Counterspell - Katrin Wahl - E-Book

Counterspell E-Book

Katrin Wahl

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Beschreibung

Roan ist ein Unterirdischer - sein Leben spielt sich verborgen tief unter der nordfriesischen Erde ab. Als sein Vater eine seltsame Krankheit befällt, sucht er nach einer Möglichkeit, um ihn zu heilen. Doch er muss sich beeilen, denn es scheint als sei dies keine gewöhnliche Krankheit und wenn er nicht rechtzeitig eine Lösung findet, wird sein Vater sterben. Bei seiner Suche ist er auf die Hilfe von jemandem aus der Oberwelt angewiesen, der Kontakt zu den Oberirdischen ist allerdings strengstens verboten. Wird es ihm gelingen, seinen Vater zu retten? Ein aufregendes Abenteuer über Vertrauen, Freundschaft und ein bisschen Liebe.

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Seitenzahl: 326

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

PROLOG

DIE SAGE VON DEN UNTERIRDISCHEN

DER GLAUBE AN DIE WIEDERGÄNGER (GONGER)

DAS WAR KNAPP

MORTEN

WENIG HOFFNUNG

IN ALVINS HÖHLE

DER RING (noch sieben Tage)

RITA (noch sechs Tage)

ERSTE BEGEGNUNG

EIN PLAN

AUF STÜRMISCHER SEE (noch fünf Tage)

GEWISSHEIT

BEI DEN PETERSENS

GEDANKEN UND EIN VERDACHT

JOHANNAS GEIST

FREUNDE

DER SCHUHLADEN

VERTRAUEN UND LÜGE

UNLIEBSAME BEGEGNUNG

DAS TREFFEN

GLÜCK IM UNGLÜCK

NEUIGKEITEN (noch vier Tage)

OLAND (noch vier Tage)

MAGNUS’ ALTES FISCHERHAUS

DIE WARNUNG

AUF DEM DACHBODEN

EINE UNVERGESSLICHE NACHT

ERKENNTNISSE

BESUCH BEIM HOHEN RAT (nachmittags)

EINE CHANCE

ENTSCHEIDUNG (noch drei Tage)

VERGESSEN UND GEFÄHRLICH

RUHE IN FRIEDEN

KALT UND NASS

MITTEN IM MEER

EIN SICHERER UNTERSCHLUPF

NEUIGKEITEN UND EIN WIEDERSEHEN (noch zwei Tage)

DER ZAUBERSPRUCH

EIN INTERESSANTES FUNDSTÜCK

BEI HANS

ENTTÄUSCHUNG

EINE UNERWARTETE WENDUNG

GESPRÄCH UNTER FREUNDEN

DAS ENDE?

EIN GRAUSIGER FUND

IM VERLIES

FLUCHT

WAHRHEIT

IN DER DUNKELHEIT

ALLE GUTEN DINGE SIND DREI, ODER DOCH NICHT? (der letzte Tag)

MITTAGSSCHLAF

RÜCKWEG

BITTERE ERKENNTNIS

DER ALLES ENTSCHEIDENDE MOMENT

ABSCHIED FÜR IMMER?

PROLOG

DIE SAGE VON DEN UNTERIRDISCHEN

Einst hatte eine Frau zehn Kinder. Fünf davon waren schön, die anderen fünf aber waren hässlich. Als Jesus an ihrem Haus vorbeikam, wollte er sich ihre Kinder ansehen. Die Frau aber schämte sich für ihre hässlichen Kinder, also zeigte sie ihm nur die fünf Schönen, die hässlichen Kinder aber sperrte sie in den Keller. Doch Jesus fragte nach ihnen, da log die Frau und sagte, dass sie keine weiteren Kinder habe.

Jesus segnete die fünf schönen Kinder und sprach: „Was drunten ist, soll drunten bleiben, was oben ist, soll oben bleiben.» Als die Frau danach in den Keller ging, um die hässlichen Kinder zu holen, waren diese verschwunden.

Sie leben der Sage nach als Unterirdische unter der Erde in Hünengräbern. Man sagt, manchmal holen sie Hebammen in die Unterwelt, damit sie beim Gebären der Kinder helfen, oder sie leihen sich Geschirr oder Töpfe aus.

Quelle: https://www.schleswig-holstein.de/DE/landesportal/land-und-leute/typisch-sh/sagen-und-legenden-aus-dem-norden/_documents/die_unterirdischen

DER GLAUBE AN DIE WIEDERGÄNGER (GONGER)

Auf den Nordseeinseln Sylt und Amrum gibt es immer wieder schaurige Berichte von Wiedergängern, die auf Sylt und Amrum »Gonger« genannt werden.

Bei diesen »Gongern« handelt es sich um unschuldige Mordopfer, Menschen, die zu Lebzeiten Grundsteine versetzt oder Land abgepflügt haben. Es kann sich aber auch um Gotteslästerer oder Selbstmörder handeln.

Es gibt jedoch noch eine weitere Art von »Gonger«. Es sind diejenigen, die auf See ertrunken sind. Diese zeigen sich ihren Anverwandten und geben ihnen Hinweise, damit sie den Tod des Verwandten und die Erinnerung an diesen akzeptieren und gedenken.

Der Gonger meldet sich nicht bei der nächsten Blutsverwandtschaft, sondern überspringt zwei bis drei Generationen. Bei Abenddämmerung oder in der Nacht erscheint er in der Kleidung, in der er gestorben ist und streunt um das Haus des Nachfahren herum. Er tritt tropfnass in dessen Räumlichkeiten ein und löscht das Licht mit der Hand. Dann legt er sich zu dem Schlafenden ins Bett auf die Bettdecke. Am nächsten Morgen zeugt dann eine Spur von Salzwasser von seiner Anwesenheit. Der Gonger kehrt so lange wieder und gibt Hinweise, bis die Erinnerung an ihn wachgerufen und sein Tod anerkannt wird. Man erzählt sich, dass man einem Gonger nicht die Hand reichen darf. Diese verbrennt, wird schwarz und fällt ab.

Quelle: https://www.schleswig-holstein.de/DE/landesportal/land-und-leute/typisch-sh/sagen-und-legenden-ausdem-norden/_documents/gonger

Früher gab es viele solcher Sagen und Mythen. Wieviel Wahrheit dahinter steckt und ob die ein oder andere Sage vielleicht gar nicht so weit von der Wirklichkeit entfernt ist, wie man es heute allgemein glaubt, das muss jeder für sich selbst herausfinden.

DAS WAR KNAPP

»Komm endlich da runter, es wird gleich hell!«, rief Heljar seinem besten Freund zu und rollte dabei genervt mit den Augen.

»Entspann dich!«, erwiderte Roan mit einer Seelenruhe, die Heljar nur noch mehr in Rage brachte. Neugierig inspizierte er gerade im diffusen Licht der Morgendämmerung alle Hebel und Schalter eines am Feldrand abgestellten, alten Traktors, in der Hoffnung, wenigstens irgendetwas der Technik zu verstehen, die ihm faszinierend, aber gleichzeitig so befremdlich erschien. Eine kräftige Brise wehte ihm dabei um die Nase und er genoss die frische, saubere Luft, die durch seine Lungen strömte. Es war Spätsommer – noch – aber wenn man genau lauschte, konnte man den Herbst schon kommen hören.

Ganz im Gegensatz zu Heljar liebte Roan die Oberwelt mit ihren stetig wechselnden Jahreszeiten. Er liebte den Wind, den Geruch, der immer wieder anders war und die endlose Weite der Felder und Wiesen. Nirgendwo sonst fühlte er sich so frei und lebendig. Und nur hier oben konnte er für einen kurzen Moment seine Sorgen vergessen, die er seit Tagen mit sich herum schleppte wie einen schweren Stein, den man an seinen Fuß gekettet hat.

»Weg hier!«, riss ihn plötzlich Heljars energische Stimme aus seinen Gedanken. Am Ende der Straße leuchteten zwei grelle Scheinwerfer auf. Mit einem beherzten Sprung verließ Roan den Traktorsitz und sprintete leichtfüßig seinem Freund hinterher, der sofort losgerannt war.

Mit hoher Geschwindigkeit rollte das Fahrzeug aus der Dunkelheit direkt auf sie zu. In letzter Sekunde, kurz bevor der Lichtkegel der Scheinwerfer sie traf und der Fahrer sie hätte entdecken können, gingen beide im mit Schilf bewachsenen Graben neben dem Weg in Deckung. Nur wenige Augenblicke später raste das Auto auch schon an ihnen vorbei.

Fluchend kletterte Heljar aus seinem Versteck und stapfte mit nassen Hosenbeinen auf Roan zu, dessen Hose merkwürdigerweise nicht mal ein bisschen feucht geworden war.

Heljar war einen guten Kopf kleiner als sein Freund, hatte eine gedrungene, aber sehr muskulöse Figur und ein grobes, freundliches Gesicht, dass er aber gerade zu einer miesepetrigen Grimasse verzog.

»Das war knapp!«, zischte er und warf Roan mit seinen kastanienbraunen Augen einen bösen Blick zu. Doch der lächelte bloß und schaffte es so mal wieder, Heljar den Wind aus den Segeln zu nehmen.

»Das nennt man Nervenkitzel, Heljar, reizt dich hier oben denn gar nichts? Langweilig unter der Erde sitzen, Bücher lesen und schlafen können wir noch genug, wenn wir alt sind!«

»Also ich für meinen Teil brauche keinen Nervenkitzel. Du hast wohl vergessen, warum wir eigentlich hier sind?«, entgegnete Heljar gedankenlos, bereute seine Aussage aber sofort wieder. Roans Gesichtsausdruck wurde schlagartig ernst.

Schnell ließ Heljar seiner unpassenden Frage eine ernstgemeinte Entschuldigung folgen.

»War nicht so gemeint, tut mir leid!« Er klopfte Roan kurz auf die Schulter.

»Ich weiß«, erwiderte Roan, dabei fiel sein besorgter Blick auf den Büschel verschiedener Heilkräuter, die er wie einen Strauß Blumen fest in seiner linken Hand hielt.

»Lass uns jetzt endlich von hier verschwinden! Ich bekomme langsam Hunger!«

Mit diesen Worten stapfte Heljar zügig voran, ohne sich noch ein weiteres Mal nach Roan umzudrehen. Vor ihnen am Horizont kündigte sich bereits in einem kräftigen Rot der Sonnenaufgang an. Nach nur wenigen Schritten verließen sie die Straße und steuerten zielstrebig auf eine uralte Winterlinde zu, die mitten auf einer mit hohem Gras bewachsenen Wiese stand. Ihr Stamm hatte einen Umfang von fast vier Metern und ihre Krone war so gewaltig, dass in ihrem Schatten eine ganze Viehherde Platz hätte. Je näher sie der Linde kamen, desto lauter wurde das Rauschen ihrer Blätter im stärker werdenden Wind. Direkt neben ihrem Stamm lag auf einem Erdhügel ein großer Findling. Sah man genauer hin, konnte man auf ihm seltsame, in den Stein geritzte Zeichen entdecken. Es waren Runen – alte, fremde Schriftzeichen einer längst vergangenen Zeit.

Behutsam legte Roan seine warme, offene Handfläche auf die eingeritzten Symbole. Zuerst geschah noch nichts, doch dann flackerte plötzlich ein heller blauer Lichtfaden auf, der sich wie ein leuchtender Wurm von links nach rechts durch die Vertiefungen im Gestein wand, bis er am Ende des letzten Symbols schließlich geräuschlos erlosch. Wieder dauerte es einen Augenblick, dann rollte der schwere Stein wie von Geisterhand mit einem Grummeln beiseite und gab den Eingang zu einem dunklen Erdtunnel frei. Ein kühler Luftzug hauchte Roan aus der Tiefe entgegen.

Noch einmal schaute er zurück zum Weg, nur um sicher zu gehen, dass niemand sie gesehen hatte, bevor er seinem Freund hinab in das schwarze Erdloch folgte. Kurz darauf schob sich der Stein zurück an seinen Platz und alles schien ruhig, wie zuvor.

MORTEN

Diesmal war es Roan, der mit großen Schritten im schwach beleuchteten Tunnel vorausging, so eilig, dass Heljar Mühe hatte, an seiner Seite zu bleiben. Immer tiefer führte sie der niedrige Gang in das Erdreich hinein. Ein erdiger, leicht modriger Geruch lag in der dünnen Luft. An den nur grob glatt geriebenen Erdwänden erleuchteten alle paar Meter kleine Laternen den Weg, die gerade eben genug Licht abgaben, um den Boden vor sich zu erkennen. Überall bewegten sich Schatten umher kriechender Insekten und ließen die Umgebung lebendig werden. Es dauerte nicht lang und die Beschaffenheit der Wände veränderte sich. Sie waren jetzt nicht mehr nur aus feuchter Erde geformt, sondern aus Steinen gemauert und auch die Deckenwölbung war nun hoch genug, dass Roan beim Laufen nicht mehr den Kopf einziehen musste.

Immer weiter ging es abwärts, bis der Tunnel nach ungefähr fünfzehn Minuten vor einer großen Felswand endete, vor der sich breitbeinig ein Wächter postiert hatte.

»Irgendwelche Vorkommnisse?«, fragte der große, mit einem Speer bewaffnete Mann mit tiefer Stimme. Dabei musterte er die beiden Jungen mit einem prüfenden Blick.

»Nö, alles in bester Ordnung!«, entgegnete Heljar und konnte sich dabei nur mit Mühe ein Lächeln verkneifen. Diese ernsten Gestalten, die niemals auch nur den Hauch einer Gefühlsregung zeigten, fand er einfach lächerlich.

Kurz schaute ihn der Wachmann streng an, dann blickte er zu Roan, der ihm bloß schweigend zunickte. Schließlich gab er den Weg frei und die schwere Felswand öffnete sich in einer fließenden Bewegung seitwärts, so als würde sie auf einer Schiene rollen. Dahinter befand sich ein gigantisches Höhlensystem – eine Stadt unter der Erde, in der reges Treiben herrschte. Das war das Reich der Unterirdischen.

»Wo ward ihr denn so lange?«, fragte Thea und griff nach Roans Hand, doch er zog sie ruckartig zurück, fast so, als hätte er sich bei der Berührung an ihrer Haut verbrannt.

»Jetzt nicht, ich muss zu meinem Vater«, antwortete er und ließ sie dann einfach stehen, ohne sie auch nur eines weiteren Blickes zu würdigen.

Enttäuscht drehte sie sich um und ging, aber das war Roan in diesem Moment egal.

»Du könntest wirklich etwas netter zu Thea sein«, sagte Heljar, »merkst du nicht, wie gern sie dich hat?«

Roan erwiderte nichts, sondern zuckte nur kurz mit den Schultern. Theas Interesse an ihm war ihm nicht entgangen, aber über seine eigenen Gefühle war er sich noch nicht im Klaren und in seinem Kopf war gerade auch gar kein Platz, um darüber nachzudenken. Seit eine seltsame Krankheit seinen Vater wie aus dem Nichts befallen hatte, machte Roan sich große Sorgen um ihn. Mit jedem weiteren Schritt wuchs in ihm eine unangenehme Anspannung, denn jedes Mal, wenn er ihn besuchte, fürchtete er, sein Zustand könnte sich drastisch verschlechtert haben.

»Oh nein, auch das noch«, stöhnte Heljar und seine Schritte wurden langsamer, als vier Jungen in ihrem Alter plötzlich um die Ecke bogen und direkt auf sie zukamen.

»Lass uns umkehren, warten wir ab, bis sie weg sind!«, flüsterte er Roan zu, aber wie erwartet fiel Roans Reaktion auf die Gruppe Halbstarker nicht so aus, wie Heljar es sich gewünscht hätte.

»Warum sollen wir umdrehen? Hast du etwas Angst vor denen?«

»Nein, überhaupt nicht!«, erwiderte Heljar ironisch. »Hast du vergessen, wie es für mich beim letzten Mal ausgegangen war, als ich diesen Großmäulern allein begegnet bin?«

»Bleib einfach ganz locker«, entgegnete Roan mit leiser Stimme, »jetzt bist du nicht allein. Außerdem gibt es keinen Grund, sich mit uns anzulegen. Wir gehen einfach an ihnen vorbei, das sollte wohl kein Problem sein, schließlich ist dies ein öffentlicher Weg.«

»Na, ob das so einfach wird …«, raunte Heljar leise zu sich selbst.

Die Gruppe war nur noch wenige Schritte entfernt. Der, der sie anführte, ging den anderen einen Meter voraus. Er war groß, kräftig und hielt sich beim Gehen so aufrecht, als würde ihm von hinten jemand permanent mit einem Stock in den Rücken pieksen. Sein Blick war kühl und seine blonden Haare hingen ihm seitlich über die Stirn wie ein Vorhang. Als er mitten auf dem Weg vor Roan und Heljar halt machte, strich er sie mit einer großen Handbewegung nach hinten.

»Na, wen haben wir denn da?«, fragte er fies grinsend, »Rickertsen junior. Wen willst du denn mit diesem vertrockneten Strauß voller Unkraut beeindrucken?« Er warf einen übertrieben angeekelten Blick auf die Kräuter in Roans Hand, dann wandte er sich lächelnd seinen Freunden zu, die daraufhin alle wie aus einem Mund kurz auflachten.

Roan hatte keine Lust auf Stress, er wollte einfach nur schnell zu seinem Vater.

Morten, so hieß der Anführer, war der Neffe eines hohen Ratsmitgliedes. Schon seit mehreren Generationen gehörte seine Familie zu den Obersten der Unterwelt. Er hielt sich für etwas Besseres und war ein fanatischer Hasser der oberirdischen Welt und seiner Bewohner. Dass Roan sich gern in der Oberwelt aufhielt, machte ihn automatisch zu Mortens Feind und einem Streit mit einem Feind ging Morten niemals aus dem Weg – ganz im Gegenteil, er suchte sogar danach.

»Lass uns durch, wir haben es eilig!«, entgegnete Roan trocken und vermied es, Morten dabei in die Augen zu sehen, um ihn nicht noch zu provozieren. Doch das änderte nichts.

»Sag schon, für wen ist das Unkraut da?«, wiederholte Morten seine Frage.

»Das sind Kräuter für meinen kranken Vater.«

Roan hoffte, sein Gegenüber würde durch seine ehrliche Antwort merken, dass eine Streitsuche hier und heute vergebens war, aber Morten war nicht sensibel genug, um zu spüren, wann Schluss war, oder es war ihm einfach egal.

»Oh, hat sich dein lieber Herr Vater da oben etwas eingefangen? Das geschieht ihm ganz recht! Selber Schuld, wenn man sich ständig in der Oberwelt aufhält, anstatt hier unten beim eigenen Volk seinen Pflichten nachzukommen. Dein Vater ist ein fauler Verräter!« Während er das sagte, schlug er Roan mit der geballten Faust das Kräuterbündel aus der Hand.

Roan kochte vor Wut, aber noch hatte er seine Beherrschung nicht verloren. Langsam beugte er sich herunter, um es wieder aufzuheben. Dann versuchte er links an Morten vorbeizugehen. Aber natürlich ließ der ihn nicht. Mit vorgestreckter Brust schubste er ihn zurück.

»Was wird das hier, mit dir bin ich noch nicht fertig!«

Heljar hatte alles still mit ansehen. Er hatte Angst vor Morten, aber wie er seinen Freund behandelte, konnte er nicht länger ertragen. Entschlossen trat er aus Roans Schatten hervor.

»Bitte, lasst uns durch, wir wollen keinen Streit, Roans Vater ist wirklich sehr krank.«

Doch als Morten ihm daraufhin einen starren, eisigen Blick zuwarf, fragte er sich sofort, wie er nur einen Schimmer Hoffnung haben konnte, dass seine Worte irgendeine Gefühlsregung in diesem Mistkerl auslösen.

Da tauchten hinter ihnen unverhofft zwei ältere Herren mitsamt ihrer Damen auf. Sie gingen an Roan und Heljar vorbei und automatisch machten auch Morten und seine Anhänger ihnen Platz. Ohne zu zögern mischten sich Roan und Heljar so geschickt zwischen die kleine Gesellschaft, dass Morten und seine Bande sie nicht mehr aufhalten konnten, ohne dabei auch die Herren und Damen zu bedrängen. So waren die beiden doch noch ohne Schaden aus der Sache herausgekommen. Aber sie wussten, dass dies mit Gewissheit nicht das letzte Mal gewesen war, dass sie sich mit Morten auseinandersetzen mussten.

WENIG HOFFNUNG

»Grüß deinen Papa ganz lieb von mir, wir sehen uns dann nachher«, verabschiedete sich Heljar und Roan nickte, bevor er in einer der vielen bewohnten Höhlen verschwand, die überall wie Löcher in einem großen Käse in die feste, dunkle Erde gegraben waren. Vor einer alten, mit Schnitzereien verzierten Eichenholztür blieb er stehen und atmete noch einmal tief durch, bevor er sie ganz leise öffnete.

Der Raum dahinter war kühl und dunkel, nur eine kleine Kerze brannte neben dem Bett auf dem Nachttisch und warf ein schwaches Licht auf das erschreckend blasse Gesicht eines Mannes, der mit leicht geöffnetem Mund, schwer atmend und mit geschlossenen Augen in einem einfachen Holzbett lag.

Roan musste mit Entsetzen feststellen, dass sich der Zustand seines Vaters seit seinem Besuch am Tag zuvor noch verschlechtert hatte. Vorsichtig streichelte er seinem kranken Vater über den Handrücken, um ihn nicht zu erschrecken.

»Hey, Papa«, flüsterte er und der Mann öffnete langsam die trüben Augen.

»Mein Sohn, wie schön dich zu sehen!«, sagte er mit schwacher Stimme und für einen kurzen Moment formte sich sein Mund zu einem Lächeln.

Aufmunternd schaute Roan ihn an und versuchte dabei, seine Sorgen um ihn zu verbergen.

»Ich habe die Heilpflanzen mitgebracht, die deine Schmerzen lindern. Wenn Garm dir daraus einen Sud zubereitet, wird es dir sicher bald besser gehen.«

Doch sein Vater schien ihm gar nicht richtig zuzuhören. Stattdessen zog er ihn ganz nah an sich heran, um ihm etwas ins Ohr zu flüstern.

»Ich habe schon auf dich gewartet, Roan. Es gibt da etwas, was ich dir geben möchte«, sagte er leise, »es ist dort drüben.«

Mit zittriger Hand zeigte er auf die gegenüberliegende, kahle Wand, die ein sich wiederholendes Muster aus Ornamenten zierte.

Roan nahm sich die Kerze vom Nachttisch und ging auf die Stelle zu, doch als er direkt davor stand, konnte er nichts entdecken.

»Schau dir das eingeritzte Muster genau an, es gibt eine Auffälligkeit, direkt dahinter befindet sich ein Hohlraum!«

Er ging in die Hocke und verglich im Licht der Kerze akribisch die Musterabfolge, bis ihm nach längerem Suchen plötzlich eine winzige Abweichung auffiel. Nur ein kleiner Schnörkel, der statt nach rechts nach links geschwungen war und beim bloßen Betrachten kaum auffiel.

Roan stellte die Kerze beiseite und begann ganz vorsichtig mit den Fingern die Erde abzutragen. Schon nach wenigen Zentimetern stieß er auf eine kleine, etwa handbreite, quadratische Kammer. Im Inneren lag nur ein einziger Gegenstand: ein schlichter, goldener Ring. Behutsam nahm Roan ihn heraus und betrachtete das Schmuckstück für einen kurzen Moment in seiner offenen Handfläche, bevor er damit zurück an das Bett seines Vaters trat.

»Dieser goldene Ring hat mal deiner Ururgroßmutter Johanna gehört«, er schluckte schwer und Roan reichte ihm einen mit Wasser gefüllten Becher. Zaghaft trank er ein paar Schlucke, ehe er den Kopf erschöpft zurück auf sein Kissen legte und leise weiter sprach. »Er ist das einzige Erbstück, das mir geblieben ist und ich möchte, dass du ihn jetzt an dich nimmst. Pass gut darauf auf und zeige ihn niemandem.«

»Warum so geheimnisvoll?«, fragte Roan, aber sein Vater war zu erschöpft, um die Unterhaltung fortzusetzen.

»Ich bin so müde«, sagte er schwach, dann schloss er die Augen und nur wenige Sekunden später war er auch schon fest eingeschlafen.

Gedankenversunken drehte Roan den Ring zwischen seinen Fingern hin und her, dabei hielt er ihn nah ans Kerzenlicht, dass sich im Gold reflektierte und es in einem warmen Gelbton schimmern ließ. Durch das Licht- und Schattenspiel wurde an der Innenseite des Ringes eine Gravur sichtbar.

Konzentriert richtete Roan sein Augenmerk darauf. Doch da öffnete sich plötzlich hinter ihm mit einem leisen Knarzen die Tür. Blitzschnell ließ er das Schmuckstück in seine Hosentasche gleiten.

Der Mann namens Garm, der nun den Raum betrat, war viel kleiner als Roan, hatte einen Kugelbauch und einen watschelnden Gang. Sein langer, grauer Bart hing ihm bis zum Hosenbund und seine buschigen Augenbrauen hatte er tief nach unten gezogen.

»Hast du die Kräuter gefunden?«, fragte der Zwerg und sofort hielt Roan ihm den Pflanzenstrauß hin, den er dankend entgegennahm. Dann zog er Roan am Ärmel beiseite.

»Ich will ehrlich mit dir sein«, begann er zögerlich und in seinem Inneren ahnte Roan schon, was jetzt kommen würde. »Es steht nicht gut um deinen Vater. Zuerst habe ich gedacht, es handelt sich vielleicht um eine unbekannte Viruserkrankung aus der Oberwelt. So viel Zeit, wie dein Vater immer dort oben verbracht hat, hätte mich das nicht gewundert. Aber auch dann hätte eigentlich irgend eines meiner Heilmittel helfen müssen. Ich habe alles in meiner Macht stehende versucht, doch es ist wie verhext, keines der herkömmlichen Säfte und Tinkturen scheinen gegen diese seltsame Krankheit zu wirken.«

Garm machte eine kurze Sprechpause und atmete schwer, so als müsste er nochmal Kraft sammeln, um den folgenden Satz auszusprechen.

»Ich fürchte, ich kann nichts mehr für ihn tun.«

Schweigen. Roans Augen füllten sich mit Tränen und er schluckte hart, um sie zurückzuhalten. Eigentlich hatte er es die ganze Zeit gewusst, doch erst jetzt, wo das Schicksal seines Vaters laut ausgesprochen worden war, traf ihn die Realität wie ein harter Schlag.

Mitfühlend legte der alte Zwerg seine Hand auf Roans Schulter.

»Du weißt doch, dass auch schon dein Großvater an diesem mysteriösen Leiden gestorben ist.«

Roan nickte. »Es scheint wohl etwas Erbliches zu sein«, sagte er leise. »Aber es muss doch irgendetwas geben, was ihn vor dem Tod bewahren kann?«, verzweifelt sah er Garm an, der jetzt versuchte, seinem fordernden Blick auszuweichen.

„Vielleicht …«, begann er zögerlich, so als hadere er mit sich selbst, »ach, es ist nur ein Gedanke und ich will dir keine falschen Hoffnungen machen«, brach er den Satz ab. Aber Roan fixierte ihn so eindringlich, wie ein Löwe seine Beute.

»Sag schon, Garm, was wolltest du mir sagen?«

»Vielleicht ...«, wiederholte der Zwerg, »kann der alte Alvin dir weiterhelfen. Er ist mit über einhundert Jahren einer der ältesten Zwerge hier unten und hat einen großen Erfahrungsschatz. Viele Jahre war er mein Lehrmeister. Alles, was ich über die Kunst des Heilens weiß, habe ich von ihm gelernt.«

»Wo finde ich ihn?«

»Das letzte, was ich von ihm hörte war, dass er sich zurückgezogen hat und weit unter der Erdstadt in einer abgelegenen Höhle lebt. Du kennst den Weg nach unten?«

»Ja, ich denke schon. Wieviel Zeit bleibt mir noch bis …« Roan blickte sorgenvoll zu seinem Vater.

»Höchstens ein paar Wochen, vielleicht auch nur Tage, das kann ich nicht so genau sagen. Du solltest dich auf jeden Fall beeilen.«

Roan wirkte entschlossen. Noch ein letztes Mal nahm er die Hand seines Vaters fest in die seine, dann verließ er die Höhle.

IN ALVINS HÖHLE

»Zum alten Alvin?«, Heljar kräuselte verständnislos die Stirn und versuchte dabei mit Roans flottem Schritt mitzuhalten.

»Ja, ich muss mehr über diese seltsame Krankheit herausfinden«, entgegnete Roan, »immerhin ist er schon über hundert Jahre alt und hat als langjähriger Heiler viel Erfahrung. Es könnte doch sein, dass er schon meinen Großvater und vielleicht sogar meinen Urgroßvater behandelt hat.«

Da stimmte Heljar ihm zu.

»Verstehe, weißt du denn, wo er wohnt?«

»Garm sagte, dass er sich unter die Erdstadt zurückgezogen hat. Ich kenne nur einen einzigen Weg, der noch tiefer unter die Erde führt.«

»Du redest doch nicht etwa vom alten Schacht am Ende der Stadt, oder?«, fragte Heljar entsetzt, »dieser düstere Gang ist mir nicht geheuer, wenn ich an seinem Eingang vorbeigehen muss, mache ich immer einen großen Bogen.«

»Es ist doch nur ein Tunnel«, erwiderte Roan lächelnd. »Du musst nicht mitkommen, wenn du nicht willst.«

Aber Heljar hätte seinen besten Freund um nichts in der Welt im Stich gelassen.

»Du hast Recht, es ist nur ein Tunnel, kein Grund zur Sorge«, wiederholte er Roans Worte, doch wirklich überzeugt davon war er nicht.

Nachdem sie die Stadt durchquert hatten, dauerte es nicht mehr lange, bis sie den Eingang erreicht hatten. Beim ersten Blick hinein in den Schacht offenbarte sich ihnen nicht mehr als ein tiefes, schwarzes Loch, aus dem ihnen, wie der Atem eines Feindes, ein kühler Luftzug entgegen strömte. Heljars Nackenhaare sträubten sich. Wäre er jetzt allein gewesen, hätte er direkt wieder kehrt gemacht. Doch Roan fürchtete sich nicht vor der Dunkelheit und als er die ersten Schritte hineingegangen war, zögerte auch Heljar nicht länger.

Je tiefer sie sich unter die Erde begaben, umso kälter wurde es. Wie ein wucherndes Geschwür zogen sich weiße, fein verzweigte Pilzgeflechte an den feuchten Wänden entlang und ein modriger Geruch erfüllte die immer dünner werdende Luft. Nach etwa einer Viertelstunde Fußmarsch begann Roans Fackel plötzlich zu flackern.

»Nicht, dass uns hier unten noch das Licht ausgeht«, flüsterte Heljar besorgt, während er sich beim Gehen so dicht an Roan drängte, dass die beiden einen gemeinsamen, großen Schatten an die Wand warfen.

»Stell dich nicht so an, was soll uns hier schon passieren? Bisher ging es doch nur geradeaus, den Rückweg würden wir auch im Dunkeln ganz ohne Fackel finden.«

Vielleicht hätte Roan das lieber nicht sagen sollen, denn nur einige Minuten später kamen sie an eine Weggabelung. Nachdenklich blieben sie stehen und Roan hielt die Fackel höher, um ihren Schein erst in die linke und dann in die rechte Tunnelöffnung zu lenken.

Im linken Gang setzte sich das Pilzgeflecht fort und die weißen Fäden an der Wand reflektierten leicht das Licht der Flamme, während ihnen im rechten Gang die absolute Finsternis entgegenschlug.

»Ich bin für den linken Gang«, versuchte Heljar Roan zu überzeugen. »Schau mal, der sieht doch viel einladender aus, findest du nicht auch?« Mit gehobener Augenbraue schaute Heljar seinen Freund erwartungsvoll an.

Roan ging in die Hocke und richtete das Licht auf den Boden. Sie hatten Glück, tatsächlich entdeckte er noch ein paar verwischte Fußabdrücke in der lockeren Erde.

»Tut mir leid Heljar«, erwiderte er grinsend, »aber es sieht ganz danach aus, als müssten wir den rechten Weg nehmen.«

»War ja klar!« stöhnte er wenig überrascht und folgte Roan dicht auf den Fuß in die Dunkelheit.

Auch nach weiteren zwanzig Minuten deutete nichts darauf hin, dass sich hier irgendwo in der Nähe Alvins Höhle befand, stattdessen umgab die beiden eine unheimliche, fast erdrückende Stille. Heljar hätte nichts dagegen gehabt, die Aktion abzublasen und umzukehren, doch er kannte seinen Freund nur zu gut. Wenn Roan entschlossen war, konnte ihn nichts und niemand aufhalten.

Die immer schwächer werdende Fackel gab mittlerweile nur noch so wenig Licht ab, dass beide nicht weiter als zwei Schritte voraus den feuchten Boden vor ihren Füßen erkennen konnten, auf dem es jetzt nur so von Kellerasseln wimmelte. Aber dann tauchte vor ihnen wie aus dem Nichts ein schwaches Licht auf.

»Dort muss es sein«, flüsterte Roan, erleichtert, dass sie die Höhle endlich gefunden hatten. Der Weg hatte sie in eine Sackgasse geführt, die direkt vor einer kleinen Tür endete. Alvin Gunvaldson stand mit Kreide auf dem Holz über dem Klopfring geschrieben.

Roan warf Heljar ein selbstgefälliges Lächeln zu, der grinste nur übertrieben zurück.

»Ja, ja, du hattest mal wieder Recht, verschone mich mit Eigenlob!«

Roan schmunzelte, dann griff er den schweren Eisenring und schlug ihn zweimal gegen das Eichenholz, so dass ein dumpfes Klopfgeräusch ertönte.

Genau in dem Augenblick, in dem sich die Tür einen schmalen Spalt weit öffnete, blies der kurzweilig entstandene Luftzug die Fackel aus und beide standen in absoluter Finsternis.

Ein blinzelndes, von unzähligen Falten umrahmtes Auge lugte durch den Türspalt und musterte die beiden von oben bis unten. Dann senkte sich die buschige Augenbraue.

»Wer seid ihr und was wollt ihr hier?« fragte die Person hinter der Tür misstrauisch. »Ich empfange keinen fremden Besuch, schon gar nicht so früh am Morgen!«

»Ich bin Roan Rickertsen und das ist Heljar«, stellte Roan sich freundlich vor. »Wir sind gekommen, weil ich hoffe, dass du mir vielleicht weiterhelfen kannst.«

»In welcher Angelegenheit?« Das spähende Auge zog sich skeptisch zu einem schmalen Schlitz zusammen.

»Es geht um meinen kranken Vater. Garm sagt, wenn jemand ihm noch helfen kann, dann bist du es. Du bist meine letzte Hoffnung.«

»Garm schickt euch? Na gut.«

Jetzt öffnete er tatsächlich die Tür und ließ die beiden herein. Der alte Zwerg, der sich beim Gehen leicht nach vorne beugte und mit der linken Hand auf einen knorrigen Krückstock stützte, führte Roan und Heljar durch einen kurzen dunklen Flur in seine Wohnhöhle.

Erstaunt sah Roan sich um. Überall standen Kerzen und Laternen, die den großen Raum in ein gemütliches Licht tauchten. Die Höhlendecke war gewölbt und fast fünf Meter hoch. An allen Wänden waren bis knapp unter die Wölbung Regale montiert, in denen Hunderte Bücher standen – Dicke Bände mit ledernem Umschlag, die vermutlich noch um einiges älter waren als Alvin selbst, aber auch kleine, dünnere Bücher mit verschiedenfarbigen Leinenrücken. Einige von ihnen versteckten sich unter einer dicken Staubschicht und waren wohl schon eine Ewigkeit nicht mehr aus dem Regal genommen worden, andere wiederum wirkten fast neuwertig und dann gab es noch welche, dessen Einband schon so zerschlissen war, dass man Angst haben musste, sie würden zu Staub zerfallen, sobald man sie aus dem Regal nehmen würde. Mehrere kleine Holzleitern lehnten an einem mehrstöckigen Gerüst, das aus alten, wurmstichigen Brettern abenteuerlich zusammengezimmert worden war. Hinter einem geöffneten Vorhang aus weinroter Wolle war eine gemütliche Koje in die Wand eingelassen, die dem Zwerg wohl als Schlafstätte diente und in der Mitte des Raumes brannte, eingefasst von einer kniehohen, halbrunden Mauer aus Feldsteinen, ein kleines Feuer, über dem an einem alten Eisengestell ein großer Kessel hing. Es duftete lecker nach Zwiebelsuppe.

»Glaubt ja nicht, ich lade euch zum Essen ein«, sagte der Zwerg mürrisch und bedeckte den großen Suppentopf im Vorbeigehen schnell mit einem verbeulten Deckel, bevor er den Jungs einen Sitzplatz auf einer alten Truhe anbot.

»Ihr seid also Freunde von Garm, ja?«

Er setzte sich gegenüber auf einen gemütlichen Schaukelstuhl und steckte sich eine kleine Pfeife an.

»Garm behandelt meinen Vater«, begann Roan, »er leidet an einer seltsamen Krankheit, an der auch schon mein Großvater gestorben ist.«

Alvin grübelte, dabei paffte er mehrmals so kräftig, dass sein Gesicht für einen kurzen Moment ganz in den dicken Rauchschwaden seiner Pfeife verschwand. Roan stieg der angenehm süßliche Geruch von Süßholz-Wurzel und Pflaume in die Nase.

»Wie war nochmal dein Familienname? Rickertsen? Ich glaube, ich erinnere mich an den Fall«, sagte er dann nachdenklich und nahm genüsslich einen weiteren Zug aus seiner Pfeife.

»Du, steh auf!«, sagte er dann in einem Tonfall, als würde er einem Untertan einen Befehl erteilen und zeigte mit seinem Stock auf Heljar, der sofort erschrocken aufsprang.

»Kletter doch mal da hoch«, jetzt deutete er auf eines der obersten Bücherregale.

»Warum ich?«, fragte Heljar irritiert.

»Weil du jung bist und ich ein alter Mann. Außerdem bist du fast so klein wie ein Zwerg. Na gut, du bist wahrscheinlich um einiges schwerer als ich«, während er das sagte, piekste er Heljar mehrmals mit der Spitze seines Gehstocks in den Bauch, »aber du bist immer noch leichter als dein großer Freund.«

Heljars Gesichtsausdruck sprach Bände. Dass er nicht der Größte war, das wusste er ja, aber mit einem Zwerg verglichen zu werden, das ging nun doch etwas zu weit.

»Aber sei besser vorsichtig!«, ermahnte Alvin ihn noch.

»Das Gerüst ist schon etwas in die Jahre gekommen, hier und da etwas wackelig und das Holz ist mürbe, aber es erfüllt noch seinen Zweck. Ich habe es selbst gebaut!«

Heljar schluckte, den letzten Satz hätte er lieber nicht gehört. Das selbstgeschusterte Bauwerk wirkte auf ihn nicht gerade vertrauenswürdig. Unsicher schaute er zu Roan herüber, doch der nickte ihm nur auffordernd zu.

»Also gut«, murmelte Heljar leise, dann ging er mit einem so ernsten Gesichtsausdruck auf die unterste Leiter zu, dass man denken könnte, sein letztes Stündlein hätte geschlagen. Schon als er die fünfte Sprosse erreichte, knackte es auf einmal unter seinen Füßen und er konnte sich gerade noch festhalten, bevor das Brett, auf dem er stand, mit einem lauten Krachen auseinanderbrach. Krampfhaft krallte er sich rechts und links an der Leiter fest und kletterte ab jetzt ganz langsam und vorsichtig weiter, bis er es so schließlich ohne weitere Vorkommnisse bis ganz nach oben schaffte.

»Ungefähr in der Mitte, es ist das dicke, verstaubte Buch mit dem blau eingefärbten Ledereinband. Leg es in den Korb und lass es herunter!«

Erst jetzt entdeckte Heljar den kleinen geflochtenen Weidenkorb und das daran geknotete, in Schlaufen gelegte Seil, das über einen Flaschenzug an der Decke verlief.

Nachdem Heljar nach einem äußerst wackeligen Abstieg wieder auf der Truhe Platz genommen hatte, nahm Alvin eine Leselupe und das Buch zur Hand, befreite den Einband grob vom Staub und schlug es vorsichtig auf.

»In diesem Buch haben ich und mein Vorgänger alle Krankheitsvorfälle unserer Laufbahn eingetragen. Manchmal nur in wenigen Stichworten, manchmal auch recht ausführlich, je nachdem, wie es uns möglich war.«

Vorsichtig, um die lockeren, leicht vergilbten Seiten nicht ganz vom Buchrücken zu lösen, blätterte er hin und her, bis er nach ein paar Minuten fand, wonach er gesucht hatte. »Hier ist es schon: 15. August 2003. Patient: Nahne Rickertsen, geboren 1958, Befund: unbekannt. Nachtrag: gestorben am 10. September 2003. War das dein Großvater?«

»Ja, er hieß Nahne Rickertsen.«

Alvin klemmte einen kleinen Zettel zwischen die Seiten. Dann schlug er das Buch ein ganzes Stück weiter hinten auf, blätterte ein paar Mal vor und zurück und blieb schließlich auf einer Seite hängen. Langsam rutschte sein Finger von Zeile zu Zeile, bis er abrupt stoppte.

»12. August 1981, Patient: Olaf Rickertsen, geboren 1936, Befund: unbekannt, Nachtrag: gestorben am 10. September 1981«, las er leise vor. Dein Urgroßvater, oder?«

Roan nickte verblüfft und Alvin markierte auch diese Buchseite mit einem kleinen Zettel. Als er jetzt noch weiter zurückblätterte, stieg in Roan die Anspannung. Wie gebannt sahen er und Heljar Alvin beim Blättern zu.

»Ah, hier, haben wir es doch«, sagte Alvin plötzlich und las den Eintrag laut vor: 18. August 1945, Boje Rickertsen geboren 1900, Befund: unbekannt, Nachtrag: plötzlich verstorben am 10. September 1945. Ich vermute mal auch ein Verwandter von dir?«

»Mein Ururgroßvater hieß Boje«, sagte er leise.

Alvin durchsuchte nun auch noch den letzten Teil des Buches. Er ging Seite für Seite konzentriert durch, aber er fand keinen weiteren, derartigen Eintrag.

»Es sieht so aus, als wäre die merkwürdige Krankheit zum ersten Mal bei deinem Ururgroßvater aufgetreten.«

»Aber wie ist das möglich, dass jeder meiner Vorfahren am zehnten September gestorben ist? Sowas kann doch kein Zufall sein.«

»Und das ist noch nicht alles«, erwiderte Alvin und blätterte nochmal zwischen den markierten Seiten hin und her. »Schauen wir uns die Daten an, gibt es noch mehr Parallelen. Alle deine Vorfahren kamen im August zu mir oder meinem Vorgänger, zwar nicht an demselben Datum, aber ich vermute mal, das liegt nur daran, dass ja nicht jeder sofort zu einem Heiler läuft, wenn er sich mal nicht so wohl fühlt. Einer geht eben früher, der andere später. Wir können es wohl nicht mehr beweisen, aber ich würde meinen Bart darauf verwetten, dass die Krankheit bei allen genau am selben Datum ausgebrochen ist!«

»Wie unheimlich«, flüsterte Heljar. »Mir ist auch noch was aufgefallen«, sagte er dann, »alle deine Vorfahren waren im Jahr ihrer Erkrankung genau fünfundvierzig Jahre alt. Roan, wie alt ist dein Vater jetzt?«, fragte er mit besorgtem Blick.

Roan überlegte kurz. »Er ist im Januar fünfundvierzig Jahre alt geworden.«

Schweigen erfüllte den Raum, bis Alvin erneut das Wort ergriff.

»Also eins ist klar, dies ist keine gewöhnliche Krankheit, denn Krankheiten halten sich nicht an Daten! Hier haben wir es definitiv mit etwas anderem zu tun.«

»Zauberei!«, platzte es aus Heljar heraus und seine Augen weiteten sich.

Alvin nickte bedächtig.

»Und was bedeutet das jetzt?«, fragte Roan ungeduldig, doch Alvin wirkte ratlos.

»Das bedeutet, dass auch dein Vater am zehnten September sterben wird, es sei denn, du findest einen Weg, diesen Zauber zu brechen.«

»Aber dann bleiben mir ja nur noch sieben Tage, wie soll ich das anstellen?«, fragte Roan verzweifelt.

»Leider kenne ich mich in der Zauberkunst überhaupt nicht aus. Aber ich glaube, dass die Lösung – wenn es denn eine gibt – in der Vergangenheit zu finden ist, genauer gesagt, du musst das Übel an der Wurzel packen und irgendwie mehr über deinen Ururgroßvater erfahren und was damals genau passiert ist.«

»Ich hatte gehofft, dass du mir vielleicht mehr über ihn erzählen kannst …«, erwiderte Roan.

»Es war nicht ich, sondern mein Vorgänger, der ihn damals als Patient behandelt hat. Ich war zu der Zeit noch sehr jung und hatte meine Ausbildung zum Heiler gerade erst begonnen. Hast du denn keine Verwandten mehr, die dir etwas über ihn und sein Leben erzählen können?«

Hoffnungslos schüttelte Roan den Kopf.

»Da gibt es niemanden. Meine Mutter verstarb bei meiner Geburt, außer meinem Vater habe ich keine lebenden Verwandten mehr.«

Nun sah auch Alvin sehr traurig aus. »Das ist ein Jammer, wirklich ein Jammer!«

Resigniert verließen Roan und Heljar die Höhle des alten Zwerges. Jetzt wusste Roan zwar, dass sein Vater wohl von einem bösen Zauber befallen war, aber wie ihm diese Erkenntnis im Augenblick weiterhelfen konnte, wusste er nicht.

DER RING (noch sieben Tage)

Zurück in seiner Höhle ließ Roan sich auf sein Bett fallen und starrte reglos an die Decke. Nur noch sieben verdammte Tage, wie sollte er so schnell etwas herausfinden? Wo sollte er überhaupt mit seiner Suche nach einer Lösung beginnen?

Die Hoffnung, seinen Vater noch retten zu können, war schwindend gering. Am liebsten hätte er sich für immer in seiner Höhle verkrochen.

Thea war gekommen und Heljar erzählte ihr von ihrem Besuch beim alten Alvin, dem Verdacht, dass es sich bei der Krankheit um einen bösen Zauber handeln könnte und der ausweglosen Situation, in der sie nun steckten.

»Aber es muss ja nicht immer eine Person sein, auch Gegenstände können einem etwas über die Vergangenheit erzählen«, sagte Thea und bemühte sich, dabei möglichst hoffnungsvoll zu klingen. »Hast du vielleicht irgendwelche alten Briefe, Bilder oder Andenken von deinem Ururgroßvater, die dir weiterhelfen könnten?«

Roan schüttelte zuerst mit dem Kopf, aber dann fiel ihm plötzlich der Ring wieder ein. Schnell griff er in seine Hosentasche und holte ihn heraus.

»Diesen goldenen Ring habe ich vorhin von meinem Vater bekommen. Bisher habe ich noch keine Zeit gehabt, ihn mir in Ruhe anzusehen. Er ist das einzige verbliebene Erbstück unserer Familie und gehörte meiner Ururgroßmutter Johanna.«

»Zeig mal!«, bat Thea interessiert und Roan legte den Ring in ihre geöffnete Hand.

»Mein Vater hat ihn die ganzen Jahre in einem Hohlraum in der Wand versteckt. Er wollte, dass ich ihn niemandem zeige, keine Ahnung warum.«

»Das kann ich dir sagen«, sagte Thea, nachdem sie den Ring genauer untersucht hatte. »An der Innenseite des Ringes sind Worte in der alten Schrift eingraviert, wahrscheinlich hat dein Vater den Ring deshalb versteckt.«

Roan und Heljar sahen sie verständnislos an.

»Ihr habt wohl in Vergangenheitskunde geschlafen, was?«, Thea lächelte spöttisch. »Vor vielen Jahren hat der Rat beschlossen, alles, was in irgendeiner Weise mit den Oberirdischen in Verbindung stand, zu vernichten, dazu gehörte auch jedes Schriftstück und jeder Gegenstand, auf dem etwas in der alten Schrift geschrieben war, denn der Ursprung der Schrift liegt bei den Menschen der Oberwelt. Indem deine Vorfahren den Ring stets geheim hielten, haben sie ihn vor der Zerstörung bewahren können.«

Als Thea Roan den Ring zurückgab, sah auch er sich die Inschrift genauer an. Die Schnörkel und Zeichen waren ihm zwar fremd, kamen ihm aber bekannt vor. Ihm war so, als hätte er einige von ihnen schon einmal irgendwo gesehen.

»Ich muss unbedingt jemanden finden, der mir das übersetzen kann. Der Ring stammt genau aus der Zeit, als mein Ururgroßvater noch lebte und könnte somit tatsächlich von Bedeutung sein!«

»Das kannst du vergessen«, winkte Thea ab, »hier unten gibt es, so weit ich weiß, niemanden mehr, der das lesen kann und außerdem könnte man dir den Ring wegnehmen, denn er dürfte eigentlich gar nicht mehr existieren!«