwarz&Weiß« eine Chance gegeben und ihn gelesen haben.
Das Buch ist euch gewidmet, hiermit möchte ich mich von ganzem Herzen bedanken!
Erklärung der Landkarte
© Lisa-Marie Kersting
© Lisa-Marie Kersting
Orbica: Die Welt vor der Unterwerfung des mächtigen Magier Viis. Die Länder hielten sie im Gleichgewicht.
Cosmica: Die Scheinwelt nach der Unterwerfung von Viis. Die früheren Länder existieren nicht mehr und all ihre Bewohner leben nun in der Cosmica.
Personenregister
Bewohner des Windtempels:
Ruta Pez: Auserwählte, Trägerin des schwarzen Amuletts; hat eine Verbindung mit dem schwarzen Drachen
Tomaki: Auserwählter, Träger des weißen Amuletts; hat eine Verbindung mit dem weißen Drachen
Fundus: Anima, ein Wolf, der sich mithilfe einer Zauberformel in ein Schwert verwandeln kann
Neko: Anima, ein Kater, der sich mithilfe einer Zauberformel in ein Schwert verwandeln kann
Giove: Gedankenformulierer, kann in die Gedanken anderer Menschen eingreifen und diese neu formulieren
Shiina: Zeitspielerin, kann die Zeit anhalten und in ihr wandeln; ist die vierte Königin
Bewohner des Palastes:
Viis: Herrscher über Cosmica, Magier
Viovis: Sohn von Viis, Magier
Vaquartis: Viis engster Berater, Magier
Veros: Viis neuer Handlanger, Magier
Sonstige Bewohner:
Klarin: Freund von Sue, lässt Ruta Pez und Sue bei sich wohnen
Sue: Ruta Pez Schwester
Mako: Klarins Bruder, wurde vor langer Zeit eingezogen
Zóel: unbekannt
Bewohner der Orbica:
Nanami: Mitglied der Rebellion in der Orbica, Amulettträgerin, hat zusammen mit Ronin die Drachen schlafen gelegt, im Krieg gefallen
Ronin:Mitglied der Rebellion in der Orbica, Amulettträger, hat zusammen mit Nanami die Drachen schlafen gelegt, im Krieg gefallen
Prolog
Kalte Luft zog über das zertrampelte Feld. Außer dem Wimmern des Windes war nur ein leises Schluchzen zu hören. Zwischen Toten und Trümmern hockte ein Junge und weinte. Seine Hände waren im Schoß vergraben, er versuchte sie irgendwie warm zu halten. Wenn keine Hilfe nahte, würde er bald erfrieren. Mit verheultem Gesicht sah er sich um. Vorhin im Gefecht waren so viele Menschen umgekommen. Die Schreie der Niedergestreckten und das Gerassel aufeinander klirrender Waffen verwandelten das Feld in einen Schauplatz grausamer Taten. Jetzt war davon nichts mehr zu hören. Nur zu sehen. Wo die Saat hätte sprießen sollen, lagen nun zertrümmerte Teile. Am Rande des Feldes schliefen Soldaten auf ewig und mit ihnen die Unschuldigen. Schweigend für immer. Diese drückende Stille war unerträglich für ihn.
»Das darf einfach nicht wahr sein.« Fassungsloses Entsetzen stand dem Jungen ins Gesicht geschrieben, sein Blick ging erneut übers Feld, zu den Trümmern und zu den Toten. Bibbernd zog er die Beine an seinen Körper, schlang die Arme herum und begann sich zu wiegeln:
Es ist doch wahr.
Wieder flossen Tränen, das Schluchzen wurde lauter. Doch konnte es die tückische Stille, die über dem Feld lag, nicht brechen. Als das trauernde Wimmern immer leiser wurde, näherte sich eine in ausladende Kleider gehüllte Person. Der Junge sah auf, griff zum Messer in seiner Tasche und presste es mit zitternder Hand an die eigene Kehle.
»Willst du mich auch umbringen?«, schlotterte er und drückte die scharfe Klinge tiefer in die Haut.
»Nimm das Messer herunter«, murrte die Gestalt.
»Nein! Wenn, dann will ich durch meine eigene Hand sterben!«
»Ich will dich nicht umbringen.«
Der Junge ließ die Hand sinken, beinahe hätte er sich tief in die Kehle geschnitten. Die verhüllte Gestalt schlug die Kapuze zurück und zum Vorschein kam ein Mann. Erschrocken wich der Junge ein paar Schritte zurück. Dieses Gesicht würde er überall wiedererkennen. Dieses Gesicht gehörte jenem Mann, der seine Familie vor ein paar Jahren auslöschte.
»Lügner!«, schrie der Junge und wirbelte mit dem Messer nach vorn. Dabei schlitzte er die Wange des Mannes auf. Blut rann aus der Wunde und tropfte zu Boden. Davon unbeirrt streckte der Mann seine Hand aus und sprach: »Nimm sie und ich schenke dir das Leben.«
Ein eisiger Wind pfiff übers Feld, wirbelte den Dreck des Kampfes hoch und drohte beide zu ersticken. Der Junge zögerte.
»Wer bist du?«, fragte er und hielt sich den Ärmel vor die Lippen.
Die Augen des Mannes leuchten magisch auf.
Mit tiefer Stimme sagte er: »Ich bin deine Rettung.«
Kapitel 1
Hastig schlug ich die Augen auf. Wo war ich? Zuerst fiel mir der milchige Nebel auf. Keine Chance, etwas in dieser Suppe zu erkennen. Langsam drehte ich den Kopf zur Seite und blinzelte. Neben mir lag etwas Schwarzes. Etwas großes Schwarzes, das sich bewegte. Erschrocken fuhr ich hoch. Es bewegte sich?! Schien eine große Flanke zu sein, die sich, wie bei einem schlafenden Tier, gleichmäßig hob und senkte. Vorsichtig ging ich einen Schritt darauf zu. Mir fiel auf, dass das Tier schwarze Schuppen besaß…
Aufgeregt hielt ich inne. Ich konnte es nicht glauben: Da lag der schwarze Drache! War jetzt der Moment gekommen ihn aufzuwecken? Doch um ihn aus dem Schlaf zu rütteln, fehlte noch etwas: die schwarze Schuppe. Wie in Trance griff ich in die Tasche meines Gewandes und zog sie heraus.
Aber wo gehörte die Schuppe überhaupt hin?
Vielleicht an sein Bein?, überlegte ich, ging an den ausgestreckten Flügeln vorbei und untersuchte die Gliedmaßen. Der Drache besaß unglaublich breite Tatzen mit langen scharfen Klauen. Ich ging weiter zum Hals und hielt dort Ausschau.
Kann ja nicht so schwer sein, dachte ich. Die Schuppen am Hals waren länglich und filigran. Die Schuppe, die ich gefunden hatte, sah nicht so aus. Sie war etwa handflächenbreit und voller kleiner Dornen. Ich musste an einem anderen Platz suchen.
Vorsichtig trat ich nach vorn. So nah war ich dem schwarzen Drachen noch nie gekommen. Auch damals in der Höhle nicht, als ich seine Schuppe sammelte und eine Vision bekam.
Der Kopf des Drachen war sehr breit und mit spitzen Stacheln übersät, an den Backen traten sie besonders hervor. Er ging mir etwa bis zu den Schultern und es waren fast fünf Schritte nötig, um den Kopf zu umrunden.
Wie er so mit dem breiten Kopf auf dem Boden ruhte, sah er friedlich aus. Doch was wäre, wenn er seine Augen öffnete? Würde er mich mit seinen Klauen zerfleischen oder mit seinem felsbrockenartigen Kopf zerquetschen?
Ich bekam Herzrasen.
Plötzlich fiel mir etwas ein, was mich aufatmen ließ.
Ich brauchte keine Angst zu haben.
Ich hab doch Fundus bei mir, dachte ich und griff auf den Rücken. Aber meine Hand langte ins Leere: Das Schwert war nicht da!
Nervös drehte ich den Kopf herum.
»Wo zur Hölle ist Fundus, wenn ich ihn brauche«, fluchte ich.Unruhig huschten meine Augen hin und her, weiter auf der Suche nach der kahlen Stelle. Ich schaute die Schnauze herunter, bis zu den bebenden Nüstern. Ihre Form erinnerte mich an die Blätter einer Buche. Angespannt sah ich wieder zu den langen Dornen an den Backen. Sie waren so groß wie eine Armlänge und einige von ihnen wiesen tiefe Kerben von früheren Kämpfen auf. Als ich in der Höhle seine Schuppe sammelte, gewährte er mir einen kurzen Einblick in sein Leben. Er hatte sicher viel durchgemacht, besonders als Viis an die Macht kam.
Ich ging um den Kopf herum und am langen Hals entlang bis zum Rücken, wo sich die Dornen des Kopfes bis zum Widerrist zogen. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Drache mit zusammengeklappten Flügeln schlief. Ich konnte nur erahnen, wie riesig die Schwingen beim Fliegen sein mussten.
Etwa sechs Schritte auf jeder Seite, schätzte ich, aber es könnten auch mehr sein.
Da fiel mir eine kahle Stelle auf, direkt unter dem Ansatz seines Flügels.
Gefunden! Siegessicher ballte ich eine Faust und tappte um den Drachen herum, am langen und von spitzen Stacheln bestückten Schwanz und an der langsam atmenden Flanke vorbei, um an die Stelle zu kommen. Die Schuppe bereithaltend schob ich mich zwischen Beinen und Flügeln entlang. Dann war es soweit: Ich musste die Schuppe einsetzen.
Als ich sie an die kahle Stelle hielt, regte sich der Drache auf einmal und stöhnte. Die Schuppe leuchtete indes hell auf, glitt tief in die Haut und verankerte sich. Zuerst streckte der Drache sich, breitete die Flügel aus und hob langsam den Kopf. Mit einem kräftigen Ruck raffte er seinen Körper hoch. Als er vor mir stand, schüchterte mich seine Größe ziemlich ein. Eigentlich sollte ich keine Angst haben. Schließlich war ich die schwarze Kriegerin und zusammen mit ihm würde ich die Welt befreien. Noch bevor ich das zu Ende denken konnte, begann der Drache mit den Flügeln zu schlagen. Im nächsten Moment erhob er sich und verschwand in den Weiten des Himmels…
Ohne auch nur ein Wort mit mir zu wechseln.
Nein, ohne mich überhaupt wahrzunehmen! Ich spürte, wie meine Anspannung in Ratlosigkeit umschlug. Verzweifelt rief ich ihm hinterher, ich sei die schwarze Kriegerin und wir müssten zusammen die Welt retten!
Meine Schreie brachten jedoch nichts.
Der Drache setzte seinen Weg fort. Ohne mich. Er sah mich nicht einmal an. Verdammt, was hatte ich bloß falsch gemacht?!
Plötzlich spürte ich, wie jemand energisch an meiner Schulter rüttelte. Ein lauter Schrei ließ mich aufschrecken. Ich schlug die Augen auf.
Kapitel 2
Die Wolken hatten sich zu einem dunklen Schleier über den Himmel gelegt. In der Ferne braute sich ein Unwetter zusammen. Mit zornigem Blick fuhr er wild herum. Sein schwerer Umhang flog der Bewegung energisch hinterher. Ein Sturm zog auf.
»Viovis ist ein Nichtsnutz!«, brüllte er den Hang hinab. Die Diener zuckten zusammen und die Berater sahen ausdruckslos zu Boden. Der Rest des Gefolges verharrte an Ort und Stelle und wagte kaum zu atmen.
»Diese Gören waren bestimmt hier! Nicht umsonst hat es solch ungewöhnliche Schwingungen in den Bergen angezeigt! Wahrscheinlich haben sie eine Energiequelle gefunden, welche sie jetzt für sich nutzen! Und mein Sohn hat all das nicht mitgekriegt! Meine wertvolle Energie in den Händen von diesen Kindern! Ich könnte Viovis in der Luft zerreißen!«
Viis Augen funkelten böse auf und in seinen Händen fing ein magisches Licht an zu brennen. Erregt feuerte er die kleinen Lichtbälle in die Luft. Zischend kollidierten sie mit dem Gestein der Berge und keinen Moment später erloschen sie. Kaltes Geröll bröckelte von den Wänden in die Schlucht hinunter. Den Aufschlag hörte das Gefolge schon gar nicht mehr, denn Viis murmelte etwas unverständliches. Dabei spreizte er die Finger auseinander, krümmte sie, als hätte er Schmerzen und stieß einen lauten Schrei von sich. Dieser hallte noch einige Male zwischen den Spitzen der Berge wider, bevor ihn das tiefe Tal verschluckte und es wieder still wurde. Nur ein dumpfes Grollen in der Ferne kündigte eindringlich ein Unwetter an. Viis ignorierte die Warnung und wandte sich dem Eingang der dunkel gähnenden Höhle zu.
»Es bestehen keine Zweifel. Was sollen diese ungewöhnlichen Schwingungen sonst bedeuten? So energisch hat unser magisches Pendel noch nie ausgeschlagen…«
»Die Energie der Natur ist das Wertvollste, was diese Welt zu bieten hat. Ich kann alles unterwerfen und kontrollieren, nur die Energie muss ich mir mühsam erarbeiten. Und diese Halbstarken bekommen mein flüssiges Gold einfach so? Zur Hölle mit ihnen!«, fluchte er. Vaquartis, Viis engster Berater, faltete die Hände ineinander und blickte zu Viis auf.
»Ich denke nicht, dass sie ohne Mühen an die Energie gelangt sind. Nein, so wird es nicht gewesen sein. Aber diese Kinder haben einen einfacheren Weg gefunden, um an unser Gold zu kommen. Es muss einen sehr schlauen Kopf unter ihnen geben. Und ich habe schon meine Vermutungen angestellt, wenn ich so frei sein darf.«
Viis hielt sich die Stirn und wedelte auffordernd mit der Hand in der Luft herum.
»Sag schon.«
»Meine Nachforschungen haben ergeben, dass er ein Gedankenformulierer ist. Einer, der unseren Überfall auf das Land des Eises damals überlebt haben muss. Er scheint sehr schlau zu sein. Er sollte jetzt in unserem Fokus stehen.«
»Nein, das Mädchen! Sie ist das größere Problem!«, rauschte es aus Viis heraus. Energisch drehte er sich um und schlug wütend gegen die Felswand. Sofort bröckelten schwere Gesteinsbrocken von der Decke.
Vaquartis biss die Zähne zusammen und seine Augen rollten von rechts nach links. Er nahm einen großen Atemzug und ließ die Luft ganz langsam aus den Lungen gleiten.
»Sicher, diese Göre ist das Problem. Aber auch der Junge. Viis, wir müssen genauso gegen ihn vorgehen. Seine Fähigkeit macht ihn unberechenbar und gefährlich für uns. Ich schlage daher vor, dass er im Fokus stehen sollte.«
Viis brummte Flüche. Etwas an diesem Plan schien ihm nicht zu gefallen. Urplötzlich verkrampfte sich sein Körper und es sah aus, als müsste Viis gegen ungeheure Schmerzen ankämpfen. Doch er blieb still und gab keinen Laut von sich.
»Lasst uns allein«, flüsterte Vaquartis und das gesamte Gefolge verzog sich nach unten an den Fuß des Berges. Vaquartis beobachtete den sich vor Schmerzen krümmenden Viis. Mit unveränderter Miene verschränkte er die Arme unter seinem großen Gewand. Drei weitere Atemzüge wartete er ab, bis Viis auf den Boden sank. Gefasst schritt er auf ihn zu und holte ein kleines Fläschchen mit goldener Flüssigkeit hervor. Es war keine gewöhnliche Energie. In dieser Flüssigkeit schwammen kleine golden glitzernde Stückchen. Sie stellten eine reiche Energiequelle dar und waren sehr selten. Wenn sie jemand schluckte, kamen unvorstellbare Kräfte zum Vorschein. Vaquartis wollte Viis das Fläschchen reichen, doch dieser wurde zornig.
»Leg sofort das Fläschchen weg! Das ist nur für Notfälle gedacht!«, fuhr er seinen Berater an.
Dieser biss verärgert die Zähne aufeinander und ließ das Fläschchen im Ärmel seines Gewandes versinken.
»Verfluchte Energie, wieso bin ich so abhängig von diesem Gold?«, knurrte der mächtige Magier und hievte sich wieder nach oben.
»Ich muss mich mehr beherrschen. Diese Wutausbrüche rauben mir noch die letzte Kraft«, murmelte Viis und zog seine Hand unter dem weiten Ärmel des Gewandes hervor. Sie war knöchern und auffallend dünn. Es schien, als könnte man die Finger mit einem Knacks durchbrechen. Durch seinen Gefühlsausbruch verbrauchte er die Energie viel schneller als sonst. Wenn er in den Palast zurückkäme, würde er sich als erstes an sein Gerät anschließen.
»Gefühle sind die größten Energiefresser«, sagte Vaquartis und blickte vorwurfsvoll zum Herrscher.
»Wer weiß das besser als ich«, fuhr Viis seinen Berater an. »Das brauchst du mir nicht zu sagen.«
»Gut. Dann würde ich empfehlen, dass Ihr euch künftig besser beherrscht und nicht mehr die Kontrolle verliert.«
»Ich verliere sie schon nicht!«, knurrte Viis zornig.
»Vor mir aber«, flüsterte Vaquartis in sich hinein.
»Schickt mir Veros hinauf. Er soll richten, was mein Sohn nicht geschafft hat«, kommandierte Viis.
»Veros. Hmm…«, brummte Vaquartis nachdenklich.
»Er ist meine Auswahl«, verkündete Viis.
»Dann soll es so sein«, murmelte Vaquartis kopfschüttelnd, verbeugte sich sogleich und verschwand auf dem Pfad, der zum Fuß des Berges führte. Viis drehte sich und wandte sich dem Abhang zu. Er starrte nach unten in die dunkle Tiefe.
»Meine Welt darf nicht untergehen«, raunte der Herrscher und schlug den schweren Umhang des Gewandes zur Seite. Als er Schritte hinter sich hörte, fuhr er wieder herum.
»Veros. Wie schön«, sagte Viis und schaute ihn gleichgültig an.
»Mein Herrscher, was verlangt ihr von mir?«, fragte der junge Mann. Er musste etwa in Viovis Alter sein, hatte aber ein breiteres Kreuz und muskulösere Arme. Außerdem hatte Veros aschblondes Haar und klare graue Augen, die an einen Habicht erinnerten. Sein Gesicht war breit und kantig. Veros genoss hohes Ansehen, da sein Vater ein wichtiger Berater von Viis war.
»Ich habe einen besonderen Auftrag für dich, Veros. Etwas, wofür mein Sohn nicht würdig ist. Ich werde dich der dunklen Magie unterweisen.«
Veros grinste stolz und dachte gehässig: Ich muss etwas ganz Besonderes an mir haben, wenn Viis mich sogar seinem eigenen Sohn vorzieht. Was für ein Schwächling Viovis doch ist…
»Das ist eine unglaubliche Ehre für mich. Ich werde euch garantiert nicht enttäuschen«, erklärte Veros und verbeugte sich demütig.
»Das rate ich dir auch«, knurrte Viis und bei dem Gedanken an seinen Sohn musste er sich zusammenreißen, damit es nicht wieder zu einem Wutausbruch kam. Er musste es unterdrücken, denn nur so konnte er seine Energie sparen. Der Herrscher biss die Zähne zusammen und schluckte die Wut hinunter. Viis konnte sich nicht durch so etwas schwächen lassen. Nicht wie damals, als er sich den Gefühlen hingegeben hatte und es nur Unglück über ihn und seine Geliebte brachte. Allein der Gedanke daran bohrte einen tiefen Splitter in sein Herz. Viis ballte seine knochigen Hände zu einer Faust. Neben Ruta Pez waren die Gefühle sein größter Feind.
»Aber, Viis mein Herrscher, was passiert dann mit eurem Sohn?«, fragte Veros mit tiefer Stimme.
»Das wird sich noch zeigen«, antwortete Viis knapp.
Veros sah vom Boden auf und nickte. Er salutierte, verbeugte sich und verschwand auf dem Pfad, der nach unten ins dunkle Tal führte. Viis blickte erneut in die Ferne und öffnete seine Fäuste. Mit einem tiefen Atemzug stülpte er sich die Kapuze über.
»Ich werde alles dafür tun, um an der Macht zu bleiben«, sprach er, bevor er sich von den Bergen abwandte und den Weg nach unten nahm. Im Tal angekommen musterte ihn das Gefolge neugierig und sie alle versuchten einen Blick unter die Kapuze zu erhaschen. Sie hatten nicht viel mitbekommen, in der brenzlichen Situation schickte Vaquartis sie weg. Viis beachtete die Blicke nicht und schritt unnahbar auf seinem Berater zu.
»Viis«, meinte Vaquartis und verbeugte sich halb.
»Ich habe eine Entscheidung getroffen«, verkündete der Herrscher.
Vaquartis horchte gespannt auf.
»Sie wird uns beide zufriedenstellen.«
Der Berater grinste in sich hinein.
»Wie werdet Ihr das anstellen, mein Herrscher?«, fragte er, hob den weiten Ärmel und legte ihn vor seinen Mund.
»Es ist an der Zeit, dass ich sie wieder benutze. Die dunkle Magie.«
Viis blickte zum Berg mit der weißen Spitze hinauf. Er faltete die knochigen Hände ineinander und brummte leise: »Meine Welt wird nicht untergehen. Auch nicht wegen einem kleinen dummen Mädchen.«
Kapitel 3
Am nächsten Morgen wachte Viis mit entsetzlichen Rückenschmerzen auf - als hätte er die ganze Nacht auf einem Holzbrett geschlafen. Zu allem Überfluss raubte ihm das Unwetter, was gestern Abend über den Berg fegte, seinen erholsamen Schlaf. Dazu hielten ihn Blitz und Donner die ganze Nacht wach.
Mühsam stand er auf und als er an sich herunter sah, schreckte er zusammen. Viis schrie nach einem Diener, er solle Vaquartis holen. Sofort trat dieser in das Zelt des Herrschers ein und in seinem Gesicht machte sich Entsetzen breit.
»Nur noch Haut und Knochen…«, flüsterte der Berater und versteckte die Hände in den langen Ärmeln.
»So kann ich mich nicht im Palast zeigen.«
»Was schlagt ihr vor?«, fragte Vaquartis und sah mit seinen giftgrünen Augen zu Viis herüber.
»Veros wird mir mit dunkler Magie Energie zuführen. Das soll seine erste Prüfung sein.«
Als er das sagte, hüllte er sich in einen Umhang, um seinen ausgemerzten Körper zu verdecken.
»Ich lasse einen Arzt kommen. Gegen die Schmerzen.«
»Nein!«, rief Viis. »Vaquartis, hol mir die Medizin!«
Der Berater kannte Viis schon lange und wusste, dass es ihm ernst war. Er wusste, dass Viis sich in diesem Zustand niemandem zeigen konnte. Sorge kam in ihm auf.
»Ich denke trotzdem, ihr solltet einen Arzt holen…«
Viis starrte in sich gekehrt zu Boden.
»Du weißt, dass ich das nicht kann. Und nun geh.«
»Sehr wohl.«
Als Vaquartis das Zelt verließ, stieß Viis einen tiefen Seufzer aus. Alles schmerzte. Das war der Preis, den er zahlen musste. Keine fünf Minuten später kam der Berater zurück und in den Händen trug er ein kleines Glas mit durchsichtiger Flüssigkeit. Mit seinen Schritten schwappte sie schnell auf und ab. Zwei Fußlängen vor Viis blieb er stehen. Der Herrscher sah auf und sein Blick wanderte in Zeitlupe zum Fläschchen.
»Was ist das?«, fragte Viis, denn er kannte diese Flüssigkeit nicht.
»Es wird euch helfen«, erwiderte Vaquartis und warf die Flasche neben dem Herrscher aufs Bett.
»Ich habe gefragt, was das ist«, donnerte Viis Stimme zurück.
Verdammt, wieso kann er es nicht einfach trinken, dachte Vaquartis angespannt und schlang die Arme unter seinem Gewand zusammen.
»Das, was ihr immer von mir bekommt. Vertraut mir, Viis.«
»Tse.«
Mit einer seichten Handbewegung ließ der entkräftete Herrscher das Fläschchen vor sich her schweben. Er murmelte etwas finsteres und im nächsten Moment löste sich der Korken aus der Flasche.
Trinkt er es?, dachte Vaquartis und sah genauer hin. Doch Viis drehte seinen knochigen Finger, schloss die Augen und nuschelte eine Zauberformel. Sofort kreiste die Flüssigkeit in dem Gläschen, bis ein kleiner Strudel entstand. Im nächsten Moment verdickte sich der Saft und eine goldene Farbe kam zum Vorschein. Es war das Gold, die Energie, die Vaquartis ihm schon gestern auf dem Berg geben wollte.
»Dachte ich’s mir doch«, lachte Viis halb und ließ den Korken wieder in die Flasche ploppen.
»Das ist allerfeinste Energie! Was habt ihr dagegen, sie zu nehmen?! In eurem Zustand, ihr müsst!«, brach es aus Vaquartis heraus.
»Ich verschwende sie nur. Diese goldenen Klümpchen sind zu wertvoll. Die nehme ich nicht bei solch einer unwichtigen Sache.«
»Unwichtig…«, murmelte Vaquartis und schnaubte.
»Jetzt hol mir das Richtige«, befahl Viis.
Gezwungenermaßen verbeugte sich Vaquartis und brachte wenig später die Medizin vom Arzt ins Zelt. Mit einem Schluck kippte Viis die Flüssigkeit hinunter und wischte sich mit dem Ärmel die Lippen trocken. Er rang nach Luft und ein paar Sekunden später sah er wieder kräftig aus.
»Bald wird euch das auch nicht mehr helfen. Es lindert nur die Symptome«, merkte Vaquartis beim Zusehen an.
»Für den Umweg reicht es. Dann wird mir Veros Energie zuführen. Dein Fläschchen müssen wir für etwas wichtigeres aufheben.«
Bei den letzten Worten sah der Berater hellhörig auf. Wusste Viis etwas, was er nicht mit ihm teilen wollte?
Wieso ist er sich so sicher, dass er es später brauchen wird?, dachte der Berater angespannt.
»Also gut«, sprach er und wandte sich ab.
»Sage dem Gefolge, dass wir unterwegs noch einen Halt im alten Gebiet der Gedankenformulierer einlegen werden.«
»Warum gerade in diesem Land?«, fragte Vaquartis.
»Dort ist noch genügend Natur vorhanden, aus der ich Energie ziehen kann.«
»Soll mir nur recht sein«, meinte Vaquartis grinsend, beugte den Rücken und verschwand aus dem Zelt. Viis stand vom Bett auf und betrachtete seine Hände. Er ballte eine Faust und wusste, dass das Fleisch nur für eine kurze Zeit bleiben würde. Doch die Energie, die Vaquartis bei sich trug, war zu wertvoll. Er wollte sie aufheben. Viis hatte die Vorahnung, dass eine Zeit kommen würde, wo er sie dringender brauchte.
Dann bin ich darauf angewiesen, dachte er und so lehnte er diese besondere Flasche immer ab.
Es dauerte nicht lange und alle waren startbereit. Einige Magier aus dem Gefolge zauberten die Zelte und deren Möbel klein, sodass sie in die Hosentasche hätten passen können. Alles wanderte in mehrere kleine Kisten. Nichts sollte verloren gehen. Als sie die Ausstattung gut verpackt hatten, zog das Gefolge weiter. Vaquartis gab den Ton an und führte sie den Umweg entlang, in das Gebiet, was einst den Gedankenformulierern gehörte.
»Wir gehen an den Rand«, brummte Viis tief und winkte mit einer Handbewegung die Sänfte heran. Er wollte Energie sparen, also ließ er sich die restliche Strecke tragen.
»Ihr wählt diesen Weg, weil Ihr die Stadt da raushalten wollt?«, fragte Vaquartis.
»Es soll niemand auf komische Gedanken kommen, wenn wir gesehen werden. Eigenständiges Denken ist die Wurzel der Aufklärung. In meiner Cosmica gibt es das nicht«, erwiderte Viis schroff, als er sich in die Sänfte setzte. Mit einer magischen Handbewegung zog er den Vorhang zu.
Er braucht jetzt Ruhe, ich werde ihn nicht weiter belästigen, dachte Vaquartis und schritt wortlos den restlichen Weg neben dem Herrscher entlang. Schließlich erreichten sie ein mit saftigem Gras bewachsenes Hügelland.
»Wir sind da«, verkündete einer der Diener. Er öffnete den Vorhang der Sänfte und ließ Veros nach vorn kommen. Als Viis ausstieg, hatte er sich die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, niemand konnte ihn sehen. Das Gefolge schaute neugierig zu ihm und versuchte erneut einen Blick auf Viis zu erhaschen.
»Was starrt ihr unseren Herrscher so an, habt ihr nichts Wichtigeres zu tun?! Sichert die Umgebung und sorgt dafür, dass uns keiner stört«, rief Vaquartis aufgebracht. Tuschelnd setzte sich das Gefolge in Bewegung.
»Ihr habt nach mir verlangt«, sagte Veros und kniete vor dem verhüllten Magier nieder.
»Deine Prüfung wird sein, aus dem Land Energie zu zaubern. Mit dunkler Magie. Du wirst goldene Energie erlangen und mir zuführen. Wenn dir das gelingt, werde ich dich weiter unterweisen.«
Viis Stimme war tief und dunkel, aber auch ein wenig trocken und kraftlos.
»Nichts leichter als das.« Veros erhob sich wieder, stellte sich vor den Herrscher und begann eine Formel aufzusagen: »Ich rufe die Geister der dunklen Magie. Gehorcht mir und leiht mir eure Kraft.«
Sogleich verdunkelte sich der Himmel. Die Wolken verdichteten sich und ein dunkler Streifen fiel auf Veros herab. Dieser öffnete seinen Mund und ließ alle Geister in sich eindringen. Die Augen des jungen Mannes wurden augenblicklich schwarz. Auch die Stimmlage veränderte sich und auf einmal war ein schriller Laut zu hören.
»Beauftrage sie, das Gebiet der Gedankenformulierer auszusaugen«, befahlt Viis und Veros wiederholte die Worte. Aber bei ihm klangen sie ganz anders. So, als sei er von einer fremden Macht besessen.
Die Geister flossen wieder aus Veros heraus und wirbelten über das Land. Von Weitem hätte man denken können, es sei ein großer Schwarm Insekten, der sich über den Landstrich hermachte. Mit großem Hunger fraßen sich die dunklen Geister in die Natur hinein und vernichteten alles. Zurück blieb ein Labyrinth aus Steinen, kalten Brocken und ausgetrocknetem Boden. Voll mit Energie flogen die Geister wieder zu Veros. Dieser empfing sie und leitete sie gleich zum Herrscher weiter. Der Magier riss den Mantel vom Leib und reckte seine Brust in die Höhe. Als die Geister mit Viis verschmolzen, wurde ein goldener Lichtstrahl frei. Vaquartis hielt sich die Hand vor seine Augen, um nicht geblendet zu werden. Veros sackte auf die Knie und fiel zu Boden. Das war sein erster Kontakt mit den dunklen Geistern. Er würde daran wachsen und mit der Zeit stärker werden.
Derweil stöhnte Viis und schrie kurz auf, denn die Energie begann mit ungebremster Kraft in seinen Körper zu strömen. Für einen Moment sah es so aus, als ob er dem nicht standhalten konnte. Aber Viis war geübt und erfahren. Schnell konnte sein Körper die Energie absorbieren. Alles floss in den Herrscher und gab ihm seine majestätische und gesunde Gestalt zurück.
»Ja… ja!«, stöhnte Viis und griff mit den Händen in die Luft. Er fühlte sich gut, war jetzt wieder mächtig und stark. Vaquartis war der Erste, der die Augen öffnete. Erleichterung breitete sich auf seinem Gesicht aus. Überrascht blickte er auf den am Boden liegenden Veros.
»Er ist der Richtige«, murmelte Viis und betrachtete seine prallen Hände. Vaquartis grummelte etwas unverständliches und trat zu Viis.
»Wie geht es jetzt weiter? Wann werdet ihr euren Plan in die Tat umsetzen?«, fragte er und der Herrscher legte seine Hände zusammen.
»Wenn die Zeit gekommen ist, dann schlagen wir zu«, verkündete Viis. Bevor er in seine Sänfte stieg, sagte er einen Zauberspruch auf. Plötzlich schlugen Wurzeln aus dem Boden und schon wenige Minuten später wuchs ein frischer und lebendiger Wald um sie herum. Schützend legte er sich um die Menschen des Gefolges und wanderte mit ihnen. So begleitete er sie stetig und ohne bleibende Spuren auf dem Weg zurück in den Palast.
Kapitel 4
Benommen schlug ich die Augen auf und drehte mich schwerfällig im Bett herum.
Ich lag in einem Bett?
»Ruta!«, rief Tomaki freudig überrascht und nahm die Hand von meiner Schulter.
»Endlich bist du wach!«
Mein Kopf brummte. Als ich mich langsam aufrichten wollte, wurde mir schwindlig.
»Vorsicht!« Tomaki fing mich auf und legte mich sanft zurück ins Bett.
»Ich hatte einen komischen Traum«, flüsterte ich.
»Wenn du damit meinst, dass Giove und du gestern ohnmächtig geworden seid und Neko verschwunden ist, dann war das nicht nur ein Traum.«
Tomaki sah mich besorgt an.
»Ich war ohnmächtig?«, hauchte ich.
Er nickte. Ich versuchte, mich langsam aufzurappeln.
»Was ist mit Giove? Und wo sind die anderen?«
»Giove schläft. Shiina und Fundus sind bei ihm«, erklärte Tomaki.
Ich seufzte und hielt meine Hand an die schmerzende Stirn.
»Aber Neko ist bis heute noch nicht aufgetaucht. Nicht, dass ihm etwas zugestoßen ist«, hauchte Tomaki. Die Sorge um Neko stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben. Dunkle Halbmonde unter seinen geschwollenen Augen zeugten von schlechtem Schlaf.
»Wovon hast du denn geträumt?«
Als Tomaki mich das fragte, fiel mir alles wieder ein: Der schlafende schwarze Drache, die Schuppe, mit der ich ihn aufweckte und mein verzweifelter Versuch, ihn von seiner Aufgabe zu überzeugen.
Sollte ich Tomaki von dieser Vision erzählen? Nein, besser ich behielt es erst einmal für mich. Es war ja nur ein Traum… Mit so etwas wollte ich Tomaki nicht belasten.
»Ist nicht so wichtig«, winkte ich ab und hoffte, er würde nicht weiter nachhaken.
»Hmmm«, brummte Tomaki und klang nicht sehr überzeugt. Vorsichtig beugte er sich zu mir und legte die Decke über mich.
»Gut, dann ruh dich etwas aus.«
»Ja«, murmelte ich leise. Wieder blieb mir nichts anderes übrig, als im Bett herumzuliegen und nichts zu tun.
Tomaki stand vom Stuhl auf.
»Ich bringe dir nachher etwas zu essen.«
Ich nickte und schaute zerstreut an die Decke.
Was war gestern überhaupt passiert?
Ich versuchte, mich an den Moment vor meinem Ohnmachtsanfall zu erinnern. Wir saßen zusammen im Garten. Dann kam Fundus. Neko sei verschwunden, hatte er panisch gesagt und auf einmal ging es Giove und mir schlecht. Doch wieso gerade uns? Warum fiel nicht Tomaki anstelle von Giove in Ohnmacht? Das verstand ich nicht. In meinem Kopf bildete sich ein unauflösbarer Knoten.
Die Tür meines Zimmers öffnete sich einen kleinen Spalt. Vorsichtig lugte jemand hinein.
»Ach Ruta, du bist ja wach!«, rief eine zarte Stimme überrascht. Shiina trat herein.
»Wie geht es dir?«, fragte sie besorgt und setzte sich auf den Stuhl neben meinem Bett. Ich wälzte mich zu ihr.
»Ja, geht schon. Was ist mit Giove?«
»Er ist noch nicht aufgewacht«, hauchte Shiina mit ängstlicher Stimme.
Ich war aufgewacht, aber Giove noch nicht?
Sehr merkwürdig.
»Wo ist Fundus?«, wollte ich weiter wissen.
»Er ist bei Giove. Er versucht herauszufinden, was ihm fehlt.«
Vielleicht träumte Giove auch etwas… Aber er hatte keine Verbindung zu einem der legendären Drachen wie ich, also würde es nicht derselbe Traum sein.
»Er wacht bestimmt bald auf«, versuchte Shiina sich einzureden und lächelte gequält.
»Schau mal Ruta«, sagte Tomaki, der inzwischen mit einer kleinen Schüssel in der Tür aufgetaucht war. »Das wird dir guttun.«
Shiina stand vom Stuhl auf und rückte ihn für Tomaki zur Seite. Vorsichtig wollte ich mich hinzusetzen. Doch als ich mich aufrichtete, kehrte der Schwindel zurück. Meinen Armen entwich die Kraft und so fiel ich zurück ins Bett.
»Ruta!«, rief Tomaki erschrocken und fast hätte er die heiße Suppe verschüttet. »Warte, ich helfe dir!«
»Soll ich die Suppe nehmen?«, bot Shiina an. Tomaki nickte. Langsam schob er die Decke von mir herunter und legte seine Hand in meine.
»Versuch es noch einmal«, flüsterte er aufmunternd. Ich nickte. Als ich meine Muskeln anspannen wollte, kam der Schwindel zurück. Tomakis Hand versuchte, mich oben zu halten, doch ich fiel wieder ins Bett.
»Es nützt nichts«, sagte Tomaki und sah mich an.
Unschlüssig starrte ich zurück.
Was hatte er vor?!
»Ich hebe dich an«, beantwortete er meinen fragenden Blick. Ich sah skeptisch zurück.
»Im Liegen kannst du schlecht essen«, erklärte er eindringlich, ließ meine Hand los und lehnte sich zu mir herüber. Sein Gesicht war so nah, dass ich die Wärme seines Körpers auf meiner Haut spüren konnte. Vorsichtig nahm er seinen linken Arm und schob ihn unter meinen Rücken. Es fühlte sich so an, als würde er mich sanft umarmen. Er legte seine Hand in meine und hob mich langsam hoch. Shiina warf uns einen schmunzelnden Blick zu.
Endlich konnte ich aufrecht sitzen. Vorsichtig löste sich Tomaki von mir.
»Ist dir wieder schwindlig?«, fragte er besorgt.
»Geht. Nur ein bisschen«, winkte ich ab.
Shiina setzte sich neben mich aufs Bett.
»Hier.« Sie reichte mir die Schale mit der heißen Suppe.
»Sie wird dir nicht schmecken«, warnte mich Tomaki vor und grinste. »Aber du solltest sie trotzdem essen. Die Suppe ist ein Rezept von unseren alten Heilerinnen aus dem Land der Winde. Sie hat schon vielen Leuten geholfen.«
»Bekommt Giove auch so eine?«, fragte Shiina.
»Ja, natürlich. Sobald er wach ist.«
Bevor ich an der Schale nippte, betrachtete ich das Gebräu genauer. Es sah aus wie dunkler Schlamm vermischt mit glitschigen Blättern. Schon beim bloßen Anblick verging mir der Appetit.
»Komm, du schaffst das«, feuerte mich Tomaki an. Shiina jedoch warf mir einen mitleidigen Blick zu.
Widerstrebend rührte ich in der Schale herum und nahm einen Löffel. Schnell brachte ich es hinter mich und schluckte. Die Suppe schmeckte einfach nur widerlich. Fast hätte ich mich umgedreht und alles wieder ausgespuckt. Und als die Flüssigkeit langsam meine Kehle hinunter glitt, musste ich den aufkommenden Würgereiz unterdrücken. Ich hustete und räusperte mich, doch der Reiz blieb bestehen. Dabei hatte ich gerade mal einen Löffel genommen. Angewidert wischte ich mir mit dem Ärmel am Mundwinkel entlang.
»Hab etwas Geduld, die Suppe entfaltet bald ihre Wirkung«, erklärte Tomaki.
Shiina zog eine Grimasse und streckte angeekelt die Zunge heraus.
»Ich schau mal nach Giove«, fiel ihr ein. Bestimmt wollte sie nicht mit ansehen, wie ich mich quälte.
»Warte, ich komme mit. Iss schön die Suppe auf, Ruta«, meinte Tomaki, stand auf und hob den Zeigefinger. Ich nickte widerwillig. Mir blieb sowieso nichts anderes übrig.
»Bin auch gleich wieder da«, versprach Tomaki.
Dann verschwanden sie und ich blieb allein mit der ekligen Suppe zurück.
Ich seufzte.
Kapitel 5
Sorgfältig wusch Tomaki die Schüssel ab.
»Ich zeige dir jetzt, wie man die Suppe herstellt. Dann kannst du sie für Giove kochen, wenn er munter ist«, meinte er nach einer Weile.
»Ich dachte, du wolltest sie machen?«, fragte Shiina verwundert.
»Ja schon. Aber wer weiß, wann Giove aufwacht. So lange kann ich nicht warten. Ich muss Neko finden und darf keine Zeit mehr verlieren. Wer weiß, was ihm zugestoßen ist. Und ich wäre wieder Schuld daran, wenn jemandem etwas passiert.«
»Wieso sollst du schuld sein? Neko hätte auch was sagen und dich mitnehmen können. Ich verstehe sowieso nicht, warum er dir nicht Bescheid gegeben hat«, warf Shiina schnaubend ein und verschränkte die Arme.
»Trotzdem. Er ist mein Anima und ich trage eine gewisse Verantwortung für ihn. Das ist wie damals bei Ruta…«, seine Stimme versagte, als er die Schüssel beiseite legte. Mit leerem Blick starrte er aus dem Fenster.
»Ich fange nachher an zu packen und breche gleich morgen früh auf«, fuhr er fort.
»Erzähl Ruta und Fundus bitte nichts davon. Sie würden garantiert mitkommen wollen. Aber ihr braucht Fundus hier. Und Ruta ist noch viel zu schwach, um zu reisen. Ich werde sie nicht in Gefahr bringen. Ich weiß weder, was mit Neko passiert ist, noch wo er sich befindet und was dort auf mich wartet…«
Plötzlich drehte sich Tomaki um, zog den Pullover vom Körper und zeigte auf eine Stelle zwischen den Schulterblättern.
Shiina stutzte.
Was macht er da?!, dachte sie irritiert.
»Hier gibt es einen speziellen Punkt. Wenn du den triffst, kannst du jemanden ohnmächtig werden lassen. Das wollte ich dir noch zeigen, bevor ich aufbreche. Falls was passiert, wenn ich nicht da bin und du dich verteidigen musst.«
»Halt, Tomaki! Stopp mal kurz! Was soll das?! Zieh dich wieder an! Was ist denn eigentlich mit dir los? Seit Fundus gestern von Nekos Verschwinden berichtet hat, bist du so komisch«, rief Shiina verwirrt.
Tomaki zog den Pullover wieder an.
»Dass Neko jetzt weg ist, erinnert mich sehr an die Geschichte mit Ruta damals. Ich will nicht, dass wieder jemand wegen mir in Gefahr gerät.«
»Was ist denn da passiert?«, wollte Shiina wissen.
Tomaki hielt inne und sein Atem wurde für einen Moment schwer.
»Wenn du nicht drüber reden willst, ist das auch okay.«
»Doch. Es ist nur nicht so einfach, weil ich noch nie darüber gesprochen habe.«
Er sah in Shiinas große Puppenaugen.
»Aber ich werde es versuchen. Und nebenbei machen wir die Suppe, einverstanden?«, bot er an.
Shiina nickte, stellte sich neben ihn und verfolgte aufmerksam, was er tat.
»Das ist alles, was wir brauchen.« Er zeigte auf die Theke neben sich, wo viele kleine Schüsseln standen. In ihnen lagen die verschiedensten Kräuter, Samen und Blätter. Doch auf der Theke waren auch ein kleines Glas mit dem Glibber eines Schleimaals, sowie ein Teelöffel mit einem zermahlenen Schmetterlingskokon zu finden. Daneben stand eine in Tücher eingewickelte breite Schüssel. In ihr wuchs ein breiiger Pilz, welchen die Heilerältesten aus dem Land des Windes vor vielen Jahren anzüchteten und für viele medizinische Zwecke nutzten. All diese seltenen Zutaten bewahrte Tomaki in einer besonderen Vorratskammer des Tempels auf.
»Die Reihenfolge, in der du die Zutaten mischst, ist sehr wichtig. Ich schreibe dir auf einen Zettel, welche Menge du wann und wie unterrühren musst.« Er sah in Shiinas konzentriertes Gesicht.
»Gut«, nickte sie und verstand. Dann nahm Tomaki etwas aus der Schüssel mit den kleinen Samen und fügte warmes Wasser hinzu. Nach ein paar Minuten quollen die Samen auf. Tomaki fasste sich ein Herz und fing an zu erzählen: »Ich kann mich noch ziemlich genau an den Tag von Rutas Kapitulation erinnern. Schließlich hatte sich die Nachricht, dass das Land der Bäume von Viis eingenommen wurde, wie ein Lauffeuer verbreitet.«
»Wie kam es eigentlich dazu, dass sie kapituliert hat? Ich dachte, sie sei sehr stark gewesen?«
»Natürlich war sie das. Doch Viis und die anderen Magier fingen an, ihre Seen zu vergiften. Sie würden erst aufhören und das Gift wieder entfernen, wenn sich Ruta ergab. Die Seen aus dem Land der Bäume waren die Grundlage für alles Leben im Land. Nicht nur die Bäume waren vom Wasser abhängig, auch die Tiere schwebten in Gefahr, ausgerottet zu werden. Glaub mir, wenn es nach Ruta gegangen wäre, hätte sie nicht so einfach aufgegeben. Schließlich entschied sie sich schweren Herzens für ihr Land und gegen den Stolz ihres Volkes. Sie hatte ja die Hoffnung, irgendwann wieder zurückkehren zu können.«
Tomaki nahm eine weitere Zutat aus den Schüsseln. Es sah ein bisschen wie feuchte Erde aus und roch ziemlich modrig. Dazu gab er den Glibber des Schleimaals, vermischt mit dem zermahlenen Schmetterlingskokon.
»Zu dieser Zeit befand ich mich gerade in der Untergrundorganisation der Rebellen. Sie bestand aus Menschen aller Länder, welche sich ebenfalls vor Viis retten konnten und nun versuchten, sich vor seiner Gehirnwäsche zu schützen. Als wir mitbekamen, dass auch das letzte Land eingenommen wurde, war jeder Antrieb, weiterhin Widerstand zu leisten, erloschen. All unsere Hoffnungen waren dahin, niemand wusste, wie es jetzt weiter ging. Außer ich. Ich ahnte sofort, was zu tun war. Ich musste Ruta und ihre Schwester vor Viis’ Gehirnwäsche retten. Ich verschwendete keine Zeit und brach sofort auf.«
Tomaki hielt kurz inne und schien den Moment noch einmal zu durchleben. Rasch fasste er sich wieder, fügte der Suppe einen Löffel des breiigen Pilzes hinzu und fuhr fort.
»Ich hatte unbeschreiblich große Angst, dass sie Ruta ihr Gedächtnis nehmen würden. Dass sie bei Rutas Rettung auch mich erwischten und mir eine Gehirnwäsche verpassten. Doch meine eigene Angst war in diesem Fall zweitrangig, denn die Sorge um Ruta überwog. Da die Wege unserer Untergrundorganisation gut vernetzt waren, dauerte es nicht lange, bis ich am Palast von Viis ankam. Ich konnte mich einschleusen und damit begann die große Suche. Du glaubst nicht, wie schnell mein Herz schlug, als ich in diesem verdammten Palast herumirrte. Bei jedem Geräusch zuckte ich zusammen und rechnete mit meinem Ende. Ich hatte Todesangst, hinter jeder Ecke erwischt zu werden. Wäre ich damals nur mutiger gewesen und hätte nicht so viel Zeit verschwendet…«
Tomakis bebende Stimme brach ab. Er starrte verloren in die blubbernde Suppe, warf einige Zutaten hinein und rührte um. Shiina beobachtete ihn und schwieg.
»Irgendwann kam ich zu einer Treppe, die in die Erde führte. Als die Luft rein war, huschte ich hinunter und fand mich in einem großen Wirrwarr voller Gänge und Zellen mit dicken Eisentüren wieder. Es war so dunkel, dass man die Hand vor Augen kaum erkennen konnte. Nur am Boden leuchtete aus den Türschlitzen ein grelles grünes Licht heraus. Glaub mir, das war einer der gruseligsten Orte, an dem ich je gewesen bin. In jeder Ecke zischte es und zu allem Überfluss stieg mir ein beißender Geruch in die Nase. Plötzlich hörte ich Schritte. Um nicht erwischt zu werden, floh ich. An den grünen Lichtern auf dem Boden konnte ich mich gut orientieren. Doch dann gabelte sich der Weg. Schnell wählte ich den linken Gang, aber egal wo ich abbog, ich kam immer wieder an derselben Stelle heraus. Wie habe ich diese Katakomben gehasst.«
Tomaki nahm den Topf von der Platte und öffnete das Fenster. Der hereinstoßende Wind löschte die Flamme auf dem Herd.
»Du glaubst nicht, wie groß meine Verzweiflung in diesem Moment war. Trotzdem konnte ich die Hoffnung nicht einfach so aufgeben und wollte Ruta um jeden Preis retten. Ich suchte immer weiter und nach einer gefühlten Ewigkeit kam ich an ein großes offenes Tor. Aus diesem Tor schimmerte ein besonders helles, weißgrünes Licht. Dieses Licht war anders als jenes, das aus den anderen Zellen kam. Ich weiß noch genau, wie heftig mein Herz schlug, als ich all meinen Mut zusammennahm und hinein ging. Ich kam in einer großen Steinhöhle heraus. Von der Decke hingen schwarze Tropfsteine und an den Wänden floss Lava herunter. Im Lavalicht erkannte ich ganz hinten auf einer Erhöhung zwischen zwei Tropfsteinsäulen angekettet einen Menschen. Ich hatte keine Zweifel: Das musste Ruta sein.
Schon vom Tor aus konnte ich unter den Ketten ihre dicken und geschwollenen Gliedmaßen erkennen. Rutas Kopf hing leblos herunter. Am liebsten wäre ich auf der Stelle zu ihr gerannt, hätte sie befreit und ihr gesagt, dass alles gut werden würde. Dass ich sie retten würde. Doch da war es schon zu spät und er stand vor ihr.
Viis. Als ich ihn sah, merkte ich, wie sich der Hass in mir ausbreitete.
Ich würde ihn niederstrecken und Ruta befreien. Es war ein waghalsiger Plan. Denn Viis könnte auch mich gefangen nehmen und mir das Gedächtnis löschen. Doch in diesem Moment blendete ich das völlig aus. Für mich gab es nur ein Ziel: Ruta. Ich erinnere mich noch genau daran, wie ich das Schwert vom Rücken zog und all meinen Mut und auch meinen Hass zusammennahm.«
Tomaki machte eine Pause, lehnte sich zum Fenster herüber und schloss es. Danach rührte er in der Suppe herum und schmeckte sie ab. Shiina stand wie angewurzelt neben ihm und hing gebannt an seinen Lippen.
Tomaki drehte sich um, nahm ein paar weiße Blütenblätter und warf sie hinzu. Gefasst rührte er weiter und schmeckte erneut ab. Dann nickte er und fuhr fort.
»Ich wollte mich auf ihn stürzen. Diesem Mistkerl die Kehle durchschneiden. Meine Emotionen hatten mich voll im Griff. Mir war alles egal. Nichts hätte mich stoppen können.«
Seine Stimme versagte. Er biss die Zähne zusammen und starrte für einen Moment völlig verloren auf die Küchentheke.
»Da hob Ruta ihren Kopf und als sie mich ansah, setzte mein Herz aus. Sie schaute ganz unauffällig zu Viis herüber. Für einen kurzen Augenblick sah es so aus, als würde sie über etwas nachdenken. Ich zog demonstrativ das Schwert vor die Brust. Sie wusste, was das bedeutete: Angriff. Ihr ernster Blick huschte zu mir und sofort wieder zu Viis. Ich hielt inne. Das war ihr erster Hinweis. Ich sollte abhauen.«
»Und was hast du dann getan?«, fragte Shiina und wagte kaum zu atmen.
»Ich muss sie sehr entsetzt angesehen haben. Ich konnte nicht fassen, dass sie mir zu verstehen gab, ich solle flüchten. Wo ich doch den ganzen Weg auf mich genommen hatte. Wo ich extra wegen ihr hergekommen war. Wo ich nur dieses eine Ziel hatte: sie zu befreien. So hob ich mein Schwert und ging auf sie zu. Viis stand gerade direkt vor ihr. Das wäre meine Gelegenheit gewesen, unbemerkt näher zu kommen. Doch sofort bemerkte Ruta meinen Schritt und reagierte. Schnell holte sie Schwung und verpasste Viis eine ordentliche Kopfnuss. Diese knockte ihn für einige Sekunden aus. In dieser Zeit sah sie mich an und ihr Blick sagte mehr als tausend Worte. Aber ich wollte es einfach nicht wahrhaben«, erinnerte sich Tomaki. Shiina trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
»Tomaki lauf schnell weg!«, rief Ruta.
»Ich gehe nicht ohne dich!«
»Du musst! Ich will nicht, dass dir auch das Gedächtnis genommen wird! Wir werden uns schon wiederfinden!«
»Aber Ruta!«
»Was zusammen gehört, findet seinen Weg. Also gibt es auch einen Weg für uns. Wenn du mich findet, weiche mir nicht mehr von der Seite. Und jetzt flieh, solange du kannst!«
Tomaki ballte seine Hände zu Fäusten.
»Rutas Lächeln hätte schmerzvoller nicht sein können, als sie das sagte. Und mein Herz zersprang fast, als ich mein Schwert zurück in die Hülle schob und wegrennen musste. Verstehst du, ich musste aufgeben!«
Kurz machte Tomaki eine Pause.
»Als ich ein letztes Mal zurücksah, hatte Viis sich schon aufgerappelt. Ich machte, dass ich davon kam. In den ganzen Katakomben konnte man Rutas Schreie hören, als er anfing, ihr das Gedächtnis auszulöschen. Der Rückweg war der reinste Höllengang für mich. Das werde ich nie vergessen. Du glaubst nicht, wie lange ich mir noch Vorwürfe gemacht habe. Warum hätte ich nicht eher da sein können? Warum kam ich zu spät? So schwer es mir in dieser Zeit auch fiel, ich versuchte auf mein Schicksal zu vertrauen. Der Gedanke an Ruta gab mir Kraft, ihre Worte trieben mich an. Und jetzt bin ich hier. Wieder dabei, jemanden zu verlieren. Nein, dieses Mal nicht. Nichts und niemand kann mich daran hindern, aufzubrechen.«
Shiinas Blick wanderte zu Boden. Sie wurde plötzlich unsicher.
»Shiina«, sagte Tomaki in diesem Moment und drehte sich zu ihr. »Versprich mir, dass du niemandem von meinem Plan erzählst.«
Tomakis Blick war eisern, er jagte Shiina etwas Angst ein.
»Ich will nicht, dass Ruta mitkommt. Es ist zu gefährlich für sie. Das verstehst du doch, oder?«
In Shiina wirbelten die Gefühle hin und her. Als Tomakis Freundin wollte sie ihn nicht hintergehen und als Rutas Freundin wollte sie ihr den Plan auch nicht vorenthalten. Schnell wich sie seinem prüfenden Blick aus.
»Sicher«, murmelte sie und verschränkte die Arme hinterm Rücken.
»Shiina, es ist wirklich wichtig. Bitte, versprich es mir«, sagte Tomaki und schüttelte Shiina eindringlich.
Sie nickte.
Tomaki ließ von ihr ab und wog sich im Sicheren. Doch was er nicht sah, war der Konflikt, der jetzt in Shiina tobte. Und diese ahnte nicht, was sie mit ihrer Entscheidung auslösen würde.
Kapitel 6
Die Suppe schmeckte wirklich scheußlich. Ich warf mir die Decke über und drehte mich auf die Seite. Ich fühlte mich elendig und das vor allem wegen der Vision mit dem schwarzen Drachen. Bevor ich weiter über die Botschaft dieses Traumes nachdenken konnte, klopfte es an der Tür. Ich antwortete mit »Herein«.
»Oh, Ruta, schon fertig?«, fragte Shiina und setzte sich auf den Stuhl, der vorm Bett stand.
Ich nickte.
»Es hat echt eklig geschmeckt. Ich hab’s kaum runterbekommen.«
»Na ja, wenn man bedenkt, was da so alles rein kommt…«, grinste Shiina, »… dann vergeht einem schon der Appetit.«
Ich stellte mir vor, was Tomaki alles in die Brühe geworfen hatte.
»Du willst mich ja nur ärgern«, lächelte ich gequält.
»Nein, nein. Tomaki hat mir gezeigt, wie man die Suppe macht und auch, was alles rein kommt. Ich bin froh, sie nicht essen zu müssen«, meinte sie und zog eine neckende Grimasse. Ich schluckte. Hoffentlich hatte Tomaki recht und es war wirklich ein Wundermittel, das mir helfen würde, schnell wieder gesund zu werden.
»Wenn Giove aufgewacht ist, koche ich ihm auch eine Suppe«, berichtete Shiina weiter.
»Schläft er noch?«
»Ja«, antwortete Shiina.
Hm. Merkwürdig.
»Also, irgendwie…«, wollte ich sagen, brach aber ab, denn sie schien mit ihren Gedanken ganz woanders zu sein.
»Ja«, murmelte Shiina nur.
»Du hörst mir ja gar nicht zu…«, flüsterte ich, sank zurück ins Bett und zog die Decke hoch. Ich betrachtete Shiina. Ihre Zehenspitzen und Knie waren zueinander gedreht und mit den Ellenbogen stützte sie sich auf ihren Knien ab. Das Kinn hatte sie auf die Hände gelegt und so starrte sie mit ihren runden roséfarbenen Augen nachdenklich durch den Raum. Mir fielen vor allem Shiinas Lippen auf, die sie angespannt zusammenpresste. Fast so, als wollte sie etwas vor mir verbergen. Und auf einmal legte sich Shiinas Stirn in Falten.
»Shiina?«, fragte ich leise. »Alles in Ordnung?«
Keine Reaktion.
»Shiina!«, rief ich energisch.
Diese fuhr hoch und sah mich erschrocken an.
»Ja?«, fragte sie und tat so, als wäre nichts gewesen.
»Ist alles okay?«, wollte ich wissen und musterte sie. Als sich unsere Blicke trafen und sie schnell woanders hinsah, wusste ich: Sie verheimlichte mir etwas. Ich setzte mich wieder aufrecht hin und sah sie eindringlich an.
»Du verschweigst mir doch etwas.«
»W-Wie kommst du darauf? Nein, wirklich nicht!« Ihr Blick huschte hin und her, plötzlich stand sie auf und fuhr hektisch herum.
»Ich geh mal nach Giove schauen, vielleicht ist er schon wach.«
Schnell griff ich ihre Hand und hielt sie zurück.
»Shiina«, brummte ich und hob ermahnend eine Augenbraue.
»Es ist nichts und ich muss wirklich nach Giove schauen. Wir sehen uns später.«
Sie wich mir immer noch aus? Das war doch sonst nicht ihre Art. So gut kannte ich sie mittlerweile schon. Das glaubte ich zumindest. Vor einiger Zeit wäre es mir egal gewesen, was sie mir verheimlichte. Jetzt, da sie einer meiner wichtigsten Freunde war, musste ich es einfach wissen. Ich wollte an ihrem Leben teilhaben. Ich wollte wissen, was sie bewegte, wie es ihr ging und mit welchen Problemen sie sich herumschlagen musste. Mit Tomaki und Giove war es dasselbe. Vor vielen Wochen waren wir nur Fremde und mittlerweile konnte ich mir ein Leben ohne sie kaum vorstellen. Deshalb wollte ich mich umso mehr anstrengen, um sie noch besser kennenzulernen. Und ich würde jetzt bei Shiina auch nicht eher locker lassen, bis sie mir endlich sagte, was los war.
»Komm schon. Was hast du auf dem Herzen?«
Shiina sah zu Boden.
»Es… Es ist…«
Aufmunternd nickte ich ihr zu. In ihr schien ein Konflikt zu toben. Von außen sah es aus, als kämpfte sie mit sich selbst. Was brachte sie in diese Situation?
Schließlich seufzte sie schwer.
»Eigentlich darf ich es dir nicht erzählen«, murmelte sie.
»Wieso nicht? Wer hat das gesagt?«
»Tomaki.«
Ich fuhr zusammen. Tomaki? Er erzählte Shiina Dinge, die ich nicht wissen durfte? Wieso wollte er mir etwas vorenthalten? Und warum erzählte er es ausgerechnet Shiina? Das war nicht fair!
»Was hat er denn gesagt?«
»Er hat mir etwas über eure Vergangenheit erzählt. Er sagte, er müsse etwas tun und niemand könne ihn davon abhalten. Ich soll es dir auf keinen Fall sagen, sonst bekomme ich großen Ärger«, sagte Shiina und dabei füllten sich ihre Augen mit Tränen. Sie setzte sich wieder auf den Stuhl.
»Ich habe lange mit mir gerungen, ob ich es dir erzählen sollte oder nicht. Aber schließlich geht es ja auch um dich. Zwar breche ich jetzt mein Versprechen, dennoch kann ich nicht zusehen, wie er sich allein in Gefahr begibt!«, jammerte sie und eine Träne glitt über ihre Wange.
Ich hatte also recht und sie wollte mir tatsächlich etwas verschweigen. Shiina sammelte sich und holte tief Luft.
»Tomaki will morgen aufbrechen, um Neko zu suchen. Er meinte, ich solle dir nichts sagen, weil du dann mitkommen würdest.«
Bei Shiinas Worten wurde ich wütend. Wieso hielt sich Tomaki nicht an die Abmachung, dass wir niemals etwas alleine unternehmen sollten? Schließlich rief er sie selbst ins Leben.
»Er will was tun?! Er kann sich doch nicht einfach in Gefahr begeben! Wieso will er nicht, dass ich mitkomme?«, rief ich aufgebracht. Außerdem wusste er ja gar nicht, was ihn auf der Suche nach Neko erwarten würde. Was, wenn er in eine Falle lief oder in einen Kampf geriet? Das konnte er unmöglich ohne uns schaffen!
Shiina sah auf und nahm meine Hand.
»Er hat mir von eurer Begegnung erzählt, und zwar kurz bevor du deine Erinnerungen verloren hast. Und jetzt gibt er sich die Schuld daran, dass dein Gedächtnis ausgelöscht wurde.«
»Das hat er dir erzählt?«, fragte ich verwundert und spürte, wie meine Gesichtszüge ernst wurden. Wieso redete er darüber mit Shiina und nicht mit mir? Schließlich hatte sie recht: Es ging hier um mich. Interessierte es ihn etwa nicht, was ich darüber dachte?
»Was hat er denn gesagt?«, fragte ich. Shiina holte tief Luft und fing an zu erzählen: von dunklen Gängen, Viis und mir und wie ich Tomaki wegschickte. Ich hörte gebannt zu, wusste aber nicht so recht, was ich davon halten sollte.
»Ich kann ihn ja auch verstehen. Er will dich eben beschützen«, beendete Shiina ihren Bericht.
»Trotzdem kann er mir so etwas nicht vorenthalten. Was denkt er überhaupt? Wir sind jetzt ein Team, wir halten zusammen. Egal was früher passiert ist, es musste so kommen, das hat Fundus doch gesagt«, meinte ich und sah Shiina an.
»Das weiß ich ja auch«, lächelte sie und zuckte mit den Schultern.
»Ich komme morgen auf jeden Fall mit. Mach dir wegen Tomaki keine Sorgen, Shiina.«
»Ich habe schon die ganze Zeit überlegt, ob ich es dir erzählen soll oder nicht. Schließlich hatte ich Tomaki versprochen, es dir nicht zu sagen. Aber ich konnte nicht mit mir vereinbaren, dir so etwas Wichtiges vorzuenthalten.«
»Shiina, du hast die richtige Entscheidung getroffen. Ich bin dir sehr dankbar, dass du es mir anvertraut hast«, sagte ich, lehnte mich zu ihr nach vorn und nahm sie in den Arm. Überrascht zuckte sie zusammen, doch dann entspannte sie sich schnell wieder und drückte mich ganz fest an sich.
»Pass morgen gut auf dich auf, Pez. Tomaki sagte, er weiß nicht, was ihn erwarten würde. Am besten du nimmst Fundus mit«, riet Shiina mir und löste sich.
»Ja, besser wäre es, wenn er auch mitkommt. Um ehrlich zu sein, fühle ich mich immer noch etwas schwach. Ich hoffe einfach, dass diese Wundersuppe von Tomaki bald anschlägt. Ansonsten lässt er mich erst recht nicht mitgehen.«
Shiina nickte.
»Ich fülle dir die restliche Suppe in eine Flasche, dann kannst du sie mitnehmen.«
Bei dem Gedanken daran, den Geschmack wieder erleben zu müssen, zog sich mein Magen zusammen.
»Nützt ja nichts«, lachte Shiina.
»Hat er gesagt, wann er morgen aufbrechen wird?«, flüsterte ich.
»Er meinte, er will vor Sonnenaufgang losgehen.«
»Gut. Am besten bereite ich heute Abend schon alles vor. Hilfst du mir?«, fragte ich.
»Natürlich. Soll ich Fundus noch einweihen?«, raunte sie mir zu.
»Schick ihn am besten gleich zu mir. Ich erkläre ihm alles«, meinte ich leise.
Shiina nickte und stand auf. Bevor sie mein Zimmer verließ, warf sie mir ein erleichtertes Lächeln zu.
Ich seufzte und beschloss, meinen Rucksack für morgen zu packen. Gerade, als ich aus dem Bett aufstehen wollte, ging die Tür erneut auf. Dieses Mal war es Fundus.
»Gut, dass du kommst. Ich kann deine Hilfe gut gebrauchen«, sagte ich.
»Wieso, wofür? Was hast du vor?!«, fragte Fundus und ich weihte ihn in meinen Plan ein.
Kapitel 7
Genüsslich drehte ich mich im Bett herum und zog die warme Decke bis an mein Kinn.
»Das ist jetzt nicht dein Ernst, Ruta!«, sagte eine Stimme neben mir. Schlagartig wurde ich wach und riss die Augen auf. Fundus starrte mich empört an.
»Was ist denn los?«, murmelte ich schlaftrunken.
»Na sag mal! Du liegst noch im Bett? Es wird langsam hell! Hast du etwa unseren Plan vergessen?«, tadelte Fundus mich.
Da fiel es mir plötzlich ein und ich wurde hellwach. Tomaki! Ich musste unbedingt vor ihm aufstehen!
»Shiina füllt schon die Suppe ab. Und du schläfst in aller Ruhe. Das glaube ich jetzt nicht…«
»Tschuldigung…«, murmelte ich und stand auf. Dabei hatte ich wohl etwas zu viel Schwung genommen, denn als ich meine Beine aufsetzte, fiel ich benommen zurück.
»Ruta!«, rief Fundus erschrocken.
»Schon gut«, flüsterte ich.
»Das darf Tomaki bloß nicht sehen… So lässt er uns auf keinen Fall mitgehen.«
Ich nickte. Niemand wusste das besser als ich. Ich nahm all meine Kraft zusammen und versuchte es erneut. Richtete mich in Zeitlupe auf und dieses Mal ging alles gut. Vorsichtig schlüpfte ich in meine Sachen und spannte mir den Rucksack um. Gerade kam Shiina durch die Tür in mein Zimmer gehuscht.
»Hier«, meinte sie und hielt mir eine schmale Flasche entgegen, die in ein paar Tücher gewickelt war.
»Ist das die Suppe?«, fragte ich.
»Ja richtig. Und übrigens habe ich in Tomakis Zimmer ein paar Schritte gehört, er ist bestimmt schon wach. Es wird nicht mehr lange dauern und er macht sich auf den Weg.«
Fundus warf mir einen panischen Blick zu.
»Lass uns sofort aufbrechen. Wir werden vor ihm aus dem Tempel gehen und unten an der Treppe auf ihn warten«, beschloss der Wolf. Schnell sammelte ich das restliche Gepäck zusammen und ging in Gedanken noch einmal alles durch.
»Mach’s gut Shiina. Hoffentlich finden wir Neko bald und vor allem unversehrt. Gib Acht auf Giove, solange wir nicht da sind«, wies Fundus Shiina an.
Sie nickte ernst.
»Das mache ich«, versicherte Shiina. Sie nahm mich ganz fest in den Arm und flüsterte: »Dass du mir gesund wiederkommst!«
»Ja«, hauchte ich und drückte sie noch enger an mich.
»Pass gut auf die beiden auf«, beauftragte Shiina Fundus, als sie sich von mir löste. Dieser grinste.
»Mach dir keine Sorgen. Auf mich ist Verlass. Bis dann, wir sehen uns bestimmt bald wieder!«, sagte er. Ich warf mir einen langen schwarzen Mantel über und zog die Kapuze hoch. Shiina brachte uns leise zur Tür. Sie winkte zum Abschied und kehrte in den Tempel zurück. Fundus und ich sahen uns an.
»Und los geht’s«, sagte Fundus. Ich nickte ihm entschlossen zu und gemeinsam schlichen wir die Stufen des Tempels hinunter. Was für ein Gesicht Tomaki wohl machen würde, wenn er uns hier unten sah? Na ja, ich konnte es mir schon fast denken…
»Wie geht es dir jetzt?«, fragte Fundus und betrachtete mich eindringlich.
»Ich fühle mich schon besser. Ich glaube, die Suppe wirkt.«
Das musste ich zugeben, obwohl sie scheußlich schmeckte.
»Na immerhin«, murmelte Fundus.
Tomaki ließ nicht lange auf sich warten. Als er Fundus und mich am Fuße der Treppe erkannte, traute er seinen Augen kaum.
»Das ist jetzt nicht wahr«, schnaufte er und rollte mit den Augen.
»Doch«, entgegnete ich mutig.
Tomaki griff sich an den Kopf.
»Hätte mir ja fast denken können, dass Shiina ihr Wort nicht hält.«
»Es ist nicht ihre Schuld«, verteidigte ich Shiina.
»Dabei hatte ich ihr ausdrücklich erklärt, warum ich nicht wollte, dass du mitkommst. Und nun stehst du vor mir. Ich fasse es nicht.«
»Warum wolltest du mir verheimlichen, dass du aufbrichst? Warst du nicht derjenige, der gesagt hat, dass wir keine Geheimnisse voreinander haben sollen?«
»Ja, schon. Aber verstehst du das denn nicht? Ich habe mir geschworen, dich zu beschützen, egal was kommt. Und diese Mission ist einfach zu unsicher. Erst recht, wenn es dir so schlecht geht. Am besten du drehst gleich wieder um«, sagte Tomaki und sah mich eindringlich an.
Ich starrte trotzig zurück.
»Gerade weil es gefährlich werden könnte, sollten wir mitkommen«, mischte sich Fundus ein, »du bist der weiße Krieger. Wenn dir etwas zustößt, war alles umsonst. Außerdem ist es sehr unverantwortlich, ohne Waffe und Unterstützung loszuziehen. Da bist du nicht besser als dieser vergebliche Kater.«