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Geraldine Reichard

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Beschreibung

In 30 Tagen wird der Wandererplanet Nibura auf die Umlaufbahn der Erde treffen und die Welt untergehen. Das Währungssystem wurde außer Kraft gesetzt und in ein Punktesystem umgewandelt. Die 17-Jährige Tamina hat nur 30 Punkte bekommen und davon nur noch 16 übrig und das reicht nicht für eins der Dinge, die sie noch tun will. Als ihr Freund Julian auch noch Schluss macht, beschließt sie sich bei einem Casting für ein unmoralisches Reiseangebot zu bewerben. Das Waisenmädchen Clementine hält sich mit Raubüberfällen über Wasser, aber dann begeht sie einen schweren Fehler. Als der 23-jährige Thomas von der Schwangerschaft seiner Freundin erfährt, fasst er den Plan sich mit ihr in einer lebensgefährlichen Aktion auf die rettende Raumstation zu schleichen…

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Inhaltsverzeichnis

Tamina – noch 30 Tage

Clementine – noch 30 Tage – 19:00

Thomas – noch 30 Tage – 14:00

Tamina – noch 30 Tage 20:00

Clementine – noch 28 Tage 2:00

Thomas – noch 27 Tage 18:00

Tamina – noch 26 Tage

Clementine – noch 18 Tage – 20:00

Thomas – noch 25 Tage – 8:45

Tamina – noch 23 Tage

Clementine – noch 18 Tage 2:00

Thomas – noch 23 Tage

Tamina – noch 22 Tage

Clementine – noch 18 Tage 5:00

Natalie – noch 24 Tage – 20:00

Tamina – noch 21 Tage – 7:30

Clementine – noch 18 Tage – 10:30

Thomas – noch 18 Tage

Tamina – noch 20 Tage – 16:45

Anne – noch 18 Tage - 14:00

Tamina – noch 20 Tage – 19:00

Clementine – noch 18 Tage 11:34

Tamina – noch 19 Tage

Natalie – noch 17 Tage

Tamina – noch 15 Tage

Anne – noch 17 Tage 13:00

Thomas – noch 15 Tage 2:00

Tamina – noch 16 Tage 9:25

Clementine – noch 16 Tage – 9:00

Natalie – noch 15 Tage - 17:00

Tamina – noch 15 Tage – 20:30

Anne – noch 16 Tage 21:15

Thomas – noch 15 Tage – 23:35

Tamina - noch 10 Tage - 20:00

Niklas – 16 Tage 22:45

Anne – noch 16 Tage 22:27

Thomas – noch 13 Tage 10:00

Natalie – noch 13 Tage 9:35

Tamina - noch 4 Tage - 0:30

Niklas – noch 16 Tage 0:30

Thomas noch 13 Tage 17:00

Natalie – noch 13 Tage 17:45

Tamina- noch 2 Tage 17:00

Clementine – noch 16 Tage 0:45

Tamina - noch 48 Stunden

Niklas – noch 16 Tage 1:15

Thomas – noch 9 Tage 10:00

Tamina - noch 25 Stunden

Clementine – noch 10 Tage

Thomas – noch 10 Tage 19:30

Natalie – noch 9 Tage 3:34

Tamina - Noch 10 Stunden

Clementine: 19:00 – noch 8,5 Stunden bis zum Einschlag

Thomas – 2:45

Thomas – noch 9 Tage 9:00

Natalie – noch 7 Tage 10:14

Tamina - Noch 8 Stunden bis zum Einschlag

Clementine – noch 5 Stunden

Thomas – noch 7 Tage 15:00

Natalie – noch 7 Tage 13:00

Tamina - noch 4 Stunden bis zum Einschlag

Clementine - 23:00 – noch 4,5 Stunden bis zum Einschlag

Thomas – noch 5 Tage 17:00

0:00 - Ein Uhr nachts - Anne

Thomas – noch 23 Stunden

Tamina – noch 3 Minuten

Clementine - 3:00 – noch 5 Minuten

Natalie – noch 30 Minuten

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Impressum

Geraldine Reichard

Countdown

In 30 tagen war´s das

ISBN: 978-3-96994-672-5

Tamina – noch 30 Tage

Ich heiße Tamina. In 30 Tagen wird die Welt untergehen. Dann wird der Planet Nibura mit der Erde kollidieren. Meine Mutter will, dass wir alle zusammen sind, wenn es passiert. Wir wollen auf der Terrasse sitzen und beobachten wie das grausame, tödliche Ding den gesamten Himmel verdeckt. Eine Welle der Zerstörung wird mit Überschallgeschwindigkeit auf uns zurasen und alles verglühen, was sich ihr in den Weg stellt. Ich werde nichts hören und eine Sekunde später verbrennen. Wahrscheinlich geht es schnell. Wahrscheinlich tut es nicht oder nur kurz weh, aber wen interessiert das schon. Wir werden alle sterben und können nichts dagegen tun.

Ob ich Angst habe? Na, ja. Vor eineinhalb Jahren, als das Thema in den Nachrichten kam und die Bundeskanzlerin ihre Rede gehalten hat, hatte ich Angst. Ich habe aber nicht die Bundeskanzlerin im Fernsehen gesehen, sondern es von Mama erfahren. Ich war damals fünfzehn und habe gerade am Nintendo Zelda gespielt, als Mama von unten gerufen hat: „Kommst du mal bitte.“

Ich habe es erst gefragt: „Muss das sein“, aber dann hat Mama gesagt: „Ja, es ist wichtig.“ Wir mussten uns alle auf das Sofa setzen. Markus und ich, aber mein fünfjähriger Bruder Timo war gerade bei den Nachbarn spielen und die Mütter hatten wohl vereinbart, dass sie es den Kleinen lieber nicht sagen. Dann holte Mama Luft und erklärte uns, dass wir in eineinhalb Jahren alle sterben werden. Die NASA sei sich absolut sicher. Nibura sei zehnmal so groß wie die Erde, gehört zu unserem Sonnensystem, aber lange wussten wir von dem zehnten Planeten nichts, weil seine Umlaufbahn so groß ist, dass er nur etwas alle viertausend Jahre bei uns vorbeikommt. In 6 Wochen trifft sich die Erdumlaufbahn mit der von Nibura und das war es dann. Zuerst war es ein Schock für uns. Alle gerieten in Panik, bauten sich Bunker, die natürlich nichts bringen würden oder gingen jeden Tag in die Kirche. Viele begingen direkt Selbstmord, aber alle anderen fanden schnell zur Routine zurück. Man gewöhnt sich an solche Zustände. Es ist nicht so, dass die Angst ganz weg ist, aber man denkt nur noch hin und wieder daran – aber dann ist es wirklich schlimm. Ich habe oft geweint oder konnte nicht einschlafen. Meine Schule wurde einen Monat später geschlossen, denn was würde es bringen jemanden auszubilden, der sowieso nicht mehr bis zum Berufsantritt lebt. Viele wollten noch arbeiten, weil sie sich sonst nutzlos fühlten. Andere wollten so viel wie möglich reisen, auch ich, aber das ging nicht – bei den Flugpreisen. Es gab eine Inflation und einen Börsencrash, weil Menschen ihre Jobs kündigten, und viele Jobs sowieso immer überflüssiger wurden – wer plant noch neue Häuser, wer unterrichtet noch Kinder, wer forscht noch, wenn es keine Zukunft gibt. Ein halbes Jahr vor dem Crash führten sie Punkte als Zahlungsmittel ein. Je näher wir dem letzten Tag kommen, desto mehr Punkte bekommt man, wenn man einen Tag arbeitet – wer arbeitslos geworden ist, kann zum Beispiel in Freizeiteinrichtung aushelfen oder im Supermarkt. Nur mit Punkten kommt man an Lebensmittel, auf öffentliche Partys oder ins Schwimmbad. Ich als Schülerin habe nur schlappe dreißig Punkte Startkapital bekommen und nur noch sechszehn davon übrig, aber das ist nicht mal genug um eins der Dinge abzuhaken, die ich in meinem Leben noch machen will.

„Tamina, kommst du bitte mal?“, sagt meine Mutter. Sie will, dass ich in den Garten komme, wo die ganze Familie zusammensitzt. Meine Cousine, Tante, Onkel, mein kleiner Bruder, der das alles noch nicht versteht und mein großer Bruder, der die ganze Zeit säuft und rumposaunt, dass doch jetzt eh alles egal ist.

„Muss das sein?“, frage ich. Es ist eine Sache, in dreißig Tagen sterben zu müssen, aber eine ganz andere die restliche Zeit mit der Familie verbringen zu müssen. Ich gehe trotzdem. Wenn ich nicht komme, weint sie wieder.

Im Garten läuft schon der Grill. Ein Beamer projiziert Fotos aus dem Leben der Familienmitglieder an die Wand – vor allem aus Mamas Leben. Das ist das einzige, worauf sie sich noch berufen kann – ihre glorreiche Vergangenheit. Wenn ich die Fotos sehe, werde ich fast neidisch auf ihr Alter. Es ist ja noch zu verkraften mit zweiundfünfzig zu sterben, aber ich hatte nur siebzehn Jahre und fünf Monate. Ich schaue genervt in die Runde und lasse mich in die Hängematte neben dem Lagerfeuer fallen. Meinen Lieblingsplatz. Von hier aus kann man den zusätzlichen Stern besonders gut sehen – wobei es ist ja gar kein Stern. Er ist schon mindestens dreimal so groß wie jeder Stern in der Umgebung.

„Schön, dass wir dich auch mal zu sehen bekommen“, sagt meine Mutter. „Was machst du den ganzen Tag in deinem Zimmer.“

„Masturbieren“, sage ich genervt. Dabei stimmt das nicht mal. Ich war im Internet auf der Tauschbörsenseite, aber Mama glaubt das wäre eins von dieser unseriösen Internetportalen, wo sie kleine Mädchen wie mich zur Prostitution zwingen würden.

„Tammi Schätzchen. Ich finde ich es nicht gut wie du dich abschirmst. Ich weiß, wie schlimm das für dich sein muss, aber es bringt doch nichts, sich zu verkriechen.“

„Ich verkrieche mich nicht“, sage ich, „ich habe nur keine Lust auf die ganzen Familienspiele und wofür können wir alles dankbar sein und zehn Mal am Tag Essen, bis man Bauchschmerzen hat.“

„Aber worauf hast du dann Lust?“

„Weiß nicht“, sage ich, „aber nicht darauf. Ich glaube ich will einfach, dass sich noch etwas ändert. Weil wir sitzen den ganzen Tag nur im Garten und schauen Filme zum dritten Mal und reden, aber ich kenn einfach alles schon, und am letzten Tag tun wir das wahrscheinlich immer noch.“

„Genau“, sagt Markus, „Alles total sinnlos. Eigentlich auch sinnlos, dass ihr hier sitzt und euch streitet. Habt ihr euch das schon mal gefragt? Ihr müsst nur glücklich sein. Am besten betrinken wir uns alle.“

„Aber Tammi. Was soll sich denn noch groß ändern?“

„Weiß nicht. Vielleicht will ich noch mal ein anderes Land sehen.“

„Aber wie stellst du dir das denn vor? Alle Flüge sind ausgebucht. Menschen halten sich gegenseitig Waffen an den Kopf, um noch einen Platz zu kriegen. Willst du über den Ozean schwimmen?“

„Ja ich weiß. Es ist total unmöglich. Noch unwahrscheinlicher als im Lotto zu gewinnen“, sage ich und stöhne. „Aber das ist so ungerecht. Ich habe noch nichts gesehen.“

„Ach das stimmt aber nicht. Was ist mit Venedig oder Portugal?“

„Aber das war nur Europa“, sage ich. „Hättest du mal früher tolleren Urlaub mit mir gemacht, aber jetzt ist ja alles zu spät, aber dich braucht das ja nicht zu stören, weil du ja schon alles erlebt hast – und diese Veranstaltung ist doch eh nur dazu da, dass wir dein tolles, erfülltes Leben anhimmeln.“

„Jetzt ist aber Schluss, Tamina“, sagt Mama, „am Ende geht es nicht mehr um so etwas Banales, sondern nur darum bei Menschen zu sein, die dich lieben.“

Jetzt weint sie fast. Ich hasse es so, wenn Mama anfängt zu weinen.

„Ja genau. Deshalb gehe ich jetzt auch zu Julian – meinen Freund.“

„Der Junge, der sich dauernd nicht sicher ist.“

„Mama. Wir sind seit einem Monat zusammen.“

„Ja sicher“, murmelt Markus, „da hatte er wohl Angst, dass er auf die Schnelle niemand anderen mehr findet.“

„Ach vergesst es“, sage ich, springe auf und schnappe mir ein Bier aus dem Kasten, „ihr wollt ja sowieso nicht, dass ich glücklich bin.“

„Tamina“, sagt Mama und packt mich am Arm. „Bitte bleib.“

„Vergiss es! Ich verkohle sicher nicht in deinen Armen und ich verkohle sicher nicht als Jungfrau.“

Jetzt verfestigt sie den Griff um mein Handgelenk: „Aber denk an Timo. Denk wenigstens an Timo. Er fragt den ganzen Tag nach dir und warum du uns alle so traurig machst.“

Ich beiße meine Zähne zusammen und reiße mich los. Dann renne ich. Ich darf jetzt nicht heulen. Einfach nicht heulen.

Ich renne in mein Zimmer und packe eine Tasche für die Nacht. Wechselsachen, Schminke, Kondome – für den Fall, dass wir es heute endlich tun. Dann binde ich meine Haare zu einem Zopf, überdecke die neuen Pickel mit Abdeckstift und ziehe mir das rote, enge Top an. Vor dem Haus, schließe ich mein rostiges Fahrrad auf. Bis zu Julian sind es nur sechs Kilometer, aber Nahverkehr gibt es schon seit Wochen nicht mehr. Die Luft ist sommerlich warm und riecht nach Lagerfeuer. Ich stecke mir Kopfhörer in die Ohren und höre Linkin Park – in the end. Nicht weil der Titel des Liedes so gut passt, sondern weil das Lied ehrlich ist und weiß, wie ich mich fühle. Dass am Ende nichts mehr einen Sinn hat. Wir müssen uns nichts vormachen. Wir sind keine Helden, die dem Tod ins Auge sehen. Wir sind auch keine bemitleidenswerten Opfer. Unsere Existenz hat keine Bedeutung. Das Universum verändert sich. Sonnen explodieren. Sterne werden zu weißen Riesen oder zu schwarzen Löchern. Planeten kollidieren, aber uns fragt niemand. Uns gibt es und dann gibt es uns nicht mehr. Wir sind bei Bewusstsein und dann sind wir es nicht mehr. Wir haben Angst und dann haben auf einmal haben wir sie auf einmal nicht mehr.

Ob ich Angst habe? Klar, aber so fühlt sich das nicht an. Wenn die Angst hochkommt, ist tatsächlich schlimm. Dann weine ich auch mal, aber die restliche Zeit fühlt man sich nur gehetzt. Wie von einem Axtmörder verfolgt. Es fühlt sich an wie etwas vergessen zu haben, aber es fällt dir nicht ein. Man versucht etwas zu fokussieren, aber es bleibt unscharf. Dauernd suche ich nach einem Ziel, nach etwas, was das Leben noch sinnvoll macht, aber da ist nur weißes Nichts. Nichts Großes, was es sich lohnt in Angriff zu nehmen. Warum etwas malen oder schreiben, wenn in einem Monat alles verkohlen wird? Warum lernen, wenn ich es nie auf die Universität schaffen werde? Mama versucht das Leben zu verlängern, indem sie jeden Tag akribisch durchplant – Golfen, pompöses Mittagessen, DVD-Abend, ein Nachtspaziergang. Auf diese Weise braucht man nur bis zum nächsten Tagesprogrammpunkt zu blicken, aber ich kann mich auf diese Weise nicht betrügen.

Ich fahre über die Kennedy-Brücke. Auf dem Gerüst klettert eine Gestalt. Es ist kein seltener Anblick. Ich habe in den letzten Wochen schon viele Unbekannte auf diese oder grausamere Weise sterben sehen. Einmal ging ich in der Dämmerung über einen Bahnübergang und sah zehn Meter weiter auf den Schienen einen abgerissenen Arm liegen. Die Person klammert sich an die Brüstung. Als ich vorbeifahre, dreht sie ihren Kopf langsam in meine Richtung. Ich werde langsamer. Plötzlich rast eine schwarze Gestalt auf mich zu. Ich ziehe die Bremse, aber es ist schon zu spät. Jemand packt mich an der Schulter, krallt seine Hände in meinen Mantel und zieht mich vom Sattel. Ich verliere das Gleichgewicht. Das Fahrradgestell knallt gegen meinen Oberschenkel. Der Angreifer trägt eine Ski-Maske und sieht mich nicht an, als er mich aus dem Mantel schält. Ich schreie, obwohl ich weiß, dass es aussichtslos ist. Es ist schon fast dunkel. Kaum Autos fahren vorbei, weil sich Benzin nur mit einer seiner letzten Tage Lebenszeit bezahlen lässt und das nehmen die wenigsten in Kauf. Meine Schultern werden gegen kalten Asphalt gedrückt. Ich bin mir sicher, dass er mich vergewaltigen oder umbringen wird. Um Verbrechensaufklärung kümmert sich niemand mehr – was würde es bringen? Wann sollten die Gefängnisstrafen abgesessen werden? Dazu kommt, dass viele Menschen ihre Wut und Verzweiflung auf andere projizieren und Amok laufen. Aber mein Angreifer hält mir weder eine Waffe an den Kopf, noch zieht er mich weiter aus. Stattdessen macht er sich an meinem Handgelenk zu schaffen. Dort trage ich das elektronische Plastikarmband, das meine restlichen siebzehn Punkte speichert. Der Angreifer will meine Punkte. Auch wenn ich nicht weiß, wie er das anstellen will. Punkte sind nicht von Armband zu Armband übertragbar, die Armbänder lassen sich nicht öffnen und sobald man sie durchtrennt, werden sie unwirksam.

„Man kann es nicht abmachen“, sage ich mit fester Stimme, sauge kalte Luft in meine Lunge und versuche mein Zittern unter Kontrolle zu halten. Aber der Angreifer drückt mir nur einen Handschuh auf den Mund. Dann dreht er sich plötzlich Richtung Brücke.

„Wie soll ich das machen?“

„Wie, wie soll man das machen. Einfach machen. Wie bei einem Baumstamm.“ Es ist eine weibliche, energische Stimme.

Ich weiß nicht, was sie das meint, bis er einen gebogenen metallischen Gegenstand aus einer Ledertasche hervorholt. Eine Säge. Er will meine Hand einfach absägen. So würde es funktionieren. Ich schreie und winde mich unter dem Griff als ich begreife, was das für mich bedeutet. Die Schmerzen werden unerträglich sein und danach werden sie mich hier verbluten lassen oder von der Brücke werfen.

Mein Angreifer setzt sich auf meinen Bauch, sodass mir das Gewicht die Luft aus der Lunge drückt. Dann drückt er seine Handflächen mit aller Kraft gegen meinen Ellbogen, sodass ich den Arm kaum noch bewegen kann. Ich versuche meinen Bauch zu bewegen, habe aber keine Chance. Er ist mindestens zwanzig Kilo schwerer als ich und hat im Notfall noch Komplizen.

„Es tut mir leid“, sagt er mit gedrückter Stimme. Ich brülle, aber statt einem Schrei kommt nur ein dumpfes Quieken hervor. Er setzt die Säge an meinem Handgelenk an. Ich kneife die Augen zu und stelle mich auf die schlimmsten Schmerzen meines Lebens ein, aber alles was ich spüre ist die sanfte, metallische Berührung der scharfen Zacken.

„Verdammt. Ich kann das nicht“, sagt mein Angreifer, „sie schreit die ganze Zeit.“

„Denk an die Punkte. Wenn du es nicht tust, wirst du nie wieder in deinem Leben was anderes sehen.“ Erst jetzt merke ich, dass seine Komplizin ein Mädchen ist. Sie ist diejenige, die an der Brücke stand, um mich abzulenken und jetzt kommt sie mit großen Schritten auf mich zu. Sie hat ein hübsches Gesicht, braune lange Haare und sieht mich missbilligend an.

„Nein“, sagt er, „das ist nicht gerecht.“

„Dass wir alle sterben müssen ist nicht gerecht. Das Universum ist nicht gerecht. Für uns interessiert sich niemand, also müssen wir uns für uns selbst interessieren.“

„Clementine. Du kannst von mir nicht verlangen, einen Menschen zu töten.“

„Alex. Sie wird nicht sterben. Ich rufe einen Krankenwagen, wenn du willst.“

„Das würde Stunden dauern. Sie wäre längst verblutet.“

„Und wenn schon. Wen interessiert, ob sie heute oder in einem Monat stirbt.“

Mit diesen Worten entreißt sie Alex die Säge und schneidet mir in den Handrücken. Es brennt als hätte ich mir in den Finger geschnitten. Dann wird es warm. Ich presse die Zähne zusammen. Tränen laufen mir die Wangen runter. Dann reißt der Schmerz plötzlich ab.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst oder?“, fragt Alex, löst die Hand von meinem Ellbogen und krallt sich stattdessen Clementines Hand. „Du bist ja total krank im Kopf.“

Plötzlich weicht das kiloschwere Gewicht von meinem Körper. Ich bin frei, aber ich begreife es noch nicht. Mein zitternder Körper liegt auf dem eiskalten Asphalt und fühlt sich an wie vereist.

„Na los, lauf, du dumme Kuh“, schneidet mir eine Stimme ins Ohr.

„Bist du komplett bescheuert“, höre ich Clementine brüllen, „wir haben das jetzt angefangen, also bringen wir es auch zu Ende.“

„Nein.“

„Und was ist mit Paris?“

„Du willst gar nicht mich, habe ich Recht. Du willst nur, dass ich für dich kleinen Mädchen die Hände abschneide, damit du den Scheiß-Eiffelturm sehen kannst.“

„Weil das nur fair ist. Mein ganzes Leben lang. Tu lieber etwas für das Studium. Investiere in deine Zukunft und jetzt will ich einfach nur eine einzige Scheiß-Sache“, brüllt das Mädchen, „und jetzt bekommen diejenigen die Flüge, die der Zufall auswählt und klar nimmt da einfach jeder Teil – und dann gewinnt irgend so ein Penner. Was ist daran bitteschön gerecht?“

„Was ist daran fair, wenn ein unschuldiges Mädchen auf einer Brücke verblutet? Sag es mir, Clementine?“

Ich drehe meinen Körper und sammele mein Fahrrad vom Boden auf. Mein Körper ist ein einziges Zittern und in meinem Bauch pocht der Schock wie ein zusätzlicher Puls nach. Ich schaffe es kaum, das Metallgestell anzuheben, aber irgendwann gelingt es mir doch. Meine Angreifer werfen sich immer heftigere Beschuldigungen an den Kopf. Ich schließe nicht aus, dass sie sich noch gegenseitig umbringen werden. So sieht man das öfters – jeder hat Pläne, die er vor seinem Tod noch unbedingt umsetzen will, aber die wenigsten bekommen die Chance dazu. Plötzlich hasst jeder sein Leben oder stellt fest, dass es ihm nicht reicht, dabei ist es in Wirklichkeit die Hoffnungslosigkeit, mit der wir nicht klarkommen. Jedenfalls glaube ich das. Während der restlichen Fahrt legt sich mein Zittern kaum. Ich habe nicht gewusst, dass so etwas passieren kann, dabei hätte ich damit rechnen müssen. Die Bereitschaft zur Kriminalität ist hoch und die Polizei unterbesetzt. Nirgendwo ist man sicher, aber sich für den Rest seines Lebens zu Hause einzukerkern ist auch keine Lösung.

Als ich bei Julian ankomme, sitzt mir der Schock immer noch in den Knochen. Alles, was ich noch will, ist mich mit ihm ins Bett kuscheln. Mich in seinen Armen sicher fühlen. Julians Eltern sind beide Juristen und besitzen ein riesiges Grundstück. Der Garten besteht aus einer schrägen Rasenfläche und grenzt an den Wald an, sodass man wenn man den Hügel fast bis oben hinaufgeht, die ganze Stadt überblicken kann. Ich klettere über den Zaun und klopfe dreimal gegen eine Glastür, die vom Garten hinter dem Haus direkt in Julians Zimmer führt.

Clementine – noch 30 Tage – 19:00

Ich sitze auf dem Asphalt und bin voller Wut und Angst.

„Glaubst du das wirklich?“, fragt Alex.

Ich nicke. „Ja verdammt. Ich finde jeder sollte für das belohnt werden, was er noch erreicht hätte, wenn der Crash nicht wäre oder findest du es fair, dass jemand bestraft wird, nur weil er seine Träume für andere zurückgestellt hat.“

„Nein, natürlich nicht, aber dieses Mädchen“, sagt Alex, „woher konntest du wissen, dass sie nicht auch entschädigt werden muss?“

„Du hast Recht. Konnte ich nicht. Vielleicht hatten wir die Falsche. Wenn du willst, beschränken wir uns ab jetzt auf Steinreiche, die sicher schon zehn Mal um die Welt geflogen sind oder alte Menschen, die mehr als genug Zeit hatten.“

„Vergiss es. Clementine. Man kann Menschenleben nicht gegeneinander aufwiegen.“

„Warum nicht?“

„Erstens: Woher kann man wissen, dass einer etwas mehr verdient hat als irgendjemand anders? Dafür müsstest du ja alle Lebensumstände von allen Menschen vergleichen und gegeneinander aufwiegen und zweitens: Woher nimmst du dir das Recht, darüber zu bestimmen, wer was mehr verdient hat?“

„Weiß ich nicht“, schreie ich, „vielleicht habe ich das Recht nicht. Aber wenn die Welt sowieso nicht gerecht ist und das Schicksal schon gar nicht. Warum erwarten dann von mir alle, dass ich gut und demütig und moralisch bin?“

„Also von dir erwarte ich sowieso nichts mehr“, sagt Alex kalt, „und es bringt nichts, vernünftig mit dir zu reden. Überhaupt? Wie hast du dir das eigentlich vorgestellt. Ich mache die Drecksarbeit für dich und...“

„Nein“, sage ich panisch und versuche möglichst wütend zu klingen. „Jetzt verdreh nicht alles. Wir haben den Plan zusammen gemacht und du wusstest doch genau, was zu tun war. Und du so: Nein, schon ok. Ich mach das. Natürlich habe ich kein Problem damit.“

„Das war bevor sie geschrien hat und geweint und gezittert.“

„Tja, Menschen schreien und zittern eben, wenn man ihnen die Hand absäbeln will.“

„Ach ja? Hättest du das etwa tun können? Wohl kaum.“

„Ha“, sage ich, „ich wollte.“

„Du hättest es aber nie durchgezogen.“

„Träum weiter. Ich bin kein Feigling und keine Versagerin und jetzt hör gefälligst auf dich mit Moral rauszureden. In Wirklichkeit hattest du einfach nur Angst.“

„Wenigstens bin ich keine selbstsüchtige, durchgeknallte Psychopathin ohne Gewissen. Also ehrlich. Wenn noch Zeit dafür wäre, würden die dich doch direkt einliefern. Zu Recht.“

Das hat gesessen. Meine Zeit verengt sich. Ich bin rasend vor Wut. Alex ist derjenige, der mich lieben sollte und der Einzige, der noch da ist, um mich zu lieben, aber jetzt verletzt und verhöhnt er mich nur. Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass ich meinen Traum wegen ihm begraben kann. Dass ich jetzt als arme Schluckerin, als eine Weltuntergangs-Weise von vielen im Obdachlosenheim eingeschlossen sterben werde, anstatt mit Alex auf den Eifelturm zu klettern. Wir wollten das perfekte, romantische Ende wie im Hollywood-Film, wo man noch weint, wenn man das Kino verlässt. Das war meine Hoffnung – dieser eine einzige perfekte Moment, der tragische Abschluss, der so gut ist, dass er für ein ganzes Menschenleben entschädigt.

„Denkst du das wirklich? Dass ich eine Psychopathin bin?“, frage ich und beiße die Zähne zusammen. Alex sieht mich lange Zeit einfach an und ich glaube schon, dass er seine Worte zurücknehmen wird, aber dann lächelt er, aber es ist kein wohlwollendes Lächeln. Er lächelt höhnisch und herablassend. Dann sagt er: „Natürlich denke ich das. Ich hab es schon immer gewusst, dass du sie nicht mehr alle hast. Am Anfang fand ich das vielleicht interessant, aber jetzt ... na, ja jetzt wird mir das langsam zu krank.“

„Heißt das, du liebst mich nicht mehr?“

Jetzt lacht er wieder. „Ja, vielleicht. Tut mir leid deswegen. Ich wollte es dir nicht sagen.“

Ich starre ihn entgeistert an. „Also ja, ich habe eine Neue. Ich treffe sie gleich. Sie ist übrigens Französin. Passend nicht? Jetzt willst du mich sicher umbringen, was? Na, los, komm, töte mich.“

Ich starre ihn an und kann nicht ertragen wie er lächelt. Ich will dieses Lächeln aus seinem Gesicht schneiden, aber Alex lächelt nicht mehr nur. Er lacht. Er lacht mich aus. Clementine, die Psychopathin, das Mädchen, das sich nur immer von anderen bequatschen und verändern lassen hat, nicht mal ordentlich sterben konnte und jetzt findet selbst der einzige Mensch, den ich vertraut habe, dass ich Abschaum bin. Krank. Lächerlich.

„Tja. Kannst du nicht. Da haben wir es doch. Also dann.“

Meine Hände greifen nach der Knochensäge, die verloren auf dem Asphalt liegt. Ich will ihm einfach nur wehtun. Also stürze ich auf ihn zu. Alex packt meine eine Hand, aber mit der anderen schaffe ich es an seinen Hals. Ich drücke mit aller Kraft. Ich will einfach, dass er kaputt geht. Plötzlich spritzt Blut aus seinem Hals. So viel, dass ich aufschreie. Alex schreit auch, aber der Schrei erstickt in einem Gurgeln und klingt auf einmal gar nicht mehr wie ein Schrei. Mein Pullover verfärbt sich. Ich weiche zurück. Jetzt sieht er so aus, als wollte er etwas sagen, aber er kann nicht mehr. Die Luftzufuhr ist durchtrennt. Zehn Sekunden später ist er tot. Ich stehe da und kann nicht fassen, was ich getan habe. Bin ich jetzt das, was die gesamte Menschheit verachtet? Komme ich jetzt in die Hölle? Ist das wirklich die Realität? Dabei war ich doch nur wütend und fühle mich nicht wie eine kaltblütige Mörderin. Nicht wie jemand, der Genuss am Töten findet, sondern wie jemand, der für eine blöde Sekunde die Kontrolle verloren hat. Nein. Ich bin keine Mörderin. Alex wollte es ja so. Er hat mich provoziert. Er hätte damit rechnen müssen und ich habe das alles gar nicht gewollt. Vielleicht sollte es so kommen. Alex hat mich hintergangen – früher oder später wäre das ans Licht gekommen, also besser jetzt, wo ich noch gegenlenken konnte, als in den letzten Tagen. Auf seinem Band hat er 174 Punkte. Zusammen mit meinen 96 wäre immerhin die Hälfte zusammen. Ich betrachte seine Leiche und muss mir auf die Zunge beißen, um nicht zu würgen. Am liebsten würde ich ihn einfach in den Fluss werfen, abhauen, einen Party-Song von Nicki Minaj oder David Guetta hören, mich wie ein normales Mädchen fühlen und das hohle Zittern loswerden. Aber jetzt habe ich damit angefangen. Jetzt ist er sowieso schon tot, also nehme ich die Säge, halte seine Hand wie ich es schon so oft getan habe, nur dass sie sich jetzt kalt und schlaff anfühlt. Ich stütze ein Knie auf seinen blutverschmierten Arm, setze die Säge an und schaue auf den stillen Rhein, auf dem schon seit Wochen kein Schiff mehr fährt. Es ist bloß eine Kraftübung. Wie bei den Geräten im Fitnesscenter, wo man durch eine Ruderbewegung Gewichte anhebt, um den Trizeps zu trainieren.

Thomas – noch 30 Tage – 14:00

„Ihr seid hier aus einem bestimmten Grund“, sagt der Leiter, „Ihr seid die Geschwister derjenigen, die von uns ausgewählt wurden, eine neue menschliche Zivilisation zu gründen, aber was rede ich denn da? Natürlich ist euch das bekannt. Ihr werdet praktisch täglich damit konfrontiert, dass eure Geschwister die Hoffnungen der Menschheit sind. Dass sie nicht wie alle anderen verglühen werden und da fragt ihr euch bestimmt: Wenn eure Geschwister die Anlagen dazu hatten, eine besondere Rolle für die Menschheit einzunehmen, warum hattet ihr sie dann nicht? Was hat gefehlt? Bevor ihr euch also gleich der Gruppe mitteilen könnt, möchte ich etwas klarstellen, was euch wahrscheinlich nicht bewusst ist, wo ihr den ganzen Tag Plakate eurer Geschwister bewundern müsst und sich viele Freunde, entfernte Bekannten und sogar völlig fremde lediglich für eure Geschwister zu interessieren scheinen. Ich möchte euch darauf aufmerksam machen, dass ihr keinesfalls weniger besonders oder liebenswert seid, nur weil ihr nicht für das Programm ausgewählt wurdet. Jeder von euch ist einzigartig und hat Qualitäten, die kein zukünftiger Mensch je wird ersetzen können. Unsere Aufgabe bestand nicht darin die Menschen nach ihrer Besonderheit auszusuchen oder zu entscheiden, wer es wert ist, weiterzuleben, sondern diejenigen zu wählen, von denen wir glauben, dass sie am besten für die Mission geeignet sind. Dass sie beispielsweise körperlich robust sind oder gut im Team zusammenwirken. Dass sie aufnahmefähig für viel Lernstoff in kurzer Zeit sind. Sprachbegabung, denn auf der Station treffen Menschen verschiedenster Nationen aufeinander. Und nicht zuletzt sollte jeder Kandidat seine Nation am besten repräsentieren. Also wurden die Kandidaten ausgewählt, für die die meisten Menschen ihrer Nation gestimmt haben. Jeder wählt seine Vertreter. Wie in der Politik. Dass ihr also nicht ausgewählt wurdet, muss nicht bedeuten, dass ihr keine hochintelligenten Menschen seid, sondern lediglich, dass wir glauben, dass andere der primären Aufgabe, noch besser gewachsen sind als ihr es seid. Insofern solltet ihr eure Schicksale in einem größeren Kontext betrachten. Ihr seid diejenigen, dessen Aufgabe in dieser schweren Zeit darin besteht, euren Angehörigen Kraft und Mut zu spenden, ihre Aufgabe zu erfüllen, von dessen Erfolg die Zukunft unserer Rasse abhängt. Bedenkt, dass eure Geschwister es nicht einfach haben. Ein gigantischer Erwartungsdruck lastet auf ihnen. Auch sie gehen ins Ungewisse und haben wie alle anderen Menschen auch Angst vor der Zukunft. Wahrscheinlich seid ihr die einzigen Menschen, die dazu in der Lage sind, eure auserwählten Angehörigen zu beruhigen und ihnen ein Teil der Last zu nehmen, die sie zu tragen haben. Aber was rede ich denn schon wieder von euren Geschwistern. Heute ist euer Tag. Heute geht es zur Abwechslung mal nur um euch. Also nutzt eure Chance. Wer möchte sich der Gruppe mitteilen?“

Meine schlimmsten Erwartungen bestätigen sich. Jetzt bin ich nicht einmal mehr ein Mensch, sondern nur ein Faktor, der positiv einwirken soll. Ich sitze in der dritten Reihe. Der Raum erinnert an einen Hörsaal wie ich sie aus der Uni kenne.

Als erstes wird ein Mädchen Namens Rebecca an das Rednerpult gerufen. Sie ist schlank und ihre Haare sind zu einem strengen Pferdeschwanz zusammengefasst. Ihre Gesichtszüge sind kalt und geschäftlich, jedenfalls erweckt sie nicht den Eindruck, dass sie die Veranstaltung mitnimmt.

„Mein Name ist Rebecca“, beginnt Rebecca, dabei steht ihr Name überdeutlich auf ihrem Namensschild, das sie sich an die Brust geheftet hat. „Ich habe einen Bruder, Peter, auf der Station und ich wollte nur sagen, dass ich keinen Grund sehe, ihn zu beneiden. Gut. Vielleicht wird er länger leben als ich, aber die Bedingungen auf der Station sind hart. Peter ist einem harten Training ausgesetzt und bekommt kaum Schlaf. Ich frage mich oft, ob ich damit leben könnte nur eine kleine Schlafkabine für mich zu haben und zeitweise in einer gigantischen Röhre zu leben, in der man nicht einmal zwischen oben und unten entscheiden kann. Hier auf der Erde sind wir in unserem Schicksal alle vereint und darüber hinaus verstehe ich nicht, warum gerade wir eine Sonderbehandlung gegenüber allen Menschen verdienen, die genauso sterben werden wie wir, bloß weil wir das Glück haben, dass jemand aus unserer direkten Verwandtschaft auserwählt ist. Bei genauer Betrachtung ist es unsinnig und macht bloß unglücklich. Es wird immer jemanden geben, der in einem Gebiet besser ist als wir und deswegen sehe ich keinen Grund darin, warum wir uns selber nur dadurch entwertet sehen sollen, dass unsere Geschwister die besonderen Anlagen und das besondere Talent hatten. Wir sollten stolz auf sie sein. Danke.“

„Vielen Dank Rebecca für diese sehr klugen und ermutigenden Worte.“

„Ich wollte etwas zu Rebecca sagen“, sage ich.

„Sehr gerne.“

„Also ich finde, du widersprichst dir, Rebecca“, sage ich. „Einerseits sagst du, dass wir Einzelpersonen sind und uns nicht im Vergleich zu anderen sehen sollten und andererseits sagst du, andere hätten mehr Talent und bessere Anlagen. Aber genau das ist doch ein Vergleich. Außerdem schiebst du die Schuld von dir, indem du sagst, es würde nur auf feststehende Größen wie Talent oder Anlagen angekommen. Gleichzeitig sind das aber Kriterien, an denen wir nichts verändern können. Wenn man diese als Maßstab zugrunde legt, sind wir tatsächlich unserem Schicksal ausgeliefert und waren es wahrscheinlich immer. Ich weiß, dass es angesichts unserer Lage nicht viel gibt, auf das wir hoffen können, aber ich bin der festen Überzeugung, dass man sein Schicksal verändern kann, wenn man alles daran setzt. Auch jetzt. Alles was ihr aber tut, ist euch gegenseitig darin zu bestätigen, Aufgeben sei die einzige Möglichkeit, weil ihr euch nicht traut, zu kämpfen. Und selbst wenn wir alle scheitern würden und wenn sich alle Hoffnungen auf Rettung am Ende als unberechtigt herausstellen, haben wir immer noch durch das Gefühl der Hoffnung und der Selbstbestimmung gewonnen. Dann waren wir möglicherweise nie Opfer dieses Dings.“ Ich deute auf die schwache, Silhouette am Himmel. „Meiner Meinung nach sind wir nur das, wozu wir uns selber machen. Ich frage Sie.“ Ich wende mich an den Sprecher. „Sie haben diese Rede als ermutigend bezeichnet. Ich frage Sie aber, zu was diese Rede ihrer Meinung nach ermutigen soll. Dazu, die Hoffnung aufzugeben? Zum Sterben?“

Ich habe geendet, aber anstatt Fassungslosigkeit in den Gesichtern meiner Zuschauer, erkenne ich nur Müdigkeit und Gleichgültigkeit.

„Also wirklich“, sagt der Sprecher, „bei allem Optimismus, aber bist du etwa der Meinung, die Apokalypse als einziger überleben zu können?“

„Wenn sie so wollen. Ja“, sage ich.

„Und wie willst du das anstellen?“, fragt Rebecca.

„Ich weiß es nicht“, sage ich. Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich werde einen Weg finden. Ganz sicher.

Tamina – noch 30 Tage 20:00

Ich sehe Julian schon am Bildschirm sitzen, als ich komme – bitte, lass das nicht schon wieder eine seiner Verschwörungstheorien sein, mit denen er sich nächtelang beschäftigt. Er will es einfach nicht wahrhaben.

Ich klopfe an die Seitentür. Es dauert ewig, bis er aufmacht. Als er da ist, falle ich ihm in den Arm wie ein kraftloses Bündel.

„Schatz. Was ist passiert?“

„Ich wurde überfallen“, sage ich und drücke mein Tränen verschmiertes Gesicht in seine Brust, „sie wollten...sie wollten...“

„Ist ja gut“, sagt er und streicht mir über die Stirn. „Jetzt ist es ja vorbei.“ Ja, aber es war schlimm und das ist nichts, das einfach vorbei sein kann.

Immerhin schleppt er mich in das Badezimmer und verbindet meine Wunde. Der Schnitt geht tief ins Fleisch, hat die Pulsader aber nicht getroffen.

„Sie wollten an meine Punkte“, sage ich.

„Schon krank, wozu ein paar Satellitenbilder die Menschen machen“, sagt Julian, nachdem ich ihm alles erzählt habe. Das ist alles. Als wäre das alles gar nicht wahr. Aber mir ist das egal – ich will es wenigstens endlich tun, es endlich erlebt haben.

„Komm wir gehen ins Bett“, sagt Julian, „wir kuscheln uns unter die Decke und dann zeige ich dir etwas, was dich sicher aufmuntern wird.“

„Ach ja?“, sage ich und zieht die Augenbraue hoch.

„Nein.“ Er lacht. „Nicht das. Ich meine etwas am Computer. Im Internet.“ Oh nein. Jetzt fängt er wieder damit an. Das ist gar nicht gut.

Er zeigt mir eine Theorie – die Satellitenbilder wären im Studio nachbearbeitet und außerdem haben die Kommunisten alles inszeniert, damit die Menschen merken, wie unwichtig Geld ist, wenn sie nur noch wenig Zeit haben.

„Ja sicher“, sage ich, „warum nicht gleich die Illuminaten?“

„Jetzt sei doch nicht so“, sagt er und lässt den Arm um meine Schulter fallen. Irgendwie finde ich es schon schön so.

„Irgendwie kann ich es aber auch verstehen“, sage ich vorsichtig.

„Was?“

„Warum die Menschen so durchdrehen. Also...“

„Ach ja. Ich nicht“, sagt er und hebt das Mac-Book vom Nachttisch. „Ich meine Weltuntergang. Ganz ehrlich. Als hätte die Welt nicht schon zweitausend-Mal untergehen sollen. Denk an 2012. Huuu. Der Maya-Kalender läuft ab.“

„Julian“, sage ich und klinge vorwurfsvoller, als ich will, und sehe ihn so tadelnd an, wie ich kann.

„Das ist kein blöder Scherz. Es passiert wirklich und das weißt du auch. Die NASA hat es bestätigt. Die Regierungschefs haben es bestätigt. Unser Währungssystem wurde außer Kraft gesetzt. Wenn sie sich nicht absolut sicher wären, dann...“

„Wenn sie sich nicht absolut sicher wären“, äfft er mich nach. „Denk doch mal nach. Vor ein paar Jahren sagten sie die Chancen stehen eins zu einer Milliarden, dass etwas wie Nibura überhaupt existiert. Die Satellitenaufnahmen könnten gut gefälscht sein – denk an die ganzen Science-Fiction Filme. 3D-Technik. Bildbearbeitung. Und es gibt durchaus Gruppen in der Bevölkerung, die von der Panik profitieren. Kommunistin. Anarchisten.“

„Ja sicher. Die bösen Kommunisten. Julian. Es ist am Himmel. Du brauchst nur einmal aus dem Fenster zu gucken und da hast du es.“

„Tammi. Das da oben könnte alles Mögliche sein. Bis jetzt ist es nur ein doofes Licht. Und das soll einfach mal so unsere Erde vernichten. Also bitte.“

„Es ist ein Licht, was jeden Tag größer wird. Und zu deiner Information – die Sonne ist von hier aus auch nur ein doofes Licht. Trotzdem ist die zigtausend Grad heiß und hundert Mal so groß wie die Erde oder stellst du das etwa auch in Frage?“ Ich schlucke. Ich kapiere nicht, warum ich ihm das erklären muss. Das ist lächerlich, aber ich habe trotzdem das Gefühl, dass ich ihn noch brauche – weil ich wahrscheinlich keinen mehr finde in sechs Wochen.

„Und wenn schon. Wer sagt, dass uns das Ding ausgerechnet rammen muss?“

„Julian. Es ist vollkommen absurd, die Menschheit so in Panik zu versetzen, sämtliche Morde und Selbstmorde in Kauf zu nehmen, das ganze System zusammenbrechen zu lassen, wenn es nicht unbedingt nötig wäre.“

„Ach ja? Vielleicht ist es nur relativ wahrscheinlich, dass was auch immer da auf uns zukommt, einschlagen wird – sagen wir vierzig Prozent – aber sie wollen lieber, dass wir uns auf das Schlimmste gefasst machen, damit es am Ende nicht heißt – wir konnten gar nicht mit unseren Leben abschließen.“

„Hm“, sage ich, „ich glaube es ist eher genau andersherum. Wenn sie sich nicht absolut sicher wären, würden sie die Klappe halten.“

„Das sagst du jetzt. Aber schau dir das hier mal an. Es passt einfach alles zusammen.“

„Nein. Vergiss es. Ich will den Verschwörungsmist nicht hören.“

„Lies es doch wenigstens.“

„Lass mich.“

„Du hast doch nur Schiss, dass du es nicht wiederlegen kannst.“

„Ja sicher.“

„Warum willst du eigentlich so unbedingt sterben?“, fragt er, „du scheinst dich ja regelrecht darauf zu freuen.“

„Ich – mich freuen. Warum sollte ich mich auf meinen Tod freuen?“, sage ich und sehe ihn an.

„Weiß nicht. Vielleicht bist du unzufrieden oder hast Stress mit deiner Familie und dann denkst du dir – wenn ich schon keinen Bock habe, wäre es doch nett, wenn ich wenigstens nicht alleine gehe.“

„Bitte“, sage ich, „das ist doch kindisch. Hör auf damit.“ Ich greife nach seiner Hand und lege seinen Arm um mich. „Jetzt, kuschele mich.“ Das muss er tun. Dafür ist er zuständig.

„Nein“, sagt er und zieht meinen Arm wieder zurück.

„Warum nicht?“

„Weil ich dich nicht bemitleiden muss, nur weil du dir Filme schiebst. Es gibt nämlich nichts, weswegen man sich Sorgen machen müsste.“

Ich zeige aus dem Fenster: „Guck dir das an. Sieht das etwa nach: Nichts, weswegen man sich Sorgen machen muss aus?“ Er sieht mich einfach so an. Ich verstehe nicht, warum ich ihm das Logischste immer wieder neu erklären muss. Dann seufzt er einfach.

„Na gut, ich kuschele dich ja und ich verspreche dir. Die Welt wird nicht untergehen. Davon bin ich überzeugt.“

Endlich nimmt er mich in den Arm – und darum musste ich so lange kämpfen – aber immerhin.

„Wenn sie doch untergehen wird. Wirst du mich dann auch so festhalten, während ich verkohle.“

„Du wirst nicht verkohlen“, sagt er energisch.

„Aber wenn“, sage ich.

„Dir wird nichts passieren. Schon gar nicht in meinen Armen. Meine Arme haben Superkräfte.“

„Ok“, sage ich und drücke meinen Körper enger an seinen. Mit einer Hand löscht er das Nachttischlicht. Ich schlafe in seinen Augen ein.

Ich wache auf, weil ich schwören könnte, es donnern gehört zu haben.

„Das ist nur ein Gewitter“, flüstert Julian und streicht mir über die Wange.

„Wie spät ist es?“, frage ich instinktiv.

„Ähm“, sagt Julian, „halb zwölf Uhr mittags.“

„Was? Aber ich habe doch einen Wecker gestellt.“

Das ist mal wieder typisch. Wenn ich nachts kaum einschlafen kann, schlafe ich tagsüber bis mittags oder sogar nachmittags. Unter normalen würde mich das nicht stören, aber in den letzten Tagen ist jede Sekunde kostbar und jede bewusstlose Sekunde ist eine verschwendete Sekunde.

„Tut mir leid“, sagt Julian und gähnt, „ich dachte ich lasse dich schlafen.“

„Du lässt mich schlafen?“, fahre ich ihn an. „Soll das ein Scherz sein?!“

„Jetzt stress doch nicht so.“

„Sag mal spinnst du? Wegen dir habe ich einen halben Tag verloren.“

„Na und wäre ja nicht der erste halbe Tag, den du verloren hast“, sagt Julian. Ich stöhne genervt auf. Noch mehr Zeit mit Streit zu verschwenden, macht es auch nicht besser. Panisch taste ich nach meinem Handy. Drei verpasste Anrufe von Natalie. Wir wollten den Tag mit Alexandra in der Stadt verbringen und uns am Abend mit den anderen treffen. Ich drücke auf ihr Bild. Eine Sekunde später ist sie schon dran.

„Na du Schlafmütze?“

„Tut mir leid. Mein Freund hat mich nicht geweckt.“

„Ja sicher“, brummt Julian im Hintergrund. Aus dem Augenwinkel sehe ich wie er die Decke zur Seite schiebt und im Badezimmer verschwindet.

„Apropos Freund. Habt ihr es jetzt endlich getan?“

„Nein“, flüstere ich, „ich glaube wir warten ... keine Ahnung. Auf einen besonderen Moment.“

„Tammi. Echt. So viel Zeit habt ihr nicht mehr.“

„Keine Ahnung. Vielleicht will ich ja warten. Vielleicht brauche ich einfach etwas, auf das ich mich noch freuen kann. Etwas, was noch dazwischen steht. Von dem ich mir dann einreden kann, dass es ganz toll wäre.“

„Aber du weißt, dass das nicht stimmt. Das erste Mal ist nie toll. Außerdem wollt ihr doch mehr als einmal. Es gibt so viel, was ihr noch ausprobieren müsst. Das könnt ihr gar nicht schaffen. Selbst wenn ihr die nächsten achtundzwanzig Tage im Bett verbringt.“

Achtundzwanzig Tage. Die Wörter jagen einen Schock durch meinen Körper. Das ist nicht mal mehr ein Monat. Zwei Wochen weniger als die Sommerferien und selbst die waren immer viel zu schnell vorbei.

„Also was ist?“

„Ja mal sehen. Aber vielleicht sind wir einfach nicht so wie du und Thomas.“

„Ja wir verbringen schon viel Zeit zusammen, aber so sollte es sein. Denke ich. Was gibt es wichtiger, als so viel Zeit mit dem Menschen zu verbringen, den man am meisten liebt? Wir haben übrigens eine Liste, was wir noch alles zusammen tun wollen. Das solltet ihr auf jeden Fall auch machen.“

„Ja, mal sehen“, sage ich. Dabei kann ich das mit der Liste bei Julian getrost vergessen – er tickt ja schon aus, wenn ich nur ein Thema nur streife, das mit ablaufender Zeit zu tun hat.

„Also lass uns nicht so viel Zeit verquatschten. Wie schnell kannst du in der Stadt sein? Obwohl. Ist er noch bei dir?“

„Ja, warum?“

„Dann tut es doch jetzt gleich. Ich gebe euch eine Stunde. Was meinst du?“

„Bist du verrückt? Jetzt direkt?“

„Ja klar. Oder willst du warten, bis du tot bist. Ich meine...vier Wochen gehen schneller vorbei als man denkt.“

„Aber wie...was ist, wenn er gar nicht will?“

„Natürlich will er“, sagt Natalie, „Jungs wollen immer.“

Da bin ich mir bei Julian nicht so sicher. Er hat nie wirklich versucht, mich zu verführen oder zu überreden.

„Komm schon. Dem ist es sicher nur peinlich zu fragen. Aber wie lange seid ihr jetzt zusammen. Zwei Monate? Dann wäre das doch eh langsam mal fällig.“

„Ja vielleicht“, sage ich, „aber was ist, wenn es wehtut, und wenn es gar nicht so toll ist wie ich dachte.“

„Dann machst du es halt noch mal, bis es toll ist. Man muss auch mal was riskieren. Besonders jetzt muss man das. Keine Ausreden. Also Schätzchen. Du schaffst das schon. Zieh einfach dein Oberteil aus und der Rest ergibt sich von alleine.“

„Was wirklich? Ist das nicht irgendwie komisch.“

„Ach was. Ich schlafe immer nackt. Das ist viel bequemer.“

„Und dann.“

„Dann küsst ihr euch.“

„Ja und.“

„Und küsst euch heftiger, dann fährst du unter sein Hemd und...mein Gott. Dann ist die Sache eh schon längst klar.“

„Wenn du meinst“, sage ich, dabei habe ich schon eingesehen, dass Natalie recht hat. In der Zeit, die ich noch habe, sollte ich so viele Erfahrungen wie möglich in mich aufsaugen. Alles andere sind nur dumme Ausreden, die angesichts der Situation zusammenbrechen.

„Also sagen wir ein Uhr an der alten Bushaltestelle. Wir zwei haben nämlich auch noch etwas zu erledigen.“

„Ok. Viel Spaß. dann bis gleich.“

„Dir auch viel Spaß, Schätzchen. Und wehe du kneifst. Ich will gleich eine gute Geschichte hören.“

„Na gut, aber erwarte bloß nicht zu viel von mir.“

Aber Natalie hat schon aufgelegt. In diesem Moment kommt Julian aus der Dusche. Mist. Dann kann ich das mit dem Oberteil gar nicht mehr machen. Dafür hat Julian nur ein Handtuch um die Hüfte gebunden.

„Schatz kommst du noch mal ins Bett?“, frage ich.

„Wieso? Wolltest du eben nicht so unbedingt aufstehen.“

„Nur ganz kurz“, sage ich.

„Na gut.“

Ich fahre über seine Brust und fange an ihn zu küssen. Julian küsst zurück. Aber er küsst zögerlich. Nur Schmatzer. Nicht mal mit Zunge. Ich grabe meine Finger tief in seinen Rücken und streiche bis zu seinem Handtuch hinter. Er berührt meinen Hals. Die andere Hand platziert er an meiner Hüfte. Günstig positioniert, um im nächsten Moment in den Stoff meines T-Shirts zu greifen. Ruhig bleiben. Gleich wird es passieren. Gleich streift er es mir ab und dann ist die Sache klar. Laut Natalie zumindest. Aber plötzlich fängt er mein Handgelenk ab, verhakt seine Finger mit meinen und hört auf, mich zu küssen. Er sieht mit bedauernd an. „Tammi. Ich muss jetzt echt los. Meine Eltern.“

„Was?“, frage ich entgeistert, „aber...“

„Sie ... wollen auch noch was von mir haben und ...ich habe es...“

„Ach ja?“, frage ich genervt, „ich dachte, du glaubst nicht daran.“

„Ich nicht...aber meine Eltern eben schon.“

Nicht besonders glaubwürdig.

„Aber...ich kapier einfach nicht, warum du es auf einmal so eilig hast. Liegt es an mir? Hast du eine andere oder was ist los?“

„Neein“, sagt Julian und schlingt seine Arme um meinen Hals. „Schwachsinn. Wie kommst du denn darauf?“ Er sagt das nicht vorwurfsvoll, sondern liebevoll und voller Erschütterung darüber. Ich schiebe seine Arme weg. Ich brauche keinen Trost, sondern sehe nur Natalies höhnisches, pseudo-mitleidiges Gesicht vor mir. Dabei ist sie gerne diejenige mit der tollsten Beziehung, der das romantischste, tragischste, schönste Hollywoodende bevorsteht.

Julian versucht mich wieder an sich zu pressen als könnte er die Wut aus mir rausdrücken wie Wasser aus einem Schwamm.

„Warum willst du nicht mit mir schlafen? Bin ich dir nicht sexy genug?“

„Quatsch. Es ist nur.“

„Was?“

„Ich will, dass es besonders wird. So zwischen Tür und Angel ist doch scheiße.“

„Dann sag mir wann“, sage ich. Ich weine schon wieder. Warum muss ich mich mit meinem Freund darüber streiten, dass wir unser erstes Mal haben? Sollte er das nicht wollen?

„Keine Ahnung, wann. Es muss sich halt ergeben und gerade bin ich so gar nicht in der Stimmung. Sorry.“

„Aha. Es muss sich ergeben und was ist, wenn es sich diese Woche nicht ergibt und nächste zufällig auch nicht und dann kommt wieder ganz viel anderes und dann.“

„Ah so ist das also. Das ist jetzt auch wegen dem Weltuntergangs-Panik-Quatsch oder was?“

Nein. Schlechtes Thema.

„Nein. Natürlich nicht. Nichts ist wegen diesem Quatsch. Nur dass sich die ganze Welt um diesen Quatsch dreht und alle reden nur noch darüber, aber was sollte einen schon daran interessieren, dass wir alle in vier Wochen tot sind. Muss uns ja nicht jucken.“

Jetzt stürzt er auf mich zu und drückt mir eine Hand auf den Mund, sodass mein Hinterkopf gegen das Bett gedrückt wird.

„Halt die Klappe“, brüllt er. „Und hör endlich auf zu lügen. Ist ja schrecklich.“

Ich starre ihn an. Dann lässt er mich los. Ich schnappe nach Luft.

„Wach doch endlich auf Julian. Guck aus dem Fenster.“ Tränen laufen mir über die Wangen. „Wir werden alle sterben und niemand kann etwas dagegen tun. Du willst es doch nur nicht wahrhaben.“

„Ich mach nur nicht mit bei dem albernen Illuminati-Apokalypse Blödsinn. Jeder vernünftige Mensch sieht das ein. Weißt du, Tammi. Ich dachte eigentlich, du würdest zu den Klugen gehören, aber darin habe ich mich wohl getäuscht. Du bist genauso hohl und verblendet und hysterisch wie alle anderen auch.“

„Ja klar“, sage ich, reiße die Decke zur Seite weg und suche den Teppich nach meinem Rucksack ab. „Weißt du was. Es reicht mir. Ich mach Schluss.“

„Ach wirklich? So kurz vor dem Weltuntergang und wer soll dich dann noch halten, wenn du verglühst? Deine Mami?“

Jetzt hat er den Bogen endgültig überspannt. Ich schaffe es noch, den Rucksack mit den Wechselkleidern ins Bad zu schleifen, bevor Julian sieht, dass ich schon wieder am Heulen bin.

„War nicht so gemeint“, höre ich Julian rufen, während ich mich umziehe. Ich reagiere nicht auf ihn. Langsam zweifele ich daran, dass nur der Weltuntergang zwischen uns steht. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm.

Clementine – noch 28 Tage 2:00

Ich winkele meine Knie an und lehne mich gegen die eiskalte Wand. Der Schlafraum im Weltuntergangs-Waisenheim ist hässlich, aber wenigstens habe ich ein richtiges Bett und muss nicht wie die Nachzügler mit einer Isomatte auf dem Boden liegen. Wir liegen in einem alten Klassenzimmer. Vor weniger als einem Jahr fand in diesem Zimmer noch Unterricht statt. Damals war alles noch normal, aber nichts wird je wieder sein wie früher. Jetzt bin ich eine Mörderin und habe das wohl verdient, aber trotzdem bin ich auch verdammt abgestürzt. Ich presse die kratzige Wolldrücke an meine Brust. Ich werde die Bilder nicht mehr los – Alex tote Augen, die mich anstarren. Seine abgeschnittene Hand in meiner. Warum habe ich das getan? Ich werde nie mehr glücklich werden. Ich habe nicht verdient, noch glücklich zu werden und was bringt einem Paris, wenn man ganz allein ist? Was bringt einem Erfolg, wenn man ihn nicht teilen kann? Was bringt einem ein Leben, wenn es keine Zukunft hat? Vielleicht sollte ich einfach einschlafen und nicht mehr aufwachen. Die Punkte reichen nicht aus, um einen Flug zu kaufen – nicht mal im Geringsten. Ich bräuchte mindestens tausend, aber selbst dann sind die Chancen gut, dass es keinen gibt, der spontan mehr bietet. Ich müsste noch hunderte Morde begehen, aber nicht mal einen einzigen kann ich ertragen.

„Hey“, sagt plötzlich jemand. Es ist der Junge, der neben mir im Bett liegt. Ich werfe einen flüchtigen Blick zu ihm hinüber. Mondlicht fällt auf seine schwarzen Haare. Er hat hübsche Augen, die zu mir herüberstarren, aber ich gucke weg und tue so, als hätte ich ihn nicht gehört.

„Kannst du auch nicht schlafen?“

„Doch“, sage ich genervt, „ich schlafe im Sitzen.“

Ich will nicht mit ihm reden und er sollte nicht mit mir reden. Ich bin es nicht wert.

„Du hast Angst, was?“, fragt er und grinst.

„Hast du keine eigenen Probleme?“, frage ich, lege mich auf die Matratze und drehe mich zur Wand. Lange Zeit liege ich einfach nur so da und rühre mich nicht. Ich höre die anderen Jugendlichen atmen. Ich reibe meine Knie unter der Decke und versuche nicht allzu sehr zu frieren. Plötzlich räkelt sich hinter mir jemand im Bett.

---ENDE DER LESEPROBE---