Crescendo & Sine Culpa - Elizabeth Corley - E-Book
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Crescendo & Sine Culpa E-Book

Elizabeth Corley

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Beschreibung

Zwei Fälle für Inspector Fenwick. Crescendo. "Die Menschen, die sein Lächeln sahen, lebten nur selten noch lange genug, um es zu beschreiben." Louise Nightingale, eine junge Polizistin in der Einheit von Inspector Fenwick in Sussex, hat harte Zeiten hinter sich: Zwei Monate zuvor sind ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen. Kurz darauf wurde sie für einen lebensgefährlichen Einsatz als Undercover-Agentin ausgewählt, um einen Vergewaltiger zu fassen. Tatsächlich gelingt es ihr Griffith, einen pathologischen Serientäter, der seine Opfer über das Internetspiel "The Game" auswählt, zu verhaften. Er wird zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, abgeschnitten von der Außenwelt. Nach diesen Ereignissen nimmt Louise sich eine Auszeit und zieht sich auf die abgelegene Mühle ihrer Familie in Devon zurück. Aber obwohl Griffith im Gefängnis sitzt, geht die Vergewaltigungs- und Mordserie weiter. Und dann erhält Louise auf einmal bedrohliche Mails von "Pandora". Mit einem Bild ihrer eigenen, grausam zugerichteten Leiche ... Sine Culpa. In einem Waldstück wird die Leiche eines Jungen gefunden, der vor über zwanzig Jahren verschwunden ist. Zur gleichen Zeit wird im nahe gelegenen Harlden nach einer Schießerei ein ehemaliger Major festgenommen. Zunächst scheint kein Zusammenhang zu bestehen. Doch dann tauchen weitere Figuren auf dem Schachbrett der Schuld auf – und Fenwick steht plötzlich mitten in einem grausamen Spiel von Schande und Sühne, das gerade in eine neue Runde geht ...

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EPUB

Seitenzahl: 1415

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Informationen zum Buch

Zwei Fälle für Inspector Fenwick!

Crescendo.

"Die Menschen, die sein Lächeln sahen, lebten nur selten noch lange genug, um es zu beschreiben."

Louise Nightingale, eine junge Polizistin in der Einheit von Inspector Fenwick in Sussex, hat harte Zeiten hinter sich: Zwei Monate zuvor sind ihre Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen. Kurz darauf wurde sie für einen lebensgefährlichen Einsatz als Undercover-Agentin ausgewählt, um einen Vergewaltiger zu fassen. Tatsächlich gelingt es ihr Griffith, einen pathologischen Serientäter, der seine Opfer über das Internetspiel "The Game" auswählt, zu verhaften. Er wird zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt, abgeschnitten von der Außenwelt.

Nach diesen Ereignissen nimmt Louise sich eine Auszeit und zieht sich auf die abgelegene Mühle ihrer Familie in Devon zurück. Aber obwohl Griffith im Gefängnis sitzt, geht die Vergewaltigungs- und Mordserie weiter. Und dann erhält Louise auf einmal bedrohliche Mails von "Pandora". Mit einem Bild ihrer eigenen, grausam zugerichteten Leiche ...

Sine Culpa.

In einem Waldstück wird die Leiche eines Jungen gefunden, der vor über zwanzig Jahren verschwunden ist. Zur gleichen Zeit wird im nahe gelegenen Harlden nach einer Schießerei ein ehemaliger Major festgenommen. Zunächst scheint kein Zusammenhang zu bestehen. Doch dann tauchen weitere Figuren auf dem Schachbrett der Schuld auf – und Fenwick steht plötzlich mitten in einem grausamen Spiel von Schande und Sühne, das gerade in eine neue Runde geht ...

Über Elizabeth Corley

Elizabeth Corley wuchs in West Sussex, England, auf. Sie lebt in London und München und leitet das Europageschäft eines internationalen Finanzdienstleistungs-Unternehmens. Ihre Inspector-Fenwick-Thriller sind Kultbestseller.

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Elizabeth Corley

Crescendo &Sine Culpa

Zwei Fälle für Inspector Fenwick!

Aus dem Englischenvon Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Informationen zur Autorin

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Crescendo

PROLOG

Februar

Ein Jahr später

ERSTER TEIL

   Kapitel eins

   Kapitel zwei

   Kapitel drei

   Kapitel vier

   Kapitel fünf

   Kapitel sechs

   Kapitel sieben

   Kapitel acht

   Kapitel neun

   Kapitel zehn

   Kapitel elf

   Kapitel zwölf

TEIL ZWEI

   Kapitel dreizehn

   Kapitel vierzehn

   Kapitel fünfzehn

   Kapitel sechzehn

   Kapitel siebzehn

   Kapitel achtzehn

   Kapitel neunzehn

   Kapitel zwanzig

TEIL DREI

   Kapitel einundzwanzig

   Kapitel zweiundzwanzig

   Kapitel dreiundzwanzig

   Kapitel vierundzwanzig

   Kapitel fünfundzwanzig

   Kapitel sechsundzwanzig

   Kapitel siebenundzwanzig

   Kapitel achtundzwanzig

TEIL VIER

   Kapitel neunundzwanzig

   Kapitel dreißig

   Kapitel einunddreißig

   Kapitel zweiunddreißig

   Kapitel dreiunddreißig

   Kapitel vierunddreißig

Sine Culpa

TEIL EINS

  1. Kapitel

  2. Kapitel

  3. Kapitel

  4. Kapitel

  5. Kapitel

  6. Kapitel

  7. Kapitel

  8. Kapitel

  9. Kapitel

TEIL ZWEI

  10. Kapitel

  11. Kapitel

  12. Kapitel

  13. Kapitel

  14. Kapitel

  15. Kapitel

  16. Kapitel

TEIL DREI

  17. Kapitel

  18. Kapitel

  19. Kapitel

  20. Kapitel

  21. Kapitel

  22. Kapitel

TEIL VIER

  23. Kapitel

  24. Kapitel

  25. Kapitel

  26. Kapitel

  27. Kapitel

  28. Kapitel

  29. Kapitel

  30. Kapitel

TEIL FÜNF

  31. Kapitel

  32. Kapitel

  33. Kapitel

  34. Kapitel

  35. Kapitel

  36. Kapitel

  37. Kapitel

  38. Kapitel

  39. Kapitel

TEIL SECHS

  40. Kapitel

Epilog

Impressum

Elizabeth Corley

CRESCENDO

Roman

Aus dem Englischenvon Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

 

 

 

PROLOG

 

 

Fürwahr ein Teufel, diese Melancholie,

die Menschen böse macht.

The Lady’s Trial, John Ford

Februar

Er beobachtete die Frau aus seinem Versteck in den Büschen. Es wurde schon dunkel, und bald würden die Letzten den Park verlassen. Der kühle Abend und der drohende Regen hatten die meisten bereits vertrieben, aber er wusste, dass sie warten würde, weil sie hier verabredet war – mit ihm.

Er genoss es, diese Macht über sie zu haben. Als er ihr das erste Mal ein Treffen vorgeschlagen hatte, war sie bereitwillig darauf eingegangen. Sie hatte fast eine Stunde im Regen ausgeharrt, während er in seinem warmen Auto saß. Als sie schließlich die Geduld verlor, folgte er ihr bis nach Hause und erfreute sich dabei an dem Anblick ihrer schlanken Waden, die immer wieder unter dem Wintermantel hervorblitzten. Er hätte sie gleich darauf nehmen sollen wie geplant. Doch er hatte gezögert. Aus Stunden der Verzögerung waren Tage geworden, aus Tagen eine Woche. Er ließ Gelegenheiten verstreichen, begnügte sich mit seinen Phantasien und dem Vergnügen anonymer Nähe. Auf der Straße war er ganz dicht an ihr vorbeigegangen, hatte ihr Parfüm gerochen, und er hatte über ihr einsames, müßiges Leben nachgedacht. Sie ging nie zur Arbeit.

Nach einer Woche waren seine Punkte verspielt. Er hätte sie fallen lassen und sich eine andere suchen sollen. Stattdessen bat er sie um ein zweites Treffen, was er noch nie getan hatte, aber sie war etwas Besonderes. Er wusste, dass sie besser sein würde als alle anderen, dass sich bei ihr die Gefahr lohnte und das Risiko, für seinen Ungehorsam bestraft zu werden. Es war verboten, dieselbe Frau zweimal zu treffen, ein schwerer Verstoß gegen die Regeln.

Er zog seinen neuen Lederhandschuh ein Stück herunter und blickte auf das Leuchtzifferblatt der Uhr. Bald war es so weit. Langsam verblasste der Himmel und wurde aschgrau und verschwommen wie der Bauch eines mächtigen Raubvogels, der über der Erde kreiste. Die Frau ging nun hin und her, stampfte mit den Füßen, um sich an diesem kalten Winterabend aufzuwärmen. Er nahm ihre Kleidung in Augenschein: Der lange, schwarze Mantel verbarg ihre Figur, aber er wusste, wie sie aussah. Mit einem Fernglas war er in die Privatsphäre ihres Schlafzimmers eingedrungen. Dumm von ihr zu glauben, sie brauchte die Vorhänge nicht zuzuziehen, nur weil sie im obersten Stock wohnte. Er hatte blasse Haut schimmern sehen, das Rosa einer Brustwarze und den dunklen Anflug von Schamhaar. In ihrem Müll hatte er weggeworfene Unterwäsche gefunden und behalten, noch ein Regelverstoß. »Keine Spuren.« Wenn sein Souvenir entdeckt würde, bekäme er gewaltigen Ärger.

Er war nur ein Schüler und lernte bei einem Meister, der kein Pardon kannte, wenn es darum ging, die Regeln des Spieles einzuhalten, das er erfunden hatte. Normalerweise befolgte er sie, aber bei ihr war die Versuchung einfach zu groß gewesen. Ansonsten war er ein guter Schüler, der mit jedem Mal besser wurde. Die hier würde seine Beste sein, ganz bestimmt. Vielleicht würde er sie heute Abend … ja … töten. Er zitterte schon, als er das Wort nur dachte. Er wusste, dass das von ihm erwartet wurde und dass ihm so manche Geheimnisse nicht offenbart würden, solange er sich nicht bewährt hatte. Er war unsäglich gespannt auf die Geheimnisse. Erst wenn er sie kannte, würde er ganz dazugehören.

Der junge Mann schauderte vor aufgeregter Vorfreude. Sein Atem beschleunigte sich, und die Erregung löste ein unkontrollierbares Flattern in seiner Kehle aus. Er stellte sich vor, wie er die Hände um ihren Hals legte, und Wärme durchflutete ihn.

»Nein!« Er zischte es durch zusammengebissene Zähne. Er verachtete sich für seine mangelnde Selbstbeherrschung. Es war immer zu schnell vorbei. Nicht wie bei … Er schob den Gedanken beiseite. Wenn er anfing, Vergleiche anzustellen, würde sich sein Selbstvertrauen in Luft auflösen. Es wäre nicht das erste Mal.

Endlich. Das Liebespärchen auf der Bank hinten im Rosengarten erhob sich und warf im Vorbeigehen einen Blick auf die einsame Frau. Sie war es wert, noch einmal hinzuschauen. Blass, vollkommene Haut, volle Lippen, die wie eine reife Frucht zerplatzen würden, wenn er in sie hineinbiss, und Haare so schwarz, dass sie seine dunkelsten Gedanken begraben konnten.

Er dehnte und streckte Arme und Beine, um die Muskeln zu lockern, um schnell und stark zu sein. Auf der anderen Seite der Mauer gingen Straßenlaternen an, warfen tiefere Schatten über die Gärten und in den Park. Sein Versteck im Gebüsch wurde dunkler. Wenn sie irgendwann die Geduld verlor, würde sie den gepflasterten Weg entlang müssen, auf ihn und seine wartenden Hände zu. Er trat einen Schritt näher an den Weg.

 

Sie sah wieder auf die Uhr. Er kam nicht. Erleichterung und Enttäuschung rangen in ihr, und die Erleichterung war stärker. Es war nicht ihre Idee gewesen, sich auf dieses Treffen einzulassen. Andere hatten den Vorschlag gemacht, und sie hatte sich überreden lassen. Sie hatte gehofft, nachdem er sie letzte Woche versetzt hatte, dass sie nun nicht mehr die Suppe auslöffeln musste, die andere ihr mit ihren schlauen Ideen eingebrockt hatten. Dann hatte er ihr per E-Mail wieder einen Treffpunkt vorgeschlagen, und jetzt war sie hier und kam sich idiotisch vor.

Ein Windstoß fegte über das Gras und schleuderte ihr welke Rosenblätter gegen die Beine. Sie hatte lange genug gewartet. Es war Zeit, nach Hause zu gehen, er würde nicht mehr kommen. Als sie sich umwandte und den Weg zurückgehen wollte, den sie gekommen war, schaute sich die junge Frau in der Hoffnung um, dass noch Leute im Park waren, aber sie war allein. Sie zog den dicken Wollmantel enger zu, verschränkte die Arme zum Schutz gegen die Kälte vor der Brust und machte sich auf den Rückweg. Ihr Schatten ging auf dem gepflasterten Weg vor ihr her, ein tröstlicher Begleiter, der Licht und Sicherheit in der aufziehenden Nacht verhieß. Er verschwand, als sie auf einen schmalen Weg bog, wo hohe Büsche einen Tunnel durch das Strauchwerk bildeten.

Die Glühbirnen in den Zierlampen, die ihr eigentlich den Weg beleuchten sollten, waren zerschlagen worden. Ihre Schuhsohlen knirschten über frische Glasscherben, und sie beschleunigte jetzt ihren Schritt. Der Wind peitschte die Sträucher, die sie einhüllten, ahmte das Rascheln von Tieren auf Beutefang nach. Ihre Schulterblätter zuckten, und sie fiel in einen komischen Halbtrab, um möglichst schnell die Sicherheit ihres Autos zu erreichen.

Er packte sie wie aus dem Nichts. Ein dunkler Schatten, der auf sie zugesprungen kam und ihr den Mund zuhielt, bevor sie schreien konnte. Sie stürzten beide zu Boden, sein Gewicht drückte ihr die Luft aus der Lunge und raubte ihr jede Fähigkeit, um Hilfe zu rufen. Sie schlug hart mit dem Hinterkopf auf und verlor kurz das Bewusstsein. Als sie die Augen mühsam wieder aufbekam, war sein maskiertes Gesicht nur Zentimeter von ihrem entfernt, ein schwarzer Lederhorror, der nur Augen und Mund sehen ließ. Er biss ihr in die Schultern, die auf einmal nackt waren. Ihr Mantel war aufgerissen worden, und der Ausschnitt ihres Pullovers war zerfetzt.

»Nein!«, schrie sie so laut sie konnte, enttäuscht, dass ihre Stimme so jämmerlich klang. »Runter, du Scheißkerl!«

Sie wollte einen Schwinger an seinem Kopf landen, doch er schlug ihre Hand weg und holte plötzlich ein Messer hervor. Wieso hat der ein Messer? Davor hatte sie keiner gewarnt.

»Schnauze, du Schlampe. Keinen Mucks, dann bleibst du vielleicht am Leben.«

Sie versuchte, sich seine Stimme zu merken, sich den Akzent einzuprägen, um eine gute Zeugin abzugeben, aber die Angst war fast übermächtig.

»Runter!«, schrie sie wieder, entsetzt über die Tränen auf ihrem Gesicht. Als seine Hände nach ihrem BH griffen, wehrte sie sich wie von Sinnen, hatte Panik, was er tun könnte, wenn er entdeckte, was darunter versteckt war. Sie schaffte es, ihn dicht am Auge zu kratzen und spürte Haut unter den Nägeln. DNA, aber das wäre ein schaler Sieg, wenn sie sie von ihrem Leichnam abnehmen müssten.

Er ließ von ihren Brüsten ab und riss ihr die Jeans auf, schnitt hastig mit dem Messer durch den Stoff. Seine Hose war bereits offen, und er rieb sich an ihr. Als sie die Berührung spürte, schrie sie laut auf, ein Entsetzensschrei, trotz des bedrohlichen Messers an ihrer Kehle. Es musste doch jemand kommen! Sie presste die Oberschenkel fest zusammen gegen die grapschenden Finger und die Schläge seiner Faust. Er drückte ihr das Messer an den Hals.

»Hör auf, dich zu wehren, sonst bist du tot. Mach die verdammten Beine breit!«

Sie presste unbeirrt weiter die Knie zusammen, während er auf ihre Oberschenkel einschlug. Die Hiebe wurden immer wilder und schienen bis zum Pflaster hindurch zu vibrieren. Dann waren da andere Geräusche, Rufe, grelles Licht, und sein Gewicht wurde hochgehoben. Sie rief weiter, konnte nicht begreifen, dass die Gefahr vorüber war.

Ihr zitternder Körper wurde in eine Plastikfolie gewickelt, und über ihre Finger wurden Zellophanbeutel gestülpt, Routine, als wäre sie bereits tot. Hände griffen aus dem Licht heraus nach ihr.

»Nein.« Sie schüttelte sie ab. Die Leute traten zurück.

»Hat eine Penetration stattgefunden, Nightingale?«

»Was?« Sie starrte fassungslos in das vertraute Gesicht.

»Hat eine Penetration stattgefunden? Falls ja, brauchen wir eine Urinprobe. Reine Routine, Sergeant.«

Sie hörte eine Stimme »um Gottes willen« murmeln, als sie die Faust hochschnellen ließ, die mit einem befriedigenden Knacken das Kinn von Detective Inspector Blite traf.

»Sie Scheißkerl!«

Irgendwo lachte jemand.

»Wayne Griffiths, Sie sind verhaftet …«

 

Die Worte drangen über den Rasen hinweg zu ihm, während er zusah, wie sein Freund abgeführt wurde. Er hielt sich seit Stunden versteckt. Sein Plan war ganz einfach gewesen: Er wollte Waynes neuerlichen Versuch, sich seiner Welt würdig zu erweisen, beobachten und kritisieren. Doch jetzt war der Junge verschwunden, und er konnte nichts tun, um ihn zu retten. Er war wütend und verwirrt. Die Festnahme hatte seine Weltordnung auf den Kopf gestellt. Wie war das möglich? Wie war die Polizei Wayne auf die Spur gekommen? Diese Frau, wer war sie? Sie hatten sie Sergeant genannt – war sie Polizistin? Wie konnte der Junge nur so blöd gewesen sein?

Er war auf den ältesten Trick der Welt hereingefallen, er hatte sich so sehr auf eine Frau fixiert, dass er in die Falle getappt war. Zugegeben, sie war fast perfekt, aber es gehörte doch gerade zu der Prüfung, sich von Frauen nicht betören zu lassen, und sein Schüler hatte ihn enttäuscht. Wenn sie nicht gewesen wäre … Er unterdrückte den Gedanken. Für Bedauern war keine Zeit.

Er musste die Wohnung sauber machen, bevor die Polizei die Adresse herausfand. Wenn er alle Spuren entfernte, bestand noch eine Chance, dass die Beweise für eine Verurteilung nicht ausreichten. Es gab Mittel und Wege, selbst die fundierteste Anklage ins Wanken zu bringen, vor allem, wenn sie sich auf einen Hinterhalt der Polizei stützte. Falls keine anderen Beweise vorlagen, konnte eine gute Verteidigung in den Köpfen der Geschworenen genügend Zweifel säen.

Er hatte das Geld und die erforderlichen Kontakte, um für die besten Verteidiger zu sorgen. Er wollte seinem Schüler zeigen, dass er ihn nicht im Stich ließ; was nicht heißen sollte, dass er dessen Loyalität in Frage stellte, sie war absolut. Aber er würde nicht versuchen, ihn gegen Kaution freizubekommen. Seine Dummheit hatte Strafe verdient, und ein längerer Aufenthalt im Gefängnis würde dem Jungen eine Lektion erteilen, die er dringend brauchte.

Derweil würde er von der Bildfläche verschwinden. Er würde bis zum Prozess untertauchen müssen. Falls die Anklage zusammenbrach, könnten sie sich wieder zusammentun und woanders weitermachen.

Froh darüber, seine Selbstsicherheit wieder gewonnen zu haben, sprintete der Beobachter über das Gras davon und verschwand in der Dunkelheit.

Ein Jahr später

»Würdest du auch allein reingehen? Ich weiß, ich sollte mitkommen, aber …« Er blickte weg, schämte sich seiner Furcht vor dem, was sie drinnen erwartete.

»Nein, schon gut, ich mach das allein. Aber warte hier auf mich.«

Sie stieß eine schwere, mattrot lackierte Eisentür auf und ging an Schildern in einer Fremdsprache vorbei, mit der sie nichts anfangen konnte. Ein unangenehmer chemischer Geruch drang durch ihre zusammengebissenen Zähne und füllte ihre Kehle mit einer beißenden Süße, von der sie würgen musste. Die Luft war kalt, der Korridor leer. Ein nacktes Fenster am hinteren Ende ließ grelles Licht herein, das ihren Schatten zurück Richtung Tür jagte.

In der Mitte der Decke hing an Stahlketten ein Schild herab, auf dem neben den stilisierten Umrissen einer Kapelle ein schwarzer Pfeil nach rechts zeigte. Sie folgte dem stummen Hinweis und bog ab, ließ das Sonnenlicht vom Fenster am Ende des Korridors hinter sich. Nackte Glühbirnen an den Wänden beleuchteten jetzt ihren Weg.

Sie gelangte zu einer weiteren massiven Tür, auf der die Umrisse der Kapelle unter einer abblätternden Plastikbeschichtung zu sehen waren. Sie drückte die Klinke herunter, aber die Tür war verschlossen. Alles war totenstill, doch dann hörte sie das leise Klacken von Fingern auf einer Tastatur, und sie ging dem Geräusch bis zu einer Bürotür nach. Sie klopfte leise an und trat ein.

»Si?« Eine junge Frau mit schweren Lidern und dunklen Augen blickte auf, sichtlich verärgert über die Störung.

»Entschuldigen Sie. Ich bin Louise Nightingale. Ich komme aus England. Ich möchte zu meinen Eltern.«

Als die Frau den Namen hörte, wurde ihr Blick weich, und sie stand auf.

»Scusi.«

Sie ließ Nightingale allein im Büro stehen, wo sie über einen Metallschreibtisch in den klaren Himmel dahinter blickte. Genau deshalb waren ihre Eltern hergekommen, auf der Suche nach Sonnenschein im Winter. Sie wandte sich ab, wieder mit einem flauen Gefühl.

Ein Mann, der einen tadellos geschneiderten schwarzen Anzug, rote Krawatte und Sonnenbrille trug, betrat den Raum.

»Miss Nightingale, wir hatten Sie gestern erwartet. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«

Der Mann ging zu der Kapellentür und schwang dabei einen Schlüssel an einer dünnen Silberkette wie einen Rosenkranz.

»Sie sind hier drin. Es tut mir so Leid. Möchten Sie lieber allein sein?«

»Ja, bitte.«

Sie stieß die Tür auf, sie war schwer und schien sich der Störung zu widersetzen. Ein dicker Ledervorhang hing wie eine zweite Barriere dahinter. Innen war die Luft noch kälter, das Licht dämmrig. Es roch nach Blumen und Weihrauch, und erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie in einem katholischen Land war. Ein Kruzifix mit einem leidenden Christus aus bemaltem Gips auf Holz hing an der leuchtend roten hinteren Wand. Davor standen zwei offene Särge. Als sie darauf zuging, überwältigte sie der Duft einer Vase voller Lilien. In der kühlen Dämmerung wirkten sie wie vollkommene Elfenbeinblüten, die sich an die sterile, klimatisierte Luft klammerten.

Das leise Brummen der Klimaanlage war das einzige Geräusch in der Stille. Hinter ihr fiel die Tür mit einem Klicken ins Schloss, und einen Moment lang musste sie den Impuls niederkämpfen, zurückzulaufen und gegen die Tür zu schlagen, um ihrem eingebildeten Begräbnis zu entfliehen. Stattdessen ging sie weiter, ganz die beherrschte und gefasste Engländerin, und legte die Hand auf den Eichenholzsarg ihrer Mutter.

Jemand hatte ihr ihr bestes Sommerkleid angezogen. Ein weißes Tuch bedeckte ihren Leichnam bis zur Brust. Die Hände darunter waren gefaltet, und sie fühlte sich um einen letzten Blick auf die langen Finger und die schlanken rosa Nägel, die immer so sauber gewesen waren, betrogen.

Ihr fiel die Warnung wieder ein, die ihr von der britischen Polizei im Namen der italienischen Kollegen ausgerichtet worden war: »Beide haben sehr schwere Verletzungen erlitten. Ihr Vater starb an der Unfallstelle, Ihre Mutter zwei Stunden später.«

Sie fragte sich, was für Verstümmelungen das Leichentuch verbarg, und schluckte schwer, um sich für den Anblick des Gesichtes ihrer Mutter zu wappnen.

Es war schön. Wie eh und je. Wundersamerweise war das Gesicht ihrer Mutter unversehrt geblieben. Noch unglaublicher war, dass der Bestatter der Versuchung widerstanden hatte, sie mit Farben zu schminken, die sie im Leben nie getragen hätte.

Das hellbraune Haar, ohne eine Spur von Grau, Tönen unnötig, fiel ihr weich und glatt um das Gesicht. Die kleinen Sorgenfalten und die leichten Runzeln auf ihrer Stirn, die sich immer gezeigt hatten, wenn sie angestrengt nachdachte, waren verschwunden, sodass sie jünger aussah, als Nightingale sie in Erinnerung hatte. Die grausame Ironie, sie im Tod so jugendlich zu sehen, raubte ihr den Atem.

Nur die vollen Lippen zeigten Spuren des Todes. Sie waren fest geschlossen und ganz blass, fast blau. Ein wenig Lippenstift hätte nicht geschadet, dachte sie, aber vielleicht wollte der Bestatter ihre natürliche Schönheit auch im Grab unangetastet lassen.

Sie beugte sich herab und küsste ihre Mutter auf die Stirn, auf beide Augen und zuletzt, ganz sanft, auf den Mund, wie ein unbewusstes Kreuzzeichen. Dann richtete sie sich auf und ging zu ihrem Vater.

Das Tuch ging ihm bis zum Kinn, sodass nicht zu erkennen war, was er anhatte. Seine Augen waren geschlossen, aber sie kannte die Farbe, das Glockenblumenblau eines klaren Sommerhimmels. Es stand nicht zu befürchten, dass sie je vergessen würde, wie sie aussahen, denn um sie wieder zu sehen, brauchte sie nur in den Spiegel zu schauen. Sein ganzer Kopf war mit blütenweißen Verbänden umwickelt, aus denen nur Augen, Nase und Mund hervorlugten. Trotzdem konnten sie nicht alle Wunden verbergen. Eine führte genau von der Mitte der Unterlippe in einer leuchtenden Diagonale in den Verband über dem Kinn. Eine weitere, sorgfältig genäht, begann außen an der linken Augenbraue, zog sich quer über die Stirn und verschwand in dem einzigen Büschel Haare, das auf seiner rechten Schläfe zu sehen war.

Es war eine Frankensteinmonster-Naht, und der Anblick ließ sie vor Schock und unterdrückter Hysterie so heftig kichern, dass sie sich den Mund mit beiden Händen zuhalten musste. Dann verebbten die Geräusche zu einem leisen Wimmern, während sie auf den Leichnam blickte, der ihr Vater gewesen war. Es war so wenig von ihm zu sehen, dass sie sich fragte, warum der Sarg überhaupt offen gelassen worden war, aber sie war froh darüber.

Sie hob eine Hand und streichelte ihm über den bandagierten Kopf.

»Ach Dad«, flüsterte sie, »so ein verdammtes Pech.«

Dann küsste sie ihn sanft, wie zuvor ihre Mutter, wandte sich zum Gehen und kämpfte darum, die Fassung wiederzugewinnen. Es bestand kein Grund, länger hier zu bleiben. Was könnte sie noch tun? Als sie nach dem Ledervorhang griff, spürte sie ein Kribbeln auf der Haut zwischen den Schulterblättern. Eine verrückte Sekunde lang war sie sicher, dass ihre Eltern sich beide aufgesetzt hatten und sie ansahen, wünschten, dass sie sich noch einmal umdrehte, um ihr auf Wiedersehen zu sagen. Das Gefühl war so stark, dass sie einen Blick nach hinten warf. Die einzigen Augen waren die von Christus, der am Kreuz litt, voller Erbarmen und allein. Sie drehte sich wieder zur Tür, öffnete sie und ging hinaus.

Draußen im Sonnenschein des Parkplatzes saß ihr Bruder auf einer Bank, das Gesicht grau, die Augen gerötet.

»Das hat aber lange gedauert.« Er klang kleinlaut, verlegen, weil er es nicht fertig gebracht hatte, seine toten Eltern zu sehen.

»Es waren jede Menge Formulare zu unterschreiben, aber jetzt ist alles erledigt.«

»Ich konnte einfach nicht. Tut mir Leid.«

»Ist schon gut, ehrlich.«

»Waren sie, ich meine, die Särge …?«

Auch er wusste um die gut gemeinte Warnung der italienischen Polizei.

»Die Särge waren offen. Sie sahen beide sehr friedlich aus, als würden sie schlafen. Es war kein schrecklicher Anblick.«

Er drückte sie ganz fest, und sie spürte, wie ihre Kehle sich zuschnürte. Sie löste sich von ihm, konnte ihn nicht ansehen, aus Angst vor der Last der Tränen, die sie in sich spürte. Sie wusste, wenn sie ihnen freien Lauf ließe, würden sie so bald nicht wieder aufhören, als sei ein Damm gebrochen.

»Komm, lass uns fahren. Ich könnte einen Drink vertragen.«

Er ließ seinen Arm locker um ihre Schultern liegen und führte sie zum Wagen. Die Sonne brannte auf ihrem dunklen Kostüm, als sie langsam von der Leichenhalle weggingen, ihre Schatten hart auf dem grauen Kies.

Bis heute war der Tod ihrer Eltern nicht real gewesen. Sie hatte die Formalitäten erledigt, die Flugtickets besorgt, die Sachen ihrer Eltern einpacken und zu sich ins Hotel schicken lassen. Selbst das Ausfüllen der Versicherungsformulare für die Überführung der Leichname nach Hause war eine willkommene Ablenkung gewesen. Jetzt musste sie sich noch um die Beisetzung kümmern und um die Grabsteine. Dann …

Ihr Bruder schloss fest die Autotür, und sie schnallte sich an. Der Klang der zuknallenden Tür hatte eine Endgültigkeit, die in ihren Gedanken nachhallte. Das Leben würde nie wieder so sein wie zuvor. Ihre Eltern waren tot. Sie war eine Waise. Alles, was zwischen ihnen ungeklärt gewesen war, würde es für immer bleiben. Offene Möglichkeiten hatten sich in dem Sekundenbruchteil geschlossen, in dem ein Reifen platzte und ihr Wagen im hohen Bogen in die malerische Schlucht stürzte, an deren Anblick sie sich Augenblicke zuvor bestimmt noch erfreut hatten. An die Stelle einer möglichen Aussöhnung mit ihren Eltern war Reue getreten, Schuldgefühle würden die Leere füllen müssen, wo Erklärungen und Verzeihen irgendwann vielleicht das Verhältnis zwischen ihnen hätten flicken können. Alles, was sie einander noch hätten bedeuten können, war mit ihren letzten Atemzügen erloschen.

Das Gefühl vertaner Chancen war fast unerträglich. Für einen so selbstbewussten und beherrschten Menschen wie sie war die Erkenntnis der Machtlosigkeit erdrückend. Sie fühlte sich beschädigt, isoliert, außer Kontrolle. Das Leben würde nie wieder so sein wie zuvor.

 

 

 

TEIL EINS

 

 

Ein Mann schämt sich nur selten dafür, dass er eine Frau nicht so recht lieben kann, wenn er eine gewisse Größe in ihr sieht: Die Natur hat Größe für die Männer vorgesehen.

George Eliot

 

 

Man kann mit dieser neuen Erfahrung sowohl im Weine als auch in der Frau eine Versuchung sehen. Man muss beiden Versuchungen widerstehen, und wenngleich man alle Frauen mit größter Höflichkeit behandeln sollte, ist doch jede Form von Vertraulichkeit zu meiden.

Horatio Herbert Earl Kitchener of Khartoum and Broome

Kapitel eins

»Und?«

Der Verteidiger beugte sich vor, die Nase ebenso spitz wie sein Tonfall, die Perücke in der Hitze seiner Attacke verrutscht. Nightingale bemühte sich um eine vernünftige Antwort, aber ihre Gedanken waren erstarrt. Das Einzige, woran sie sich erinnern konnte, war eine Bemerkung ihrer Mutter, als sie mal mit einer schlechten Note aus der Schule gekommen war: »Den Text vergessen, nicht zu fassen. Dein Bruder hätte uns nicht so blamiert.«

Die Erinnerung raubte ihr jedes Selbstvertrauen, und sie spürte, wie ihre Bluse unter dem Kostüm schweißnass wurde. Sie holte tief Luft und presste die Finger fest gegen das Holz des Zeugenstandes. Seit vierzig langen Minuten wurde sie ins Verhör genommen. Ihre Aussage war entscheidend, da die Staatsanwaltschaft ansonsten nur Indizienbeweise hatte. Sie sagte sich, dass sie sich einfach nur an die Wahrheit zu halten brauchte, ohne sich von dem rüden Ton des Mannes einschüchtern zu lassen.

»Wir warten, Sergeant.«

»Ja.« Sie hustete, als würde sie sich räuspern, und fixierte einen Punkt direkt über seiner rechten Schulter.

»Ja. Was?«

Nightingale straffte die Schultern, hoffte, dass es nicht aggressiv wirkte, sondern höflich, wie aus Respekt vor seiner Rolle. Sie wusste, wie sich erfolgreiche Zeugen verhielten: entschlossen, selbstsicher, aber nicht anmaßend. Sie war Polizeibeamtin, und die Geschworenen würden zuerst ihren Beruf und dann den Menschen sehen. Sämtliche Vorurteile, die sie mit in den Gerichtssaal gebracht hatten, würden sich auf die Interpretation von allem, was sie sagte, auswirken. Wenn sie als Kinder dazu erzogen worden waren, Vertrauen zur Polizei zu haben, dann würden sie ihr glauben wollen. Wenn sie Polizisten für korrupt und voreingenommen hielten, würde alles, was sie sagte, auf Skepsis stoßen. Für sie alle musste sie Louise Nightingale sein, die Opfer eines Vergewaltigungsversuchs geworden war.

»Könnten Sie Ihre Frage bitte wiederholen?« Ihre Stimme war wieder ruhig.

»Meine Frage lautete, wie Sie mit dem Angeklagten in Kontakt gekommen sind, und bisher haben Sie trotz der wiederholten Bitte um Präzisierung lediglich gesagt, Sie hätten auf eine E-Mail geantwortet, die dazu geführt habe, dass Sie Nachrichten in einem Chat-Room austauschten.«

»Das ist richtig. Wir haben uns im Internet über das Computerspiel THE GAME ausgetauscht.«

»Und wie ist es zu dem Kontakt gekommen?«

»Das habe ich schon mehrmals beantwortet, Sir.«

»Dann erzählen Sie es uns noch einmal.« Die Strategie des Verteidigers war es, der Polizei Anstiftung zu einer Straftat nachzuweisen, und wenn es ihm gelang, Nightingale bei ihrer Aussage aus dem Konzept zu bringen, könnte sie aufgehen.

Über THE GAME und dessen Spielregeln hatten bereits Experten von der Firma ausgesagt, die es erfunden hatte. Sie hatten es als harmlosen Spaß dargestellt, eine Herausforderung für Geschicklichkeit und schnelles Denken. Aber jedes der Vergewaltigungsopfer hatte es gespielt. Als andere Spuren kein Ergebnis gebracht hatten, hatte die Polizei schließlich THE GAME als mögliche Verbindung zu dem Täter genauer unter die Lupe genommen.

»Der Leiter der Ermittlungen hatte Grund zu der Annahme, dass alle Opfer einer Vergewaltigungsserie an einem Online-Spiel namens THE GAME teilgenommen hatten. Es gibt etliche Websites und Chat-Rooms, die sich mit dem Spiel befassen.«

»Und Sie haben einen dieser Chat-Rooms in der erklärten Absicht betreten, den Angeklagten zu einem Nachrichtenaustausch zu ködern, den Sie, Sergeant, zunehmend belastender und zügelloser gestalteten!« Spucketröpfchen flogen von seiner Zunge, und er betupfte sich den Mund.

»Einspruch!« Der Staatsanwalt war aufgesprungen. Reginald Stringer war ein unnachgiebiger Verteidiger, dem eine ausgeprägte Abneigung gegen Polizeizeugen nachgesagt wurde. Der Richter gab dem Einspruch statt, und Nightingale beantwortete eine neu formulierte Frage.

»Um in gewisse Chat-Rooms zu gelangen, benötigt man die vollständige Webadresse und ein Passwort. Ich wurde von dem Angeklagten in diesen speziellen Chat-Room eingeladen.«

Nightingale fühlte sich jetzt sicherer. Die Polizei hatte drei Computerexperten, die alle die E-Mail-Korrespondenz zwischen ihr, dem Angeklagten und dem Chat-Room bestätigt hatten.

»Erzählen Sie uns von den Figuren, die in THE GAME vorkommen.«

Nightingale zeigte auf die Brettversion des Spiels auf dem Tisch mit den Beweismitteln. Es war eins von etlichen Nebenprodukten des Originalcomputerspiels, das die noch jugendlichen Erfinder zu Multimillionären gemacht hatte. Der Film dazu sollte in einem Jahr herauskommen.

»Es gibt sechs Hauptfiguren und zahllose Nebenfiguren. Einige Kombattanten …«

»Kombattanten?«

»Spieler – sie nennen sich Kombattanten.«

»Und welche ›Kombattantin‹ waren Sie, Sergeant?«

»Artemesia 30055.«

»Artemesia geht auf die griechische Göttin Artemis zurück – die Jägerin – nicht wahr? Sehr passend, wenn man bedenkt, was Sie vorhatten.«

»Einspruch.«

»Stattgegeben.«

»Und die Zahl, was hat es damit auf sich?«

»Ich war die dreißigtausendfünfundfünfzigste Person, die bei THE GAME mitmachte, als Artemesia. Das wurde mein Codename. Sie gehört zu den weniger beliebten Figuren, da sie nicht so viel offensichtliche Kraft hat.«

»Also, Artemesia 30055, wie haben Sie den Angeklagten kennen gelernt?« Stringer lächelte über seinen Scherzversuch, aber Nightingale ließ sich nicht täuschen.

Es wäre ihr lieber gewesen, mit Sergeant angesprochen zu werden. Wenn er sich auf die Spielfigur konzentrierte, würde er unweigerlich die dunkle Seite der Jägerin hervorheben. Sie war eine Spielerin, die Stärke und neue Kräfte erlangte, wenn sie Dämonen und Trolle aufspürte und tötete. Die beiden anderen weiblichen Figuren – eine Heilerin und eine Hexe – hatten mit weniger aggressiven Taktiken Erfolg. Nightingale war eine außergewöhnliche Artemesia gewesen, die rasch durch die Ranglisten aufstieg. Genau deshalb war der Angeklagte auf sie aufmerksam geworden. Er hatte den Dämonenkönig gespielt, die schwierigste und gefährlichste Rolle, aber die mit den besten Möglichkeiten, Punkte zu sammeln. Sie blickte jetzt zu ihm hinüber, ein straßenköterblonder Mann in den Zwanzigern. Kaum jemand, der einem in einer Menschenmenge auffallen würde.

»Sergeant, wir warten.«

»Ich lernte den Angeklagten in dem Chat-Room kennen. Er nannte sich Dämonenkönig 666. Er hatte es irgendwie geschafft, die automatische Nummerierung zu umgehen, und sich eine Wunschnummer gegeben – die Zahl des Teufels. Er galt als Experte für THE GAME. Nicht nur für seine eigene Rolle, sondern auch für andere. Der Dämonenkönig ist das Ziel für alle anderen. Wer ihn fängt oder tötet, ist automatisch Sieger mit der höchsten Punktzahl. Dämonenkönig 666 hatte noch nie verloren. Er galt als unbesiegbar.«

Aus den Augenwinkeln konnte sie sehen, wie der Angeklagte sich bewegte. Er starrte sie an und lächelte. Nightingale fröstelte. Trotz seiner Lage genoss er den Dialog über THE GAME und seine Überlegenheit darin. Das war einer der Gründe, warum sie im Chat-Room so leicht mit ihm ins Plaudern gekommen war. Je erfolgreicher sie in dem Spiel wurde, desto mehr Aufmerksamkeit schenkte er ihr.

»Dämonenkönig 666 war sehr clever. Die meiste Zeit gab er irreführende Informationen heraus. Schließlich hatten viele von den Leuten, die Tipps von ihm erhielten, den Wunsch, ihn in einer zukünftigen Partie zu töten. Aber er wollte auch, dass andere Dämonenkönige getötet wurden, um seine Führungsposition zu sichern, deshalb lieferte er auch echte Hinweise, damit die Leute ihn um weitere baten.«

»Sie eingeschlossen?«

»Nein, ich habe ihn nie direkt um Rat gebeten. Dadurch hätte ich zu viel über meine eigene Taktik verraten können. Ich habe die öffentlichen Dialoge verfolgt, hier und da einen Kommentar beigesteuert. Er hat zuerst eine persönliche Nachricht an mich geschickt, nicht umgekehrt.«

»Ich kann mir kaum vorstellen, dass Sie sich darauf verlassen haben, dass er den Anfang macht.«

»Aber so war es. Das beweisen sämtliche Aufzeichnungen.« Sie unterdrückte ein abschätziges Lächeln. Natürlich war er auf sie zugekommen, sie hatte sich unwiderstehlich gemacht, indem sie gewann und sich still und leise verhielt. Reine Geduldssache.

Nightingale warf einen Blick zur Uhr auf der gegenüberliegenden Wand. Sie war jetzt seit fast einer Stunde im Zeugenstand und bereute es, dass sie die ganze Nacht kein Auge zugetan und auch nicht gefrühstückt hatte. Die Verteidigung hätte keinen besseren Zeitpunkt finden können. Draußen war ein für die Jahreszeit ungewöhnlich sonniger Tag. Die Fenster gingen nach Osten und wurden von Säulen aus geschnitztem Eichenholz umrahmt, die zu den schweren Möbeln im Saal passten. Die englische Klimaanlage, die es nicht gewohnt war, mit richtiger Hitze fertig zu werden, zeigte erste Anzeichen von Schwäche. London im April war nun mal normalerweise nicht warm. Erste gelbe Lichtstrahlen wanderten jetzt allmählich über den blauen Teppichboden zum Zeugenstand. Die Tische von Verteidigung und Anklagevertretung standen ein Stück weiter hinten, in der relativen Behaglichkeit des Schattens, aber Nightingale würde bald voll von der Sonne beschienen werden.

»Könnte ich bitte etwas Wasser haben?«

Der Richter hatte Mitleid, und man brachte ihr einen Plastikbecher mit lauwarmem Leitungswasser. Sie nippte daran und fuhr mit ihrer Aussage fort. Das meiste wusste sie auswendig, aber sie schaute trotzdem in ihren Notizen nach, um die Geschworenen daran zu erinnern, dass sie eine Polizistin war, die Ermittlungsarbeit geleistet hatte, keine passionierte Computerspielerin.

Die Sonne erreichte sie. Es gab eine kurze Unterbrechung, als der Richter um einen erneuten Versuch bat, die Jalousien herunterzulassen, aber sie blieben weiter störrisch auf Halbmast.

»Sie dürfen Ihren Blazer ausziehen, wenn Sie möchten, Sergeant«, sagte er rücksichtsvoll.

Selbst ohne Blazer wurden ihr die Haare im Nacken zuerst klamm, dann nass. Von Zeit zu Zeit dröhnte die Klimaanlage los und schien sich doppelt anzustrengen, um den Saal zu kühlen, erreichte aber lediglich, dass Verteidiger und Zeugin bei dem Lärm lauter sprechen mussten. Nightingale verlor allmählich die Stimme.

Stringer dagegen blühte in der Hitze förmlich auf. Sein Gesicht war rosa und glänzend, aber seine Sprachgewalt nahm stetig zu. Es war, als könnte er ihre wachsende Schwäche spüren. Über den Boden krochen Schattenstreifen von der Kolonnade pseudogriechischer Säulen, die draußen dem Sonnenlicht trotzten, und lenkten Nightingale ab. Sie hatte Halsschmerzen und der Kopf tat ihr weh. Stringer versuchte erneut, sie als skrupellose Jägerin einer unschuldigen Beute darzustellen. Sie bekämpfte ihn mit jedem ruhigen, überlegten Satz oder mit leichtem Kopfschütteln, ihr Temperament fest im Zaum haltend. Die ganze Zeit hoffte sie, dass der Richter und die Geschworenen die Wahrheit erkannten, dass nämlich sie die Gejagte gewesen war. Ein Schweißtropfen lief ihr von der Stirn und brannte ihr im linken Auge.

»Kommen Sie, Sergeant. Wir können nicht den ganzen Tag auf Ihre Antwort warten.«

»Es … Es tut mir Leid. Könnten Sie die Frage wiederholen?«

»Was?« Seine Stimme hallte in ihrem Kopf wider, lauter als die Klimaanlage.

»Ich sagte«, sie schluckte trocken, ihr Mund wie ausgedörrt, »könnten Sie die Frage bitte wiederholen?«

Sie legte die Finger an die Wange, überrascht, wie heiß sie sich anfühlte. Es beunruhigte sie, und sie legte ihre freie Hand auf das heiße Holz des Zeugenstandes. Schwarze Punkte erschienen vor ihren Augen.

»… gesagt, dass Sie … was schwer zu glauben ist, wenn man bedenkt …« Seine Stimme wurde immer wieder lauter und leiser. Sie blinzelte erneut und versuchte sich zu konzentrieren, aber die schwarzen Punkte wurden größer. Irgendwo sprach der Richter.

»… den Eindruck, Sergeant Nightingale fühlt sich ein wenig matt.«

»Nein, mir geht’s gut«, sagte sie und kippte prompt nach vorn, um von zwei Händen aufgefangen zu werden.

Als das Blut ihr in den Kopf strömte, wurde ihre Sicht klar, und sie konnte wieder hören. Sie trank das Wasser, das ihr gereicht wurde, und stand langsam auf, stützte sich schwer auf den Zeugenstand.

»Ist alles in Ordnung, Sergeant?«

»Ja, das kommt bloß von der Hitze. Es tut mir Leid. Könnte ich mich wohl ein paar Minuten irgendwo hinsetzen, wo es kühler ist?«

Draußen im Korridor umarmte der Staatsanwalt sie kurz.

»Das ist mir so peinlich, ich …«

»Das war genial. Die Verletzlichkeitsnummer, das hat die Geschworenen dran erinnert, dass Sie eine Frau sind. Phantastisch! Hervorragender Schachzug.«

Nightingale setzte sich völlig verdattert hin. Wofür hielt er sie? Glaubte er, sie sei imstande, sich in Ausübung ihrer Pflicht wie eine Maschine zu verhalten, egal um welchen persönlichen Preis? Ihre Therapeutin hatte ihr geraten, sich nicht zwingen zu lassen, als Zeugin auszusagen. Die Frau hatte Recht mit der Annahme, dass der Vergewaltigungsversuch bei ihr ein schweres Trauma ausgelöst hatte, das nur wenig mit den körperlichen Verletzungen selbst zu tun hatte. Traumatisch war die Erinnerung an ihre Hilflosigkeit, an seine Kraft und das Gewicht seines Körpers auf ihrem, seine grapschenden Finger, die sie berührten. Das bereitete ihr das größte Entsetzen. Sie fühlte sich besudelt und wertlos, aber sie hatte sich dazu bewegen lassen auszusagen, das Ganze noch einmal zu durchleben, und das Vertrauen, das in sie gesetzt worden war, hatte sich bislang als berechtigt erwiesen.

»Können wir weitermachen?«

»Ich glaube nicht. Ich bin sehr zittrig. Können wir das nicht auf morgen vertagen?«

Sie fühlte sich in der Falle. Der Korridor war so stickig wie der Gerichtssaal. Die Sonne brannte durch die schmutzigen Fenster, grell zwischen den dunklen Schattenstreifen. Sie rutschte ein Stück zur Seite ins Dunkle und lehnte den Kopf gegen die Wand, die Augen geschlossen. Um sie herum und über ihr wurden Stimmen laut, die sie überreden wollten weiterzumachen. Wenn die Verteidigung Zeit hatte, ihre Taktik neu zu überdenken, könnte die Anklage ihren Vorteil einbüßen. Sie kapitulierte und hievte sich hoch. Als sie den Gerichtssaal betrat, fingen ihre Knie an zu zittern, und ihr wurde schwindelig. Das waren nur die Nerven, beruhigte sie sich, keine Vorwarnung.

Sie riskierte einen Blick zu den Zuschauerbänken. Ihr Bruder saß dort neben einem sonnengebräunten Fremden mit seltsam strahlenden Augen. Die beiden lächelten sie an, und sie atmete tief durch.

»Sergeant?«

Stringer hatte ihren abschweifenden Blick bemerkt und hob ungeduldig eine Augenbraue, tat alles, um ihr Selbstvertrauen zu untergraben. Wenn er nur wüsste, wie wenig ihr davon noch geblieben war! Aber ihr Kostüm und das sorgfältige Make-up boten ein vollendetes, professionelles Bild. Undurchlässige Tarnung.

»Kommen wir auf den Abend des zwölften Februar letzten Jahres zu sprechen. Der Abend, an dem der Angeklagte Sie angegriffen hat, wie die Anklage behauptet.«

»Der Abend, an dem er versucht hat, mich zu vergewaltigen.« Stringer schnaubte. »Ja, Sir, daran erinnere ich mich gut.«

»Dann schildern Sie uns doch bitte Ihre Version der Ereignisse.«

Nightingale holte tief Luft. Ihr Mund war trocken. Die gesamte Feuchtigkeit ihres Körper schien sich in kühlen Lachen um den Rockbund und unter ihren Armen gesammelt zu haben.

»Es war das zweite Mal, dass der Angeklagte sich mit mir treffen wollte. Bei der ersten Verabredung war er nicht gekommen, doch seit jenem Abend hatte ich das Gefühl, dass mich jemand verfolgt.«

»Ein ›Gefühl‹, Sergeant, ist kein Beweis, wie Sie wohl wissen, und die Fakten sind nun mal die, dass der Angeklagte trotz eines beachtlichen Polizeiaufgebots nicht dabei gesehen wurde, Sie verfolgt zu haben. Ist das richtig?«

»Ja, Sir.« Sie widerstand dem Wunsch, den Geschworenen zu erzählen, dass ihr Auto beschädigt und ihr Müll durchwühlt worden war. Das alles war in den fünf Tagen zwischen der ersten und zweiten Verabredung passiert, aber da keine Spuren von dem Angeklagten gefunden worden waren, handelte es sich um reine Spekulation.

»Am zwölften Februar machte ich mich auf den Weg zu dem Treffpunkt, den der Angeklagte mit mir vereinbart hatte, am Musikpavillon im Harlden Park, wo ich mit drei Minuten Verspätung um siebzehn Uhr dreiunddreißig eintraf. Ich wartete bis achtzehn Uhr fünfzehn und wollte dann zurück zu meinem Wagen. Ich musste durch den Rosengarten und über einen Weg, der zwischen Rhododendronbüschen hindurchführte.«

»Wieso sind Sie nicht einen besser beleuchteten Weg gegangen? Es war schließlich dunkel.«

»Dann hätte ich fünfzehn statt fünf Minuten gebraucht, und der Weg ist normalerweise gut beleuchtet.«

»Fahren Sie fort.«

»Als ich an dem Gebüsch vorbeikam, hörte ich ein Geräusch irgendwo aus den Sträuchern und sah mich deshalb nach einem anderen Weg um. Da es keinen gab, ging ich weiter.«

»Sie stellen es so dar, als wären Sie allein gewesen, doch in Wahrheit wimmelte es überall von Polizei, und Sie trugen ein Mikro, nicht wahr?«

»Ich trug ein Mikro. Doch der Treffpunkt am Musikpavillon war insofern problematisch, als die mich beschattenden Beamten am Rand des Parks bleiben mussten. Zwei posierten als Liebespärchen, und drei weitere spielten Fußball auf der Wiese, aber als es dämmerte, mussten sie gehen. Vier weitere Kollegen waren auf dem Parkplatz, zwei auf Bänken im Rosengarten – sie waren am nächsten – und alle übrigen hielten sich in einem mehr oder weniger weiten Umkreis auf.«

Sie spürte ein ganz leichtes Zittern in der Kehle. Trotz ihrer Therapie kam jetzt der schwierigste Teil der Aussage. Erinnerungen an den Angriff holten sie im Schlaf ein, lösten lebhafte Albträume aus, in die sich Bilder von seinen anderen Opfern mischten. Sie verlor den roten Faden und wartete auf die nächste Frage.

»Sie haben eine auffällige Ähnlichkeit mit den Opfern der Angriffe, die Sie als Polizistin untersuchten. Hat Sie das besonders beunruhigt?«

»Nein.«

Nightingale spürte, dass er seine Taktik änderte. Vielleicht war Stringer nicht sicher, ob er die Geschworenen davon überzeugen konnte, dass die Polizei seinen Mandanten mit THE GAME zu einer Straftat anstiften wollte, deshalb würde er jetzt ihre Darstellung der versuchten Vergewaltigung in Zweifel ziehen. Vor diesem Augenblick graute ihr. Abgesehen von dem Polizeibericht über den Überfall auf sie und den Spuren, die unter ihren Fingernägeln gefunden worden waren, gab es keinerlei Sachbeweise. Der Vergewaltiger hatte an seinen Opfern niemals Sperma, Speichel oder auch nur ein Haar hinterlassen. Bei der Durchsuchung seiner Wohnung, die wie geleckt gewesen war, hatte die Spurensicherung weder Fingerabdrücke noch irgendetwas gefunden, das ihn mit den Straftaten in Verbindung gebracht hätte. Angesichts der schlechten Beweislage hatte die Staatsanwaltschaft beschlossen, die Anklage auf drei Vergewaltigungen zu konzentrieren, die nach der gleichen Methode abgelaufen waren wie der Angriff auf Nightingale. Vier weitere, einschließlich einer, bei der das Opfer zu Tode gekommen war, waren vorläufig auf Eis gelegt worden. In diesen Fällen waren die Frauen bei sich zu Hause, nicht im Freien, überfallen worden, und keine von ihnen hatte den Angeklagten bei einer polizeilichen Gegenüberstellung wiedererkannt.

»Kommen wir auf den ›Angriff‹ zu sprechen, bei dem der Angeklagte übrigens nicht unerhebliche Verletzungen davongetragen hat. Ist es richtig, dass Sie auf den Angeklagten zugegangen sind und ihn zu einer Umarmung ermuntert haben, um ihn dann mit körperlicher Gewalt zurückzuweisen?«

»Nein, das ist nicht richtig.«

»Treiben Sie regelmäßig Sport?«

»Wie bitte?« Sie war perplex über die Frage. Er wiederholte sie knapp.

»Ich jogge.«

»Haben Sie Selbstverteidigungskurse besucht?«

»Nur im Rahmen der Polizeiausbildung.«

»Aber Sie sind fit und kräftig, nicht wahr? Durchaus imstande, es mit einem Mann im Kampf aufzunehmen.«

Er versuchte, sie zu provozieren, und wenn sie emotional reagierte, würde er das zu seinem Vorteil ausnutzen. Der Gedanke machte sie wütend, aber dadurch wurde ihr Verstand geschärft und jedes aufwallende Gefühl unter die Oberfläche gedrängt.

»Ich habe den Angeklagten nicht angegriffen. Er hat mich angesprungen und zu Boden gerissen. Es gibt Beweise dafür, dass er mir in den Büschen aufgelauert hat.«

»Wie groß sind Sie?«

»Einen Meter achtundsiebzig.«

»Wie viel wiegen Sie?«

»Das weiß ich wirklich nicht.«

»Ach, kommen Sie, Sergeant, alle Frauen kennen ihr Gewicht bis aufs Gramm genau.«

»Ich nicht.«

»Verstehe.« In seinem Tonfall schwang mit, dass sie der Frage ausweichen wollte.

»Würden Sie den Angeklagten bitte anschauen.«

Nightingale leckte sich die trockenen Lippen. Sie hatte seinen Blick die ganze Zeit gemieden. Mit einer leichten Drehung des Kopfes richtete sie die Augen auf die Brust des Angeklagten. Sein Kinn und sein Mund waren genau am oberen Rand ihres Gesichtsfeldes, und sie senkte den Blick noch ein wenig.

»Wie groß würden Sie ihn schätzen?«

Riesengroß, dachte sie. »Ich weiß nicht.«

Wieder ein ungehaltenes Seufzen.

»Er ist einen Meter fünfundsiebzig, kleiner als Sie.« Er machte eine bedeutungsschwangere Pause. »Wohl kaum ein unbezwingbarer Gegner für eine durchtrainierte, groß gewachsene Frau wie Sie.«

»Wenn man auf dem Boden liegt, mit einem Messer an der Kehle, sehen alle Männer groß aus … Sir.« Einige Frauen auf der Geschworenenbank nickten verständnisvoll, und Nightingale nutzte ihren Vorteil weiter aus. »Und ich befand mich nicht gerade in einem geeigneten Zustand, um ihn anzugreifen. Ich hatte eine Gehirnerschütterung – die Röntgenbilder zeigen eine schwere Prellung an meinem Hinterkopf«, sie spürte wieder das Knacken im Kopf, als sie auf die Steine aufgeschlagen war, »ein verstauchtes Handgelenk und eine ausgekugelte Schulter, Blutergüsse im Gesicht und an den Oberschenkeln«, er war beängstigend stark gewesen, »und ich musste mir zwei Zähne überkronen lassen.«

»Das sagen Sie, Sergeant, aber woher sollen die Geschworenen wissen, dass Sie sich die Verletzungen nicht selbst zugezogen haben oder dass sie Ihnen nicht von Ihren Kollegen zugefügt wurden, um Beweise gegen meinen Mandanten zu fingieren?«

Seine Gefühllosigkeit ließ sie nach Luft schnappen, und entsetzt merkte sie, dass ihr Tränen in die Augen schössen, doch als sie einen Blick zum Tisch der Anklagevertretung riskierte, sah sie verstohlen lächelnde Münder. Verwirrt schaute sie zu den Geschworenen hinüber. Fünf Frauen, sieben Männer; alle blickten schockiert, eine unverhohlen wütend. Stringer hatte sich verrechnet.

»Entschuldigen Sie«, flüsterte sie und nahm zittrig einen Schluck Wasser.

»Geht es Ihnen gut?« Der Richter beugte sich besorgt vor. »Ich bin sicher«, sagte er mit einem viel sagenden Blick zu Stringer, »dass die Befragung sich dem Ende zuneigt.«

Und tatsächlich. Der Verteidiger stellte noch ein paar Fragen, aber seine Attacken waren nicht mehr ganz so vehement. Nach zehn Minuten verließ Nightingale den Zeugenstand, und der Richter unterbrach die Sitzung für die Mittagspause.

Auf der Fahrt nach Hause fielen ihr die Lobesworte des Staatsanwalts wieder ein, aber sie bedeuteten ihr nichts. Sie war bedrückt, weil sie ab und zu gezögert oder eine schwache Antwort gegeben hatte, und war der festen Überzeugung, dass sie die Befragung besser hätte bewältigen müssen.

In der obersten Etage, mit Blick über die Bäume, steckte Nightingale den Schlüssel in das solide Sicherheitsschloss und war endlich zu Hause. In ihren eigenen vier Wänden. Der einzige kleine Segen, den ihr der Tod ihrer Eltern beschert hatte, war finanzielle Unabhängigkeit. Sie hatten ihr keine Reichtümer hinterlassen, aber wegen Geld musste sie sich keine Sorgen mehr machen. Sie hob eine Hand, um eine Fliege zu verscheuchen, und wischte die unerfreuliche Realität beiseite, dass sie aus dem Verlust ihrer Eltern einen Vorteil zog. Der Gedanke machte ihr ein schlechtes Gewissen, und sie bekam Magenschmerzen.

Ein Lämpchen blinkte an ihrem Anrufbeantworter: drei Nachrichten. Eine von ihrem Bruder, der sich genauso anhörte wie ihr Vater.

»Komm uns doch am Wochenende besuchen. Ich habe zur Abwechslung mal Sonntag und Montag frei.« Mit seinen siebenundzwanzig Jahren war er jetzt Assistenzarzt und wollte sich später auf Orthopädie spezialisieren.

Sie schüttelte den Kopf. Er war jetzt alles, was von ihrer Familie noch übrig war, aber es deprimierte sie immer, wenn sie bei Simon und seiner Frau Naomi war. Sie lebten in einer Welt voller häuslicher Glückseligkeit, und Nightingale kam sich vor wie von einem anderen Stern, wenn sie die beiden besuchte. Außerdem sagten sie hartnäckig Diane zu ihr, der Name, den ihre Mutter für sie ausgesucht hatte, obwohl sie sich schon seit Anfang der höheren Schule nur noch mit ihrem zweiten Vornamen anreden ließ.

Das Lämpchen für neue Nachrichten blinkte noch immer. Sie riss sich aus den Erinnerungen an Streitereien in ihrer Kindheit und drückte die Taste erneut, um die nächste Nachricht abzuhören. Nur Schweigen und schweres Atmen. Bei der dritten Nachricht genauso. Sie löschte beide und verfluchte den Perversling, der sich ausgerechnet ihre Nummer herausgepickt hatte.

Kapitel zwei

Der Häftling strich die drei Tage alte Zeitung glatt und faltete scharfe Knicke um den gewünschten Artikel herum, ehe er mit einem Ruck an der Seite riss. Das billige Papier teilte sich fügsam, und er wiederholte die Bewegung, bis er den Text komplett herausgelöst hatte, was ihm einen zufriedenen Seufzer entlockte. Scheren waren nicht erlaubt. Er galt aufgrund seiner langen Gefängnisstrafe und wegen der Ergebnisse eines psychiatrischen Gutachtens als potenzieller Selbstmörder.

Sein Psychiater hatte ihm, als er auch nur andeutungsweise Interesse an der Presseberichterstattung über seine Taten bekundete, gleich vorgeschlagen, sich ein Album mit Zeitungsausschnitten anzulegen. Manche der lächerlichen Theorien hinsichtlich seines Tatmotivs fand er äußerst amüsant. Er wurde als gefährlich und unberechenbar dargestellt, als ein Mann, von dem man sich tunlichst fernhielt. Das hatte ihm unter seinen Mitgefangenen einen gewissen Ruf eingebracht, obwohl es für einen Vergewaltiger im Knast nicht ungefährlich war. Er wurde zwar gehasst, wie alle Sexualtäter, aber es griff ihn niemand mehr an. Der Letzte, der es getan hatte, lag noch immer auf der Krankenstation, was den anderen als Warnung diente. Dafür schikanierten ihn jedoch die Aufseher, und die Mithäftlinge schauten absichtlich weg.

Er hatte alles gesammelt, was über den Prozess in der Zeitung stand, doch die Berichterstattung war inzwischen fast völlig versiegt, und die Erkenntnis, Schnee von gestern zu sein, deprimierte ihn fast genauso wie seine Haft. Wie konnte er seinen Anspruch auf Berufung begründen? Er legte den ausgerissenen Zeitungsartikel auf eine Seite des Albums, neben etwas, das er selbst geschrieben hatte. Seine Kommentare und Bemerkungen über das Leben halfen ihm, die dunkle Seite fern zu halten. Während er die Ränder des neuesten Zeitungsausschnitts mit ungiftigem Kleber betupfte, überlegte er, was er als Nächstes tun würde. Er hatte erst wenige Wochen seiner Haftstrafe abgesessen und machte schon Pläne. Nicht so wie die anderen hier im Knast. Vielleicht würde es ihm schneller zu einer Berufung verhelfen, wenn er in die Kirche eintrat? Ein bekehrter Christ kam immer gut an.

Er probte ganze Gespräche im Kopf. Einmal war er fast zu Tränen gerührt. Er war unglaublich geschickt darin, in andere Rollen zu schlüpfen, deshalb war er bei THE GAME auch unschlagbar gewesen, aber hier durfte er nicht mal in die Nähe eines Computers. Einer von den Aufsehern hatte ihm versichert, dass er sich das für alle Zeit abschminken könne. Er wusste aus der Zeitung, dass es Websites über ihn gab. Manche waren übel, diffamierend, stammten von rachsüchtigen Angehörigen und Freunden der Opfer. Das ließ ihn kalt. Die Website, die ihn interessierte, war die, die seine »Verbrechen« kritisch betrachtete und seine Unschuld beteuerte. Er erkannte den Stil.

Plötzlich ging seine Zellentür auf, und er blickte verwirrt auf die Uhr. Das war ungewöhnlich. Als er Saunders’ grinsendes Gesicht sah, bekam er Angst und hoffte, dass sie ihm nicht anzumerken war.

»Besuch. Los, beweg deinen Arsch.« Der Aufseher trat ihm fest ins Gesäß, weckte alte Prellungen zu neuem Leben. Er war einer der schlimmsten Schläger, und seine Kollegen blickten weg, wenn Saunders dem Häftling 35602K seine besondere Aufmerksamkeit widmete.

Er ging in den Besucherraum und blickte sich um, musterte die Anwesenden fragend, bis Saunders ihn von hinten anschubste. Die Tische standen so, dass die Aufseher zwischen ihnen hindurchschlendern konnten, und die wackeligen orangeroten Plastikstühle waren am Boden verschraubt.

Die Anwesenheit anderer Insassen und die neugierigen Blicke ihrer Gäste beunruhigten ihn. Saunders bugsierte ihn zu dem leeren Stuhl am Ende der Reihe, gegenüber von einem großen Mann in einem schicken Jackett, der sich gerade bückte, als würde er sich einen Schuh zubinden. Er bemühte sich, sein rasches Blinzeln zu kontrollieren, und straffte die Schultern, obwohl er sich seines ungeschützten Rückens durchaus bewusst war. Sein geheimnisvoller Besucher richtete sich auf. Die Form des Kopfes und die Linie des Kinns waren ihm so vertraut wie seine eigenen. Sein Herz machte einen Sprung, und vor Aufregung hatte er plötzlich einen Kloß im Hals. Seit kurz vor seiner Verhaftung hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Er war so nervös, dass er über die eigenen Füße stolperte, als er auf den leeren Stuhl zueilte.

»Du hättest nicht kommen sollen! Ausgerechnet … hierher.« Der Mann, der ihm gegenübersaß, betrachtete ihn schweigend mit Augen, die die Farbe von arktischem Eis hatten. »Du passt nicht hierhin. Das ist unter deiner Würde.«

»Unter deiner auch, trotzdem bist du hier.« Die unausgesprochene Kritik war klar, trotz des sorgsam beherrschten Tons.

»Ich hab dich enttäuscht. Ich hatte keine Ahnung, dass sie der letzte Dreck ist.«

»Du hast die Regeln gebrochen.«

»Ich … ich wollte mich richtig mit ihr treffen.«

»Blödsinn.« Sein Besucher blickte angewidert weg. »Du warst faul, gib’s zu.«

»Ich war faul.«

»Sag es noch einmal.«

»Ich war faul.«

»Ich war blöd, sag es.«

»Ich war blöd. Hör mal, D …«

»Keine Namen. Bist du ein Vollidiot?«

»Tschuldigung.« Griffiths ließ den Kopf hängen, wagte nicht, noch etwas zu sagen, ehe er nicht dazu aufgefordert wurde.

»Ich war im Gerichtssaal, jeden Tag.«

»Ich hab dich gesehen. Danke, dass du wegen mir gekommen bist.«

Der Mann erwiderte nichts darauf, sondern setzte ein Lächeln auf, das Griffiths zusammenzucken ließ.

»Bis zum Schluss habe ich gedacht, du gewinnst. Die Aussage der Polizistin war eine Farce. Sie hätte gar nicht zugelassen werden dürfen.«

»Ohne die wäre ich jetzt nicht hier. Ich habe keine Fehler gemacht.« Sein Ton klang flehentlich. »Ich hab mich doch bloß ein zweites Mal mit ihr verabredet.«

»Aber das war gegen die Regeln. Du weißt, was passiert, wenn du dich zu sehr auf jemanden einlässt. Du hast das schon mal gemacht, aber da konnte ich dir aus dem Schlamassel raushelfen, den du dir eingebrockt hattest. Weißt du noch?«

»Es war unfair. Sie hat mich in eine Falle gelockt.«

»Ich weiß, sehr unangenehm. Nach der ganzen Mühe, die ich mir mit dir gemacht habe, wäre es ein Jammer, wenn das alles … für die Katz gewesen wäre.«

»Was willst du mit ihr machen?«

»Keine Sorge. Ich erledige das auf meine Art.«

»Sobald ich wieder draußen bin, tue ich alles, was du willst, und ich schwöre, ab jetzt halte ich mich an die Regeln.«

»Wir werden sehen.«

Griffiths spürte sein Ego förmlich schrumpfen. Ein einziger Blick aus diesen Augen konnte ihn vernichten. Wenn der Mann ihm gegenüber ihn befreien wollte, dann bestand Hoffnung, aber er musste ihn überzeugen, dass er die Mühe wert war. Ein Aufseher kam zu ihnen, starrte sie eindringlich an und ging langsam weiter.

»Wer war das?«

»Saunders, ein sadistisches Schwein. Einer von den Schlimmsten. Er ist brutal, und auf mich hat er es besonders abgesehen.«

Mit einem unergründlichen Ausdruck folgten die Augen des Besuchers dem Aufseher durch den Raum.

»Macht er dir das Leben schwer?«

»Ständig.«

»Er kann mit dir nicht umspringen, wie er will. Ich mag es nicht, wenn Leute mit schwacher Persönlichkeit sich Jobs suchen, über die sie ihre Autorität beziehen. Saunders heißt er? Ich nehme an, er wohnt hier in der Gegend.« Der Besucher musterte den Wärter.

Griffiths umklammerte den Tisch.

»Ich halt das hier nicht aus. Ich muss raus.« In seiner Stimme schwang ein panischer Unterton mit.

»Vorsicht. Du darfst keine Schwäche zeigen. Ich arbeite dran, keine Sorge.«

»Du denkst an Aus–?« Der Besucher hob eine Hand, und Griffiths verstummte.

»Unmöglich, aber eine Berufung … das ist wesentlich viel versprechender.»

»Aber das dauert Jahre, und mein Anwalt sagt, die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig … höchstens.«

»Hab Vertrauen. Mal angenommen, es gäbe neue Entwicklungen, dann könnten sich deine Chancen beträchtlich erhöhen. Überlass das nur mir, ich werde die Öffentlichkeit bald davon überzeugen, dass die Polizei den Falschen erwischt hat.«

»Und wie erfahre ich, was läuft?«

»Weißt du noch, wie wir in der Schule unsere Nachrichten verschlüsselt haben? Ich werde dir Bücher schicken, aber du musst Geduld haben. Es kann dauern.« Er blickte zu Saunders hinüber und lächelte. »Ich werd sehen, was ich tun kann, um dir die Zeit hier ein bisschen erträglicher zu machen.«

Der Besucher erhob sich und ging ohne ein weiteres Wort.

Als Griffiths zurück in seine Zelle gebracht wurde, befand er sich in einem Wechselbad der Gefühle. Extreme Hochstimmung wechselte sich ab mit dem betäubenden Gefühl von Unzulänglichkeit. Wenn er es positiv sah, war er sicher, dass etwas passieren würde, schließlich bewies der Besuch, dass er zu wichtig war, um im Knast zu verrotten. Dann wieder fielen ihm die Augen ein, der Blick, der sich in seine Seele gebohrt und sein schmähliches Versagen offenbart hatte. Er tigerte in seiner Zelle auf und ab, fluchte laut über die Treuebrüche und Verletzungen, die er seit der Kindheit erleben musste. Aus Selbstmitleid wurde Zorn, vertraut und wärmend, dann unbändige Wut, als er an all die Menschen dachte, die Strafe verdient hatten, und an die Rechnungen, die er begleichen würde, sobald er auf freiem Fuß war.

Kapitel drei

Detective Chief Inspector Fenwicks Sekretärin blickte von ihrer Tastatur auf und begrüßte ihn mit einem breiten Lächeln.

»Da sind Sie ja wieder. Ist der Fall in London abgeschlossen?«

Fenwick schüttelte den Kopf, und das Licht fiel auf neue Spuren von Grau an seinen Schläfen, Auswirkung seiner zeitweiligen Versetzung zur Londoner Polizei.

»Für mich ist der Fall abgeschlossen, Anne, aber für Commander Cator noch lange nicht. Als Geldwäscheexperte muss er noch die Beweiskette schließen. Und es kann dauern, bis er alle Fäden zusammen hat. Kann sein, dass wir das ganze Ausmaß nie erfahren. Aber der Assistant Chief Constable hat meine Rückkehr trotzdem endlich bewilligt.«

»Der Superintendent möchte Sie sprechen.«

Superintendent Quinlan telefonierte gerade, winkte ihn aber in sein Büro. Er beendete das Gespräch abrupt und streckte die Hand aus.

»Andrew, schön Sie zu sehen. Ohne Sie hat hier wirklich was gefehlt.«

»Das höre ich gern. Ehrlich gesagt, freu ich mich schon wieder auf richtige Polizeiarbeit.«

Quinlans Miene verfinsterte sich.

»Schließen Sie doch bitte die Tür, ja. Hören Sie, ich wollte schon seit einer Weile mit Ihnen reden. Haben Sie wirklich vor, die Versetzung abzulehnen? Das könnte ihrer Karriere gut tun …«

»Und Sie meinen, die hat Pflege nötig, nicht wahr?«

Quinlan sprach hastig weiter, als hätte Fenwick nichts gesagt.

»Commander Cator bringt es bis ganz nach oben, davon bin ich überzeugt, und er hat ausdrücklich um Sie gebeten. Das ist ein Kompliment und eine Chance, die Sie nicht noch einmal kriegen.« Fenwick öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Quinlan war noch nicht fertig. »Es gibt keine Garantie für eine Beförderung, natürlich nicht, aber als Mitarbeiter in seinem Team und bei Ihrer Aufklärungsquote könnten Sie es schnell zum Superintendent bringen.«

»Schneller als hier, meinen Sie?« Die Frage wurde von Fenwicks typischem gequälten Lächeln begleitet, aber Quinlan verzog trotzdem das Gesicht.

»Da halte ich mich raus«, entgegnete er barsch, und Fenwick bereute seinen Sarkasmus. Die spitze Bemerkung zielte nicht gegen den Superintendent. Er wusste, dass sein Boss sein größter Förderer war, aber dessen Boss wiederum, der Assistant Chief Constable von West-Sussex, Harper-Brown, konnte ihn nicht ausstehen. Er war einfach nicht unterwürfig genug.

»Tut mir Leid, das war eine dumme Bemerkung. Aber London ist wirklich nichts für mich.«

»Wegen der, äh, Pendelei und wegen …«

»Nein, mit den Kindern hat das nichts zu tun.« Fenwick sprach den eigentlichen Punkt ohne Umschweife an. Alle Welt glaubte, es sei ein Hindernis für seinen Beruf, dass er allein erziehender Vater von zwei Kindern im Alter von neun und sieben Jahren war, aber er hatte eine Haushälterin, die bei ihnen wohnte und alles wunderbar im Griff hatte. Die Kinder schienen sich endlich an die Situation gewöhnt zu haben, und dank einer Versicherung seiner Frau hatte er die Hypothek auf das Haus abbezahlen können. Selbst die Besuche bei Monique im Krankenhaus waren zur Routine geworden, traurig, das noch immer, aber nicht länger traumatisch.

»Dann also wegen der Cliquenwirtschaft. Habe ich mir schon gedacht. Sie werden sich nie so weit verbiegen, dass Sie es zum Diplomaten bringen.«

Fenwick lachte laut, und sein Vorgesetzter sah ihn verblüfft an. In den Monaten vor seinem Einsatz in London hatte er ihn selten auch nur lächeln sehen. Während seiner Abwesenheit hatte er sich verändert, und etwas von dem alten Fenwick, der seit der Erkrankung seiner Frau verschwunden gewesen war, kam allmählich wieder zum Vorschein.

»Ich fand diese Cliquenwirtschaft entsetzlich, und auch diese Leisetreterei, mit der man seine Arbeit machen muss, aber ich hab mich so durchgewurstelt, weil mir keine andere Wahl blieb. Commander Cator hat mir sogar zu meiner guten Arbeit gratuliert. Er hatte wesentlich Schlechteres erwartet.«

»Was ist dann der Grund? Warum lassen Sie sich die Chance auf eine fast sichere Beförderung entgehen?«

Quinlan blickte ihn gequält an. Er war ein alter Freund und Verbündeter, und Fenwick fand, dass er eine ehrliche Antwort verdiente.