Sacres - Schule der Gedankenleser - Geraldine Reichard - E-Book
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Sacres - Schule der Gedankenleser E-Book

Geraldine Reichard

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Beschreibung

Sacres ist eine spannende Dystopie-Jugendbuch Reihe um die Gedankenleserin Emilie. Inhalt: Die 17-jährige Emilie lebt in einer Welt, in der die führende Klasse über die Berufe entscheidet, sich um die Bevölkerung kümmert und ein hohes Ansehen genießt. Sie hat schon seit Tagen komische Symptome - ihr ist schwindelig und sie hört seltsame Stimmen. Nachdem sie mehrmals zusammenbricht, tauchen Regierungsleute in ihrer Schule auf und befragen sie. Schließlich wird sie Tests unterzogen, die sich Emilie nicht erklären kann und dann kommt heraus, dass sie über eine spezielle Fähigkeit verfügt, über die eigentlich nur Angehörige der führenden Klasse verfügen dürfen.Schließlich besucht sie der Präsident persönlich und entscheidet, dass sie auf eine spezielle Schule Sacres kommt, um schließlich auch ein hohes Amt zu übernehmen. Nach und nach findet sie heraus, in welchem Verhältnis die Oberschicht wirklich zu der Bevölkerung steht und wozu sie ihre Fähigkeiten nutzen. Dadurch gerät sie in große Gefahr.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Geraldine Reichard

Sacres

Schule der Gedankenleser

ISBN: 978-3-96994-073-0

Akt 0

1. Kapitel

Schon seit Tagen habe ich dieses Rauschen im Ohr. Wahrscheinlich haben wir die Musik bei der Probe wieder zu laut gedreht. Trotzdem will ich heute unbedingt wieder hin – bald ist schließlich Auftritt.

Ich schließe mein Fahrrad auf und fahre durch unsere Straße. Warmer Wind weht durch meine Haare. Es war den ganzen Tag heiß und jetzt ist es kaum abgekühlt. Mir könnte auch deswegen so schwindelig sein, sage ich mir immer wieder.

Hinter der nächsten Biegung kommt mir eine Fahrradfahrerin entgegen. Als sich unsere Wege kreuzen, wird das Rauschen laut wie ein Wirbelsturm. Ich bleibe stehen, atme durch den Mund. Ganz ruhig. Wahrscheinlich bilde ich mir das nur ein.

Heute ist es viel anstrengender, den Berg hochzufahren. An der Kreuzung klammere ich mich an einen Ampelpfosten. Es dämmert schon. Hovercars schweben entlang der Laserspuren auf die Wolkenkratzer in der Stadtmitte zu und werfen weite Schatten.

Im Probekeller übertönt das Schlagzeugdonnern das Dauerrauschen. Bonnie umarmt mich.

„Hey, gut, dass du da bist. Ich habe einen neuen Song geschrieben –damit schaffen wir es garantiert in die Charts.“

Wir stellen uns an die Mikrophone. Bonnie zählt den Takt an. Dann steigen die anderen mit ihren Instrumenten ein. Mir ist schon wieder schwindelig, aber ich sage mir, dass ich das auch so kann. Ich klammere mich an den Mikrophonständer. Alle sehen mich so an. Ich sage ihnen, dass wir weiterspielen sollen, aber auf einmal ist das Rauschen so laut, dass es alles übertönt. Ich will rausrennen, aber dann weiß ich nicht mehr wo oben und unten ist. Ich greife nach etwas, höre nur noch ein metallisches Scheppern und dann bin ich weg.

Als ich zu mir komme, liege ich auf dem Sofa im Nebenraum. Die anderen haben sich um mich versammelt und sehen mich besorgt an.

„Hey“, sagt Bonnie, „alles klar bei dir? Ist dir das schon öfter passiert?“ Tatsächlich war mir in den letzten Wochen oft schwindelig, aber das müssen sie nicht wissen.

„Nein“, sage ich, „ist sicher nur der Kreislauf…“

„Also sag Bescheid, wenn wir wegen dem Auftritt für dich Ersatz suchen sollen“, sagt Claudia. Sie will schon lange meinen Part, aber das kann sie vergessen.

Als ich den Proberaum verlasse, ist es schon dunkel. Die Luft ist angenehm kühl und es geht mir besser. Auf dem Nachhauseweg merke ich es kaum noch. In meinem Zimmer, werfe mich auf mein Bett und starre zur Decke. Nach einigen Minuten verklingt das Rauschen. Irgendwie wird es immer besser, wenn ich alleine bin.

2. Kapitel

Als ich aufwache, ist das Geräusch nicht mehr da. Ich schleppe mich ins Badezimmer, bändige meine Frisur, ziehe mir ein Top und eine kurze Hose an. Unten steht Mama schon im Flur. Sie trägt einen schicken Blazer.

„Weißt du was? Ich habe heute schon wieder einen…der zweite in diesem Jahr – sie müssen mich für einen Promi halten.“ Wow – ich frage mich, was sie richtig gemacht hat.

Mein Bruder sitzt schon am Frühstückstisch, schaufelt sich Müsli in den Mund und sieht mich so besorgt an – er muss wissen, dass etwas nicht in Ordnung ist, aber ich muss nicht darüber reden.

„Und wegen deiner Einstufung…? Sie teilen dir doch sicher ein gutes Amt zu…“

„Hoffentlich, aber irgendwie glaube ich nicht, dass ich regulär eingestuft werde…“ Er glaubt also immer noch, dass sie Größeres… mit ihm vorhaben, aber so wirklich daran glauben, kann ich nicht. Obwohl er der Schulbeste ist, was man von mir nicht sagen kann.

Nach dem Frühstück verlasse ich mit Rob das Haus. Robs geliebtes Schrottauto steckt in fünf Zentimeter tiefem Sand. Es muss über Nacht einen Sturm gegeben haben.

„Oh nein, mein Baby“, sagt Rob und kehrt Sand von dem Dach, „das tut ihm gar nicht gut.“ Immerhin schafft es sein Baby schon beim dritten Mal anzuspringen und das ist fast ein Rekord. Ich sage mir die ganze Fahrt über, dass ich heute durchhalten werde, aber schon auf dem Weg über den Schulhof packt mich Schwindel.

Im Unterricht habe ich durchgehend Kopfschmerzen, das Rauschen ist schlimmer denn je und als irgendwann auch noch ein Lichtblitz vor meinem Auge aufzuckt, schickt mich der Lehrer nach draußen. Das war´s. Jetzt halluziniere ich auch noch, es wird immer unheimlicher.

Ich setze mich in eine Sitznische im Foyer, atme durch den Mund und warte darauf, dass ich mich beruhige. Um diese Uhrzeit ist das Foyer wie ausgestorben. Nur eine Putzfrau schiebt einen Wagen mit Lappen, Besen und Eimern durch den Raum. Als sie an mir vorbeigeht, wird das Rauschen kurz lauter und als sie weitergeht, verklingt es wieder. Genau wie bei der Fahrradfahrerin gestern.

Es passiert auch bei jedem weiteren Schüler, der das Gebäude betritt oder verlässt.

Irgendwann kommt niemand mehr. Dann sehe ich durch die Glastür ein Hovercar nur wenige Meter über dem Lehrerparkplatz schweben. Das kann kaum sein. Weder Lehrer, noch Eltern können sich so etwas leisten und ich meine die Flagge der Regierung am Heck zu sehen. Sind das etwa… unmöglich.

Tatsächlich steigen drei uniformierte Leute aus – zwei Männer und eine Frau und sie betreten das Gebäude. Der Geruch von abgehobenem Parfum weht mir entgegen, als sie vorbeigehen, und auf einmal fühle ich mich so sicher und irgendwie hypnotisiert.

Nur eine Sache wundert mich – in ihrer Gegenwart höre ich nicht das geringste Rauschen. Kaum habe ich das gedacht, drehen sie sich zu mir um und starren mich an, als hätte ich etwas gesagt. Ich will sie fragen, was los ist, aber dann wenden sie sich schon ab und gehen weiter zum Büro des Direktors. Ich atme hektisch. Ich kann nicht glauben, dass sie wirklich hier waren.

„Wow, ich fasse das einfach nicht“, sagt Bonnie, als wir nach der Schule in Robs Auto sitzen, „sicher wollten sie Karten für unseren Auftritt kaufen, sie machen uns berühmt.“

„Ne“, sagt Rob, „ich wette, sie schicken jemanden vorzeitig zu seinem ersten Termin – vielleicht ja den Schulbesten…“

„Träum weiter“, sagt Bonnie, „sie haben Emilie angesehen und sie ist ein Bandmitglied…“

„Wir werden ja sehen“, sagt Rob. Aber ich glaube nicht, dass es mehr zu bedeuten hat.

Der Sand der Dünen glänzt in der Mittagssonne. Wir parken am Straßenrand, steigen aus und wandern durch die Schlucht bis zu dem Kletterfelsen. Heute komme ich besonders schnell hoch. Danach sitzen wir im Dämmerlicht oben und beobachten die Hovercars, die über die Luftbrücke in benachbarte Städte schweben. Auf einmal hält ein Hovercar mitten in der Luft an.

„Guck, das sind sie wieder, Emilies Paparazzi“, sagt Bonnie.

„Tatsache“, sagt mein Bruder, „das ist ein Regierungsflieger, ich kenne das Modell…“ Erst gucken sie mich so an und jetzt das. Ich habe doch nichts gemacht.

„Sie haben bei meinem Termin nach dir gefragt“, sagt Mama beim Abendessen zu mir. Nach mir? Auch das noch.

„Ich… also war sicher ein Versehen.“

„Nein, sie machen nichts ohne Grund…“ Aber was für einen Grund soll das haben?

Nach dem Abendessen liege ich auf meinem Sofa und scrolle durch die neuen Beiträge in den sozialen Medien. Bonnie hat Fotos von dem Hovercar hochgeladen und jemand hat ein Video gepostet, in dem Präsident Hawthorne in einem krassen Hovercar fliegt. Bonnie hat mich zu einer Party am Samstag eingeladen. Wenigstens etwas Normales zum Ablenken. Ich sage zu und dann lege ich mich hin.

Kaum bin ich weggedöst, wecken mich Lichtblitze aus dem Schlaf. Nicht schon wieder.

Ich schließe die Augen, aber wenig später höre ich eine Flüsterstimme. Ich schrecke auf und schalte das Licht an. Mein Herz rast. So kann es nicht weitergehen. Ich muss mit jemandem reden.

In Robs Zimmer ist noch Licht eingeschaltet. Ich atme tief durch und klopfe an seine Tür.

„Wer stört?“

„Emilie“, sage ich und ziehe die Tür auf. Rob liegt bauchwärts auf dem Bett und brütet über einem Buch. Ich lasse mich in den Sitzsack fallen.

„Na, kannst du auch nicht schlafen?“, fragt Rob und schaut von seinem Buch auf.

„Nein“, sage ich und atme durch den Mund. „Rob, ich…also seit einiger Zeit…“

„Was ist denn?“, fragt er besorgt und setzt sich neben mich.

„Ich…höre… dieses Rauschen und sehe diese Lichtblitze, ich… glaube ich bin wahnsinnig…“ Und dann erzähle ich ihm alles.

„Ich glaube nicht, dass es schlimm ist, aber wenn du wirklich Angst hast, dann sollten wir zum Arzt gehen. Ich kann auch mitkommen, wenn du willst.“

„Na gut.“

Ich schlucke, „kann ich…vielleicht noch hierbleiben? Nur für den Fall, dass es wiederkommt.“

„Klar, aber das wird es schon nicht.“ Ich lehne mich zurück und schließe die Augen. Normalerweise kann ich nicht schlafen, wenn das Licht an ist, aber die Atmosphäre und Robs Anwesenheit beruhigen mich so sehr, dass ich es irgendwann doch schaffe.

Ich wache in meinem eigenen Bett auf. Rob muss mich rüber getragen haben.

Ich ziehe mich um, bringe das Frühstück schnell hinter mich. Natürlich sagen wir Mama nichts von unserem Vorhaben.

Anstatt zur Schule zu fahren, steuert Rob das Ärztezentrum an.

Kaum betrete ich das überfüllte Wartezimmer, dreht sich schon alles. Das schaffe ich nicht. Ich werde einfach wieder gehen, aber dann steht uns die Arzthelferin im weg, „Emilie? kommst du bitte mit mir?“

„Ich… jetzt schon?“, frage ich. Normalerweise dauert es immer ewig.

„Ja, du bist vorgezogen worden. Sag mal haben deine Eltern irgendwelche Kontakte?“ Ich schüttele den Kopf. Wen sollten sie schon kennen?

Sie bringt mich ins Behandlungszimmer. Nachdem ich der Ärztin alles erzählt habe, schiebt sie mich sofort in die MRT-Röhre.

Dröhnende Geräusche ertönen und als sie mich rausschiebt meine ich, Mitleid in ihrem Blick zu erkennen. Das war´s also. Sie muss etwas gefunden haben.

„Und wenn es doch schlimm ist?“, frage ich Rob, nachdem wir zum Warten nach draußen geschickt wurden.

„Das ist es nicht und selbst wenn – ich würde mich schon kümmern...“ Ich will nicht auf ihn angewiesen sein, aber wir müssen uns nichts vormachen. Meine Symptome sind gruselig und es würde mich sehr wundern, wenn es nichts wäre.

Wir sollen persönlich in ihr Büro kommen. Das kann kein gutes Zeichen sein.

Wir sitzen der Ärztin gegenüber, aber ich starre nur aus dem Fenster. Jetzt wird sie mir gleich sagen, dass ich nicht mehr lange zu leben habe, aber dann lächelt die Ärztin: „Alles in Ordnung. Wir konnten nichts Auffälliges feststellen.“ Erleichterung packt mich.

„Aber warum habe diese Dinge dann wahrgenommen?“

„Vermutlich hast du Stress in der Familie oder steht eine Prüfung an?“ Nein. Es steht keine Prüfung an. Ich habe nur gerade eine verhauen, weil mir währenddessen wieder schwindelig war.

3. Kapitel

Für den Rest des Tages meine ich die Symptome weniger zu spüren. Trotzdem wird mir im Laufe der Woche noch zweimal schwarz vor Augen. Dafür fallen mir im Unterricht manchmal Antworten ein, die ich nie gelernt habe. Besonders gut klappt es, wenn ich den Streber Tom ansehe.

Einmal, als ich mit Rob am Esstisch sitze, sehe ich ein Bild vor meinen Augen aufblitzen: Er sitzt auf einer Wiese und redet mit einem blonden Mädchen.

„Emilie, geht es dir gut…?“, fragt Rob und schüttelt mich, „es war, als wärst du kurz weg gewesen.“

„Ich habe dich auf einer Wiese gesehen…da war so ein Mädchen mit roten Haaren – kennst du sie…?“

„Ja, die ist aus meiner Klasse“, sagt er, „krass, dass…du das gesehen hast. Wer weiß – vielleicht hast du Superkräfte.“

„Sehr witzig“, sage ich, außerdem finde ich das gar nicht cool oder interessant. Ich will nichts Besonderes sein. Wer will schon, dass etwas mit ihm los ist, das niemand versteht?

Zwei Tage später holt mich die Sekretärin plötzlich aus dem Unterricht. Sie führt mich durch das das Foyer zum Büro des Direktors. Wahrscheinlich will er wegen der miesen Mathearbeit ein ernstes Wörtchen mit mir reden, aber dann empfängt er mich lächelnd.

„Emilie, die herausragende Schülerin, die ihr Interesse geweckt hat.“ Interesse, welches Interesse?

Er schiebt mich ins Büro und ich fasse nicht, was ich sehe. Die Kümmerer von neulich sitzen dort und warten… auf mich.

„Nein, das… das muss ein Missverständnis sein.“ Ich kann das nicht. Sie sind so wichtig und ich bin doch nur ein Mädchen.

Einer von ihnen kommt zu mir, schüttelt mir die Hand und irgendwie fühle ich mich sofort gelassener: „Du brauchst keine Angst zu haben, wir wollen dir nur ein paar Fragen stellen…“

„Ich kann euch nicht helfen.“

„Wir sehen mal…“ Sie schicken den Direktor raus. Wie kann ein Gespräch mit mir so vertraulich sein, dass nicht mal er es mithören darf?

Wir setzen uns in die Sitznische. Ich starre sie an und kann es immer noch nicht glauben.

Der Mann scrollt durch Informationen auf einem Tablet. Stehen da Dinge über mich? Dann sieht er mich wieder prüfend an.

„War dir in den letzten Tagen häufig schwindelig? Hast du Geräusche ohne erkennbare Quelle vernommen? Visuelle Halluzinationen? Stimmen?“ Mein Herz macht einen Satz. Das können sie nicht wissen und warum interessiert sie das?

Trotzdem habe ich zu viel Respekt vor ihnen, um sie anzulügen und nicke.

„Und wie hat sich das angefühlt?“

„Ich… weiß es nicht… ich… warum fragen Sie das alles?“ Außerdem kann ich kaum beschreiben, wie es sich angefühlt hat. Ich kann das nicht sagen, schon gar nicht vor ihnen. Die Frau neben mir nimmt meine Hand und daraufhin legt sich die Nervosität, die Antwort sprudelt einfach aus mir heraus und ich weiß nicht, wie mir geschieht. Weitere Fragen folgen. Wann ist es das erste Mal passiert? Wer weiß noch davon? Was denke ich darüber? Ich sage zu allem die Wahrheit und rede wie ein Wasserfall.

„Danke, Emilie, das genügt“, sagt einer der Männer schließlich, „ich muss dich nur bitten, niemandem von unserem Gespräch zu erzählen. Es ist vertraulich.“

„Natürlich“, sage ich, „aber dann… wissen Sie, was ich habe? Können sie mir helfen?“

„Möglicherweise“, sagt einer der Männer. Ein Hoffnungsschimmer. Sie werden mich retten, genau wie in den ganzen Filmen. Als ich aufstehe, packt mich so starker Schwindel, dass sie mich auffangen müssen. Ich will mich entschuldigen, aber dann wird mir schon schwarz vor Augen.

Das nächste, das ich weiß ist, wie ich zu Hause auf meinem Sofa liege. Ich weiß nicht, wie ich dort hingekommen bin. Ich weiß nicht mal, ob dieses Gespräch eben wirklich stattgefunden hat. Wahrscheinlich nicht. Was sollten diese Leute auch von mir wollen? In letzter Zeit halluziniere ich ständig, es würde mich kaum wundern. Mama sagt mir, ich sei im Unterricht zusammen gebrochen und das bestätigt meine Theorie endgültig, aber dann ruft Bonnie wegen der Hausaufgaben an: „Oh Mann, die Kümmerer waren wieder da, eine Schülerin ist mit ihnen mitgegangen… diese Bitch.“

„Ja übel“, sage ich, „entschuldige… ich… muss auflegen…“ Es war also kein Traum und sie wussten das alles über mich. Vielleicht hat diese Ärztin ihnen alles gesagt, aber das erklärt auch nicht ihr Interesse an meinem Zustand und warum sie mir helfen wollen. Klar, es gibt diese Shows, in denen der Präsident dafür sorgt, dass sich Kranke besser fühlen, aber die sind doch nur für die Kameras.

Irgendwann kommt Mama zu mir ins Zimmer.

„Emilie, können wir reden?“ Ich nicke.

„Sie haben angerufen, sie werden dir helfen, das haben sie mir versprochen.“ Dann weiß sie es also, „sie sagen, es sei besser, wenn du das Haus erstmal nicht verlässt. Die Schule weiß Bescheid.“

„Ich habe… Hausarrest? Aber warum? Für wie… lange?“

„Ich weiß es doch nicht, aber sicherlich so lange, bis sie ein Heilmittel haben.“ Verstehe. Sie geben uns keine Informationen. Ich würde nie einen ihrer Befehle missachten, aber ich will nicht bloß zu Hause bleiben und nicht wissen, warum.

4. Kapitel

In den nächsten Tagen schreibe ich Tagebuch und lese viel, aber mir wird schnell langweilig und Bonnie droht, mich für den Auftritt gegen Claudia auszutauschen, wenn ich nicht bald zur Probe komme. Meine Symptome sind kaum noch existent, aber trotzdem melden sich die Kümmerer bis zum Wochenende nicht. Wahrscheinlich haben sie mich vergessen.

Beim Abendessen läuft der Fernseher. Der Präsident redet mit begabten Kindern. Ein Junge ist besonders nervös, aber als Hawthorne seine Hand nimmt, entspannt er sich und redet wie ein Wasserfall. Genauso wie ich, nachdem mich die Frau bei meiner Befragung an der Hand berührt hat: „Habt ihr das gesehen?“, frage ich, „er ist auf einmal viel ruhiger…“

„Klar“, sagt Rob, „wenn so eine einflussreiche Person neben dir sitzt, würdest du auch reden.“ Ihm ist das also nicht aufgefallen.

„Emilie“, sagt Mama auf einmal, „du hast dich aber Schick gemacht.“

„Ja, ich will noch zu Bonnie.“ Ich muss sie nicht anlügen – ich habe das Recht auf meine Freiheit…

„Aber du darfst doch noch nicht, es war so abgesprochen.“

„Hä?“, fragt Rob, „warum soll Emilie nicht raus dürfen?“

„Jetzt halte du dich mal raus“, sagt Mama und sieht mich an, „toll hast du das angestellt…“

„Ich habe nichts gemacht und von mir aus kann Rob ruhig wissen, dass die Kümmerer mich aus irgendwelchen irrwitzigen Gründen zu Hause einsperre-…“

Auf einmal klatscht mir Mama eine. Das reicht. Ich will nur noch weg. Im Flur ziehe ich mir meine Schuhe an und die Jacke.

„Emilie, ich warne dich“, ruft Mama, „du könntest jeder Zeit halluzinieren, was, wenn du vor ein Auto läufst?“

„Ja sicher, also haben sie dir doch gesagt, was ich habe, aber dich kümmert es eh nicht, wenn ich draufgehe…“

Sie will mich packen, aber ich renne raus, knalle die Tür zu und renne durch die Straße. Immer weiter. Straßenlaternen sind eingeschaltet und die Luft ist noch warm. Es geht mir gut.

Zwei Straßen weiter sehe ich grelles Scheinwerferlicht über Häuserfassaden gleiten. Ich schaue in den Himmel. Ein Hovercar steht hinter einer Baumkrone in der Luft. Sind sie das? Beobachten sie mich?

Ich laufe schneller und erreiche die Schwebebahnstation. Auf dem Bahnsteig steht niemand Verdächtiges. Ich halte mein Handy gegen die Konsole und die Coins für das Ticket werden von meinem Wallet abgebucht.

Die Bahn kommt, ich steige ein und setze mich in einen leeren Vierer. Auf einmal höre ich das Rauschen lauter, als es zu Hause immer war. Natürlich muss es gerade jetzt wiederkommen. Je mehr Leute zusteigen, desto lauter wird es. Ganz ruhig, sage ich mir. Ich kann das aushalten.

Wenn ich die Augen schließe, sehe ich wahllose Bilder in der Schwärze aufblitzen. Vielleicht war es eine schlechte Idee, die Auflagen zu verletzen. Jetzt muss ich es wenigstens zu der Party schaffen. Irgendwie halte ich bis zur letzten Station durch. Ich taumele zur Tür.

Während ich durch die Straßen laufe, wird es besser. Ich klingele an Bonnies Tür und begrüße sie: „Emilie, ich dachte, du… wärst krank…“ Irgendwie klingt sie nicht so begeistert, mich zu sehen.

„Es geht mir besser“, sage ich.

„Ach wirklich? Ist es vielleicht, weil die Kümmerer mit dir geredet haben…? Du hast es mir nicht mal gesagt…“

„Ja, aber… ich… du verstehst das nicht.“ Ich laufe an ihr vorbei. Im Wohnzimmer starren mich alle Gäste so an.

„Hey“, sagt ein Mädchen, „ist das wahr, dass mit dir geredet haben. Worum ging es?“

„Um gar nichts…“

„Shhh, sie darf es wahrscheinlich nicht verraten“, sagt ein anderer.

„Ach, bitte, bitte…“, sagt sie und auf einmal ist das Rauschen wieder da und es ist sofort laut. Ich halte mir die Ohren zu, aber natürlich wird es nicht besser.

„Oh Mann, was hat sie…?“, fragt ein anderer. „Scheiße, die bricht zusammen…“ Schwindel packt mich und ich sehe wahllose Bilder vor meinen geschlossenen Augen aufblitzen. Es ist schlimmer, als sonst. Alles verschwimmt, aber irgendwie schaffe ich es noch aus dem Raum. Ich renne die Wendeltreppe hoch. Oben ist ein Badezimmer. Ich knalle die Tür zu und will mich am Waschbecken festklammern, aber dann knalle ich dagegen. Ich lande am Boden. Obwohl ich hier alleine bin, geht das Rauschen nicht mehr weg und auf einmal verwandelt es sich in Stimmen, die wahllos durcheinanderreden. Ich höre die anderen Partygäste. Sie sind neidisch auf die Aufmerksamkeit, die ich bekomme. Ein anderer hält mich für verrückt – das bin ich wohl offiziell.

Minutenlang geht es so weiter. Ich verstehe nicht, was mit mir geschieht. Endlich verklingen sie die Stimmen. Dafür zittere ich am ganzen Körper und jemand hämmert gegen die Tür.

„He, Emilie, was machst du so lange da drinnen?“ Bonnie. Auch das noch. „Tut mir auch leid, dass dich alle so ausgefragt haben…“

„Schon gut, aber geh einfach weg, bitte…“ Wenn sie reinkommt, geht es wahrscheinlich wieder los.

„Soll ich deinen Bruder anrufen, damit er dich abholt?“

„Jah“, sage ich. Das wäre wirklich besser. Auf einmal klingelt es an der Tür. Ich höre, wie Bonnie die Treppe runtergeht, um auf zu machen.

Kurz darauf höre ich erschrockene Rufe. Es klingt, als würde jemand hinfallen, dann höre ich das Klackern von Absatzschuhen auf der Treppe. Etwas stimmt nicht. Ich schaue aus dem Fenster und sehe ein gelandetes Hovercar. Oh nein.

„Emilie“, ruft Bonnie und hämmert an die Tür, „du glaubst nicht wer da ist…sie wollen zu dir…“

„Dann sag, dass ich nicht kann…“

„Emilie, das kann ich nicht machen…“ Auf einmal wird die Tür aufgebrochen und ich weiche zurück. Die Kümmerer sind da. Einer zieht Bonnie von mir weg, ein anderer beugt sich zu mir herunter.

Ist wieder etwas passiert? Er redet mit mir, aber seine Lippen bewegen sich nicht. Schon wieder eine Halluzination?

„Entschuldige, ist es wieder passiert? Emilie antworte mir.“ Jetzt redet er normal. Ich kann das jetzt nicht verraten, sonst halten sie mich für komplett irre.

„Nein…“ Daraufhin verdreht er die Augen, als wüsste er, dass ich lüge, sieht seine Kollegen an und sie nicken ihm bestätigend zu. Daraufhin holt er eine Spritze aus einer Tasche.

„Was… ist das?“, frage ich.

„Es wird dir helfen.“

„Aber ich habe doch gesagt, dass es mir gut geht.“ Er reagiert nicht auf mich und nimmt meinen Arm. Irgendwie weiß ich, dass ich ihnen vertrauen muss.

Ich spüre den Einstich, fühle mich aufgeputscht und dann höre ich das Hintergrundrauschen gar nicht mehr. Sie wussten schon die ganze Zeit über, was ich hatte.

„War es das? Bin ich gesund?“ Keine Antwort. Sie bringen mich schon nach unten. Im Wohnzimmer ist keiner mehr. Die anderen haben sie wohl weggeschickt.

„Warte draußen…“, sagt einer der Männer, „dein Bruder kommt ja gleich.“ Woher wissen sie das schon wieder? Sie steigen in das Hovercar und starten.

Rob kommt an und ich steige neben ihm ein.

„Hey, alles in Ordnung…?“, fragt er mich.

„Wenn du es unbedingt wissen willst, nein, sie haben mit mir geredet und haben komische Dinge getan, mir passieren… dauernd… komische Dinge und es gibt keinen Grund, deswegen neidisch zu sein.“

„Emilie, es tut mir leid und ich bin nicht neidisch, aber was ist denn passiert?“

„Rob ich…“, sage ich, „ich glaube es ist schon okay, sie haben mich gerade geheilt…die Symptome… sind weg…“

„Aber das ist doch super…“, sagt er. Trotzdem heule ich auf einmal. Vielleicht auch aus Erleichterung, weil es endlich vorbei ist.

„Aber davor ist etwas passiert, ich habe Stimmen gehört und ich glaube, es waren…irgendwie Gedanken. Ich kann das nicht erklären. Du glaubst sicher, ich bin verrückt…“

„Nein.“

„Was glaubst du dann?“, frage ich ihn.

„Ich weiß es nicht, das ist wohl…eine Nummer… zu groß für uns.“ Ich schlucke. Vielleicht hat er recht.

„Aber du glaubst, dass es vorbei ist?“

„Ja“, sagt er, „ich hoffe.“ Er nimmt mich in den Arm und ich höre kein Rauschen und ich hoffe auch, dass er recht hat.

5. Kapitel

Als ich am nächsten Morgen aufwache, ist das Rauschen immer noch nicht wieder da. Nur mein Smartphone klingelt unaufhörlich. Es ist Bonnie. Ausgerechnet sie.

„Oh Mann – wo bist du? Wir warten alle...der Auftritt...“ Kein Wort zu gestern, aber sie hat recht. An den Auftritt habe ich in der ganzen Aufregung nicht mehr gedacht.

„Es geht mir besser, aber meine Mutter wird mich nicht rauslassen…“

„Dann komm trotzdem…“ Sie hat Recht. Die Ablenkung kann ich gebrauchen.

Ich mache mich fertig und bis ich runtergehe, bin ich mir sicher, dass Mama das alles verhindern wird, aber winkt sie schon mit den Autoschlüsseln.

„Du wirst es nicht glauben, sie haben gerade angerufen. Du darfst wieder raus und sie wünschen dir viel Erfolg für den Auftritt.“ Ich sollte mich freuen, nur irgendwie traue ich dem Ganzen nicht.

In der Aula haben sich die Sitzreihen schon mit den üblichen Gästen gefüllt. Bonnie steht im Backstagebereich vor einem Spiegel und tuscht sich die Wimpern.

Als sie mich sieht, umarmt sie mich, „gut, dass du da bist…ich bin ja so aufgeregt.“

„Aber wegen gestern…die Party… und…“

„Ja, war ganz lustig, aber du warst doch so früh weg…“ Das ist alles, das ihr aufgefallen ist?

„Jetzt komm schon, es geht gleich los…und wie deine Haare wieder aussehen…“ Ich weiß, ich habe sie nicht gebürstet. Sie setzt mich vor einen Spiegel und beginnt meine Haare zu machen und ich verstehe die Welt nicht mehr. Kein Wort über die Kümmerer, dabei muss es gerade ihr doch sofort aufgefallen sein. Habe ich mir das alles wieder nur eingebildet? Selbst wenn. Es bringt jetzt nichts, darüber nachzudenken. Ich werde den Auftritt jetzt trotzdem durchziehen und danach ist hoffentlich wieder alles normal.

Wir gehen auf die Bühne. Als ich singe, bin ich sofort in meinem Element und endlich nerven mich die Symptome nicht mehr.

Wir sind beim letzten Stück, als weitere Gäste durch die Seitentür reinkommen. Ich begreife sofort, wer das ist. Sie haben eine Statur und Ausstrahlung, die man überall erkennen würde. Auf einmal starren alle nur die Kümmerer an, während sie sich in die letzte Reihe setzen, also kann ich mir das nicht nur einbilden.

Trotzdem begreife ich das nicht. Ich dachte, es wäre vorbei und sie hätten mich geheilt und wenn keiner davon wissen darf, was mir passiert ist, warum erregen sie jetzt so eine Aufmerksamkeit? Wer weiß? Vielleicht wollen sie als Entschädigung für meine Strapazen die Band fördern. Zumindest muss Bonnie das denken. Sie geht besonders weit nach vorne und lässt sie alle wissen, wer die Frontsängerin ist, aber die neuen Gäste starren nur mich an. Was ist noch so spannend an mir, ich bin doch wieder gesund?

Als es vorbei ist, klatschen sie, genau wie alle anderen. Mama beglückwünscht mich, „oh Emilie, du warst so gut und sie scheinen es auch gesehen zu haben.“ Mittlerweile ist mir das egal. Ich bin die Aufmerksamkeit leid.

Als wir an einem Stehtisch in der Cafeteria etwas trinken, kommen sie auf uns zu und sie schütteln mir die Hände.

„Toll, wie du gesungen hast“, sagt einer von ihnen, „vielleicht reicht es sogar für ein Stipendium, wir haben hier jemanden mitgebracht – Sänger und Musikförderer Herr Jakob.“ Ich weiß, dass der Mann im Anzug ein erfolgreicher Förderer ist – und er kennt den Präsidenten persönlich. Dann wollen sie mir wirklich etwas ermöglichen. Mein Traum könnte hier und heute wahr werden.

„Würdest du uns vielleicht zu einem Gespräch begleiten?“

„Klar“, sage ich, „aber kann die ganze Band mitkommen, wir gehören… eigentlich zusammen…“

„Das geht leider nicht, nur du bist uns aufgefallen“, sagt die Frau. Das kann gar nicht sein, Bonnie macht das schon länger und hat sich gerade besonders in Szene gesetzt, aber der Förderer nickt.

„Oh Emilie, das ist ja so toll, herzlichen Glückwunsch“, sagt Mama und umarmt mich und ich umarme auch Rob.

Die Gäste sehen uns interessiert zu, als wir zusammen rausgehen und machen teilweise Fotos oder Videos. Nur Bonnie steht mit vor der Brust gefalteten Händen an der Eingangstür und sieht mich finster an. Ich weiß genau, was sie denkt, aber was kann ich dafür, wenn sie nur mich wollten?

Sie bringen mich zu dem glänzende Hovercar.

„Ich darf… wirklich darin mitfliegen?“ Die Frau nickt. Ich fasse es nicht – Hovercars sind unbezahlbar, selbst die Rundflüge leistet man sich höchstens zum Hochzeitstag und jetzt darf ich einfach so mit.

Ich steige hinten ein. Die Frau neben mir schnallt den Gurt zu. Ich schaue aus dem Fenster und glaube nicht, dass wir wirklich abheben. Es schwankt viel weniger, als ich immer geglaubt habe. Bald kann ich bis zu den Türmen im Zentrum schauen. Menschen legen die Köpfe in den Nacken, um uns starten zu sehen. Sie werden darüber reden. Vielleicht kommt es sogar in den Nachrichten.

„Das wird es nicht“, sagt der Mann, der neben mir sitzt. Was? War das eine Antwort auf die Sache mit den Nachrichten? Aber das habe ich nie laut gesagt.

„Schau lieber aus dem Fenster“, sagt er mir. Er hat recht. Die Aussicht ist toll und das wird wahrscheinlich das erste und das letzte Mal sein, dass ich sie genießen darf.

Das Hovercar vollführt eine Drehung, ist schon Sekunden später auf der Hauptstraße und reiht sich auf der höchsten Laserspur ein. Unter uns schweben so vielen Hovercars, dass ich den Boden kaum noch erkennen kann. Mir fallen diverse holographische Verkehrszeichen auf, die ich von unten nie gesehen habe.

Ich werde in meinen Sitz gedrückt, als das Hovercar Fahrt aufnimmt. Es kribbelt im Bauch. Wir überholen sogar die Schwebebahn, die weit unter uns hinter einer Böschung herfährt.

Der Weg führt zu den Türmen im Stadtzentrum. Dort wird es ein Casting geben. Ich war nie die Beste Sängerin. Was, wenn ich das versaue? Das darf ich einfach nicht.

Wir steuern das höchste Gebäude an, das man sogar aus unserem Wohnzimmerfenster sehen kann. Als wir näher dran sind, fallen mir die Landeplattformen auf, die in verschiedenen Höhen aus dem Turm ragen. Ich spüre das Fallgefühl, als das Hovercar an Höhe verliert. Wir setzen mit einem Ruck auf. Flügeltüren fahren hoch. Man löst meinen Gurt, hilft mir beim Aussteigen und dann stehe ich auf einer Plattform hunderte Meter über meiner Stadt. Wind weht durch meine Haare. Die Hausdächer wirken von hier aus wie eine ebene Fläche. Bis zum Wüstenrand kann ich schauen, aber der Weg führt ins Innere des Glasturms. Sonnenlicht bricht durch hohe Fenster. Ich befinde mich auf einem ringförmigen Steg, der sich um eine Eingangshalle weiter unten legt.

Dort starren etliche Menschen auf eine Anzeigetafel. Sie alle müssen warten, aber mich fliegen sie persönlich her. Wir steigen in einen Glasaufzug. Ganz ruhig, mein Auftritt hat ihnen gefallen, was kann noch schiefgehen?

Die Tür geht auf und wir befinden uns in einem fensterlosen Gang. Gesicherte Türen sind in regelmäßigen Abständen in die Wände eingelassen. Einer der Männer hält sein Auge an einen Scanner, woraufhin eine Tür klickt und aufgeht. Wozu die Sicherheitsvorkehrungen?

Der Raum ist fensterlos und darin gibt es weder eine Bühne, noch Mikrophone. In der Ecke steht eine einzelne Untersuchungsliege mit einem metallischen, merkwürdig aussehenden Kopfteil. Also geht es doch wieder um diese Krankheit. Mit dem Versprechen wollten sie mich nur weglocken.

„Nimm bitte Platz“, sagt einer der Männer in trockenem Tonfall. Das hatte ich befürchtet. Ich setze mich auf die Liege.

„Entschuldige“, sage ich, „aber was… bedeutet das alles…“

Keiner reagiert. Die Frau berührt mich an der Schulter und signalisiert mir, dass ich mich hinlegen soll, aber ich will Antworten.

„Beruhige dich“, sagt sie, nimmt meine Hand und auf einmal bewegen sich meine Muskeln ohne mein zutun. Jetzt sollte ich Angst bekommen, aber irgendwie fühle ich mich wie betäubt und total emotionslos. Mein Hinterkopf sackt in die Vorrichtung ein. Ein Schaumstoffring zieht sich so eng um meinen Kopf zusammen, dass ich ihn nicht mehr nach links oder rechts drehen kann. Jetzt sehe ich nur noch in das grelle Licht der Deckenlampe. Jemand legt mir eine Hand auf meine Stirn. Dann werde ich sehr müde. Kurz darauf verabschiedet sich mein Bewusstsein von Zeit und Ort. Szenen aus der Vergangenheit flackern vor meinen inneren Augen auf. Der Fernsehabend, der Bandauftritt, mein Zusammenbruch, aber auch längst vergangene Bilder von dem grünen Waldsee oder des alten Baumhauses. Ewig lange schwelge ich in vergangenen Erinnerungen, ohne die Chance sie noch mal zu bewerten oder darüber zu reflektieren. Sie widerfahren mir einfach. Ich weiß nicht, ob Stunden, Minuten oder gar Tage vergangen sind, als ich wieder zu mir komme. Ich will sie fragen, was passiert ist, aber dann verschwimmt alles.

Ich bekomme kaum mit, wie sie mich abschnallen. Ich will unbedingt selber laufen, aber ich knicke immer wieder weg. Dann wird alles milchig und als ich wieder aufwache, befinde ich mich in einem Hovercar und schwebe hunderte Meter über der leuchtenden Stadt.

Ich sacke wieder weg und komme erst wieder zu mir, als wir vor unserer Haustür gelandet sind. Die Frau sitzt noch neben mir.

„Wie geht es dir?“

„Ich weiß nicht“, sage ich, „warum habt ihr mich… belogen… und was habt ihr gemacht?“

„Ich verstehe, dass dir das eben komisch vorgekommen ist, aber wir können dir nicht mehr sagen.“

„Aber ich …ich bin doch wieder gesund?“

„Das hoffen wir ...“ Also sind sie sich nicht sicher. Na wunderbar.

„Also sehe ich Sie nicht wieder?“

„Vermutlich nicht“, sagt sie, „du solltest nicht mehr mit deinem Bruder über deine Erlebnisse reden, du tust ihm keinen Gefallen damit.“ Sie wissen, dass ich mit ihm geredet habe. Woher wissen sie das schon wieder? Ich würde mich darüber aufregen, aber ich bin zu benommen.

Die Flügeltür fährt hoch. Ich steige aus, taumele und klammere mich an dem Vorgartenzaun fest. Mama steht schon draußen und empfängt mich.

„Ich bin so stolz auf dich.“ Sie hat ja keine Ahnung, worauf sie stolz ist, aber ich will ihr die Wahrheit nicht sagen, das darf ich nicht und glauben würde sie mir das sowieso nie.

In meinem Zimmer werfe ich mich auf mein Bett. Jetzt weiß ich es sicher. Unsere Beschützer können Dinge, von denen niemand etwas wissen darf, deswegen verbieten sie mir darüber zu reden, aber irgendwann werde ich es tun müssen. Ich muss wissen, was sie mit mir gemacht haben, warum ich mich auf einmal… an diese Dinge erinnert habe… den ganzen Abend suche ich im Internet nach Antworten, aber ich finde nur Seiten darüber, wie toll unsere Beschützer sind, was für Wohltätigkeitsveranstaltungen sie für Kinder organisieren und wie man sich bei der Einstufung am besten präsentiert, aber nichts… darüber... Als würden sie nicht zulassen, dass so etwas öffentlich wird. Wahrscheinlich wollten sie deswegen nicht, dass die Geschehnisse nach dem Bandauftritt in den Nachrichten kommen.

6. Kapitel

Als ich aufwache, höre ich wieder das Rauschen. Es ist doch nicht vorbei. Der Alptraum geht weiter und ich weiß wieder nicht, wie ich den Tag überleben soll.

Mama hat zur Feier meines ersten Termins ein tolles Frühstück vorbereitet, aber ich habe keinen Appetit. Auf dem Weg zur Schule schwirrt mein Kopf und als ich das Foyer betrete, umringen mich so viele Schüler, sodass das Rauschen sofort laut ist.

„He, du bist doch Emilie, ich habe dich gestern mit ihnen wegfliegen sehen“, sagt ein kleines Mädchen, „ich will auch mal in einem Hovercar fliegen.“ Sie ist neidisch, dabei wünsche ich keinem meine Situation. In diesem Moment gehen Bonnie und Claudia vorbei und würdigen mich keines Blickes.

„Bonnie, tut mir leid wegen gestern, ich kann das erklären...“, rufe ich ihr nach.

„Ja sicher, ich will nichts mehr mit dir zu tun haben, du hast die Band verraten.“ Es schneidet in meinen Bauch.

„Aber es ging einfach nie um meinen Gesang, ich bin krank.“

„Ja klar und deswegen feiern dich alle.“

„So ist es gar nicht.“

„Doch – du hast Erfolg und jetzt sind wir dir egal, dabei dachte ich, wir wären Freundinnen.“ Auf einmal spüre ich ihre Wut und Enttäuschung, als wären es meine eigenen Gefühle und ich höre die Worte, als würden sie aus mehreren Dimensionen an mich herandringen. Ich will ihr sagen, dass es mir leidtut, aber dann verliere ich das Gleichgewicht, knalle auf den Boden und sehe mich selber da liegen, als würde ich durch die Augen eines anderen sehen. Ich will nur, dass das endet und dann verliere ich endlich das Bewusstsein.

Ich wache auf einer Matratze in unserem Keller auf. Regale mit Vorräten materialisieren sich und es geht mir wieder halbwegs normal.

Jemand klopft gegen die Tür. „Emilie, hier ist Rob. Bist du wach?“ Ja und ich bin so froh, ihn zu hören.

„Was ist passiert?“, frage ich.

„Du warst bewusstlos. Sie haben gesagt, dass wir dich in den Keller bringen sollen, aber ich muss draußen bleiben. Sie meinen, dass die Anwesenheit von anderen es schlimmer machen würde.“

„Dann habt ihr mit ihnen geredet?“

„Ja, es alles wird gut, sie werden dir helfen, wenn es nicht von alleine besser wird.“ Nein. Wenn sie mich holen, werden sie wieder Experimente mit mir machen. Ich muss es jemandem sagen, bevor ich nicht mehr die Gelegenheit dazu habe. Ich atme tief ein.

„Rob“, sage ich, „sie machen Dinge mit mir, ich...“

„Was für Dinge?“ Und dann erzähle ich ihm die ganze Geschichte.

„Oh man, das glaube ich einfach nicht und... du musst da nicht mitgehen, ich will nicht, dass du das tust.“ Ich glaube kaum, dass er das verhindern kann, aber immerhin ist er bei mir. Er bleibt die ganze Nacht vor der Tür. Wir gucken Serien – er auf seinem Tablet vor der Tür und ich auf meinem Laptop in dem Kellerraum, aber dann werden meine Symptome schlimmer. Ich habe hohes Fieber und zittere. Irgendwann dämmere ich weg und als ich aufwache, ist mir heiß und kalt gleichzeitig, und ich sehe schemenhaften Gestalten an der Wand auftauchen und wieder verschwinden.

„Rob“, schreie ich, „da ist etwas…“

„Versteh schon“, sagt er, „Emilie, ich muss ihnen das sagen.“

„Nein, tu das nicht bitte.“

„Ich lasse dich nicht sterben.“ Er geht und mir wird klar, dass ich jetzt vermutlich alleine sterben muss. Ich verliere das Bewusstsein und das nächste, das ich weiß ist, wie sie mich raustragen. Ich rieche ihren abgehobenen Parfumgeruch. Mama hält meine Hand, aber dann geht die Haustür zu und sie lassen Mama nicht mehr zu mir.

„Emilie, alles wird gut“, ruft sie mir nach, aber ich höre sie dabei weinen. Dann bin ich wieder weg und im nächsten Moment bin ich in einem Hovercar und schwebe über der Stadt hinweg. Leute in Kitteln stehen um mich herum, aber es geht mir so schlecht, dass mir alles gleichgültig ist.

„Er wird sich das persönlich ansehen wollen“, höre ich jemanden sagen. Ich will fragen, wen sie meinen, aber dann spüre ich schon einen leichten Druck an der Stirn und im nächsten Moment bin ich weg.

7. Kapitel

Lange Zeit driftet mein Bewusstsein zwischen Schlaf und Wachzustand hin und her. Mir ist heiß und dann wieder eiskalt. Ich spüre die Anwesenheit von großer Macht. Vielleicht ist das Gott. Vielleicht bin ich tot. Aber das kann kaum sein, weil ich immer noch Dinge wahrnehme.

„Wie geht es ihr?“ Irgendwoher kenne ich die Stimme.

„Nicht gut, aber sie wird es schaffen...“

„Das will ich hoffen, stellen Sie die beste medizinische Versorgung bereit, die Kosten sind mir gleichgültig.“ Ich kann mir nicht erklären, warum jemand Geld für meine Gesundheit ausgeben sollte. Außerdem glaube ich kaum, dass es noch viel bringt. Ich war noch nie so krank. Auf einmal spüre ich eine Berührung auf der Stirn und weiß sofort, dass es mir wieder gutgehen kann. Dann werde ich sehr müde.

Irgendwann kämpft sich mein Bewusstsein an die Oberfläche. Ich befinde mich in einem fensterlosen Zimmer und liege in einem Bett. Neben mir steht ein Infusionsständer und außer den kahlen Wänden, gibt es nur eine dicke Sicherheitstür. Es ist kalt, wie in einem Keller und es sieht nicht danach, als wäre ich in einem Krankenhaus. Ich fühle mich schwach und ausgezehrt. Dafür sind die Stimmen verschwunden. Es ist wieder besser. Das bedeutet, dass sie mich bald gehen lassen. Hoffentlich.

Die Metalltür klickt und ein uniformierter Mann mittleren Alters mit breiten Schultern, blondem Haar und ein Junge um die zwanzig in einer Uniform mit Schulterklappen, blonden Haaren und eisblauen Augen kommen herein. Ich muss ihm lassen, dass er verdammt gut aussieht, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Sie müssen auch zu diesen Leuten gehören, die mich verfolgt haben, so abgehoben, wie sie aussehen. Der Mann tritt vor und mustert mich wie ein Schlachtvieh.

„Hallo, ich bin Jonathan Taylor. Wie geht es dir Emilie?“

„Besser“, sage ich und schlucke.

„Das freut mich. Wir versuchen herauszufinden, was mit dir los ist. Dafür müssen wir einige Tests mit dir machen.“

„Test. Was für Tests?“, frage ich und versuche nicht so bestürzt zu klingen. Die letzten Untersuchungen waren nur merkwürdig und unangenehm und niemand hat mir gesagt, worum es wirklich geht.

Daraufhin seufzt dieser Taylor nur, „du wirst uns kurz begleiten müssen.“ Verstehe. Schon wieder eine Untersuchung, aber jetzt, wo sie mich auch noch einsperren, habe ich kaum eine Wahl. Ich will mich schon aus dem Bett rausrollen, aber dann gräbt der Junge seine Unterarme unter meine Kniekehlen, legt den anderen um meinen Rücken und trägt mich beinahe mühelos aus der Tür hinaus, die mindestens einen halben Meter dick ist auf einen grell ausgeleuchteten Kellergang hinaus. Er ist so eng, dass wir hintereinandergehen müssen. Tresortüren gehen links und rechts von dem Gang ab. Was ist das für ein seltsamer Ort und wozu ist er da? Natürlich wird mir das keiner beantworten.

Am Ende des Ganges steht eine Tür offen. In dem Raum befindet sich eine einzelne Liege mit einem Kopfteil wie bei der letzten Untersuchung, nur dass über der Liege ein verstellbarer Metallarm angebracht ist, an dessen Ende ein Bildschirm befestigt ist, der so eingestellt ist, dass man ihn nur ansehen kann, wenn man liegt.

Schon wieder eine merkwürdige Untersuchung. Das hatte ich befürchtet. Der Junge legt mich ab. Mein Kopf wird in die Vorrichtung eingespannt, sodass ich nur noch den Bildschirm sehe und die beiden starren mich an, als würden sie etwas von mir erwarten. Es ist so unangenehm.

Der Junge faltet seine Hand in meine und auf einmal geht es mir besser.

„Das machst du, oder?“, frage ich, „es ist nicht echt…?“

„Kommt drauf an, wie du echt definierst“, sagt er und lächelt, „ich bin übrigens Chad.“

„Emilie“, sage ich.

„Ja ich weiß.“ Woher weiß er das schon wieder?

Dieser Taylor setzt sich auf einen Hocker neben meiner Liege.

„Wir schicken einen Probelauf vor. Es erscheint gleich ein Bild und du konzentrierst dich ganz stark darauf.“ Auf dem Bildschirm erscheint ein geometrisches Fünfeck und ich starre es so akribisch an, wie es geht.

„Reicht schon“, sagt Taylor in einem Tonfall, der mir zu verstehen gibt, dass ich es mit dem Anstarren übertrieben habe, „ich stelle dir jetzt mehrere Aufgaben, woran du denken sollst. Versuch bitte alles mit einzubeziehen. Sowohl Erlebnisse, als auch deine grundlegenden Meinungen zu dem Thema. Versuch niemandem zu gefallen oder deine Antworten anderweitig zu verfälschen.“ Dann erscheint ein Foto meiner Mutter auf dem Bildschirm. Meine Mutter? Inwiefern soll ihnen das helfen herauszufinden, was mit mir los ist?

„Ich möchte, dass du an deine Mutter denkst. Wie war euer Verhältnis? Habt ihr euch oft gestritten? Welche einschlägigen Erlebnisse verbindest du mit ihr?“ Ich weiß nicht, wie ich das machen soll und warum es genügt, wenn ich nur über sie nachdenke. Dann legt er seine Hand auf meiner Stirn und auf einmal sind meine Gedanken frei von Gefühlen und ich bin hochkonzentriert. Ich denke an meine Mutter. An ihr Lächeln. Ich denke daran, wie vernünftig sie mit mir geredet hat, wenn ich mich mit meinen Freundinnen gestritten habe.

„Nicht nur Positives. Nicht beschönigen.“ Wie kann er nur glauben, dass ich das tue? Wie auch immer er das anstellt. Er hat kein Recht, das alles zu wissen. Er legt seine Hand auf meine Stirn. Szenen blitzen vor meinem inneren Auge auf. Meine Mutter wie sie mich zwingt, Hausaufgaben zu machen. Ich verstehe etwas nicht. Sie knallt mir das Papier vor die Nase. Mama, wie sie in der Küche weint, nachdem Papa bei einem Autounfall gestorben ist. Nachdem wir die Nachricht bekommen haben, wurde mir auf der Treppe zu meinem Zimmer schwindelig. Mama erzählt mir von Nahtoderfahrungen und dem Himmel, aber mir wird nur noch schwindeliger. Schließlich komme ich wieder in den Raum zurück.

„Ok das reicht“, sagt Taylor, „gut gemacht.“ Aber ich habe nichts gemacht, es wurde etwas mit mir gemacht und ich verstehe es nicht, aber mich fragt niemand. Weitere Fragen folgen. Es geht um meinen Bruder und Klassenkameraden und sogar meinen Vater – jedes Mal sehe ich Szenen und Erinnerungen und immer, wenn ich zurückkomme, ist mir schwindelig und schlecht und ich verstehe nicht, wie mir geschieht. Ich versuche alle Fragen aufrichtig zu beantworten und so viele Informationen wie möglich zusammenzutragen. Sie würden es sowieso aus mir rausquetschen. Wenn Taylor unzufrieden ist und noch „zu wenig hat“, bohrt er genauer nach und fragt präziser. Er hört nicht auf bis er über jedes Detail meines Lebens Bescheid weiß.

„Noch eine letzte Frage“, sagt Taylor irgendwann und sieht mir direkt in die Augen. Diesmal erscheint kein Bild auf dem Schirm, „was ist das System?“

Ich schlucke. „Wie, was ist das System? Ich finde es natürlich gut, aber ist die Frage nicht ein bisschen zu allgemein?“

„Das ist ja gerade der Knackpunkt dieser Frage. Jeder stellt sich etwas anderes unter dem System vor. Jeder sieht einen anderen Sinn darin? Wir wollen wissen, was das System für dich bedeutet.“ Ich weiß es nicht, ich habe nie groß darüber nachgedacht. Mama meinte diese Einsicht käme erst mit der Einstufung, aber dazu ist es bei mir nie gekommen. Ich versuche mich an Reden vom Präsidenten zu erinnern – das System teilt jedem einen Platz zu, es sorgt für Schutz, Frieden, Sicherheit und Wohlstand. Die Kümmerer passen auf uns auf. Wegen ihnen gibt nichts worüber wir uns Sorgen machen müssen.

„Aha“, sagt Taylor, „schön aufgesagt und was glaubst du wirklich?“ Die Wahrheit ist, dass ich nicht weiß, was ich glauben soll. In den letzten Tagen ist viel passiert, dass ich nicht verstehe. Taylors Gesicht legt sich in Falten. Das war wohl die falsche Antwort.

„Na gut, das genügt“, sagt er. Mir ist kotzschlecht. Die Welt versinkt in einem schwarzen Strudel. Kaum hat Taylor meine Arme befreit, versuche ich den Bügel loszuwerden, aber dann packt jemand meine Handgelenke und befreit mich in Zeitlupe. Mit einem Maschinengeräusch verändert meine Liege den Winkel. Davon muss ich würgen. Zum Glück kommt nichts raus, was mich nicht wundert, weil ich seit Tagen nichts mehr Richtiges gegessen habe.

Chad trägt mich wieder zurück in mein Zimmer und legt mich auf meinem Bett ab.

„Und jetzt?“, frage ich ihn, „darf ich bald gehen? Kann ich... wenigstens...kurz meine Mutter anrufen?“

„Nein, das geht nicht“, sagt er entschuldigend.

„Aber warum nicht? Was muss ich denn noch tun?“, frage ich und versuche nicht so panisch zu klingen. Er antwortet nicht darauf. Stattdessen steht er nur auf, bückt sich und zieht eine Matratze unter meinem Bett hervor.

„Was wird das?“, frage ich ihn.

„Ich schlafe bei dir.“ Na wunderbar. Dabei hätte ich gehofft das alles alleine verarbeiten zu können, aber jetzt überwacht er mich.

„Es geht nicht ums überwachen“, sagt er sofort, „du könntest heute Nacht Fieber haben oder halluzinieren. Es ist gut, wenn jemand da ist, der sich auskennt.“

„Also wisst ihr, was ich habe?“

„Nicht sicher.“

„Und was glaubst du?“

„Es spielt keine Rolle, was ich glaube.“ Er beginnt das Oberteil der Uniform aufzuknöpfen, als wäre es ihm völlig egal, dass ich auch noch hier bin. Ich drehe mich weg und höre wie ein Teil nach dem anderen auf den Boden fällt. Wenig später geht das Licht aus. Ich bin nicht müde. Mein Tag hat gerade erst angefangen und ich werde nie schlafen können, wenn ich nicht einmal weiß, was sie mit mir machen.

„Versuch an gar nichts zu denken. Dann schläfst du eher.“

„Woher willst du wissen, was ich denke?“ Keine Reaktion, aber irgendetwas sagt mir, dass er das tatsächlich weiß.

„Wenn du mir sagst, was ihr von mir wollt, schlafe ich vielleicht eher…“

„Wohl kaum. Schlaf jetzt. Sonst sorge ich dafür, dass du schläfst.“

„Aha, das kannst du also?“ Schon wieder geht mein Atem hektischer.

„Ja, willst du sehen?“

„Nein“, sage ich so schnell ich kann.

„Das dachte ich mir“, sagt er und dreht sich weg. Ich atme durch den Mund. Sie haben kein Recht dazu, mich festzuhalten, ganz egal, wer sie sind oder wozu auch immer sie in der Lage sind. Ich warte, bis Chad schläft. Dann schiebe ich die Decke beiseite, stehe vorsichtig auf, ertaste die Tür und rüttele daran. Sie ist verschlossen. War ja klar. Ich hämmere und kratze dagegen, aber wenig später höre ich schon Schritte hinter mir.

„Okay. Du hast es so gewollt.“ Ich spüre gerade noch einen Druck gegen die Magengrube und eine eiskalte Hand auf der Stirn. Es wird warm. Meine Beine knicken unter mir weg und mein Kopf sackt gegen etwas Weiches. Dann verliere ich das Bewusstsein.

8. Kapitel

Grelles Licht flutet in meine Augen. Ich bin immer noch hier in diesem Kellerraum und nichts ist vorbei. Chads Matratze ist leer und im Nebenraum höre ich die Dusche gehen. Er hat dafür gesorgt, dass ich schlafe, indem er mich nur berührt. Ich versuche nicht daran zu denken. Dann kommt er aus der Dusche und trägt lediglich ein Handtuch um die Hüfte. Sein Bauch sieht trainiert aus, aber ich versuche den Gedanken zu verdrängen. Warum muss ich das denken?

Daraufhin grinst er und reicht mir einen Stapel mit Kleidung: „Zieh das an! Wie ich Taylor kenne, will er noch vor dem Frühstück anfangen.“

Das bedeutet also, dass es weitere Tests geben wird. Ich schleppe den Stapel in ein winziges, nebenan liegendes Badezimmer. Badewanne, Waschbecken und Dusche befinden sich dicht beieinander. Ich lege die Kleidung im Waschbecken ab und ziehe mir das T-Shirt aus. Im Spiegel sehe ich, dass meine Rippen hervortreten.

Ich dachte immer, die Kümmerer würden sich um die Menschen sorgen, aber mein Befinden scheint ihnen völlig egal zu sein. Ich steige unter die Dusche. Eiskaltes Wasser prasselt auf meinen Rücken herab. Es tut so gut, endlich sauber zu werden. Irgendwann müssen sie mich gehen lassen. Das sage ich mir immer wieder, während der Wasserstrahl versiegt. Ich hülle meinen Körper in das Handtuch und steige aus der Dusche. Dann wende ich mich der Kleidung zu. Sie besteht aus einem T-Shirt, Unterwäsche und einer funktionalen Hose. Natürlich passt mir alles wie angegossen. Wundert mich kaum, dass sie meine Kleidergröße kennen.

Als ich rauskomme, sitzt Chad auf meinem Bett. Zögerlich setze ich mich neben ihn.

„Geht es dir gut?“, fragt er mich. Er sieht mich an, als würde ihn das wirklich interessieren. Dann legt er seine Hand in die Mitte zwischen uns, „falls du… noch…nervös bist.“

„Wie machst du das?“ Meine Stimme zittert und er antwortet nicht. Natürlich nicht. Die Tür klickt und Taylor kommt herein.

„Er hat es dir also nicht gesagt“, sagt er mit Blick auf Chad. Mein Herz rast. Was hätte er mir sagen sollen?

Taylor setzt sich neben mich, „sicherlich ist dir nicht entgangen, dass wir Dinge können, die du dir nicht erklären kannst.“ Natürlich nicht. Sie können mit einer bloßen Berührung meine Gefühle beeinflussen, sie wissen, was ich denke, aber das ist unmöglich. Niemand kann Gedankenlesen.

Chad zieht eine Augenbraue hoch. Bist du sicher? Ich zucke zusammen. Ich höre seine Stimme, aber seine Lippen bewegen sich keinen Zentimeter. Hat er das telepathisch übertragen?

Schon möglich. Er sagt nichts, aber ich höre seine Stimme. Ich fasse es nicht, aber Taylor nickt. Wenn die Regierung es schon zugibt, muss es wahr sein.

„Aber wir wissen…es nicht“, sage ich.

„Es würde euch nur verunsichern, aber es ist nötig, dass wir uns gut in euch einfühlen können.“ Aber ich sehe nur in Chads eisblauen Augen. Sie sehen tief unter die Oberfläche. Er kann alles mithören, das ich denke, auch das Peinlichste. Was ist das Peinlichste, das ich je gedacht habe? Nein. Schlechtes Thema. Es ist als wäre ich auf einmal in einem kranken Traum gefangen. Alles dreht sich. Ich will aufstehen und rausrennen, aber nach zwei Schritte verschwimmt der Raum. Alles wird schwarz und dann bin ich schon wieder weg.

Als ich zu mir komme, liege ich wieder auf meinem Bett. Chad sitzt an der Bettkante.

„Geht es dir besser?“, fragt er mich. Soll das ein Scherz sein? Mein Weltbild ist zerbrochen.

„Ich verstehe nicht, warum ihr mir das alles sagt, wenn niemand...es weiß...“

Daraufhin seufzt er nur, sieht mich lange an, aber dann nickt er. „Na schön, du würdest es ja sowieso erfahren.“ Er holt tief Luft und sieht mir direkt in die Augen. „Also wir glauben, dass du eine von uns bist.“ Der Schock geht durch meinen Körper. Jetzt ist er komplett übergeschnappt.

„Chad. Das kann nicht sein. Woher soll ich das können?“

„Ehrlichgesagt wissen wir es nicht, aber es ist so. Glaub mir. Ich weiß, wie sich das anfühlt.“

Ich schlucke. Wahrscheinlich weiß er das wirklich, aber ich will nichts können, das ich nicht einordnen kann. Ich will einfach nur nach Hause.

„Na schön“, sage ich, „dann wisst ihr, was ich habe und jetzt? Lasst ihr mich nach Hause?“ Aber dann begreife ich, wie lächerlich diese Frage ist. Als dürfte ich das jemandem verraten.

„Nein“, sage ich, „ich darf nicht mehr nach Hause, nie mehr...“

„Ich weiß nicht“, sagt er, „aber du solltest dich erstmal beruhigen.“

„Ich kann mich nicht beruhigen, ich...“ Ich will ihn schlagen. Angreifen. Aber er steht einfach nur auf, verlässt die Kammer und lässt die zentimeterdicke Stahltür zufallen.

Dann bin ich alleine. Ich lege mich auf die Liege und starre zur Decke. Was ich in den letzten Stunden erfahren habe, ändert alles. Ich kann nicht glauben, dass das wirklich möglich ist. Niemand weiß davon. Es wäre eine Sensation, wenn sie das wüssten und ich werde es nie jemandem sagen dürfen. Wie können die Sinneseindrücke der letzten Wochen Gedanken gewesen sein? Aber woher soll ich wissen, wie sich etwas anfühlt, das eigentlich unmöglich ist? Zumindest würde das erklären, warum sie sich für mich interessieren, und warum sie nicht wollten, dass irgendjemand merkt, wie es mir geht. Das ist alles zu hoch für mich. Zu krass. Wie soll ich jemals dazugehören? Mein Leben sollte nicht so aussehen. Ich sollte von den Kümmerern eingestuft werden und den Platz einnehmen, den sie mir geben, aber jetzt, wo ich weiß, dass sie übermächtig sind, funktioniert das alles nicht mehr. Ich darf das nicht wissen und kann nicht fassen, dass es überhaupt so ist. Ich würde es so gerne jemandem sagen, aber das werde ich nicht dürfen. Niemals wird jemand die Wahrheit wissen. Sie werden mich sicherlich auch nie mehr rauslassen. Ansonsten hätten sie mir das wohl kaum gesagt. Es dauert ewig, bis Chad wiederkommt.

„Na, hast du es verdauen können?“, fragt er und setzt sich neben mich auf die Matratze.

„Weiß nicht“, sage ich, „aber dir ist es damals sicher auch nicht leichtgefallen.“

„Na, ja, genaugenommen lief bei mir etwas anders. Man hat... mich für... tauglich befunden und ich habe die Fähigkeiten durch einen medizinischen Eingriff...erhalten.“ Ja, war klar, dass es einen offiziellen Prozess gibt.

„Dann hattest du gar keine Anfälle?“

„Doch schon, aber Emilie. Niemand hat einfach so solche Anfälle. Die meisten Ausgewählten sind Promis oder Eliteschüler, die ihr ganzes Leben auf so eine Rolle vorbereitet wurden.“

„Verstehe. Dann passe ich euch also nicht.“

„Na, ja. Es überrascht uns, aber es gibt... nichts... mit dem wir nicht umgehen können.“ Aber er klingt zögerlich und irgendwie gebrochen, während er das sagt.

„Und warum soll ich die Einzige sein? Was ist mit mir falsch?“

„Das wissen wir nicht. Du solltest darüber nicht nachdenken.“

„Doch“, sage ich, „das muss ich und was bedeutet das? Ich darf nicht mehr nach Hause, oder?“ Auf einmal rast mein Herz wieder. Chad steht auf, setzt sich neben mich und nimmt meine Hand und auf einmal fühle ich mich eingehüllt, als würde ich in warmem Badewasser liegen und so ruhig.

„Machst du das?“

„Willst du, das ich aufhöre...?“ Er grinst. „Das willst du nicht, was?“ Natürlich nicht, er macht es so, dass ich das nicht wollen kann.

„Chad, warum... seht ihr in uns hinein…?“

„Um euch zu beschützen, aber das wirst du schon... noch verstehen...“ Und ich werde wirklich ruhiger, auch wenn ich das gar nicht will. Mein Kopf sackt gegen seine Brust und so schlafe ich wieder ein.

Ich bleibe tagelang in der Zelle. Weitere Tests werden mit mir gemacht. Angeblich wollen sie herausfinden, warum ich diese Fähigkeiten habe, aber immer öfter geht es auch darum, wie meine persönliche Meinung zu einigen Themen ist und was ich in meinem Leben bisher gemacht habe. Sie wollen alles über mich wissen. Chad sagt mir, dass sie mich vielleicht ausbilden, aber irgendwie traut mir Taylor nicht. Ich will gar keine so wichtige Position. Eigentlich will ich nur, dass das alles endet. Ich gehöre sowieso nicht hierher. Ich kann nicht begreifen, dass ich meine Angehörigen nie wiedersehen werde.

Ich wache auf, als jemand reinkommt. Es ist Taylor. Diesmal hat er einen anderen Jungen im Schlepptau. Er trägt die gleiche Uniform wie Chad, aber seine Haare sind schwarz, spießig zur Seite gekämmt und seine Gesichtszüge härter. Er stellt sich in die Ecke, während Taylor sich neben mich setzt.

„Wie geht es dir heute?“, fragt er mich.

„Es geht“, sage ich, „ich würde wirklich sehr gerne… ausgebildet werden.“ Nicht unbedingt, aber zumindest würde das alles dadurch ein Ende haben.

„Ich habe schon befürchtet, dass du das sagst. Leider zeigen sowohl deine Gedankentests, als auch andere Untersuchungen, dass du dazu nicht in der Lage wärst.“ Der Schock geht durch meinen Körper. Sie wollen mich nicht. Aber irgendwie überrascht mich das wenig.

„Dann kann ich wieder nach Hause?“, sage ich hoffnungsvoll.

„Wir werden sehen“, sagt er, aber es klingt nach einem nein.

„Und was passiert dann mit mir?“ Taylor sagt nichts. Stattdessen tigert der Junge mit den schwarzen Haaren angriffslustig um mich herum. In seiner geschlossenen Handfläche hält er einen Gegenstand. Und wenn sie mich einfach nicht mehr brauchen? Wenn ich zu viel weiß? Wie kann ich ihnen vertrauen? Die Tür steht offen. Jetzt oder nie. Ich stehe auf, renne an ihm vorbei auf den Gang hinaus, aber nach einigen Metern fühlen sich Beine an, als würde ich durch flüssigen Beton, anstatt Luft laufen und dann halte ich einfach an. Das lösen sie wohl in mir aus. Am Ende des Ganges kommt ein Aufzug voller bulliger Anzugträger an. Ich will weglaufen, aber meine Beine sind immer noch eingefroren. Dann steigen sie aus. Einige gehen vorbei und dann tritt jemand Vertrautes aus der Gruppe hervor. Ich kann nicht fassen, was ich sehe. Das ist unmöglich. Ich habe ihn schon oft gesehen, nur ist diesmal kein Bildschirm zwischen mir und der mächtigsten Person der Welt. Es ist, als würde ich einen Geist sehen. Was macht der Präsident hier? Das ist doch nicht mehr real.

Ich bin mir sicher, dass er einfach an mir vorbeigeht. Er wird wohl kaum wegen mir hier sein. Ich stehe einfach nur im Weg und habe zu viel Respekt, um mich bemerkbar zu machen. Aber dann kommt er auf mich zu und beugt sich zu mir herunter.

Mach dir keine Sorgen, niemand will dir etwas tun. Im Gegenteil. Du bist sehr wertvoll. Ich höre die Wörter nur in meinem Kopf. Es ist so seltsam, aber es klingt nach der absoluten Wahrheit und ich kann nicht fassen, dass er auf diese Weise mit mir kommuniziert und mir einredet, ich wäre wertvoll.

„Ich bin erleichtert, dass es dir bessergeht“, sagt er.

„Danke“, bringe ich hervor. Dann ist er also doch wegen mir hier!?

„Ich würde dir gerne einen Platz auf meiner Schule anbieten. In Sacres werden sich die besten Lehrer um dich kümmern.“ Ich fasse es nicht und ich dachte, ich sollte nicht aufgenommen werden, ich dachte, meine Gedanken wären falsch und Taylor wollte mich… er hat mir gesagt, dass ich nicht aufgenommen bin, aber ich weiß sofort, dass Taylors Wort nicht mehr gilt. Trotzdem verstehe immer noch nicht, wie mir geschieht. Wie kann ein so mächtiger Mensch, so viel von mir halten? Dann winkt er diesen Jungen mit schwarzen Haaren heran.

„Das ist Bico Clifton. Er wird dich zu den anderen bringen.“ Bico schüttelt meine Hand und bemüht sich zu lächeln.

„Herzlich Willkommen. Ich gratuliere dir“, sagt er und dann.

„Vielen Dank“, bringe ich nur hervor. Als hätte ich eine Leistung erbracht, dabei habe ich nichts gewonnen oder erreicht, es ist mir einfach nur passiert, aber dem scheint es egal zu sein. Dann verlässt der Präsident mit seinen Sicherheitsleuten die Kammer.

9. Kapitel

Ich fühle mich immer noch wie gelähmt und kann nicht glauben, was eben passiert ist.

Ich laufe hinter Bico her. Am Ende des Ganges steigen wir in einen Aufzug. Langsam fahren wir aus dem Kellergewölbe heraus. Durch die Fenster sehe ich die umliegenden Wolkenkratzer der Stadtmitte in der Abendsonne baden. Ich war die ganze Zeit über in diesem Verwaltungsturm, nur wenige Kilometer von zu Hause entfernt, aber ich werde nicht mehr dahin zurückkommen. Mich nicht mal verabschieden dürfen. Jetzt wird alles anders.

Du schaffst das schon, höre ich es in meinem Kopf. Ich schlucke. Dieser Bico macht das mit mir. Es ist irgendwie seltsam.