Crazy Dogs - Brigitte Werner - E-Book

Crazy Dogs E-Book

Brigitte Werner

4,7

Beschreibung

Einfühlsam und ausdrucksstark erzählt Brigitte Werner den ungewöhnlichen Entwicklungsweg von Mirjam, einem jungen Mädchen in der Zeit der 80er-Jahre. Ein Roman über den Verlust der Kindheit und die schwierige Zeit des Erwachsenwerdens, über erste Liebe, Freundschaft und Vertrauen, Irrwege und Auswege. Und über die Erkenntnis, dass das Recht auf Individualität ein großes Geschenk ist, das man sich trauen sollte anzunehmen. Mirjam, zu Beginn des Romans dreizehn und an seinem Ende achtzehn, hat die beklopptesten, schrägsten Eltern der Welt; oft sind sie ihr peinlich, trotzdem liebt sie sie sehr. Aber keinesfalls möchte sie so sein wie Pom, ihr kleiner, runder Vater mit dem großen Herzen und der großen Klappe, und ebenso wenig möchte sie angestaunt werden wie ihre schweigsame, bunte Hippiemutter Lena. Ihre Freundschaft zu Ötte, Besitzer der einzigen Bude im Ruhrpott mit Karibik-Flair, und seiner Budenbestie Masseltow, ihre Nähe zu Tante Greta, die Ersatzgroßmutter und weise Ratgeberin in einem ist, und zu ihrem jüdischen Freund David mit seinem dunklen Geheimnis, tragen Mirjam durch ihren oft einsamen Alltag. Mit Ötte beginnt sie, Blues zu improvisieren, und es gelingt ihr langsam, ihre Schüchternheit abzustreifen und auszuprobieren, wer sie ist und wo ihre Stärken liegen. Doch als sie mit ihren Eltern zum Sommerurlaub in die geliebte Provence aufbricht, kommt es zur Katastrophe. Für Mirjam bricht alles auseinander, und sie zieht sich immer mehr in sich zurück. Bis Arnt, der Fotograf, auftaucht. Da eskalieren die Probleme und rütteln sie wach …

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Brigitte Werner

Crazy Dogs

Verlag Freies Geistesleben

Inhalt

Prolog

1. Dreizehn Jahre

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Vierzehn Jahre

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Fünfzehn Jahre

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Sechzehn Jahre

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Siebzehn Jahre

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 38

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Epilog

Danke

Prolog

The answer to all our mysteries is:Du DamdamdamDu Damdam

Leonard Cohen

Lange habe ich gedacht, ich hätte die beklopptesten Eltern der Welt. Völlig bekloppt und plemplem. Keiner hatte solche Eltern: Man staunt sie an, man rauft sich die Haare, man flüstert hinter der Hand, man belächelt sie oder man tippt sich an die Stirn. Oder man liebt sie. So wie ich. Denn eigentlich sind meine Eltern wunderbar und voll okay. Oft habe ich gedacht, dass man mit ihren Macken und Geschichten Bücher füllen könnte. Und vielleicht würde eines dann mal in einem Regal in einer Bücherei stehen. Und ich könnte alles nachlesen, staunen und alles verstehen und nichts vergessen. Bücher sind Spuren, die einen an Orte führen, die man noch nicht kennt und mit ihrer Hilfe entdeckt. Ich liebe es, ihren Spuren zu folgen. Ich liebe Bücher.

So mit zehn wollte ich unbedingt Bibliothekarin werden, um tonnenweise Bücher lesen zu können, oder ich würde mal selber welche schreiben. Und die sollten dann in einem Bücherei-Regal stehen. Denn Bücher waren das Allerbeste auf der Welt. Sie machten, dass meine kleine Welt groß wurde, prall gefüllt mit Abenteuern und mit Gesellschaft, wenn ich mal wieder allein war. Und im besten Falle hatten sie die besonderen Wörter, die ich angaffen konnte, manchmal mit offenem Mund, wenn ich sie entdeckte. Mit zwölf fand ich in Tante Gretas Bücherschrank Malina von Ingeborg Bachmann und las es dreimal hintereinander. Ich habe, glaube ich, gar nix kapiert, aber jedes einzelne Wort bestaunt und irgendwie auch verstanden. Denn das Tolle bei guten Büchern ist, dass sie unter dem Text noch was anderes haben, wofür man den Verstand nicht braucht. Fest steht, ich las dieses Buch mit irgendwas anderem, dafür habe ich aber keinen Namen. Und ich bin sicher, dass ich alles begriff.

Naja, das kann ich sowieso nicht beweisen. Das Verrückte ist, dass man mit zwölf manchmal mehr weiß als mit siebzehn. Und dann fällt es einem aus dem Kopf und verschwindet im Universum. Irgendwann taucht es angeberisch mit großem Getöse wieder auf und tut so, als wäre es eine unglaubliche Neuentdeckung. Trörö, trörö, voll das Leben. So wie Lady, wenn sie Mäuse anschleppt und wir sie schon von Weitem mit ihrem Angebergemaunze hören können, bevor sie sie uns vor die Füße knallt. Ne, eigentlich nicht, Lady ist nämlich eine Dame und legt sie immer fein ordentlich, mit den Schwänzen in eine Richtung, in unsere Duschtasse. Weil sie einfach unglaublich intelligent ist.

Aber das Leben? Hat es uns die Mäuse praktischerweise in die Duschwanne gelegt? Ne, ne, nix da. Sie lagen immer irgendwo rum, wo man mit nackten Füßen bestimmt auf sie drauftrat, voll in ihr angeknabbertes Innenleben rein, und sie waren hühnergroß. Wir traten haufenweise in solche Mäuse, Pom, Lena und ich (das soll jetzt eine Metapher sein, ich liebe nämlich Metaphern). Mäuse gab es bei uns schon immer genug.

Ja, manche behaupteten, wir seien schräge Vögel, völlig crazy und so. Und deshalb tippten sie sich an die Stirn. Und hüstelten bedeutungsvoll. Wer hat schon einen Vater, der Pom heißt, weil er so rund wie ein Apfel ist – und der heißt in Frankreich, in Poms geliebtem Frankreich, «pomme». Pom ist rund und nicht besonders groß. Das Wort «klein» darf bei uns nicht benutzt werden. Pom macht mit Matte, seinem Kumpel, Kindertheater. Sie werden gebucht, und dann ziehen sie los mit unserem alten Theaterbus, voll bepackt mit Bühne, Requisiten, Scheinwerfern und dem ganzen Pom(p!) und Plunder. Meistens spielen sie in irgendwelchen Jugendzentren, Gemeindesälen oder Turnhallen. Turnhallen hassen sie! Pom schreibt die Stücke, und Lena, Matte und ich fügen ein paar Ideen hinzu (die meisten sind von meiner ideenreichen Mutter), was Pom, wenn es fertig ist, immer abstreitet – er ist ein Gockel! Und reich werden wir davon nicht. Eher so das bekloppte Gegenteil. Aber wir haben ’ne Menge Spaß. Und Lena, meine Mutter, die manchmal «Squaw» heißt oder «Butterblume» oder «Weib» (O-Ton Pom), sieht aus wie eine Collage aus Schneewittchen, Scheherezade, die Schwester von Winnetou oder wie eine wilde Zigeunerin. Sie ist etwas größer als Pom, was er abstreitet, und sie redet nicht viel. Manchmal nervt das Pom so, dass er einen Anfall kriegt und brüllt: «Weib, rede mit mir!»

Völlig falscher Ton, aber das kapiert Pom nie. Das kriegt er einfach nicht in seinen kugelrunden Seehundkopf rein. Denn wenn er brüllt, verwandelt sich Lena in eine Schnecke, die blitzschnell in ihrem Häuschen verschwindet. Oder aber sie zieht sich in ihre Werkstatt zurück und sägt, hämmert und schraubt an ihren wilden, wunderbar schrägen Skulpturen, malt leuchtende Bilder, näht Taschen, bastelt Schmuck und anderen Kram, den sie in einigen Läden zum Verkauf anbietet. Und sie wird allerhand los.

Unser Leben ist bunt, es ist laut und schrill, es ist wunderbar und grässlich (bei diesen Eltern!), und mich müssen sie irgendwo auf einer ihrer Motorradfahrten rund ums Ruhrgebiet oder in Südfrankreich zwischen Lavendel und Thymian gefunden haben, denn ich bin so anders, dass ich selbst nur staunen kann. Ich will möglichst nicht gesehen werden, bloß bitte schön nicht auffallen, ich bin Mirjam, die sich unsichtbar machen kann, die Bücher frisst wie Kühe frisches, saftiges Gras (und auch wiederkäut …), die mit dem Wind und den Bäumen spricht, die irgendwo hockt und alles sehr genau beobachtet und die beste Katzenkennerin auf der Welt ist. Und die Masseltows Hundeherz gebrochen hat. Und das soll erst mal einer nachmachen. Das haben lange Zeit nur Ötte und ich geschafft. Vielleicht würde ich mich mal trauen, später, in tausend Jahren, ansatzweise so zu werden wie Tante Greta, die ist weit über siebzig, weise und würdevoll. Und beeindruckend gekleidet. Elegantschlichtwundervollschön, und es passt haarscharf zu ihr. Sie ist die Herrscherin in ihrer alten Villa am Stadtrand, wo sie eine ihrer riesigen Wohnungen an eine WG vermietet hat, über der sie jetzt thront, sozusagen über lauter verrückten Studenten und Studentinnen, die sie alle verehren, ja, sie geradezu anhimmeln.

Denn Tante Greta ist die Ruhe in Person, die Weitsichtige, die Gebildete, die Um-die-Welt-Gereiste, und hat für alle immer ein offenes Haus und ein offenes Ohr, wenn sie nicht gerade auf einer ihrer Reisen ist. Sie war mal eine weltweit anerkannte Journalistin. Klar, so in etwa würde ich gerne auch mal werden, wär schon klasse irgendwie, aber ich Dumpfsocke würde mich wahrscheinlich mit neunundsiebzig noch nicht trauen, diese wundervollen bestickten Seidenkaftane zu tragen, mit einem dazu passenden Tuch in den weißen Haaren, irgendwie elegant und mühelos rumgeschlungen – schon allein das würde ich nie hinkriegen. Ich sähe dann eher bloß so aus wie das alte Mütterchen, das im Wald mit einem schäbigen Kopftuch Holz sammeln geht.

Ja, ich bin wohl wirklich ein Kuckuckskind und einfach so in Poms und Lenas windschiefes Nest gefallen. Aber Pom kräht immer sofort wie ein wild gewordener Hahn, wenn ich mal nachfrage. Er klopft sich dann selber auf die Schulter, trommelt auf seiner Brust rum wie ein prahlerisches Affenmännchen und trötet, dass ich, Mirjam Engels, das Kind seiner Lenden sei, seiner (wie peinlich!), und dabei streckt er seinen Kugelbauch vor (o Gott, Pom!), und das Beste sei, was er je produziert habe. Alles klar? Und Lena nickt dann mit verträumten Augen und flüstert: «Du bist unser Himmelsgeschenk.»

So weit zu meinen durchgeknallten, prachtvollen Eltern.

Naja, und irgendwann, so mit zwölf, habe ich begonnen, hin und wieder was aufzuschreiben, einen Berg Notizen, damit ich all die verrückten Sachen behalte. Und weil ich ausprobieren wollte, ob es dafür überhaupt die richtigen Wörter gibt. Aber dann dachte ich lange Zeit, dass das Leben sich einfach nicht aufschreiben lässt, es lässt sich nur leben.

Und doch, und doch, vielleicht muss man es einfach versuchen. Rückwärts gesehen ist es vielleicht leichter: Mirjams gesammelte Augenblicke. Und die nicht gesammelten, die tummeln sich immer noch irgendwo da draußen rum, werden blasser oder blühen woanders noch mal so richtig schön auf. Wer weiß das schon? Doch nur das Leben selber. Und das verrät einem nicht alles. Manche Geheimnisse behält es hartnäckig für sich. Und eigentlich will man auch nicht alle wissen. Meine Familie jedenfalls hatte jede Menge davon. Jede Menge, so viel steht fest.

Doch dann waren es ein paar Geheimnisse zu viel. Und deshalb konnte und musste ich es irgendwann einfach tun. Ich musste die Spuren finden. Ich musste alles aufschreiben, damit nichts verloren ging. Damit ich endlich verstand, warum unsere Mäuse plötzlich so groß wie Killerwale waren.

Dreizehn Jahre

When I was a childI dreamed like a child of wonderWith my back in the grassMy eyes to the sky to seeI believed in the stars …I was part of the earthEvery living thing waspart of meBut it’s gone, it’s gone …

Melissa Etheridge,Song: My Back Door

Klar weiß ich, dass Schriftsteller den Anfang am schwersten finden. Dass sie aus Angst vor dem leeren, totenbleichen Blatt Papier tagelang um den Schreibtisch tigern, sich sogar übergeben, Durchfall kriegen oder das Gewehr nehmen und Tauben erschrecken. Aber dann, keine Ahnung, fallen ihnen Sätze ein wie: Das Herz ist ein einsamer Jäger. Hab ich mal gelesen. Ich bin keine Schriftstellerin, aber jetzt, wo ich alles aufschreiben will, geht es mir genauso, mein Kopf ist eine ausgeschlürfte Kokosnuss, ich würde sogar freiwillig den Keller ausmisten und bergeweise verkrustete Pfannen abwaschen, denn so ein erster Satz, der einem fast das Herz zersägt, der muss erst einmal erfunden werden. Und ich hasse diese leeren Seiten, ich hasse sie, denn mir fällt nichts, rein gar nichts, ein. Und mein dusseliger Kokosnusskopf fragt sich allen Ernstes, ob es überhaupt einen Anfang geben muss …

Erst als ich zur Erinnerung, sozusagen als Gedächtniskrücke, in meinen alten Heften blättere und meinen allerersten, mir damals total peinlichen Poesieversuch wiederfinde, beschließe ich, dass das genau der richtige Einstieg ist, mit dem werde ich loslegen. Ich glaube, damals war ich dreizehn. Das Leben war noch in buntes Papier gewickelt und wartete darauf, ausgepackt zu werden. Und die Schule, naja, die ging so. Meistens. Wenn die Lehrer okay waren. Aber das waren sie nicht. Nicht immer.

1

Eines steht fest: Blöde Lehrer sollte man verbieten. Per Gesetz! Aber eigentlich war sie sonst nicht so blöd, eher das Gegenteil, ich meine Frau Schütte, unsere Deutschlehrerin. Sie tummelte sich auf meinem persönlichen Lehrerwertometer von Null bis Zehn immerhin bei Sieben oder Acht. Sie hatte sogar schon mal eine Neun plus, als sie es tatsächlich schaffte, die Klasse für eine Erzählung von Truman Capote zu begeistern. Da hieß die Hauptperson sogar Miriam. Erste Sahne.

Ja, und jetzt lässt sie die oberbescheuerte Referendarin alles vermasseln. Die ist so völlig neben der Spur, dass sie niemalsnicht mitkriegen würde, dass ihre Vorbereitungen bloßer Murks sind. Steht wahrscheinlich viel zu lange vor dem Spiegel, damit ihr perfektes Make-up stimmt, statt über Motivation und Stundenaufbau nachzudenken. Hat aber angeknabberte Fingernägel, was mich tatsächlich mal gerührt hat. Aber seit dieser völlig verkorksten Stunde nicht mehr. Und Frau Schütte lässt sie voll ins Messer laufen – ist das eine didaktische Maßnahme, wie es so schön heißt? Die Referendarin von Frau Schütte will wohl unbedingt ihre Prüfung vermasseln. Ich kenne nur einen in unserer Klasse, der sich wirklich für ihr Thema: Lyrik zur Veranschaulichung der Kraft der Poesie (so oder so ähnliches Zeugs) interessiert, und das bin ich. Sie würde hinten rüberfallen, wenn sie wüsste, dass ich Sylvia Plath kenne und liebe, besonders die Zeilen mit den Sonnenwolken, die Schürzen haben, und mit dem Herz, das durch den Mantel blüht. Ja, und diese Sylvia Plath, die hat sich mit dreißig Jahren umgebracht, das hat Tante Greta mir erzählt. Na bitte, das sagt doch schon alles über Lyrik aus, das ist einfach ein schwerer Brocken.

Aber sie merkt’s einfach nicht. Irgendetwas will sie in unserer Klasse erzwingen. Alle nagen gerade an einem Gedicht von Paul Celan rum, das einsame Spitze ist, das ich voll kapiere, aber niemals erklären könnte. Alle nagen daran herum wie an einem blitzblanken Knochen, der auch nicht mal ein Fitzelchen von einer schmackhaften Fleischfaser bietet. Und sie kaut uns irgendwas vor, was sie wohl in einer Zahnlücke versteckt hat.

Aber dann! Dann kommt die Hausaufgabe: Wir sollen einen Rotkohl durchschneiden, ihn ansehen und anschließend beschreiben. Es soll Poesie werden. Das Wort «Poesie» kann in unserer Klasse schon keiner mehr hören, weil Poesie als Unterrichtsfach einfach grässlich ist und jede Poesie schon im Keim erstickt. Was will uns der Dichter damit sagen? Und wehe, wir haben eine andere Idee, was der sagen wollte, als unsere Lehrer! Oder die Reclam-Heftchen. Oder was in anderen schlauen Büchern so steht. Ob die Dichter sich manchmal in ihrem Grab umdrehen? Aber holla! Manche werden dort unten bestimmt dauerkreiseln. Und jetzt dieser Rotkohl!

Die Klasse schweigt, ist total perplex. Alle fallen ins Koma.

Frau Schütte wagt ein hilfloses, aufmunterndes Lächeln. «Traut euch einfach!», sagt sie.

Und da trauen wir uns und prusten los, keiner wagt, den anderen anzusehen. «Rotkohl!», prusten wir, bis wir keine Luft mehr kriegen, so schüttelt es uns.

Später sitze ich in der Küche, Lady liegt neben den Rotkohlhälften auf dem Tisch und schweigt. Und ich begreife auf einmal, dass es tatsächlich Poesie ist, was ich da sehe, und ich meine nicht Lady, die ist sowieso das reinste Gedicht, nein, der aufgeschnittene Rotkohl mit seinen Wellenlinien aus reinem Weiß und tiefem Rot mit diesen Verdickungen und Zartheiten und diesen verschlungenen Aufundabs haut mich fast um. Ich werde zappelig, es ist fast nicht zu fassen, was ich dort sehe, ein geheimnisvolles Muster, eine Ich-weißnicht-was-für-Worte-ich-nehmen-soll-Schönheit, so überraschend, so fremd, und ich möchte schmerzhaft dringlich dafür die Worte haben, um diesen Zauber zu bannen, zu halten. Und mir kommen fast die Tränen vor Anstrengung und Wut und Verzweiflung, da es mir nicht gelingt. Wie auch! Ich müsste die Wörter ja ganz neu erfinden.

Alles, was ich habe, ist:

RotkohlIch schneideeine Wundemit meinem MesserSo schmerzhaftSo rot

Ich schneideeine Wundein dein GeheimnisSo schmerzhaftSo weiß

Doch nicht das Messeres sind meine Wortedie deiner Schönheitden Todesstoß geben

Das ist nach tausend Versuchen alles, was mir bleibt, und es ist armselig und gibt noch nicht einmal eine Ahnung von dem wieder, was dort als Schönheit und Poesie vor mir auf dem Tisch liegt, höchstens ein bisschen, wie ich mich fühle. Was glaubt die blöde Kuh denn, was wir schaffen! Mit unseren Worten, die so cool sein wollen und so lässig. Und so traurig leer sind.

Mein Bleistift ist völlig zerkaut, unterm Tisch liegen die zerknüllten Zettel, Millionen. Und trotzdem hat sie recht. Der Rotkohl ist Poesie. Punkt. Und ich werde ihr diesen Rotkohl auf den Tisch knallen, darauf zeigen und schreien: «Da! Poesie! Das Sehen muss reichen. Das schaffen keine Worte. Unsere sowieso nicht.» Klar, dass das ’ne Fünf gibt.

Ich gebe auf und bin ganz leer vom vielen Suchen in mir und vom Schauen. Ich bin erschöpft und erledigt. Unbefriedigt, nennt man das wohl. So fühlt sich Versagen an, und es ist scheußlich.

Lady reckt sich und stößt mit ihren Pfoten die Rotkohlhälften um. Zwei dunkelrote bucklige Hügel liegen vor mir auf dem Tisch. Und die Poesie ist nichts weiter als das Innenleben eines blöden, blöden Kohlkopfs.

In der nächsten Deutschstunde fand eine ungeheuerliche Revolution in der Geschichte unserer Klasse statt: Niemand hatte ein Gedicht geschrieben. Alle weigerten sich, auch nur irgendeinen Versuch vorzulesen, und ich hielt meine misslungenen Wörter streng geheim.

Die Referendarin war fix und fertig, das würde wieder ein paar Millimeter Fingernägel kosten, und ich hatte einen Anflug von Mitleid mit ihr. Frau Schütte blinzelte völlig überrumpelt und nervös hinter ihrer Eulenbrille. Doch es gab keine Folgen. Für uns. Für die Referendarin wahrscheinlich schon.

In der Pause gratulierten wir uns aufgekratzt und großzügig. Wir priesen lauthals unser Recht, uns gegen Unterdrückung zu wehren. Und wir taten cool, obercool und sehr, sehr mächtig. Aber irgendetwas in uns allen war nicht so richtig froh. Selbst Nils, der immer die größte Klappe hat, meinte eine Spur zerknirscht, aber breit grinsend: «He, Leute, sind wir jetzt Revolutionäre oder böse, böse Terroristen? Muss man jetzt Angst vor uns haben …?»

Wir grinsten beklommen zurück.

Als ich mittags nach Hause wollte, schnappte mich Frau Schütte auf dem Flur. Ich hatte mal wieder getrödelt und war die Letzte. Na klasse, dachte ich, jetzt wollen sie uns einzeln weich klopfen.

Ich saß ihr im leeren Lehrerzimmer gegenüber, es roch nach verschmurgeltem Kaffee, verstaubter Luft, und unendlich viel Papier lag auf dem riesigen Tisch. Überhaupt, das Allerheiligste sah ziemlich chaotisch aus.

«Mirjam, hör zu», sagte Frau Schütte. Sie beugte sich dicht zu mir, ich konnte einen Hauch von Parfüm riechen. Und da gab es ein paar braune Flecken unter ihren Augen.

«Ich weiß», sagte sie, «das war eine schwere Aufgabe und zudem didaktisch in keiner Weise sinnvoll aufgebaut.»

Jajaja, dachte ich. Und: Ist das mein Problem?

«Aber ich möchte dich was fragen, und glaube mir bitte, das hat jetzt nichts, rein gar nichts mit dem Unterricht zu tun, mit Zensuren oder mit der Verweigerung. Es ist einfach mein ganz persönliches Interesse, und du hast das Recht, dich nicht darauf einzulassen!»

Ich stutzte. Saßen wir jetzt etwa hier, in diesem heiligen Lehrerzimmer, wie in einem Café und plauderten wie Tante und Nichte? Sollte ich das wirklich so sehen? Ging das denn? Vorsichtshalber nickte ich erst mal und schwieg.

Frau Schütte wusste irgendwie nicht weiter. Sie drehte ein völlig verkrumpeltes Tempotuch zwischen ihren Fingern hin und her. «Also, hm, hm, ich will gerne von dir wissen, also jetzt nicht als Lehrerin (sie hüstelte), einfach so, als, als, ja, jedenfalls würde es mich sehr interessieren, ob du nicht doch was geschrieben hast. Und ich würde es gerne lesen …»

Ich sackte zusammen. Alles in allem mochte ich Frau Schütte. Sie war, wie gesagt, auf meiner Lehrerbewertungsliste immerhin ziemlich oben, und ich habe sofort gemerkt, wie sehr sie gute Sprache liebt. Aber ich konnte ihr unmöglich meinen misslungenen Versuch zeigen.

«Es war zu schwer», murmelte ich.

«Ja, ich weiß», sagte Frau Schütte. «Ich hätte es nicht geschafft. Niemals. Hast du es versucht?»

Ich nickte. «Ja», flüsterte ich. «Viele Male.»

Warum flüsterte ich auf einmal? Ein dicker, zäher Kloß saß mir im Hals, eine klumpige Traurigkeit, dieselbe, die beim vergeblichen Schreiben zwischen meiner Kehle und meinen Augen hin und her gewandert war.

«Aber, hast du es gesehen, ich meine, hast du …?» Sie verstummte.

Ich nickte, ich wusste, was sie meinte. Und plötzlich holte ich mein Heft aus meiner Tasche und zeigte es ihr. Im Lehrerzimmer war es ganz still, nur eine Fliege stieß immer wieder gegen das Fenster und surrte. Ich schaute krampfhaft auf die Bäume im Hof und hatte Halsschmerzen und Bauchschmerzen und Kopfschmerzen und hätte uferlos weinen können.

Frau Schütte blieb eine lange Zeit stumm. Dann tippte sie mich an. Ihre Eulenaugen waren dicht vor mir, sie waren groß und warm. Sie sagte leise: «Mirjam, ich danke dir. Ich danke dir sehr. Für dein Vertrauen. Und für diesen Text. Bitte lass ihn mir. Ich meine, ich würde ihn gerne …»

Ich unterbrach sie. «Ich schreib ihn noch mal ab», sagte ich, griff hastig nach dem Heft und der Tasche und sagte noch: «Bis morgen!» Und: «Danke.»

Und dann ging ich mit steifen Schritten zur Tür, und erst auf dem Schulhof merkte ich, dass sich irgendwas in mir gelockert hatte, diese ganzen klebrigen Klumpen waren weg, und so etwas wie eine Befreiung, eine Erleichterung, eine Helligkeit, ja so etwas wie ein frischer Luftzug war in mir, der alles fortpustete. Diese ganze dunkle Bekümmertheit flog davon, und dann rannte ich los und rannte und rannte, und ich wusste nicht, warum ich plötzlich so heftig glücklich war.

Ich renne zu meinem Fahrrad, strample los, die Tasche rutscht mir vom Gepäckträger, weil ich sie nicht richtig festgezurrt habe, mein Kopf trudelt irgendwo zwischen den Wolken und dem Schulhof herum, und ich fahre und fahre, ohne nachzudenken, zu Tante Greta. Sie wird die Zweite sein, der ich mein Rotkohlgedicht zeige. Später vielleicht auch Lena. Und Pom? Pom eher nicht. Eine seiner flapsigen Bemerkungen, die oft so voll daneben sind, würde meinen ersten Gedichtversuch vernichten. Pom ist sowieso nicht zu Hause. Lena vielleicht, vielleicht aber auch nicht, und sie klopft die Läden ab und sammelt ihre Verkaufsgelder ein, es ist ja alles immer nur auf Kommission. Und ich will jetzt keine stille, keine leere Wohnung. Mein Kopf und mein Herz sind zu voll. Ich brauche jemanden zum Reden. Und Himmel sei Dank, Tante Greta öffnet, als ich Sturm klingle. Sie sieht wieder mal so umwerfend aus, dass ich nur staunen kann. Ich kenne keine alte Frau über siebzig, die sich so anzieht, kein farbloses, schreckliches Beige oder ein artiges Grau oder ein trübes Schwarz in allen Variationen. Nix da! Sie trägt einen wadenlangen, rauchblauen Seidenkaftan und ein dunkelviolettes Tuch um ihren Kopf geschlungen. Ihre weißen Haare dazwischen leuchten. Sie ist sehr groß – eigentlich ist sie es nicht mehr, sie wirkt aber so, weil sie sich immer sehr gerade hält. Sie hat diesen würdevollen, majestätischen Königinnengang, und ihr altes, immer noch schönes Gesicht strahlt wie der Morgenstern, als sie mich reinlässt.

Sie ist genau die Richtige für mein Rotkohlgedicht, denn Tante Greta hat mir schon vor der Schule das Lesen beigebracht, weil ich das unbedingt wollte, und sie hat mir die besonderen Wörter gezeigt und erklärt oder sie hat sie mich suchen lassen in ihren vielen, vielen Gedichtbüchern oder in anderen Texten. Ihre Bücherregale sind in der ganzen riesigen Wohnung verteilt. Von ihr habe ich das allererste Heft bekommen, um sie dort hineinzuschreiben und zu hüten. Sie hatte es aus Indien mitgebracht, allerfeinstes Papier und ein wunderbar schimmernder Umschlag mit einem Bändchen zum Verschnüren. Ich habe es noch heute und werde es nie hergeben. Wir sammelten auch so altmodische Wörter wie Andacht, das ziemlich schwierig zu erklären ist. Lena, die könnte das, meine stille Mutter, die-nur-mit-sich-selbst-spricht, wie Pom sie manchmal angenervt nennt. Pom, mein schusseliger, schräger Ballaballa-Vater, der würde nur grinsen. Oder auch nicht. Denn manchmal, ja manchmal ist er das feinste Feingefühl auf der Welt, dass man nur staunen kann. Und mein Holzklotzvater wird so feinfühlig wie die zartesten Libellenflügel, die in einem Windhauch über einem Seerosenteich zittern, so in etwa.

(Ist das jetzt Kitsch oder eine klasse Metapher, Frau Schütte?) Ja, auch was eine Metapher ist, hat Tante Greta mir erklärt und sie mich suchen lassen. Wir lieben Metaphern, aber ich muss noch sehr üben, gute zu finden.

Wir setzen uns auf ihren Balkon, der Sommer leuchtet noch mal so richtig auf, bevor er dem Herbst Platz macht. Wir sitzen unter dem Blättergewirr der Kastanie, die uns mit ihren großen Händen zuwinkt, das grüne Licht scheint zu schwanken, und mir wird ganz seltsam. Mein dreizehnjähriges Herz kriegt auch gerade grüne Schimmer. Und es schwankt gleich mit und fühlt sich so an, als würde es über die Balkonbrüstung wachsen.

Ich erzähle Tante Greta von dem Rotkohl, der Poesie ist. Wenn man ihn aufschneidet.

Und sie sagt: «Welch interessante Aufgabe! Sogar sehr interessant. Für angehende Literaturstudenten vielleicht angemessen …»

Ich nicke und hole mein Gedicht raus und zeige es ihr. Sie liest es und liest es, dann schaut sie mich mit ihren grauen Augen lange an und murmelt: «Schreib es in dein Heft. Später mal wirst du besser verstehen, was du da geschrieben hast …»

Hä? Ist das nun gut oder nicht gut? Tante Greta steht auf, ich falle in die weichen indischen Kissen auf diesem Ungetüm von Korbsofa zurück und atme tief durch. Sollte es doch kein absoluter Obermurks sein?

«Eistee?», fragt Tante Greta und verschwindet in der Küche.

Tante Greta ist mein Hafen, meine feste Burg. Sie konnte mir schon immer die sonderbarsten Dinge zeigen und erklären, sie machte mich auf Sachen und Worte aufmerksam, die ich als Knirps – ich war immer ein Knirps, zitterdünn und blass – bestimmt niemals wahrgenommen hätte. Und so schulte sie meine Augen und auch all meine anderen Sinne. Und das war gut so, wenn man eine Mutter hat, die so gut wie nie spricht, und einen Vater, der extrem viel quasselt und extrem viel unterwegs ist. Ich glaube, ich bin mit Tante Greta mit einer langen, festen Schnur verbunden, die ist mal wild verschlungen, mal straff gespannt und reißt nie. Und immer merkt der eine, wenn der andere daran zupft. Tante Greta war es auch, die mir von den beiden Träumen erzählt hat, die Lena damals hatte, den einen mit Vincent, den anderen mit mir. Noch nie haben Pom oder Lena mir von Vincent erzählt, der nicht leben wollte, als er einen Blick auf diese Welt geworfen hatte. Und es Lena fast umgebracht hätte. Pom auch.

Vincent, diesen Namen hatte ich nie, nie von Pom oder Lena zuvor gehört. Wenn Tante Greta mir etwas von Lena erzählt, ist das immer eine besondere, sehr kostbare Ergänzung zu dem bisschen, was ich von ihr weiß. Und ich hüte es. Ich erfahre Lena dann durch Tante Gretas Augen, und das ist so, als ob ich plötzlich eine bessere Brille aufhätte, die deutlicher sieht, klarer und sogar um die Ecken schauen kann. Na ja, so ungefähr.

Tante Greta hat mir von Vincent erzählt, obwohl Pom und Lena das nicht getan haben. Sie meinte, es wäre mein Recht, davon zu wissen. «Also, zwei Jahre, bevor du wie ein winziges Samenkörnchen in Lenas Bauch heranwuchst, war dort schon Vincent gewesen», hat sie gesagt. «Und Pom und Lena waren aufgeregt und wussten nicht so recht, ob es gut war, aber irgendwann wussten sie es doch. Und Pom beschloss, Vater zu werden, und Lena wollte Mutter sein. Und genau da hatte Lena diesen Traum:

Sie saß an einem Ufer und sah die Wolken über und in dem Wasser. Und plötzlich machten sie Platz für etwas, das heißt, sie rückten ein wenig auseinander, und aus ihrem hellen Loch schubste sich ein kleiner Junge heraus, der sah Lena lange, lange an. Und Lena sagte: ‹Wie schön, dass du da bist!›

‹Vincent!›, sagte der Junge und schaute weiter in ihre Augen. Lena war angefüllt mit einem großen Glücksgefühle und einer abgrundtiefen Traurigkeit. Da hob der kleine Junge die Hand aus den Wolken und dem Wasser und legte sie kurz an Lenas Wange. Dann tauchte er unter das Wasser, und die Wolken schlossen sich. Es war so, als ob Lena in ihrem Traum einen Traum gehabt hätte.

Und als sie wach wurde, weinte sie heftig, und Pom konnte sie nicht trösten.

Als Vincent geboren wurde, schaute er lange in Lenas Augen, hob seine kleine Faust zu ihrem Gesicht und berührte sie. In der Nacht darauf starb er.»

Das haben Pom und Lena mir niemals erzählt. Tante Greta sagt, dass es über ein Jahr gedauert habe, bis Lena und Pom darüber überhaupt sprechen konnten.

«Und als Lena wieder schwanger wurde», fährt sie fort, «war das ein Geschenk und eine unerträgliche Angst gleichzeitig. Lena und Pom lebten vier Monate im Himmel und in der Hölle, bis Lena den zweiten Traum hatte:

Sie fuhr mit Pom auf dem Motorrad auf einer kleinen Straße durch blühende Wiesen, und plötzlich saß ein sehr kleines Mädchen zwischen ihr und Pom, das war federleicht und so warm und lebendig, dass Lena es deutlich an ihrem Bauch spüren konnte. Als es sich umdrehte, hatte es lachende Augen.»

Dann sagte es zwei Sachen, die mich jedes Mal umhauen, wenn Tante Greta es erzählt. Es sagte: «Mirjam!» Und es schaute dabei Lena lange in die Augen. Und dann sagte es: «Mirjam, Lena, Pom!»

«Und als Lena ihre Arme um das Kind legte», fährt Tante Greta fort, «da drehte Pom sich um und drückte das kleine Mädchen vorsichtig an seinen Rücken, und sie spürten es beide warm und sicher zwischen sich. Und in der nächsten Kurve war es fort. Doch diesmal war nichts als eine unbändige Freude in Lena, als sie wach wurde und ihren Traum Pom erzählte. Und die Angst fiel von den beiden ab wie ein löchriges, längst verschlissenes Hemd, und eine besondere Erwartung flatterte nun zwischen Pom und Lena hin und her. – Das war sehr, sehr schlau von dir», sagt Tante Greta dann immer.

«War ich das?», frage ich jedes Mal stolz und verwundert.

«Natürlich, du hattest keine Lust, in einer dunklen, von Angst geschwärzten Höhle heranzuwachsen und Lenas Furcht in jedem Herzschlag zu hören. Und so hast du dir und deiner Mutter und deinem Vater die Schwangerschaft zu einer lichtvollen Zeit gemacht. Sie waren beide so voller Neugier und Aufgeregtheit. Und als du endlich da warst, sahst du genauso aus wie in Lenas Traum. Und Pom plusterte sich auf wie sieben fette Hähne auf einmal und trug dich immerfort mit sich herum und zeigte dich jedem, damit man dich und ihn bewunderte, denn er hatte das schönste, sehr kleine Mädchen, das die Welt bis dahin je gesehen hatte, so krähte er immerzu. Und das sich sogar seinen Namen selbst ausgesucht hatte. Es hatte dicke runde Backen, schokoladenbraune Haare, aber nur auf der Mitte des Kopfes, da standen sie wie eine Irokesenfrisur wild in den Himmel, ein dichter, weicher Flaum. Und es hatte die unglaublichsten Schlitzaugen unter den Sternen. Wenn du gelacht hast, reichten sie bis an deine Ohren. Und eigentlich hast du immer gelacht. Und damit in Nullkommanichts die ganze Straße bezirzt. Pom drehte fast durch vor Stolz und Liebe!»

«Und Lena?», frage ich dann immer.

«Lena bekam dieses Leuchten», sagt Tante Greta. «Ihr wart schon besonders, Pom, Lena und du.»

«Mirjam», sage ich.

Und plötzlich liebe ich dieses kleine Mädchen auf dem Motorrad zwischen Pom und Lena so heftig, dass mein Herz wild poltert, und ich sehe dieses winzige pralle Baby auf Poms Arm, wie es seine Schlitzaugen öffnet und mich ansieht. Und ich kann einfach nicht begreifen, dass ich das war.

DASS. ICH. DAS. WAR. Dass ich das tatsächlich war!

Und diese Fragen, wer bin ich und wo komme ich her und wer war ich und wer werde ich sein und wer hat das alles möglich gemacht, die beginnen dann immer in mir zu zupfen und zu drücken. Sie schieben sich dabei hin und her, einmal ist die eine ganz vorne, mal eine der anderen. Und seitdem suche ich immerfort die Antworten. Denn wieso weiß ich so sicher, wie die Nacht dem Tag folgt, dass ich das war? Und wieso wusste ich das alles schon vorher? Und wieso hatte Lena diese hellsichtigen Träume?

Tante Greta sagt: «Nicht suchen. Finden! Genau das ist Religion. Oder das, was sie sein sollte!»

Aber Tante Greta und Religion ist ein anderes Thema.

2

Es sind Herbstferien, und Matte ist krank. Pom muss sein «Petra und der Wolf» allein spielen, das geht auch irgendwie, ist aber nicht so gut. Ich darf mit, weil Lena den ganzen Tag an einer Serie kleiner, sehr verrückter Lämpchen arbeiten will. Eine Auftragsarbeit für eine neue Szenegalerie in Dortmund. Pom ist nervös, aber der Rubel muss rollen, sagt er.

Wir müssen ins Münsterland fahren. Das Jugendheim, in dem Pom für die Kinder, die er immer Blagen nennt, spielen soll, ist oberscheußlich. Eines von der besonders öden Komm-herein-und-du-kriegst-einen-Depri-Sorte. All die ekligen, zusammengesammelten, siffigen Sperrmüllmöbel und dazu die grellen Farben auf den herzerfrischend nackten Betonwänden. Soll man cool finden. Es ist nicht cool, es ist zum Schütteln. Und das Ganze unter dem herzerwärmenden Neonlicht. Grrrrr!!

Lena nennt es «lieblos» und sagt, da kann man doch nur seinen Abfall drüberkippen und Zerstörungsanfälle kriegen. Was erwarten die denn? Warum checkt das bloß niemand? Hässlichkeit zieht Hässlichkeit an, haben die denn auf den Ämtern alle keinen Verstand? Pom hasst diese Jugendheime auch. Nur Turnhallen hasst er noch mehr. «Da ist so viel Atmosphäre drin wie in einer verrotteten, leeren Konservendose», sagt er, «und die hat dagegen noch so etwas wie Charme!»

Wir tragen die ganzen Bühnensachen aus dem Auto in den Saal, ich die leichten, Pom die schweren. Ich werde die Requisiten an Ort und Stelle legen, die Scheinwerfer bedienen und die Mikroportanlage aufbauen, das kann ich schon lange. Pom baut die Bühne auf, das dauert.

Immer, wenn ich an ihm vorbei muss, ist da so ein komischer Geruch um ihn herum. An den Fenstern hängen die brettharten Vorhänge halb herunter wie fast ausgerissene Flügel, und sie haben die Farbe von Hühnerkacke. Wieder habe ich diesen Geruch in der Nase, und ich schleiche näher an Pom und schnuppere.

«Was is’?», fragt Pom.

«Du riechst.»

«Ach ne. Zwerg Nase lässt grüßen!»

«Du hast was getrunken!»

«Ach ne. Hab ich nicht!»

«Gelogen und betrogen.» Ich mache mein grimmigstes Gesicht.

«Ich lüge nicht», sagt Pom, und sein Gesicht wird starr. Es ist, als ob dann alles Licht herausfällt und alles Lebendige.

Das macht mir eigentlich immer Angst, aber jetzt bin ich nur wütend. Sehr! Pom hat was getrunken, und das noch vor der Arbeit. Na, dann mal Prost! Und er lügt, ohne mit der Wimper zu zucken.

Ich fauche: «Du lügst. Deine Aura wird grün!»

Ich hab das mal von Tante Greta gehört. Sie kennt einen Hellsichtigen, der hat gesagt, dass sich beim Lügen die Aura verfärbt. Das kann der nämlich sehen. Aber ich weiß nicht mehr, ob es grün war.

Poms Augen blinzeln. Zwei Sekunden und drei Stunden schauen wir uns an, eiskalt wie eingefrorene Heringe im Packeis. Dann grinst Pom sein berühmtes Pom-Lächeln, das aber total keins ist, denn es bleibt an seinem Mund kleben und schafft es nicht bis zu den Augen.

Er sagt: «Du spinnst doch!» Aber dann sagt er noch: «Okay, okay, komm mal her!»

Ich muss mich sehr anstrengen, dass ich das überhaupt höre, denn Pom flüstert plötzlich, und als ich näher zu ihm hingehe, fasst er meine Schultern und schaut mich lange an, und seine Augen tauen dabei auf und meine auch.

Er sagt: «Okay, okay, du hast recht. War total nötig und total überflüssig!» (Einer seiner berühmten Pom-Sätze.) «Bleibt unter uns, ja?»

Und als ich nicke und denke: Wer ist hier eigentlich erwachsen und wer das erwischte Blag?, da klettert ein klitzekleines, rehkitzscheues Lächeln in seine Augen, und er drückt mich an seinen kugelrunden Bauch.

Oh, Pom, dein Bauch ist so schön weich!

«Ich hab dich lieb, Tochter meines Lebens», sagt er.

«Jetzt ist deine Aura rosa», sage ich.

Und fast kann ich so was wie einen Schimmer sehen. Fast. Einen Schimmer von einem Hauch Rosa. Oder so. Aber rumspinnen konnte ich schon immer gut.

Und «Petra und der Wolf» war gar nicht so übel. Pom war zwar schon mal besser, aber ohne Matte ist das auch schwer. Hinterher, im Auto, auf der Rückfahrt, als Pom seinen geliebten Leonard Cohen vor sich hinsummt, das mit dieser Suzanne, das so klingt wie der beruhigende Gesang von Mönchen in einem sibirischen Kloster, immer nur so zwischen drei Tönen auf und ab, aber irgendwie auch schön, da sage ich: «Du warst richtig gut heute!»

Und Pom sagt: «Pass nur auf, deine Aura wird gerade grün!»

Wir fahren und fahren, und draußen verschiebt sich die Landschaft, als ob man sie auf viele durchscheinende Tücher gemalt hat, die hintereinander hängen und am Fenster vorbeigezogen werden, jedes Tuch in einem anderen Tempo, das vorderste ganz schnell und das hinterste ganz langsam. Alles verschiebt sich ineinander und gegeneinander. Das ist wunderschön und immer wieder aufregend, wenn ich es entdecke und mich darauf konzentriere.

Irgendwann merke ich dieses leichte Ziehen in meinem Kopf, wenn die Geräusche sich dehnen und länger werden, bevor sie zerfransen und sich auflösen. Dann gibt es dieses Schweben in mir drin, ich muss nur die Augen schließen, und seltsame Inseln treiben hinter meinen Lidern. Ich schwimme in meinem Kopf herum, weiß aber die ganze Zeit ganz klar, dass ich nicht schlafe. Das Außen ist immer direkt vor meiner Nase, aber ein starker Sog zieht mich tief in mich hinein, einfach weiter und weiter und – RUMMS!!

Der Bus schüttelt sich heftig, und ich bin mit einem harten Satz wieder zurück, reiße die Augen auf und strande in einem hellen, plötzlichen Licht.

Pom fährt auf einen Parkplatz mit WC und Telefon. «Klo?», sagt er. Und: «Ich geh mal telefonieren. Hab so ein komisches Gefühl.»

Als er aussteigt und zur Telefonzelle stapft, hüpft mein Herz wie ein kleines, aufgeregtes Hündchen um ihn herum, aber dann springt es heftig zurück und tut weh. Etwas Bedrohliches spüre ich plötzlich, und Pom muss es schon vor mir gemerkt haben.

Ich steige aus. Pom steht in der Telefonzelle, und ich sehe seinen breiten Rücken in seiner geliebten, abgeschabten Lederjacke, und er tritt von einem Fuß auf den anderen. Sein runder Kopf nickt beim Reden auf und ab.

Pom spricht mit dieser besonderen, weichen Pom-Stimme, die ist ganz sanft, wie ein Sahnehäubchen auf einem Kakao, und sie streichelt und schmilzt sich ins Herz. Wenn er so mit Lena spricht oder mit mir oder mit Lady, dann schnurren wir um die Wette.

«Squaw, hör zu», sagt Pom, «wir sind gleich da. Nein, nicht reden. Schschsch. Soll ich Zitronen mitbringen? Nein, sag nichts, du Schönheit meines Herzens. Pass auf, du machst dich jetzt ganz klein und legst dich in meine Hand, ja, gut so, siehst du, wie warm und weich sie ist? Lass dich wiegen. Ja, ich wiege dich jetzt. Schschsch. Weißt du, was ich mache, Sternenfrau, ich bürste dir das Haar, wenn wir zurück sind, still, schschsch. Sei ruhig, ich singe dir ein langes, langes Lied zum Gesundwerden, jajaja, ruh dich aus, hast du die Decke richtig hochgezogen, ja gut, siehst du, meine Hand streichelt dich, wie gut, dass du genau hineinpasst, ja sie hält dich, nein, nicht reden, schsch, wir kommen jetzt, Herzensbraut. Ich mach jetzt Schluss, wir sind bald da. Liebe und Kuss. Kusskuss.»

Pom legt auf, und als er sich umdreht, ist sein schönes, rundes Gesicht nicht mehr glatt, und ich frage mich, wie unsere Haut es zustande bringt, schneller eine Geschichte zu erzählen als unser Mund. Tiefe Furchen sind plötzlich neben Poms Nase, auf seiner Stirn und besonders zwischen seinen Augenbrauen.

Pom nimmt mich in die Arme und flüstert: «Sie ist krank, sie hat mal wieder diese blöde Halsgeschichte ... Komm, wir müssen los!»

Mir wird ganz kalt. Lenas Halsgeschichten können manchmal ganz schlimm werden. Dann hat sie tagelang hohes Fieber, und der Arzt muss kommen.

Ich bekomme Angst. Ich will was sagen, aber Spinnweben kleben in meinem Mund.

Meine Fingerspitzen wollen so gerne diese Unruhe aus Poms Gesicht streichen. Woher weiß er immer so genau, wenn mit Lena was nicht stimmt, wo er doch oft so cool tut, so verdammt cool, dass Lenas Herz manchmal friert und auch meines eine Gänsehaut davon bekommt? Tante Greta hat mir mal erklärt, dass wir alle wie ein Kaleidoskop sind, mit vielen bunten Steinchen, hellen und dunklen, und beim leisesten Schütteln bilden sie ein neues Muster. Aber es sind immer dieselben Steinchen. Jetzt gerade ist es bei Pom ein helles, leuchtendes Muster, und ich habe ihn leuchtend lieb.

Als wir einsteigen, flucht Pom so laut und so schrecklich, dass ich mich sofort verkrampfe, aber dann merke ich, dass es genau dieselben hellen Steinchen in ihm sind, nur dass sie gerade heftig durchgeschüttelt wurden. Ich kann mir das mit dem Kaleidoskop richtig gut vorstellen. Ich liebe diese Dinger.

Die Autobahn hat sich geleert, wir kommen gut durch. Pom wird ruhiger, und ich singe unablässig, leise, ganz leise meinen Zaubersingsang: Li-Lu-La, halte aus, wir sind gleich da. Tante Greta würde sagen, das ist so etwas wie ein Mantra. In Indien ist ein Mantra ein heiliges Wort oder hat lauter heilige Worte oder Silben und eine starke Kraft. Man kann sein höchst eigenes Mantra finden. Das ist jetzt meines, und ich schicke es zu Lena. Ich traue mich sogar, es lauter zu singen, und Pom schaut kurz herüber und legt seine Hand auf mein Haar.

«Alles wird gut», sagt er. Und das ist ein ganz besonders starkes Mantra, denn ich werde sofort ruhiger. Es wird auch bei Lena wirken. Ich muss nicht wissen, wie das geht. Ich würde es sowieso nicht begreifen.

Als wir ankommen, stürmt Pom sofort ins Haus, schleicht dann aber auf Zehenspitzen in Lenas Zimmer. Dort brennt das kleine, gelbe Licht auf der Fensterbank, das Lena selbst entworfen und schon viele Male verkauft hat und das ich das Goldlicht nenne, weil es alles ganz weich macht.

Sie liegt wie Schneewittchen in ihrem Bett, das lange Haar auf ihrem Kopfkissen ist ein schwarzer Fächer. Um den Hals hat sie das lavendelblaue Seidentuch gewickelt, das ihr Pom in Südfrankreich geschenkt hat. Auf dem Tischchen neben ihrem Bett stehen die kleinen braunen Fläschchen mit den weißen Kügelchen von ihrer Freundin Britta und eine leere Teetasse.

Sie schläft, und Pom steht regungslos und starrt und starrt, und auch ich sehe, was er wohl gerade mit dem Herzen sieht: Wir sehen, wie schön sie ist.

Pom sagt leise: «Manchmal bilde ich mir ein, dass sie leuchtet, verrückt, was?»

Ich drücke seine Hand und mache ein Zeichen mit dem Kopf. Wir schleichen hinaus und atmen beide gleichzeitig tief aus. Wir sind mit dem Schrecken davongekommen. Es scheint nicht so schlimm zu sein. Pom streicht mir sanft übers Haar.. Und ich wünsche mir, dass er noch eine Weile so bleibt, so wie jetzt, ich meine, in genau diesem Muster, so wie seine Steinchen jetzt liegen.

«Ich rufe Britta an», sagt Pom im Flur und geht zum Telefon. Und: «Haben wir noch Zitronen?»

 

Dann, bei meiner Spurensuche im Rückblick, finde ich die Notiz in meinem alten Heft von unserer Kakaozeremonie nach einem Streit. Meine Schrift ist klein und krumm und irgendwie zittrig. Ich hasste es nämlich, wenn sie stritten.

Streit habe ich schon immer gehasst. Und sofort ist alles wieder da: der ganze Kladderadatsch von damals, der Schlamassel und das Glück, immer dicht nebeneinander. Bei uns war das so.

3

Ich erinnere mich: Pom und Lena haben sich gestritten. Ich merke es sofort, als ich nach Hause komme. Die ganze Wohnung fühlt sich dick an, so verklumpt. Und ich spüre, wie etwas in mir schrumpft und zittert und düster wird. Das tut weh und macht mich krank. Ich meine, ich fühle mich so, so weit weg von dem Gesundsein, so fremd in mir selber und so fremd mit den beiden.

Ich möchte, dass das aufhört, sofort, aber ich bin jetzt dreizehneinhalb, und ich weiß, dass es auch wieder weggeht und dazugehört zum Leben wie die Nacht und der Morgen. Aber wenn etwas nicht in Harmonie ist, werde ich ein kleines, stacheliges, zittriges Tierchen, ein Igelbaby oder so was Ähnliches. Ich will weglaufen, mich verkriechen, Winterschlaf halten und erst wieder aufwachen, wenn alles vorbei ist, wenn da draußen in diesem düsteren Leben wieder der Frühling blüht.

Ich schleiche in mein Zimmer und verkrieche mich in meine Kissenberge auf meinem Bett, und da hat sich auch schon Lady verkrochen, sie steckt ihren kleinen, spitzen Kopf heraus und sieht mich an. Sie hasst dicke Luft noch mehr als alles andere auf der Welt, fast so wie eine falsche Hand, die sie gegen den Strich streichelt. Sie merkt das immer schon lange vorher und verkrümelt sich dann.

Wir schauen uns an und wissen Bescheid, ich meine, sie weiß genau, wie es mir gerade geht, und ich weiß dasselbe von ihr. Sie lässt meinen Blick nicht los, und plötzlich wage ich nicht mehr zu atmen. Ihre Augen dringen tief, tief in meine Düsternis bis zu meinem innersten Kern, den ich niemals betrachtet habe, weil ich ihn nicht finde, auch wenn ich um ihn weiß.

Und ich falle in das Grün ihrer Augen, bin Fell, bin Katze, bin ihre Seele, bin weit, weit und hell. Ohne eine Begrenzung bin ich etwas Großes, Unaussprechliches, und für den Millisekundenmoment tauschen wir unseren Kern oder wir berühren ihn oder sind ein einziger Kern. Was auch immer da geschieht, es ist so gewaltig und unerträglich schön, dass ich Atemnot kriege und ausbreche, und genau gleichzeitig springt Lady auf und streckt sich. Es ist vorbei.

Ich schnappe sie mir und wiege sie in meinen Armen wie ein Baby, ich darf das, sie hält vollkommen still, die kleinen Pfoten nach oben, und ich wiege sie hin und her, hin und her. Und meine Düsternis wird eine kleine, zitternde Flamme, die mit jedem neuen Atemzug mehr Licht bekommt, und ich fühle mich besser.

Wir beide werden jetzt in die Küche marschieren und Pom und Lena die Leviten lesen. Ich werde sie schütteln, bis alles Gesagte aus ihnen herausfällt wie der vergiftete Apfel bei Schneewittchen. Pom wird die vergifteten Stücke in den Müll werfen, und Lena wird wieder helle Augen bekommen. Und dann werden Pom und ich sie zum Lachen bringen. Wir können das. Oder Lady, die gerade anfängt zu schnurren, weil sie weiß, dass wir das schaffen.

Als ich die Küchentür öffne, steht Pom hinter Lena und hat seine Hände auf ihren Schultern, sie sitzt mit hängendem Kopf, und ich kann ihre Augen nicht sehen. Als sie mich hören, blicken beide zu mir hin, und Poms Augen ähneln einem verstörten Tier, das nach einem Ausweg sucht, sie blicken unruhig und gequält. Und Lenas seegrüne Augen sind gerötet und meeresbodentief und dunkel wie aufgewühltes Wasser.

Ich trage Lady auf dem Arm, und sie ist große Klasse, weil sie still hält und die beiden betrachtet, eine lange Weile, dann strampelt sie und will herunter. Sie ist äußerst gerecht, sie reibt sich lange an Poms Beinen, dann springt sie Lena auf den Schoß, rollt sich dort zusammen und schnurrt. Sie weiß, dass die beiden sich wieder einkriegen, es muss schon begonnen haben, sonst wäre sie nicht mitgekommen.

Poms Augen werden ruhiger, er versucht sogar ein Lächeln und sagt: «Drei schöne Damen für einen einzelnen Herrn. Wie soll ich das nur aushalten?»

Aber das war wohl nicht der richtige Satz, weil Lenas Augen noch dunkler werden. Sie sagt etwas, das ich erst nicht verstehe, weil ich nicht kapiere, was sie meint. Erst viel später sollte ich das alles begreifen. Sie flüstert: «Dir können es doch gar nicht genug sein ...»

Und Poms Augen werden wieder unruhig und flackern, und ich merke mir diesen Satz, um später darüber nachzudenken.

Ich gehe zu Pom und Lena und umarme die beiden und Lady von hinten, was nicht richtig klappt, weil meine Arme drei Meter zu kurz sind, aber ich berühre sie, und irgendetwas Wichtiges geschieht jetzt. Lena atmet tief durch, dann Pom, und es ist wie bei einem Dominospiel, jeder stößt mit seinem Atem den Nächsten an, und ein großer, nicht hörbarer Seufzer kippt etwas um, und das fällt und fällt von uns weg.

Lady gähnt lange, und alle ihre weißen, spitzen Zähne sind zu sehen. Ihre kleine rosa Zunge ist ein wahres Kunstwerk. Da steht Lena auf, setzt Lady auf den Boden und sagt: «Kakao, die Herrschaften?»

Und etwas hat jetzt sein Ende gefunden. Doch irgendwie hat dieses Ende noch viele andere Enden im Hinterhalt, wie wenn man in einem Spiegel in einen Spiegel in einen Spiegel schaut und alles immer kleiner und mehr wird.

Aber Kakao ist klasse! Und Lena ist überhaupt die Urmutter der Kakaozeremonie. Draußen beginnt gerade der Regen ans Fenster zu prasseln, und Regen und Kakao zusammen gehören zum Allerfeinsten, was passieren kann. Plötzlich wird die ganze Küche lebendig, als ob sie sich aus einem dunklen Traum räkelt. Ich habe dieses Gefühl deutlich unter meiner Haut, alles summt und knistert leise, die Löffel klimpern aufgeregt, die Möbel scharren mit den Füßen, die Zuckerdose kichert, und manchmal, ganz selten höre ich so etwas wie eine Melodie in dem Ganzen, vermischt mit unseren Atemzügen, als ob alles in demselben Rhythmus schwingt, aber jeder und jedes in seinem besonderen Takt.

Der einzig ruhige Punkt in unserer sich wiegenden Küche ist Lady, die jetzt auf dem halbhohen Geschirrschrank thront, ihr absoluter Lieblingsplatz. Und sie knibbelt sehr chinesisch mit den Augen.

Ich weiß schmerzhaft deutlich: Irgendetwas ist gerade noch mal haarscharf davongekommen. Und ich sage blitzschnell heimlich, was ich immer sage, wenn ich von einem Schrecken erlöst worden bin, aber auch wenn ich mich für was Schönes bedanke: Danke! Himmel sei Dank! Das ist so ähnlich, als würde ich hinterm Rücken zwei Finger kreuzen, um Unheil abzuwehren. So eine kleine Mirjam-Magie. Das ist ein Tick von mir.

Unsere recht kleine Küche wird zu einem großen Tanzsaal, wir bewegen uns umeinander herum wie bei einer gut einstudierten Choreografie, alle Bewegungen aufeinander abgestimmt und harmonisch, keiner stößt den anderen an, wir haben allen Platz der Welt. Lena rührt das dunkle Kakaopulver mit Milch und Zucker zusammen, ich stelle Becher und kleine Teller auf ein Tablett und hole die Löffel, Pom klappert im Schrank nach dem passenden Topf und öffnet unsere schöne alte Keksdose, um sie nachzufüllen. Lena zeigt stumm auf die oberste Schublade, weil sie sofort weiß, dass Pom die Kerzen sucht. Und niemand braucht irgendwas zu sagen oder zu erklären, wir sind ein einziger, mächtiger Klang mit einem erlösenden Schlussakkord.

Der warme Kakaogeruch schwebt in der Küche, und ich verbeuge mich theatralisch mit weit ausgebreiteten Armen und sage sehr vornehm das englische Sprichwort: «My home ist your castle!» Aber dann verwandle ich es schnell in Poms geliebtes Französisch und holpere noch hinterher: «Messieursdames, mon lit est votre chateau!»

Ja, wir werden auf meinem großen Bett den Kakao genießen. Die beiden nicken mit einer Verbeugung. Und wir bewegen uns hintereinander durch den langen schmalen Flur in mein Zimmer, vorneweg Pom mit dem Kerzentablett, und sein runder Kopf leuchtet sanft in dem milden Schein, dahinter trage ich das volle Tablett mit Bechern, Sahne und Keksdose, und als Letzte folgt Lena mit der dicken, bauchigen Kakaokanne von irgendeinem Trödel.

Und als ich die Kissen auf meinem Bett verteile, unserem chateau for a while, liegt dort schon Lady und räkelt sich. Wir verbeugen uns huldvoll, aber eigentlich gilt meine Verbeugung Lena, la reine du chocolat, très exquisite, très merveillieux.

Als ich meine wunderbar schrecklichen Eltern so anschaue, tut das fast so weh, als wäre ich in ein Brombeergestrüpp gefallen, mein Herz kriegt tausend scharfe Ritzer vor lauter Liebe. Und auf meinem Tablett klirrt das Geschirr, als mein Herz zu holpern beginnt, weil es das kaum aushält, dieses Gefühl, das fast nicht in mich hineinpasst. Ich stelle schnell das Tablett ab und umarme Pom und seinen weichen runden Bauch. Und Lenas warme Arme halten mich fest, und wir ruhen uns von uns aus.

Dann schnappt sich Pom Lady und legt sie sich wie einen Hermelinkragen um die Schultern, und Lady ist entzückt. Pom darf alles mit ihr machen, er ist ihr Ein und Alles. Und Lena und ich drapieren und arrangieren alles so lange, bis wir es kuschelig haben und nichts umstoßen können. Lady schleckt Sahne von Poms Finger, er kichert, weil ihre Zunge so kitzelig rau ist, der Kakao duftet, der Regen pladdert, und meine Plemplem-Eltern haben sich wieder eingekriegt.

Und ich will jetzt sofort, genau jetzt, die alte Geschichte von ihnen hören. Als es mich noch nicht gab, als ich noch in einem Maggiwürfel war, wie Pom immer sagt, als die beiden sogar noch nichts voneinander wussten, das Leben aber, dieses großartige Leben, sie bereits hartnäckig aufeinander zugeschoben hat, unerbittlich, damit sie eine gemeinsame Spur bekämen, und mich würde es irgendwann dazuschubsen.

Ich habe diese Geschichte wieder und immer wieder eingefordert, ich kenne sie in- und auswendig, aber es kann passieren (selten, höchst selten), dass sich eine klitzekleine Neuigkeit dazufindet, ein Teilchen zu Pom und Lena, das ich noch nicht kenne, das so kostbar ist wie ein Diamantsplitter, ich warte jedes Mal inständig darauf. Und ich gebe die Hoffnung nicht auf.

Ich sage mit meiner allerkleinsten Mirjam-Stimme, die Pom die Welpenstimme nennt, und ich lisple dann immer, weil Lena das so komisch findet: «Bittebitte, Mirjam will Geßichte hören. Als Mirjam noch in einem winßigen Ssou-ssou war!» Ja, tatsächlich, die Franzosen erzählen ihren Kindern, dass man sie in einem Kohlkopf gefunden hat, ehrlich. Ich flehe inbrünstig: «Bittebittebitte! Oh ja ßöööön! Oh danke!»

Pom grinst bereits sein breitestes Pom-Grinsen, dann sieht er immer wie der geborene Clown aus, mit seinem runden Kopf und dem Haarkranz, auch ohne rote Nase, einfach nur so. Und Lena schubst wie immer Pom in die Seite und flüstert: «Fang du an!»

Pom drückt sie an seine Brust und haucht ihr einen Kuss aufs schwarze Haar, und ich kuschle mich zwischen die beiden. Lady liegt auf Poms Füßen, ich kann jetzt diesen speziellen Lena-Geruch riechen, Patchouli und Vanille, den würde ich überall erkennen. Lena denkt nach, sie streichelt sanft meinen Rücken und drückt ihre Nase in mein Haar, dass ich fast schon glaube, sie fängt niemals an.

Aber immer ist es dann doch Pom, der beginnt: «Es war einmal ein verrückter Sommer, der war ausgesprochen heiß. Und mitten in diesem heißen, verrückten Sommer gab es dieses alte Wasserschloss Kemnade an der Ruhr. Alles, was sich Freak nannte, lange Haare trug, die Beatles liebte, Janis Joplin sowieso und die Stones, und alle, die sich irgendwie ihr Geld mit seltsamen, selbst gefertigten Sachen verdienten oder Musik machten oder andere Späße, tummelten sich dort. Es gab ein Fest, es ging um Völkerverständigung mit viel Folklore und Tamtam, mit freier Liebe und griechischem Wein, mit Falaffel und gegrillten Sardinen, gebackenen Holunderblüten und anderen Köstlichkeiten.

Und die Mädchen hatten lange, wehende Haare oder Indianerzöpfe und trugen mindestens vier Röcke übereinander oder so selbst gefärbte Feenkleider mit viel Silberschmuck und Lederbändchen um den Hals und um die Knöchel. Und an jeder Ecke zupfte ein Knabe an einer Gitarre rum und fühlte sich wie Pan persönlich ...»

«Und du?», frage ich jedes Mal, «wie hast du ausgesehen?»

Dann weiß ich schon, dass Lena hüstelt und sich ein Grinsen verkneift und leicht meinen Arm drückt, und Pom plustert sich mächtig auf, schüttelt seine Pfauenfedern und kräht: «Umwerfend! Ich sah doch umwerfend aus, meine Squaw, oder?» Sein «oder» klingt ein kleines bisschen drohend und ein kleines bisschen ängstlich, und niemals würde Lena was anderes tun, als stumm zu nicken. Und mich noch ein bisschen fester zu kneifen.

«Wie sah er aus?», frage ich dann immer Lena, denn von Pom ist da keine objektive Antwort zu erwarten. Lena lächelt. Ihre Augen sind ganz weit woanders, im Sommer an der Ruhr, als Pom plötzlich vor ihr stand in einem knallengen, gebatikten Unterhemd (!) und indischen Schlabberhosen, sein Bauch war noch etwas weniger Bauch, und seine Haare waren noch etwas mehr Haare, die hatte er tollkühn zu einem mageren Pferdeschwanz zusammengebunden, mit einer Hahnenfeder drin. Hier kichert Lena immer ein wenig, und Pom ist empört. Aber Lena sagt dann sofort: «Du sahst verwegen aus, mein kleiner, dicker Ritter. Und das Beste waren deine Augen!»

«Meine Augen!», wiederholt Pom mit Begeisterung und reißt sie weit auf. «Aha, meine Augen. Und was sonst noch alles? Squaw, rede endlich nicht mehr mit gespaltener Zunge. Sag schon, dass ich der schönste deiner Bewunderer weit und breit war!»

Lena ist verstummt. Dann nickt sie versonnen und flüstert: «Du hattest das feurigste Glühen in den Augen und das schönste Lächeln, das je mein Herz erreicht hat!»

Dann atmet Pom immer heftig aus und ist zufrieden.

«Und Lena?», frage ich aufgeregt, obwohl ich längst alles weiß.

Pom rollt die Augen und sagt mit tiefer Inbrunst: «So etwas Schönes hatte ich nie zuvor gesehen!» Und er zieht seine Squaw fester an sich, und seine ganze Liebe und sein ganzer Stolz sind herauszuhören. «Sie stand dort im Schatten unter einer riesigen Blutbuche hinter ihrem Tapeziertisch mit der bunten Inkadecke drüber. Und sie verkaufte die verrücktesten kleinen Figürchen, die ich je gesehen hatte. Ihr Tisch war immerzu umlagert, ich konnte nicht wirklich was von ihr sehen, aber ich wusste, so klar wie der Himmel hinter den Sternen ist, dass ich dort hin musste. Der Krimskrams interessierte mich nicht, obwohl ich hinterher doch mindestens fünf ihrer verrückten Dinger gekauft habe, nachdem ich ihr etwas später einen ganz besonderen, teuren Silberring vom Nebenstand geschenkt hatte ...»

Lena lächelt. «Da war unsere Verlobung so gut wie besiegelt. Und Pom hat jedem auf diesem Fest erzählt, jedem, den er kannte, und jedem, den er nicht kannte, und das noch die ganze Nacht, denn das Fest wollte nicht aufhören, dass ich seine Braut sei!»

Pom nickt heftig. «Ich wollte sie mir unbedingt schnappen, bevor so ein Volltrottel es versucht hätte! Die liefen nämlich scharenweise dort herum ...»

«Aber wie sah sie aus?», bettle ich dann immer, weil sie beide mir viel zu sehr abschweifen, bitte alles schön der Reihe nach, bitte!

Pom tut so, als denke er nach, und ich kriege einen Anfall und kneife ihn fest in die Rippen, dass er quietscht wie ein Schweinchen und nach mir schlägt, und er runzelt die Stirn und sagt: «Ach, das ist doch alles schon so lange her, über sechzehn Jahre, woher soll ich das noch wissen!» Er weiß, dass er mich damit in den Wahnsinn treibt. Jetzt trommle ich auf seinem Bauch herum. Da kichert er und sagt: «Das Bild werde ich mein Leben nicht vergessen. Niemals, ich schwöre! Lena hatte damals noch Haare bis zu ihrem kleinen, runden, süßen Hintern, rabenschwarz, und tausend bunte Perlenschnüre waren da hineingeflochten. Und sie hatte etwas an, das würde sie sich heute nicht mehr trauen, das war wohl eher so was wie ein Nachthemdchen aus alten Zeiten, mit Wäscheknöpfen, etwas Spitze, federleicht, nur so ein Morgennebelhauch. Und darunter die knappsten Shorts, die ich je gesehen habe, und ich hatte damals schon recht viel gesehen (längere Pause) ...»

«Hm», räuspert sich Pom. «Und diese geschnürten Schuhe, nur eine Sohle und Riemchen bis zum Knie. Und dann ihre Seeaugen, grüne, flimmernde Seen im Vollmondlicht!»

Lena kichert.

«Und dann natürlich ihr beeindrucktes Staunen, als ich vor ihr stand und sie anstarrte. Ich glaube, wir haben uns beide angestarrt, nicht wahr, Squaw, haben wir doch?»

Lena nickt heftig.

«Tante Greta meint, dass ihr euch da erkannt habt», sage ich, weil ich sie mal danach gefragt hatte, ob es passieren kann, dass man gleich und auf der Stelle sein Leben mit jemandem teilen möchte, obwohl man ihn nicht kennt.

«Ja», murmelt Pom, «da liegt sie exakt richtig. Wir haben uns erkannt. Punkt!»

Und Lena dreht an ihrem Silberring, den sie immer noch trägt, zwei ineinander verschlungene Delfine, und jeder hat einen kleinen Glitzerstein als Auge. Wunderschön. Pom berührt ihn leicht.

«Leider hatte Lena auf dem Fest keine Zeit, meine Vorstellung zu sehen, die war nämlich klasse. Wir hatten ein kleines, kunterbuntes Zelt für unser Programm. Die Kinder waren noch artig und schauten ehrfurchtsvoll zu. Wir machten Musik, mit viel Krach und Rambazamba. Matte hatte ein paar witzige Liedchen komponiert. Ich hatte eine kleine Puppennummer, die war genial, die müsste man eigentlich wieder ins Programm nehmen, zwei Außerirdische entdecken die Erde und ihre Bewohner und kapieren gar nix, verstehen alles falsch, und dann tobten die Blagen immer ...»

Jetzt werde ich ungeduldig, das will ich nicht wissen. «Ach, Pom. Ach, Lena. Und was ist mit mir? Wo kam ich plötzlich her?»

«Ja, wo kam unser Sternenkind plötzlich her?», fragt dann Lena Pom. Und Pom sagt: «Dieses Kind meiner Lenden?»

Lena hüstelt. Sie tun so, als ob sie überlegten. «Geradewegs aus dem Himmel», flüstert Lena. «Geradewegs aus unserem Herzen», nickt Pom.

«Wir haben es nicht drauf angelegt, weißt du, so ein Kind und unser verrücktes, unsicheres Leben. Geld hatten wir so gut wie keines, aber wir hatten da schon diese kleine Wohnung und waren wohl bereit. Und du wohl auch, sonst hättest du ja nicht den Mut gehabt, dir diese total verrückten Eltern auszusuchen, oder?», fragt Pom.

«Völlig crazy und plemplem», hauche ich dann immer.

Da schüttelt sich Lady, macht sich lang und länger, gähnt, springt vom Bett, maunzt und will ihr Futter gereicht bekommen. Und ich bin zufrieden und räkle mich genüsslich zwischen Pom und Lena, bis wir alle genug davon haben.

Und siehe da, der Regen hat aufgehört, und eine Amsel singt auf dem Dach gegenüber, und alles ist wieder okay.

Vierzehn Jahre

One of these morningsYou’re gonna rise,