Sine Culpa - Elizabeth Corley - E-Book
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Elizabeth Corley

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Inspector Fenwick und die junge Polizistin Louise Nightingale.

In einem Waldstück wird die Leiche eines Jungen gefunden, der vor über zwanzig Jahren verschwunden ist. Zur gleichen Zeit wird im nahe gelegenen Harlden nach einer Schießerei ein ehemaliger Major festgenommen. Zunächst scheint kein Zusammenhang zu bestehen. Doch dann tauchen weitere Figuren auf dem Schachbrett der Schuld auf – und Fenwick steht plötzlich mitten in einem grausamen Spiel von Schande und Sühne, das gerade in eine neue Runde geht ...

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Seitenzahl: 652

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Über Elizabeth Corley

Elizabeth Corley, wuchs in West Sussex, England, auf. Sie lebt in London und München und leitet das Europageschäft eines internationalen Finanzdienstleistungs-Unternehmens. Ihre Inspector-Fenwick-Thriller sind Kultbestseller.

Informationen zum Buch

Ein neuer Fall für Inspector Fenwick und die junge Polizistin Louise Nightingale: In einem Waldstück wird die Leiche eines Jungen gefunden, der vor über zwanzig Jahren verschwunden ist. Zur gleichen Zeit wird im nahe gelegenen Harlden nach einer Schießerei ein ehemaliger Major festgenommen. Zunächst scheint kein Zusammenhang zu bestehen. Doch dann tauchen weitere Figuren auf dem Schachbrett der Schuld auf – und Fenwick steht plötzlich mitten in einem grausamen Spiel von Schande und Sühne, das gerade in eine neue Runde geht...

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Elizabeth Corley

SINE CULPA

Thriller

Aus dem Englischenvon Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

Inhaltsübersicht

Über Elizabeth Corley

Informationen zum Buch

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TEIL EINS

  1. Kapitel

  2. Kapitel

  3. Kapitel

  4. Kapitel

  5. Kapitel

  6. Kapitel

  7. Kapitel

  8. Kapitel

  9. Kapitel

TEIL ZWEI

  10. Kapitel

  11. Kapitel

  12. Kapitel

  13. Kapitel

  14. Kapitel

  15. Kapitel

  16. Kapitel

TEIL DREI

  17. Kapitel

  18. Kapitel

  19. Kapitel

  20. Kapitel

  21. Kapitel

  22. Kapitel

TEIL VIER

  23. Kapitel

  24. Kapitel

  25. Kapitel

  26. Kapitel

  27. Kapitel

  28. Kapitel

  29. Kapitel

  30. Kapitel

TEIL FÜNF

  31. Kapitel

  32. Kapitel

  33. Kapitel

  34. Kapitel

  35. Kapitel

  36. Kapitel

  37. Kapitel

  38. Kapitel

  39. Kapitel

TEIL SECHS

  40. Kapitel

Epilog

Impressum

Tilgt also seinen Namen und vermerkt eine erloschne Seele mehr,

Eine weitere unerfüllte Pflicht, einen weiteren Pfad, der nicht begangen,

Einen weiteren Triumph der Hölle und Kummer für den Himmel,

Ein weiteres Unrecht am Menschen, eine weitere Kränkung Gottes!

Robert Browning

September, Gegenwart

Im letzten Zug von London nach Harlden sank er in einen schmuddeligen Sitz und stieß einen Seufzer aus, der sich anfühlte, als hätte er ihn sein Leben lang zurückgehalten. Andrew Fenwick war körperlich und seelisch ausgelaugt. Am liebsten hätte er den Kopf nach hinten gelegt und die Augen geschlossen, aber er konnte nicht, und das lag nicht an der schmierigen Kopfstütze, sondern an seinem Gewissen. Diesen Abend hatte er endlich die Lösung einer schon fast vergessenen Straftat gefunden, die über zwei Jahrzehnte lang unaufgeklärt geblieben war. Doch statt über den Erfolg froh und erleichtert zu sein, sah er sich mit dem größten Dilemma seiner Karriere konfrontiert.

Aufgrund des Wissens, das er nun besaß, lag das Schicksal eines guten Menschen in seiner Hand, und obwohl seine Pflichten als Polizeibeamter völlig klar waren, widersprachen sie in diesem Fall seinem persönlichen Gefühl dafür, was richtig war. Er schloss die Augen, versuchte, ruhiger zu werden und das Dilemma in aller Ruhe zu durchdenken, aber es war unmöglich. Die Schwere der Entscheidung lastete auf ihm, und alles Wunschdenken konnte sie ihm nicht von den Schultern nehmen. Er hatte keine andere Wahl, als über die Zukunft eines Menschen zu entscheiden, und dafür blieb ihm nur die Atempause, die ihm die Zugfahrt nach Hause bot.

Er blinzelte, um wach zu bleiben, und sein Blick fiel auf seine Hände, die locker auf den Oberschenkeln ruhten. Einen bizarren Augenblick lang stellte er sich die Freiheit des Mannes in der linken Hand vor und in der rechten das Urteil, das die Gesellschaft fällen würde, sollte die Wahrheit bekannt werden. Wenn er sie enthüllte, käme das seiner Karriere zugute, gerade jetzt, wo er mal wieder für eine Beförderung in Betracht gezogen wurde, obwohl ihm von den maßgeblichen Stellen wie immer keinerlei Unterstützung zuteil wurde. Dann ballte er beide Fäuste und entspannte die Muskulatur langsam wieder, als ihm die Sinnlosigkeit seiner Gedanken klar wurde.

Der Zug beschleunigte ratternd, schwankte über Weichen, raste durch Bahnhöfe, die schon für die Nacht geschlossen hatten, und trug ihn auf einen Zeitpunkt in der Zukunft zu, an dem die Entscheidung gefallen und das Schicksal bestimmt sein würde. Er hatte sich immer für einen Mann gehalten, der schwierige Entscheidungen treffen konnte, hatte gerade das sogar als eine seiner Stärken betrachtet, jetzt jedoch, wo er wirklich auf die Probe gestellt wurde, musste er einsehen, dass er kein König Salomon war. Also griff er wie immer, wenn sein Verstand sich sträubte, auf ein altes Hilfsmittel zurück und nahm Notizblock und Stift zur Hand. Auf ein leeres Blatt Papier schrieb er die Frage, die ihm im Kopf kreiste wie ein Kinderrätsel, seit er die Wahrheit entdeckt hatte: »Wann ist ein Mörder kein Mörder?«

Der Satz starrte ihn an. Bei dem Verbrechen, das er aufgeklärt hatte, handelte es sich immerhin um Mord, nicht um irgendein Bagatelldelikt. Mit einem frustrierten Seufzer riss er die Seite vom Block, knüllte sie zusammen und stopfte sie in die Tasche, damit seine Gedanken nicht bei dem Unrat auf dem Fußboden landeten. Auf seiner Uhr war es nach elf, als er mit der flachen Hand über ein frisches Blatt strich und erneut versuchte, sich zu konzentrieren.

Er schrieb den Namen des Mannes auf – seinen richtigen Namen. Darunter zog er einen Längsstrich. Auf der einen Seite listete er die Fakten auf, die für die Schuld des Mannes sprachen. Die Argumente für seine Verteidigung kamen auf die andere Seite, und sie waren so zahlreich, dass der Platz nicht ausreichte. Dann blickte er auf das Ergebnis seiner Arbeit und stellte sich vor, er wäre Richter und Geschworener. Es gab so viele Gründe für ein mildes Urteil, aber diese Entscheidung stand ihm nicht zu. Durfte er seine vielen Jahre als überzeugter, gewissenhafter Gesetzeshüter verraten, weil er in diesem Fall nicht darauf vertrauen konnte, dass das Gesetz gnädig sein würde? Langsam bewegte sich der Stift über das weiße Papier, hinterließ Fenwicks Gedanken darauf. Noch langsamer nahm allmählich eine Entscheidung Gestalt an. Und schließlich erreichte er sein Ziel.

TEIL EINS

1

Juni, Gegenwart

Die Siedlung Castleview Terrace schmiegte sich an einen Überrest der alten Stadtmauer von Harlden, und sämtliche Häuser waren mit ihren dezenten Farben und dem hübschen Backsteinmauerwerk im traditionellen Cottagestil gehalten. Die dunkelblaue Eingangstür des Eckhauses glänzte im Sonnenlicht. Terrakottatöpfe mit prächtigen Lobelien, leuchtend roten Geranien und Steinkraut flankierten sie und sorgten für eine feminine Note, die nicht erahnen ließ, dass die Person, die hier wohnte, männlich und alleinstehend war. Besagter Gentleman nutzte gerade den schönen Morgen, um die Kanten eines kleinen, aber tadellos gepflegten Rasens mit gekonnter Scherenführung entlang des Holzzaunes zu schneiden, der sein Grundstück umgrenzte.

»Morgen, Major Maidment.«

Der Mann sah auf und nickte dem Postboten zu.

»Guten Morgen, George.«

»Heute bloß eine Rechnung.« Georges Hand streckte sich respektvoll über den Zaun.

»Wie geht es Ihrer lieben Frau? Wieder ganz wohlauf, hoffe ich?«

»Gesund und munter, Major. Sie bedankt sich für die Blumen.«

»Gern geschehen.«

Maidment winkte dem Postboten zum Abschied und ging ins Haus, um sich einen Kaffee zu kochen. Er füllte fettarme Milch in den Topf und dachte wehmütig an die Vollmilch aus Cornwall zurück, die er seit seinen Kindertagen am liebsten getrunken hatte, bis sein Arzt sie ihm verbot. Es kam ihm seltsam vor, so viel Mühe darauf zu verwenden, sein einsames Leben zu verlängern, doch der Arzt setzte all seinen Ehrgeiz daran, und Maidment hätte es unhöflich gefunden, sich einfach über dessen gute Absichten hinwegzusetzen. Er spülte gerade das Kaffeegeschirr, als das Telefon klingelte.

»Maidment.«

»Oh, Major. Gut, dass ich Sie erreiche.«

Resignation breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er einen Stuhl näher ans Telefon zog und sich ein Kissen in den Rücken schob. »Miss Pennysmith, wie geht es Ihnen?«

Das war keine rein formale Frage. Er wusste, dass ihm nun detailliert die neusten Entwicklungen ihrer mannigfachen Leiden geschildert werden würden. Zehn Minuten später kam Miss Pennysmith endlich zum Grund ihres Anrufs.

»Dürfte ich Sie vielleicht bitten, mich morgen früh mit zur Kirche zu nehmen?«

»Aber gern«, seine Laune sank. »Ich hole Sie dann um neun ab.«

»Ach, könnten Sie vielleicht ein Ideechen früher kommen? Bei mir müssten zwei Glühbirnen ausgewechselt werden, an die ich nicht herankomme.«

Er vereinbarte, dass er um halb neun bei ihr sein würde.

Das Mittagessen zuzubereiten, zu essen und anschließend die Küche aufzuräumen beschäftigte ihn problemlos bis zwei Uhr, obwohl seine Augen kurz feucht wurden, als er den einsamen Teller abtrocknete, ein kostbares Überbleibsel von dem Essservice, das sie zur Hochzeit geschenkt bekommen hatten. Unweigerlich dachte er an Hilary, obwohl sie nun schon fast drei Jahre tot war. Am Ende war er dankbar gewesen, als sie endlich die Augen schließen konnte. Das Leiden, das sie erduldet hatte, war gewiss eine Erfindung des Leibhaftigen. Sie fehlte ihm furchtbar. Ihre stille Gesellschaft, ihr Interesse an den kleinen Dingen, die seinen Tag ausgemacht hatten, war für immer verschwunden und hatte ein Vakuum hinterlassen, das er mitunter fast unerträglich fand.

Er gab sich einen Ruck. So ging das nicht weiter; er wurde allmählich weinerlich. Die Nachmittage an den Wochenenden waren am schlimmsten. Nach kurzer Überlegung beschloss er, einen Spaziergang zur Burg und dann hinunter zum Fluss zu machen. Da würde heute am Samstag viel Betrieb sein, aber das war nun mal nicht zu ändern. Die einzige Alternative war eine Runde Golf, doch er spielte möglichst wenig, um sich selbst zu beweisen, dass er nicht von dem Club und allem, was dazugehörte, abhängig war.

Maidment war gerade dabei, seinen Filzhut zurechtzurücken und zu überprüfen, ob sein Schnurrbart auch akkurat geschnitten war, als es an der Tür klingelte. Er nahm den Hut wieder ab und hängte ihn sorgfältig wieder an den Haken, ehe er die Haustür öffnete.

»Großer Gott!« Er hielt verlegen die Hand vor den Mund. »Verzeihen Sie, es ist bloß …«

»Ich weiß, ich bin ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, aber natürlich wäre er jetzt um einiges älter als ich.«

Der freundliche junge Mann reichte ihm die Hand, und Maidment ergriff sie automatisch.

»Luke Chalfont. Guten Tag.«

»Was kann ich für Sie tun, Mr. Chalfont?«

»Ich bin Spezialist für Energiekosteneinsparung. Natürlich ist mir klar, dass das den Leuten im Juni nicht gerade auf der Seele brennt, aber ein umsichtiger Mann wie Sie weiß bestimmt, dass Vorsorge nottut.«

Einen kurzen Moment lang wanderten die Augen des Mannes weg vom Major und glitten wie suchend durch die Diele, doch sogleich richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf sein Gegenüber. Er plauderte glattzüngig weiter, und Maidment brauchte eine Weile, bis ihm klar wurde, dass der Mann ein Vertreter war, der einen neuen Gasanbieter anpries.

»Tut mir leid, Mr. Chalfont, aber ich wollte gerade gehen und bin nicht an einem Wechsel des Anbieters interessiert.«

»Ich verstehe. Dürfte ich Ihnen trotzdem ein wenig Infomaterial mit Vergleichszahlen dalassen? Vielleicht können Sie bei Gelegenheit mal einen Blick darauf werfen. Sollten Sie dann doch noch Interesse haben, rufen Sie mich einfach an.« Er streckte ihm die Hand hin. »Meine Karte.«

Der Vertreter verabschiedete sich mit einem fröhlichen Winken und war schon fast am Nachbarhaus, als Maidment seine Haustür verriegelte.

Miss Pennysmith war eine jung aussehende Siebenundsechzigjährige mit einem Lebenshunger, der in letzter Zeit durch ihre Arthritis auf eine harte Probe gestellt wurde. Sie lebte, wie Jane Austen es formuliert hätte, in beschränkten Verhältnissen, nachdem der Pensionsfonds, mit dem sie ihren Ruhestand hatte finanzieren wollen, nahezu wertlos geworden war.

Für den Kirchgang hatte sie sich ein Kleid mit rosa und grünem Blümchenmuster ausgesucht, das, wie sie fand, gut zu ihrem Teint und der rötlich-silbernen Dauerwelle passte. Frisch aufgebrühter Kaffee und selbstgemachtes Gebäck standen auf dem Tisch bereit, und daneben lagen gestärkte Leinenservietten. Kuchenduft und der Lavendelgeruch der Möbelpolitur, die sie am Vortag ausgiebig eingesetzt hatte, durchzogen ihr Wohnzimmer.

Der Major kam pünktlich und nahm vor ihrer Tür Haltung an.

»Major Maidment! Möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee mit ein wenig Gebäck?«

»Ich denke, zuerst kümmere ich mich mal um die Glühbirnen, Miss Pennysmith.«

»Ach, nicht mehr nötig. Kurz nachdem ich Sie gestern angerufen habe, hat das schon jemand für mich erledigt. Wir haben reichlich Zeit.«

Maidment hielt mehr von Höflichkeit als von freier Meinungsäußerung, daher folgte er seiner Gastgeberin kommentarlos ins Wohnzimmer. Sie war eine törichte Frau, und das Jungmädchenkleid, das sie trug, passte nicht zu ihrem Alter, doch in dem frischen Backwerk und den unverkennbaren Spuren einer Putzorgie erkannte er den Widerhall seiner eigenen Einsamkeit. Also erduldete er ihr Geplapper und behielt eine liebenswürdige Miene bei, während er ihren ausgezeichneten Kaffee trank und ein Stück Kuchen aß.

Nach der Kirche lehnte er ihre Einladung zum Mittagessen ab und machte seinen üblichen Spaziergang zum städtischen Friedhof und Hilarys Grab. Unterwegs kaufte er Blumen, obwohl er eigentlich gegen sonntägliche Ladenöffnungszeiten war, und mühte sich frustrierende Minuten damit ab, die weißen Chrysanthemen und rosa Lilien zu einer Art Gesteck zu ordnen. Seine Augen wurden feucht, als er erneut darüber nachdachte, wie ungerecht das Leben doch sein konnte. Hilary war zehn Jahre jünger gewesen als er, gesund und fröhlich bis zu ihrer plötzlichen, schrecklichen Erkrankung. Sie wäre viel besser als er in der Lage gewesen, mit dieser Trauer umzugehen. Eigentlich sollte er hier liegen. Er hätte als Erster gehen sollen.

Sofort überkamen Maidment Gewissensbisse ob solcher Selbstsüchtigkeit, und er schalt sich, weil er Hilary seinen Schmerz gewünscht hatte. Gott hatte seine Gründe, warum er ihn am Leben hielt, und Gott allein wusste, dass er genug Sünden zu büßen hatte, ehe seine Seele vor den Richter trat. Vielleicht war er ja deshalb noch hier, obwohl er wusste, dass auch noch so viele gute Werke im Winter seiner Jahre nicht ausreichen würden, um die Sünden seines Lebens zu tilgen. Der Gedanke an die Hölle jagte ihm Angst ein, und auf einmal wurde der Friedhof für ihn zu einem schrecklichen Ort. Ernüchtert und verstört ging er zu seinem Auto und fuhr kurzentschlossen zum Golfclub, wo er versuchen wollte, sein Gewissen mit einem vorzüglichen Bordeaux und der Ablenkung durch heitere Gesellschaft zum Schweigen zu bringen.

2

»Das ist der zweite Einbruch in diesem Monat nach demselben Strickmuster.«

»Lassen Sie mal sehen.« Bob Cooper reichte den Bericht an Detective Inspector Nightingale weiter, die gerade von einem Ausbildungslehrgang in Bramshill zurückgekommen war und ihren neuen Rang noch mit einer gewissen Unsicherheit trug. »Ein Betrüger und ganz schön clever. Wie kriegt er die alten Leutchen dazu, ihm zu vertrauen?«

»Er lässt sich Zeit«, erklärte Cooper, »erledigt kleinere Arbeiten für sie, ohne Geld dafür zu nehmen. Ganz allmählich erschleicht er sich ihr Vertrauen und dann, zack, ist er weg samt ihren Wertsachen.«

»Was hat das NCS über ihn?«

Cooper gab ihr den Ausdruck aus dem Kriminalcomputer.

»Reichlich. In den letzten zwei Jahren hat er sich durchs halbe Land gearbeitet. Schlägt in einer Gegend nie öfter als drei- bis fünfmal zu. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er nach Sussex kommt.«

»Ist das ein Phantombild? Menschenskind, der sieht ja aus wie …«

»Lord Lucan, ich weiß, aber es hat ihn bisher trotzdem noch keiner fassen können.«

»Weil jeder Vorfall als Bagatelldelikt eingestuft wird und erst gar nicht bei uns landet, aber wenn er sich an sein bisheriges Muster hält, haben wir eine Chance, ihn zu schnappen, ehe er weiterzieht. Kümmern Sie sich doch diesmal drum und überlassen Sie es nicht der Londoner Polizei. Ich gebe das Phantombild an die Lokalpresse und lasse Infomaterial überall dort verteilen, wo sich gern Rentner aufhalten.«

Nightingale saß auf der Kante seines Schreibtisches und ließ ein langes Bein baumeln, was bei jeder anderen Frau kokett gewirkt hätte. Cooper fand es eigenartig, dass die attraktivste Frau im Polizeipräsidium Harlden zugleich auch die distanzierteste war.

Sie ahnte weder, wie sie wirkte, noch dass eine Mehrheit ihrer Kollegen sie für eine kaltschnäuzige Zicke hielt, die viel zu schnell befördert worden war. Cooper richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Diebstahlsbericht vor seiner Nase und auf die Vorschläge seiner neuen Vorgesetzten.

»Ziemlich viel Arbeit für zwei Bagatellsachen.«

»Einem Menschen die Erinnerungsstücke zu klauen, nur um sie zu verscherbeln, ist in meinen Augen keine Bagatelle. Wir sollten den Mistkerl schnappen, bevor er noch mehr Schaden anrichtet.«

Angemessen beeindruckt griff Cooper nach dem Bericht.

Am folgenden Sonntag klingelte Jeremy Maidment Punkt neun Uhr morgens bei Miss Pennysmith an der Wohnungstür. Während er darauf wartete, dass sie ihm öffnete, ging er im Geist noch einmal seine Entschuldigungen durch, warum er nicht mit ihr zu Mittag essen könnte. Doch als die Tür aufging, sah er zu seiner Verblüffung ein ungeschminktes, angespanntes Gesicht, das über eine neu angebrachte Sicherheitskette hinwegspähte. Ihre Augen blickten verwirrt.

»Jeremy, was machen Sie denn hier?« Eine hektische Hand flog zu dem unordentlichen Knäuel rosa-weißer Locken empor.

»Es ist Sonntag, Miss Pennysmith. Ich wollte Sie zur Kirche abholen. Margaret, ist alles in Ordnung mit Ihnen?«

Seine besorgte Frage löste eine Tränenflut aus. Einige Zeit später, keiner dachte mehr an die Kirche, setzte er die Bruchstücke ihrer Geschichte zu einem einigermaßen verständlichen Ganzen zusammen. Man hatte ihr alles gestohlen, was nur ansatzweise von Wert war. Empörung brodelte in Maidment auf, und er verspürte den Wunsch, irgendetwas zu tun, doch sein Gesicht verriet nichts davon.

»Besuchen Sie doch Ihre Schwester für ein paar Tage. Um diese Jahreszeit ist Schottland bestimmt sehr schön.«

»Ich glaube nicht, dass sie mich gern bei sich hätte. Ihr Mann und sie sind viel beschäftigte Menschen.«

»Unsinn. Wenn sie erfährt, was passiert ist, möchte sie bestimmt helfen.«

»Wohl kaum«, schniefte sie laut. »Ich kriege oft von Mary zu hören, ›drei ist einer zu viel‹.«

Maidment fand das verständlich. Er konnte sich die kokette Margaret am Frühstückstisch in Perth vorstellen, während ihre Schwester sich auf die Zunge biss und ihr Schwager seine Verlegenheit mit dem Kaffee runterschluckte. Aber sie konnte nicht weiter hier in der Wohnung hocken und Trübsal blasen, weil sie zu verängstigt war, das Haus zu verlassen.

»Ich werde mal mir ihr sprechen und ihr erklären, was Sie durchgemacht haben.«

Er zog sich in die Diele zurück und rief die Schwester an. Das Gespräch dauerte lange, doch als er zurückkehrte, lächelte er.

»Das wäre geregelt. Sie freut sich auf Sie. Ich besorge die Zugfahrkarte und rufe sie an, wann Sie ankommen. So, ich weiß, es ist noch ein bisschen früh, aber ich denke, ein Sherry würde uns beiden gut tun.«

Beim Abendgottesdienst wurde ein Gebet für Miss Pennysmith gesprochen, und alle wollten vom Major wissen, was genau passiert war. Er sprach mit allen alleinstehenden Frauen in der Gemeinde und schärfte ihnen ein, auf der Hut zu sein.

Eine Woche später, als er auf der Post in der Schlange stand, um Briefmarken zu kaufen, ging ihm die Sache noch immer durch den Kopf. Das Fahndungsplakat am Schalter rüttelte ihn auf. Sofort hatte er die Briefmarken vergessen und eilte nach Hause.

»Bob, da ist ein Major Maidment am Telefon. Er will mit dem Beamten sprechen, der für den Fall Pennysmith zuständig ist. Er sagt, er hätte möglicherweise nützliche Informationen.« Der Sergeant von der Zentrale stellte das Gespräch durch.

»Detective Sergeant Cooper. Was kann ich für Sie tun?«

»Hier spricht Jeremy Maidment, Briar Cottage, Castleview Terrace, Harlden. Ich glaube, ich kenne den Mann, der Miss Pennysmith ausgeraubt hat. Er war vor drei Wochen bei mir an der Tür.«

»Verstehe. Aber seitdem haben Sie ihn nicht mehr gesehen?«

»Nein, aber er hat mir seine Karte dagelassen. Ich hab mir überlegt, ich könnte ihn doch zu mir einladen, damit Sie ihn verhaften können.«

Cooper unterdrückte ein Lachen. Ein Dieb, der seine Visitenkarte hinterließ, öfter mal was Neues.

»Prima Idee, Sir. Tun Sie das, und dann sagen Sie mir Bescheid, wann der Termin ist.«

Er war gerade dabei, seinem Kumpel George Wicklow den neusten Witz zu erzählen, als die Zentrale anrief.

»Major Maidment ist hier. Er sagt, er hat für morgen früh um neun ein Treffen mit dem Dieb vereinbart, und möchte mit Ihnen die Einzelheiten des Einsatzes besprechen.«

Als Cooper den schäbigen Vernehmungsraum im Erdgeschoss betrat, war das Lachen aus seinem Gesicht verschwunden. Maidment stand mit dem Rücken zum Fenster. Er war kleiner als Cooper und trotz der breiten Schultern unter einem tadellosen Sakko etliche Pfunde leichter. Sein Gesicht war von südlichen Sonnen gegerbt, und die rötliche Haut bildete einen deutlichen Kontrast zu dem welligen, grauweißen Haar und Schnurrbart und den blassblauen Augen.

Sein Händedruck war fest, aber nicht übertrieben. Auf dem Tisch zwischen ihnen hatte er einen handgezeichneten Grundriss seines Hauses ausgebreitet, auf dem die Zugangspunkte markiert waren. Ehe Cooper etwas sagen konnte, tippte er darauf.

»Ich habe mir gedacht, drei Männer oben, zwei hinten im Garten, drei in Zivil vor dem Haus und zwei unten bei mir.«

Cooper registrierte den Maßstab der Zeichnung, stellte ein paar erstaunlich rasche Berechnungen an und kam zu dem Schluss, dass sie sich gegenseitig auf die Füße treten würden.

»Ein interessanter Vorschlag, Major, aber so viele Beamte würden Aufsehen erregen. Ich denke, wir müssen etwas ›unauffälligem vorgehen.« Er beglückwünschte sich zu seinem Taktgefühl.

Sie einigten sich darauf, dass vier Beamte plus Cooper um halb acht im Haus und im Garten Position beziehen würden.

»Und Sie und Ihre Leute wollen wirklich keine Waffen tragen, Sergeant?« Maidment wirkte enttäuscht.

»Ja, Sir. Dazu besteht kein Grund. Bei allen bisherigen Straftaten des Mannes war nie eine Waffe im Spiel, und er hat nie jemanden verletzt.«

»Hmm. Man kann aber gar nicht vorsichtig genug sein. Man hält sie für harmlos, und auf einmal, PENG!, schießen sie wild drauflos, und man hat einen guten Mann verloren.« Seine Augen blickten kurz in eine Vergangenheit, die sich Coopers Erfahrung entzog. »Aber das ist Ihre Entscheidung. Sie sind schließlich der Einsatzleiter. Ich sehe Sie dann morgen mit Ihren Männern Punkt sieben Uhr dreißig.«

Als Maidment sich am Abend im Fernsehen einen stümperhaften Dokumentarfilm über den Falkland-Krieg ansah, schloss er die Schatulle auf, in der er seinen Dienstrevolver aufbewahrte, und machte sich daran, die Waffe sorgfältig zu reinigen. Er lud sie mit sechs Schuss Munition, ohne auf Hilarys mahnende Stimme in seinem Kopf zu achten. Er überlegte, wo er die Waffe am besten versteckte, und entschied sich für den Brotkasten. Falls der Kerl einen Fluchtversuch unternahm, würde er eher durch die Küche und zur Hintertür hinauswollen als vorne durch die Haustür. Falls der Lump irgendwelche krummen Touren versuchte, wäre er darauf vorbereitet, oh ja.

Er schlief gut, wie immer vor einem Einsatz. Keiner der Feinde, die er getötet hatte, belastete sein Gewissen. Wenn er schon mal Albträume hatte, was Gott sei Dank selten vorkam, wurden sie durch die Erinnerung an private Vergehen und an eine schwere Sünde ausgelöst. Doch in dieser samtweichen Julinacht schlief der Major den erholsamen Schlaf der Gerechten.

Im Morgengrauen weckte ihn der Vogelchor. Bereits vor sechs Uhr war er geduscht und rasiert und hatte gefrühstückt. Seine Schuhe waren bereits spiegelblank geputzt, seine Hose gebügelt. Er würde der Polizei helfen, einen Berufskriminellen zu fassen, und das Gefühl, gebraucht zu werden, beflügelte ihn.

Cooper betrachtete skeptisch das Team, das ihm zugeteilt worden war. Die beiden Uniformierten, Perkins und Lee, waren ganz in Ordnung, er hatte schon früher mit ihnen gearbeitet und wusste, dass er sich auf sie verlassen konnte, aber mit den Detectives, die sich draußen vorm Hause verstecken würden, hatte er Pech gehabt. D. C. Partridge war ein alter Hase mit zwanzig Dienstjahren und einem Alkoholproblem, von dem nur der leitende Superintendent im Präsidium nichts wusste. D. S. Rike war bis zu einem Messerzwischenfall im letzten Jahr ein guter Mann gewesen, aber erst seit zwei Monaten wieder im Dienst, und die ganze Zeit hatte er überwiegend hinter einem sicheren Schreibtisch verbracht.

Die Einsatzplanung hatte offenbar entschieden, dass es sich um eine Festnahme mit geringem Risiko handelte, die sich positiv auf ihre Fallstatistik auswirken würde, ohne sonderlich schwierig zu sein. Sie würden einen Betrüger stellen, der keinen erkennbaren Hang zur Gewalt hatte. Dennoch, Rike war fahl im Gesicht, daher wies Cooper ihn an, die kleine Gasse hinter den Gärten zu sichern.

Er sah zu, wie sich der Detective einen grünen Overall der Stadtreinigung und eine gelbe Weste mit reflektierenden Streifen anzog, ehe er eine Schubkarre mit Besen darin hinter Maidments Garten rollte. Partridge setzte sich in ein Auto, das ein Stück die Straße hoch parkte, schlug die Tageszeitung auf und tat prompt so, als schliefe er ein; zumindest hoffte Cooper, dass er nur so tat.

Der Major erwartete ihn im Haus. Trotz der morgendlichen Hitze trug er Jackett und Krawatte.

Cooper, Perkins und Lee tranken frischen Kaffee und warteten. Sie machten keinen Smalltalk; das war nicht Maidments Stil, und Cooper hatte diese Kunst noch nie beherrscht. Kurz nach acht verschwanden die zwei Uniformierten, Constable Perkins stieg die Treppe hinauf, und Lee versteckte sich im Esszimmer, während Cooper ins Bad ging und sich auf den Toilettendeckel setzte. Er hörte, wie Maidment ihre Tassen spülte und wegräumte. Rike und Partridge meldeten sich wie verabredet über Funk, und er war erleichtert, dass beide hellwach klangen.

Um halb neun meldete Partridge Chalfonts Ankunft, und gleich darauf klingelte es an der Tür. Cooper hörte Stimmen, die laut durch das kleine Haus schallten.

»Ah, Mr. Chalfont, herein mit Ihnen. Sie sind ziemlich früh dran.«

»Potenzielle Kunden soll man nicht warten lassen.«

»Möchten Sie eine Tasse Kaffee, ich habe gerade welchen aufgesetzt.«

»Hab ich schon gerochen, aber machen Sie sich meinetwegen keine Umstände.«

Geplant war, dass Maidment die Haustür schließen und verriegeln sollte, um Chalfont dann ins Wohnzimmer zu führen, wo er sich unter dem Vorwand, den Kaffee zu holen, in die Küche verdrücken würde. Cooper würde dann mit Unterstützung der beiden uniformierten Constables den Verdächtigen festnehmen.

Leider verliefen die Dinge nicht nach Plan, wie Cooper später in seinem Bericht formulieren sollte. Anstatt sich hinzusetzen, folgte Chalfont dem Major in die Küche.

»Bitte, ich mach das schon. Nehmen Sie doch Platz.«

»Kein Problem, ich muss mir sowieso Ihre Heizung ansehen. Wo ist denn der Heizkessel?«

Stille trat ein. Cooper blickte von seinem Sitzplatz auf der Klobrille hoch und starrte auf den Heizkessel.

»Äh …« Die Ratlosigkeit war Maidment anzuhören. »Ich bin vor kurzem erst eingezogen. Da muss ich nachdenken …«

»Keine Sorge, ich find ihn schon. Bin schließlich Experte. Ich wette, der ist im Bad.«

Die Tür zum Bad ging auf, ehe Cooper sich verstecken konnte. Einen Moment lang starrten die beiden einander an, dann nahm Cooper sich zusammen und sagte mit fester Stimme:

»Polizei! Sie sind festge– «

Der Fausthieb raubte ihm den Atem, bevor er nach vorn kippte. Keuchend hörte er das Geräusch eines Handgemenges in dem engen Flur, und als er aufblickte, sah er, wie Lee unsanft auf dem Allerwertesten landete. Laute Schritte kamen die Treppe heruntergepoltert, und schon krachte Perkins gegen Cooper, der inzwischen den Flur entlang humpelte. Perkins strauchelte und wäre beinahe gestürzt. Cooper drängte sich an ihm vorbei in die Küche und sah gerade noch, wie Chalfont erneut zuschlug, diesmal auf Maidments Nase. Blut spritzte hervor und besudelte die Jacketts der beiden Männer. Doch anstatt zurückzuweichen, stellte Maidment sich seinem Angreifer und landete einen kräftigen rechten Haken seitlich an Chalfonts Kinn.

Cooper richtete sich mühsam auf und sprang auf Chalfont zu, doch der Mann schnappte sich ein Brotmesser und fing an, wild damit vor seinem Gesicht herumzufuchteln. D. C. Partridge hämmerte gegen die verschlossene Haustür, während Rike mit aschfahlem Gesicht vor dem Küchenfenster stand. Perkins und Lee drängten sich hinter Cooper im Flur.

»Jetzt mal alle schön ruhig, ja?« Coopers Stimme klang gepresst, und sein Magen fühlte sich an, als ob er brannte. »Beruhigen Sie sich, Luke, so heißen Sie doch, nicht wahr? Hier sind fünf Beamte, und Verstärkung ist unterwegs. Mit Ihrem Drohverhalten machen Sie alles nur noch schlimmer. Legen Sie das Messer weg.«

Cooper wies Perkins an zurückzubleiben und hoffte, dass der Junge so vernünftig war, seinem Befehl zu gehorchen. Er hörte, dass Lee die Haustür aufschloss, aber ihre Überzahl würde ihnen nichts nützen, weil die Küche zu klein war. In der plötzlichen Stille belauerten Maidment, Chalfont und Cooper einander.

»Ich gehe nicht ins Gefängnis.« Chalfonts Stimme bebte vor Angst.

»Wer sagt denn irgendwas von Gefängnis? Wir wollen mal keine voreiligen Schlüsse ziehen, aber dass Sie hier mit dem Messer rumfuchteln, ist nicht gerade hilfreich. Leg’s weg, mein Junge.«

»Ich bin nicht Ihr Junge, und versuchen Sie nicht, mir was vorzumachen!« Cooper nahm den immer panischeren Unterton wahr und sah mit wachsender Sorge, dass Chalfonts Hand anfing zu zittern. »Ich werde jetzt gehen, und Sie werden mich nicht daran hindern. Machen Sie die Tür auf.«

Chalfont sah Maidment an und deutete mit dem Messer auf die Tür, dann wirbelte er wieder zu Cooper herum, der sich einen Schritt vorgewagt hatte.

»Zurück!«

In dem Moment, als die beiden Männer einander ansahen, öffnete Maidment den Brotkasten, nahm eine Waffe heraus und zielte damit auf Chalfonts Brust.

»Ich denke, du gehst nirgendwohin, Freundchen.«

Chalfont klappte der Unterkiefer runter. Und Cooper merkte, dass auch sein Mund vor Schock offen stand.

»Legen Sie die Waffe weg, Major. Das bringt nichts.«

Er musterte die beiden Männer und fragte sich, wer von beiden gefährlicher wirkte. Chalfont zitterte am ganzen Körper und wich allmählich zurück, während Maidment bis auf ein nervöses Zucken im Augenwinkel völlig ruhig schien. Cooper hatte den schrecklichen Verdacht, dass der Mann den Augenblick genoss.

»Keine Sorge, Sergeant, ich hab alles unter Kontrolle. Ich lass diesen Mistkerl nicht entwischen, nicht nach dem, was er Miss Pennysmith angetan hat.«

Seine Worte trieben Chalfont noch weiter zurück, der nicht bemerkte, dass er Cooper jetzt ganz nah kam. Der Mann mit dem Revolver war das Einzige, worauf er achtete. Cooper hechtete nach dem Messer und packte das Handgelenk des Mannes mit der rechten Hand. Chalfont fuhr herum und rammte den linken Ellbogen mit voller Wucht in Coopers schmerzenden Bauch. Sein Griff lockerte sich, und Chalfont riss das Messer hoch an Coopers Hals.

Ein ohrenbetäubender Knall hallte durch die Küche. Auf Chalfonts Gesicht erschien ein verwunderter Ausdruck, und dann fing er an zu schreien. Er ließ das Messer fallen, umklammerte seinen Oberschenkel und versuchte, den Strom von hellrotem Arterienblut zu stoppen, der über Küchenschränke und -wände spritzte und auf dem Boden eine Lache bildete.

Maidment kickte das Messer mit dem Fuß beiseite, nahm ein Geschirrtuch aus der Schublade und begann fachmännisch, Druck auf die Wunde auszuüben. Chalfont brüllte noch lauter.

»Sergeant Cooper, halten Sie das mal, während ich einen Krankenwagen rufe.«

»Wenn Sie mir nur erst die Waffe geben würden, Sir.«

Cooper streckte die Hand aus und nahm den Revolver behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger, schlug ein Handtuch darum und reichte ihn nach hinten an Perkins weiter.

»Der Rettungswagen ist unterwegs, Sir«, sagte der Constable, »und Verstärkung.« Perkins starrte verängstigt auf die immer größer werdende Blutlache.

»Die Kompresse hier ist schon durchnässt«, stellte Maidment noch immer unnatürlich ruhig fest.

Er nahm ein weiteres frisches Geschirrtuch und drückte es auf den Oberschenkel. Chalfont schrie auf und wurde ohnmächtig.

»Besser so. Der Bursche hätte sonst furchtbare Schmerzen. So kriegt er wenigstens nichts mehr mit, bis er im Krankenhaus verarztet wird.«

Seine Stimme war derart emotionslos, dass Cooper und Perkins sich verwirrt ansahen. Cooper räusperte sich.

»Major, haben Sie einen Waffenschein für den Revolver?«

»Waffenschein? Hmm.« Maidment kratzte sich mit der freien Hand am Kinn. »Brauche ich denn einen? Das ist mein alter Dienstrevolver. Den hab ich schon ewig, und an einen Waffenschein hab ich nie gedacht. Deshalb nein, ich hab keinen.«

»Sie hätten ihn vorher über seine Rechte aufklären müssen, Sir!«, zischelte Perkins.

Allmählich begriff Cooper die Tragweite der Situation. Seine Schultern sanken herab, und er bemerkte zum ersten Mal die hellroten Spritzer auf seinen Hosenbeinen. Dot würde ihm den Kopf abreißen, dachte er, und für einen kurzen Moment wünschte er sich, zu Hause bei ihr zu sein und eine schöne Tasse Tee zu trinken. Doch stattdessen zwang er sich, Haltung anzunehmen, und wandte sich dann entschlossen an den Major.

»Jeremy Maidment, ich nehme Sie fest wegen versuchten Mordes. Sie haben das Recht, die Aussage …«

»Versuchter Mord? Meine Güte, Sergeant, der war gerade mal zweieinhalb Meter von mir entfernt. Ich wollte ihn außer Gefecht setzen, und das ist mir gelungen. Glauben Sie mir, wenn ich ihn hätte umbringen wollen …«

»… zu verweigern.«

»Sergeant! Haben Sie nicht zugehört? Ich habe einen Mann außer Gefecht gesetzt, der Ihnen fast die Kehle durchgeschnitten hätte. Ich verstehe, dass Sie ein bisschen in Sorge sind, weil ich keinen Waffenschein habe, aber der Vorwurf, ich hätte jemanden umbringen wollen, ist kompletter Unsinn.«

Cooper führte die Rechtsbelehrung des Verdächtigen zu Ende und spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg, die jetzt bestimmt ebenso dunkelrot waren wie die von Maidment. Er war versucht, die Situation zu erklären, sich sogar zu entschuldigen, aber er wusste, das wäre ausgesprochen unklug. Stattdessen warteten sie schweigend auf das Eintreffen der Verstärkung.

Zehn Minuten später half Constable Lee dem noch immer sprachlosen Maidment auf die Rückbank eines Polizeiwagens, während Cooper zusah, wie die Rettungssanitäter Chalfont auf eine Trage schnallten und unter Sirenengeheul mit ihm davonrasten. Der Schock, der ihn seit Chalfonts Griff zum Messer erfasst hatte, wurde allmählich von einer unguten Vorahnung verdangt, die sich als Schmerz in seiner malträtierten Magengrube verfestigte. Er hatte es vermasselt. Eine routinemäßige Festnahme war zu einem lebensbedrohlichen Vorfall geworden, in dessen Folge ein Mann offensichtlich verblutete und er, Cooper, gezwungen gewesen war, eine Stütze der Gesellschaft festzunehmen. Das Ganze würde ihn teuer zu stehen kommen.

D. S. Rike lehnte an der Küchenwand und sog an einer Zigarette. Es roch nach Erbrochenem, und das Spülbecken war offensichtlich gereinigt worden.

»Alles klar?«

Rike nickte und nahm einen langen Zug. Cooper bemerkte, dass seine Hand zitterte.

»Die Hintertür war abgeschlossen. Ich konnte nicht rein.«

»Sie haben das Richtige getan. Die Küche war schon voll genug, und er hätte ausbrechen können, deshalb mussten Sie den möglichen Fluchtweg sichern.«

Rike nickte, konnte Cooper aber nicht in die Augen sehen.

»Gehen wir, das wird ein langer Tag.« Cooper rieb sich das Gesicht und sah älter aus als seine fünfzig Jahre.

»Was meinen Sie, was soll ich sagen?« Rike hatte sich nicht vom Fleck gerührt.

»Wie bitte?«

»Was wollen wir denen erzählen? Wen nehmen wir ins Visier, Chalfont oder Maidment? Ich schätze, Chalfont kommt nicht durch, also können wir ihm alles in die Schuhe schieben und sagen, er hätte den Major angegriffen, sodass der sich verteidigen musste. Der fehlende Waffenschein lässt sich natürlich nicht ausbügeln, aber das ist ja ein Bagatelldelikt.«

Cooper begriff, worauf Rike hinauswollte, und hob eine Hand.

»Kein Wort mehr, Richard, bitte. Wir bleiben bei der Wahrheit. Es wird eine Untersuchung geben, die wird unangenehm, aber alles, was Sie zu tun haben, ist, sich genau an das zu halten, was Sie gesehen haben.«

Maidment verbrachte eine Nacht in der Zelle, wurde aber am folgenden Tag entlassen, nachdem ein wutschäumender Assistant Chief Constable Harper-Brown angerufen und Cooper dafür zur Schnecke gemacht hatte, den Major überhaupt festgenommen zu haben. Sofort nach dem Anruf wurde Cooper zum Chef des Harldener Reviers, Superintendent Quinlan, beordert.

Superintendent Quinlan bot ihm nicht an, Platz zu nehmen.

»Das Ganze ist doch eine verdammte Farce!« Quinlan fluchte fast nie, und dieser gemäßigte Ausbruch löste bei Cooper eine unverhältnismäßig heftige Wirkung aus. Ihm wurde richtiggehend schlecht, und er starrte auf seine Schuhe.

»Was zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht, so wenig Männer mitzunehmen?«

»Sir, ich glaube wirklich nicht, dass mehr Leute etwas gebracht hätten, und Maidment hatte auf mich nicht den Eindruck gemacht, dass er den Rambo spielen will.«

Quinlan starrte ihn kopfschüttelnd an.

»Maidments Festnahme war stümperhaft. Wir können von Glück sagen, dass er sich noch nicht beschwert hat.«

»Hat er es vor?«

»Nein, aber der A. C. C. ist sehr aufgebracht. Haben Sie schon einen Blick in die Zeitungen geworfen?« Das war eine rhetorische Frage. »Auch ohne seine Beschwerde wird unser Image schweren Schaden nehmen. Harper-Brown besteht auf einer internen Untersuchung.«

»Oh nein.« Cooper spürte, wie seine Knie Wacklig wurden. Sein Gesichtsausdruck musste wohl zum Steinerweichen sein, denn Quinlan erbarmte sich seiner.

»Nichts Offizielles. Das liegt ebenso in seinem wie in Ihrem Interesse. Er hat einen Freund ganz oben im Surrey Constabulary, und er hat sie gebeten, die Sache rasch und diskret zu handhaben. Ein cleverer Schachzug. Sollte er unter Druck geraten, kann er sagen, dass bereits eine Untersuchung angelaufen ist, und indem er sie von außerhalb besetzt, kann er seine Unabhängigkeit demonstrieren.«

»Was soll ich denn in der Zwischenzeit tun, Sir?«

»Tippen Sie Ihre Berichte, aber absolut einwandfrei, und sorgen Sie dafür, dass Ihr Team in vollem Umfang kooperiert. Ich will nicht, dass Sie in irgendeiner Weise im Fall Maidment für die Staatsanwaltschaft tätig werden. Das soll Nightingale übernehmen. Sie hat das nötige Feingefühl und Durchsetzungsvermögen. Ein Jammer, dass Sie sie nicht vor der Festnahme informiert hatten.«

»Ja, Sir.«

Der Gedanke war Cooper auch schon gekommen, aber es hatte alles nach einer Routinefestnahme ausgesehen, und er wollte sie nicht damit belästigen, das hatte er sich zumindest eingeredet. Im Hinterkopf aber lauerte der Verdacht, dass er selbst die Lorbeeren dafür hatte ernten wollen, ohne sie mit der frischgebackenen D. I. Nightingale teilen zu müssen, selbst wenn er zu ihren wenigen Fans zählte.

Nach dem vielleicht schlimmsten Vormittag seiner Polizeilaufbahn floh er in die Kantine und suchte Trost in einem Mittagessen, das so ungesund war wie nur eben möglich.

»Backfisch mit Pommes, und anschließend Vanillepudding. Was ist denn aus Ihrer Diät geworden, Bob?«

Nightingale stand mit einem Tablett neben seinem Tisch, und er war sicher, dass ihre Essensauswahl ihm ein noch schlechteres Gewissen bescheren würde.

»Was dagegen, wenn ich mich dazusetze?«

Er hatte was dagegen, aber er deutete mit seinem Messer auf den leeren Stuhl gegenüber, ehe ihm seine guten Manieren wieder einfielen. Er schielte auf ihren Teller. Wie er vermutet hatte, jede Menge Gemüse. Sie sah toll aus, gesund und strahlend und hinreißender denn je. Er fragte sich, mit wem sie wohl zusammen war. Es wurde gemunkelt, sie hätte was mit Andrew Fenwick, aber irgendwie konnte er das nicht so recht glauben.

Während sie aßen, wartete er darauf, dass sie das Maidment-Debakel ansprach. Er hatte sich schon eine Erklärung zurechtgelegt, aber sie plauderte einfach nur über einen Film, den sie sich am Vorabend angesehen hatte. Schließlich sagte er: »Im Augenblick könnte man aus meinem Leben auch so einen blöden Film machen.«

»Hab schon gehört. Möchten Sie drüber reden?«

Er öffnete den Mund, um Nein zu sagen, doch zu seiner eigenen Verblüffung fing er an, ihr die letzten sechsunddreißig Stunden zu schildern. Sie hörte zu, ohne zu unterbrechen. Auf seinem Pudding bildete sich Haut.

»Ich finde nicht, dass Sie irgendwas falsch gemacht haben, Bob. Vielleicht hätten Sie noch einen Beamten in der Küche postieren sollen, aber was hätte das genutzt? Den hätte Chalfont doch auch nur bedroht. Was für eine Art Untersuchung soll das denn sein?«

»Intern und inoffiziell.«

»Da können Sie aber heilfroh sein. Ihr Schutzengel macht bestimmt Überstunden.«

Sie lächelte ihn aufmunternd an, während er wild entschlossen sein letztes Pommesstäbchen kaute, obwohl es inzwischen eiskalt war. Er wollte sich nicht trösten lassen.

»Von wegen, ich bin frei zum Abschuss, wetten? Harper-Brown will Blut sehen …«

»Unglückliche Formulierung. Quinlan ist stinksauer, aber er ist fair. Er wird nicht zulassen, dass man Sie zum Sündenbock macht.«

Cooper schüttelte nur den Kopf, nahm einen Löffel Pudding und ließ ihn dann angewidert wieder sinken.

»Quinlan hat ja nicht das letzte Wort, oder? Die Presse fällt jetzt schon über mich her. Die werden den A. C. C. unter Druck setzen, ›Konsequenzen‹ verlangen, und dann bin ich so gut wie erledigt. Ich kann von Glück sagen, wenn ich nicht in den vorzeitigen Ruhestand versetzt werde.«

»Und da haben Sie sich überlegt, dass Sie sich vorher lieber zu Tode essen.« Sie lachte, um ihrer Bemerkung den Biss zu nehmen, und Cooper versuchte mitzulachen. Trotz seines Vorsatzes, sich nicht aufmuntern lassen zu wollen, hatte Nightingale in ihm doch irgendwie die Hoffnung auf einen positiven Ausgang geweckt, und der Tag kam ihm nicht mehr ganz so düster vor.

3

Andrew Fenwick blickte auf den Haufen aus Erde und Laub zu seinen Füßen und brachte seine Emotionen wieder unter Kontrolle. Die gewissenhaft zusammengesuchten Knochenfragmente wurden nun endlich in Plastikbehälter gelegt, die eigentlich eher zu einer archäologischen Ausgrabungsstätte gepasst hätten. Die Überreste der Leiche waren so klein, dass kein Leichensack erforderlich war. Trotz seiner über Jahre eingeübten Distanz erschütterte ihn dieses Grab zutiefst.

»Junge oder Mädchen?«

»Das kann ich Ihnen erst mit Sicherheit sagen, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, aber der Beckenknochen deutet eher auf einen Jungen hin«, sagte der Forensiker, den die verfrühte Frage offenbar nicht verärgert hatte.

Fenwick kannte ihn nur dem Namen nach. Ein angeblich herausragender Professor mit dem wenig herausragenden Namen Brown, der von London als Ersatz angereist war, weil Sussex nur einen Experten auf diesem Gebiet hatte und der in Urlaub war.

»Alter?«

»Vom Zustand der Zähne her zu schließen würde ich sagen zwölf oder dreizehn, aber Sie wissen sicherlich, wie unzuverlässig solche Schätzungen in dieser Phase sind.«

Fenwicks Sohn Chris war beinahe neun.

»Aber es ist nicht Sam Bowyer.« Eine Feststellung. Fenwick brauchte keinen Doktor in Medizin, um das zu erkennen. Er sprach es nur aus, um ein wenig von der Traurigkeit loszuwerden, die sich ihm in Augen und Hals festgesetzt hatte, seit er früher am Morgen auf den Kinderschädel hinabgeblickt hatte.

»Wer?«

Fenwick sah Brown verblüfft an. Das Verschwinden von Sam Bowyer beherrschte seit Tagen die Nachrichten, aber vielleicht war es ja doch nur eine lokale gewesen. Sam, elf Jahre alt, aus gutem Hause, aber in der Schule ein Rabauke, war seit Montag verschwunden. Er war zuletzt gesehen worden, wie er in einen Zug nach Brighton stieg, obwohl er eigentlich Schule gehabt hätte. Das war vier Tage her, und seitdem fehlte von ihm jede Spur, trotz der fieberhaften Ermittlungen der Polizei in Brighton.

»Schon gut. Wissen Sie, wie lange die Leiche in der Erde gelegen hat?«

»Mindestens zwei Jahre, aber vielleicht auch wesentlich länger. Am besten gehen Sie die Vermisstenkartei durch, sobald ich Ihnen die Zahnabdrücke schicke. Viel habe ich nicht, womit ich arbeiten kann. Die Leiche ist vollständig skelettiert, und es gibt keine offensichtlichen Anzeichen für eine Verletzung.«

»Haben Sie sämtliche Knochen gefunden?«

»Die meisten, aber nicht alle. Ein paar kleinere Fußknochen fehlen.« Brown richtete sich auf und zog sich mit einem klatschenden Geräusch die Gummihandschuhe aus. »Meinen vorläufigen Bericht erhalten Sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden. Die genaue Analyse wird länger dauern. Falls ich irgendwas Interessantes finde, informiere ich Sie sofort.«

Ein kurzes Händeschütteln, dann strebte Brown zwischen den Bäumen hindurch auf seinen BMW zu, der etwas oberhalb am Rand der schmalen Landstraße parkte. Er wählte schon eine Nummer auf seinem Handy und schien unberührt vom Inhalt der sterilen Plastikbehälter. Fenwick sah ihm nach; er zögerte, obwohl für ihn keine Notwendigkeit bestand, weiter am Fundort zu bleiben, doch er wollte noch nicht in seine laute und geschäftige Zentrale in Burgess Hill zurückkehren.

Um ihn herum hoben und senkten sich die Schultern der Spurensicherer, die in ihren weißen Schutzanzügen die unmittelbare Umgebung minutiös durchforsteten. Vielleicht fragten sie sich, was er sich von einer so aufwendigen Fundortuntersuchung noch versprach, wo doch nach so langer Zeit kaum noch brauchbare Spuren zu finden sein würden. Es war ihm egal, was sie dachten oder was sein Chef sagen würde, wenn er die Rechnung auf den Schreibtisch bekäme.

Beim Gedanken an die Zentrale verzog er angewidert den Mund. Das Gerede und der infantile Humor im Teamraum reizten ihn trotz seiner besten Vorsätze bis zum Wahnsinn. Ständig war irgendein Geplänkel im Gange, gewürzt mit derben Witzchen, die er nicht mal ansatzweise komisch fand. Während er jetzt zu dem ausgetrockneten Bach ging, der sich durchs Unterholz schlängelte, nahm er sich vor, die Sache entspannter anzugehen. Die lockere Arbeitsatmosphäre hatte er schließlich selbst geschaffen, weil man ihm nahegelegt hatte, sich einen etwas »persönlicheren Führungsstil« anzueignen. Aber das Experiment funktionierte nicht. Er konnte nun mal nicht so tun, als wäre er jemand anderer, selbst wenn es seiner Karriere genützt hätte. Er gehörte einfach nicht dazu, das hatte er nie, hatte es nie gewollt und würde es auch nie.

»Sir!«

Einer von der Spurensicherung hatte sich aufgerichtet und winkte ihm. Fenwick rannte den Hang hinauf, ohne auf den stechenden Schmerz in seinem Knie zu achten, und stellte befriedigt fest, dass er oben angekommen kein bisschen außer Atem war. Das regelmäßige Joggen zahlte sich offenbar doch aus, so öde er es auch fand.

»Was haben Sie gefunden?«

»Einen Schlüssel. In der ausgehobenen Erde vom Grab. Da hängt so ein kleines Schildchen dran.«

Fenwick starrte angestrengt darauf, aber natürlich gab das verrostete Stück Metall nichts preis. Es würde Tage dauern, bis sie herausgefunden hatten, woraus der Schlüssel bestand, um dann eine Liste der Hersteller zusammenzutragen. Aber die Entdeckung freute ihn; sie rechtfertigte seine Entscheidung, das Grab und die unmittelbare Umgebung gründlich unter die Lupe nehmen zu lassen.

»Sehr gut«, sagte er, und seine Stimmung hob sich.

Er hatte großes Vertrauen in das kriminaltechnische Labor von Sussex, und er hoffte, dass der Schlüssel bedeutsame Hinweise liefern würde. Die Fortschritte in der Kriminaltechnik faszinierten ihn; sie entsprachen seiner eigenen Grundauffassung als Polizist, dem Glauben nämlich, dass detaillierte und exakte Ermittlungen im Laufe der Zeit zum Erfolg führten. Aber er musste zugeben, dass ihn die meisten anderen Aspekte der modernen Polizeiarbeit langweilten. Die Fixierung auf die neusten Managementtheorien, die politischen Rücksichtnahmen auf kommunaler und landesweiter Ebene, die Erfordernis, zum Statistiker zu werden, nur um den unersättlichen Hunger auf Analysen zu stillen: Führte das alles zu einer einzigen Verurteilung mehr? Antworten im Postkartenformat, dachte er, nein, in Briefmarkengröße.

Sein Problem war, dass er in den letzten dreizehn Jahren einfach übersehen hatte, was heutzutage erforderlich war, um auf der Karriereleiter nach oben zu klettern. Stattdessen hatte er sich schlicht auf seinen fast obsessiven Drang verlassen, Verbrechen aufzuklären. Abgesehen davon hatte er sich kaum Gedanken um sein berufliches Fortkommen gemacht. Seine Heirat, die zwei Kinder, die rasch nacheinander kamen, die Krankheit seiner Frau und ihr allmählicher Verfall hatten keinen Raum mehr für Ehrgeiz gelassen. Moniques Tod im Vorjahr dann war für sie und im Grunde auch für die Kinder eine Erlösung gewesen, weil sie nun endlich richtig trauern und anfangen konnten, ihren Verlust zu verarbeiten. Aber das Abschalten der Geräte, die sie am Leben erhielten, war das Härteste, was er je hatte tun müssen, und es hatte ihn schwerer belastet, als er selbst für möglich gehalten hätte.

Zu Anfang war er einfach nur erschöpft gewesen. Dann hatte ihn die Jagd nach einem Serienmörder – ein besonders komplizierter und brutaler Fall – gänzlich in Anspruch genommen. Doch sobald der Täter verhaftet war, hatte ihn die Trauer, die er unbewusst auf Abstand gehalten hatte, übermannt, obwohl niemand es bemerkte, nicht mal diejenigen, die ihm am nächsten standen. Verzweiflung und Wut hätten ihn beinahe verschlungen, und wahrscheinlich wäre es auch dazu gekommen, wenn nicht die Kinder gewesen wären, die ihn jetzt ganz besonders brauchten. Er konnte sie nicht im Stich lassen. Über mehr als drei Monate hinweg, während der letzte Herbst in den Winter überging, hatte er sich in sich selbst zurückgezogen und den Anschein von Funktionsfähigkeit gewahrt, indem er zwischen den beiden Extremen der hingebungsvollen Beschäftigung mit den Kindern und einem gnadenlosen Arbeitspensum hin und her schwankte.

Keiner konnte sagen, wie lange er wohl in diesem halbvegetativen Zustand geblieben wäre, doch dann war er zurück in die Wirklichkeit gerissen worden, als er das Angebot bekam, die Leitung des Major Crimes Squad von West Sussex zu übernehmen, wo er direkt Assistant Chief Constable Harper-Brown unterstellt wäre. Es war keine echte Beförderung – sein Rang blieb unverändert –, aber der vorherige Amtsinhaber war Superintendent gewesen, und es war klar, dass eine Beförderung folgen würde, wenn er sich auf dem neuen Posten bewährte.

Zunächst hatte Fenwick mit der Begründung abgelehnt, er befürchte negative Auswirkungen für seine Familie, aber sein alter Chef, Superintendent Quinlan, war nicht gewillt gewesen, diese Entscheidung zu akzeptieren. Er war mit ihm in einen Pub irgendwo auf dem Land in Sussex gefahren, wo niemand sie kannte, und hatte sie beide systematisch unter Alkohol gesetzt. In seinem angesäuselten Zustand gelang es Fenwick nicht mehr, seine Fassade aufrechtzuerhalten. Und als seine Zunge sich einmal gelöst hatte, war kein Halten mehr. Quinlan, plötzlich wieder nüchtern und klug, hatte zugehört, ohne ihn zu unterbrechen, ein unsentimentaler Mann, der doch tief bewegt war von dem, was er da hörte.

»Sie müssen diese Chance nutzen, Andrew. Sie stecken in einer Sackgasse und kommen da nicht mehr raus. Und Sie sind zu gut, um sich damit abzufinden. Ich weiß noch, wie Sie damals nach Harlden gekommen sind. Sie waren so ehrgeizig, und Sie machten keinen Hehl daraus. Außerdem waren Sie verdammt gut, der beste Detective, mit dem ich je zusammengearbeitet habe. Aber irgendwann gelangt man an einen Punkt, wo es nicht mehr genügt, ein guter Ermittler zu sein. Das weiß selbst ich, obwohl mir dieser ganze Managementmist auch zuwider ist.«

»Aber der Ehrgeiz ist weg – ich hab Ihnen doch gesagt, ich bin nicht mehr gut, verdammt… Ich bin bloß noch ein Schar… ein Scharla … ein Wrack.«

»Sie wollen noch immer gewinnen, das sehe ich Ihnen Tag für Tag an. Gerechtigkeit ist Ihnen wichtig, und Sie sind der hartnäckigste Mensch, der mir je begegnet ist. Ihr Instinkt ist unheimlich. Ich weiß, Sie haben was gegen das Wort Intuition, aber darauf läuft es hinaus, ob Ihnen das nun gefällt oder nicht.«

Fenwick war zu betrunken gewesen, um ihm zu widersprechen. Tief in seinem Innern wusste er, dass er eine seltene Fähigkeit besaß, die schwer zu definieren, aber auch unschätzbar wertvoll war. Sein Verstand konnte vermeintlich nutzlose Einzelinformationen aufnehmen, sie dann im Unterbewussten gären lassen und zu wahllosen Kombinationen zusammensetzen, bis schließlich, fast wie aus dem Nichts, ein Gedanke auftauchte, der eine Ermittlung in eine bestimmte, scheinbar willkürliche Richtung lenkte. Diese Gedanken waren flüchtig. Wenn er sich zu angestrengt oder zu früh darauf konzentrierte, verschwanden sie wieder. Deshalb hatte er im Laufe der Jahre eine Abneigung dagegen entwickelt, andere an seinen Überlegungen teilhaben zu lassen, und sich angewöhnt, lieber allein für sich nachzudenken. Wenn solche Gedanken schließlich Gestalt annahmen, waren sie nicht immer zusammenhängend, manchmal bloß ein Gefühl oder wie ein Traum, der einem nach dem Aufwachen noch verschwommen nachhing, aber er hatte gelernt, ihnen nachzugehen und sie herauszulocken, ganz gleich, wie abwegig sie schienen.

Während er nun die Rückkehr zu seinen neuen Aufgaben im Major Crimes Squad noch ein wenig hinauszögerte, ging ihm das Gespräch mit Quinlan erneut durch den Kopf, und er hoffte, dass der Superintendent Recht gehabt hatte und er wirklich die notwendigen Fähigkeiten besaß, um den Job zu meistern. Er würde sie weiß Gott brauchen, um den Mörder des Jungen zu finden, der hier auf dem Hügel verscharrt worden war. Bei einem Fall, der so lange zurücklag, waren mehr als nur Glück und gute Polizeiarbeit erforderlich, um Ergebnisse zu erzielen.

Ein Fasan flog vor ihm auf und kreischte verstört, als wäre er von schussbereiten Jägern aus seinem Versteck aufgeschreckt worden, aber die Jagdsaison würde erst in einigen Monaten eröffnet. Nachdem der Vogel schwerfällig durch die Bäume davon geflattert war, wirkte der Wald noch stiller. Reglose Kiefern, Birken, deren Rinde gespenstisch im Dämmerlicht leuchtete, und gewaltige Buchen umstanden ihn. Auf der anderen Seite des Baches waren die blassen Wurzelballen von umgekippten Nadelbäumen, Opfer der vergangenen Winterstürme, im Halbdunkel zu erkennen, und Fingerhut und Brennnesseln hatten die so entstandenen Lichtungen erobert.

Einen Moment lang hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er sich Sorgen um seine Karriere machte. Dann erfasste ihn wieder diese makabre Aufregung, die er am Morgen auf dem Weg hierher empfunden hatte. Vielleicht brachte der Fund ja den Durchbruch, den er brauchte, um eine überaus schwierige Ermittlung wieder in Schwung zu bringen, die monatelang auf der Stelle getreten war, ehe der scheidende Leiter des M. C. S. sie mit einer Mischung aus Erleichterung und Widerwillen an Fenwick übergeben hatte.

»Der hier ist eine harte Nuss, Andrew«, hatte er gesagt. »Wir sind keinen Schritt weitergekommen, dabei haben wir wirklich alles versucht. Wir hatten von den Amis den Tipp bekommen, dass irgendwo in unserem Einsatzgebiet ein ausgeklügelter Pädophilenring arbeitet. Die haben in Florida einen Briten verhaftet, und der ist geständig. Er behauptet, er habe früher, bevor er in die USA ging, für einen Ring in Sussex gearbeitet, der ziemlich groß sein soll und schon länger aktiv ist. Der einzige Name, den er liefern konnte, war ein gewisser Joseph Watkins, und mithilfe einer Kinderpornoseite, die sie infiltrieren konnten, haben sie ihn tatsächlich aufgespürt. Aber als wir Watkins’ Wohnung durchsucht haben, war sein Computer sauber. Fragen Sie mich nicht, woher er wusste, dass wir kommen, aber er hat es gewusst. Danach haben wir ihn überwacht, aber kurz darauf hat er das Land verlassen – wir hatten keine Beweise, nichts, um ihn festhalten zu können.«

Selbst als andere Fälle vorrangig behandelt werden mussten, hatte Fenwick ein kleines Team in der Sache weiter ermitteln lassen, die Soko Chorknabe. Die Mitarbeiter der Soko legten keine große Begeisterung an den Tag, weil sie die Sache für hoffnungslos hielten, und die anderen machten oft genug ihre Witzchen.

Joseph Watkins war fünfundfünfzig, im Ruhestand und wohlhabend. Es gab Gerüchte, dass er mal Söldner gewesen war und davor beim Geheimdienst, aber mehr Informationen hatten sie nicht. Fenwick hatte zunächst den Bekanntenkreis von Watkins unter die Lupe genommen, und dabei waren etwa ein Dutzend mögliche Verdächtige herausgekommen, die er von seinem Team durchleuchten ließ. Keiner der Männer suchte die einschlägig bekannten Anlaufstellen für Kinderprostitution in West Sussex auf, und alle führten offenbar ein seriöses Leben, doch Fenwick wollte nicht aufgeben. Nach drei Monaten standen auf der Liste nur noch zwei Männer, deren Verhalten Anlass für weitere Ermittlungen geliefert hatte. In den Wochen danach hatten sie eine Reihe von Adressen zusammen, die diese Männer regelmäßig aufsuchten. Zwei waren recht unauffällig: ein Club in Burgess Hill und zu seinem Erstaunen auch der Harldener Golfclub in den Downs.

Die Verdachtsmomente reichten nicht mal für einen Durchsuchungsbefehl, daher konzentrierte er sich im Augenblick darauf, ihre Aktivitäten genau zu beobachten. Es war eine mühsame Arbeit, aber er konnte wenn nötig auch geduldig sein, und das M. C. S. war groß genug, um seine halboffizielle Arbeit abzudecken.

Zugleich ließ er einen anderen Mitarbeiter die Vermisstenkarteien durchgehen und alle Fälle sichten, bei denen es um sexuellen Missbrauch von weißen Jungen zwischen neun und fünfzehn ging. Bislang war keiner der beiden Männer darin irgendwo namentlich erwähnt worden.

Dann war Sam Bowyer verschwunden, und die theoretische Arbeit hatte eine neue Dringlichkeit angenommen, obwohl die landesweite Suche nach dem Jungen seit vier Tagen erfolglos geblieben war.

Während Fenwick bei der Bergung des Kinderskeletts zugeschaut hatte und mit Erleichterung erkannte, dass es nicht Sam sein konnte, hatte er sich gefragt, welches der frechen Gesichter auf den alten Schulfotos in den Vermisstenakten einst den Schädel bedeckt hatte, der jetzt auf dem Weg in die Londoner Gerichtsmedizin war, um dort im Interesse der Gerechtigkeit vermessen und untersucht zu werden.

Fenwick bückte sich, hob eine Handvoll Erde auf und drückte sie zu einem Klumpen zusammen. Sie war leicht und bröckelig, eine dünne Haut über den Kreidefelsen, aus denen die Downs bestanden. Er öffnete die Hand, ließ die Erde fallen wie in ein Grab, wischte sich die Hände ab und seufzte tief in Gedanken an den Jungen, der hier in einem namenlosen Grab verwest war, während seine Eltern in einem Vakuum trauerten und vielleicht noch immer verzweifelt hofften, dass er noch lebte. Falls die Zähne des hier gefundenen gut erhaltenen Unterkiefers zu einem Kind in der Vermisstenkartei passten, würde er ihnen diese Hoffnung nehmen müssen. Er spürte, wie seine Melancholie zurückkehrte, und entschied, dass es an der Zeit war, den Fundort zu verlassen.

Gedankenverloren ging er langsam den Hang hinauf, ohne den grünen Peugeot zu bemerken, der hinter seinem Wagen hielt, und er war überrascht, als ihn eine Stimme ansprach.

»Chief Inspector Fenwick!«

Er drehte sich um und sah Blake Bowyer, Sams Vater, neben dem Peugeot stehen. Seine Frau saß angeschnallt auf dem Beifahrersitz und hatte das Fenster heruntergekurbelt, um mitzuhören, was sie sagten. Bowyers Gesicht war von den Spuren eines unerträglichen Schmerzes gezeichnet, der erst noch erduldet werden musste, die Falten um den Mund wie tiefe Schnitte in der schlecht rasierten Haut, die Ringe unter den Augen so dunkel, dass sie wie Blutergüsse aussahen. Doch seine sichtliche Qual war nichts im Vergleich zu der seiner Frau. Fenwick wäre fast zusammengezuckt, als er ihren Blick sah und ihn die panische Angst darin traf wie ein Schlag.

Die Männer gaben sich rasch die Hand, und Fenwick ging zum Wagen hinüber, wo er Mrs. Bowyer ganz kurz die Hand auf die Schulter legte.

»Er ist es nicht«, sagte er sofort, ohne zu fragen, woher sie von dem Leichenfund wussten, und ohne ihnen Vorwürfe zu machen, dass sie hier aufgetaucht waren.

»Gott sei Dank.« Bowyer wiederholte die Worte wieder und wieder, eine Beschwörung, während seiner Frau vor Erleichterung stumme Tränen übers Gesicht rannen.

Fenwick hatte ansonsten keinerlei Neuigkeiten für sie, hatte alle Worte des Mitgefühls bei ihrer ersten Begegnung aufgebraucht und nichts mehr zu sagen. Er ging stumm zu seinem Wagen.

4

»Ich bin froh, dass der Ärger für Sie ausgestanden ist, Sergeant.«

Cooper wollte zurückweichen, doch ein dicker Eichenbalken verstellte ihm den Fluchtweg. Nicht genug damit, dass er ausgerechnet Major Maidment im Hare and Hound begegnen musste, Nein, jetzt bekam er auch noch ein frisches Glas Bier in die Hand gedrückt, ehe er nein sagen konnte. Dabei hatte er vor dem Nachhauseweg nur noch rasch zum Klo gehen wollen. Er war leicht angesäuselt, sodass ihm so schnell kein Vorwand einfiel, wie er sich aus der Gesellschaft des Majors befreien konnte, denn jeder Kontakt mit dem Mann war ihm strengstens untersagt.

Maidment spürte seine Verlegenheit.

»Natürlich dürfen Sie darüber nicht reden. Das versteh ich vollkommen. Mir wird ein Verbrechen zur Last gelegt – von Ihnen!« Er lachte, als wäre dieser Gedanke bloß ein Witz zwischen ihnen beiden.

Cooper wollte ihm sagen, dass er in ernsten Schwierigkeiten steckte. Chalfont, der in Wirklichkeit Henry Luke Carter hieß, wäre fast gestorben. Aus dem ärztlichen Bericht ging hervor, dass die Kugel eine Hauptarterie verletzt hatte. Nur die sofortige erste Hilfe und eine ausgezeichnete medizinische Versorgung hatten verhindert, dass er am Blutverlust gestorben war. Dass es Maidment war, der die Erste Hilfe geleistet hatte, interessierte die Staatsanwaltschaft nicht, die darin lediglich einen kläglichen Versuch sah, die Schwere der ursprünglichen Straftat zu mildern. Während er nun möglichst schnell sein Bier kippte, kam Cooper der Gedanke, dass er noch nie einen weniger schuldigen Menschen festgenommen hatte. Vielleicht war es ja Reue, die ihn veranlasste, sein Glas nicht einfach halb voll stehen zu lassen.

»Ich hätte da eine Frage, Mr. Cooper. Ich verstehe ja, warum man mir die Fingerabdrücke abgenommen hat, aber die Speichelprobe … war die für eine DNA-Untersuchung?«

»Das wird routinemäßig gemacht.« Cooper wand sich, weil das Gespräch wieder bei dem Fall gelandet war. »Es gibt eine landesweite Datenbank, in der Millionen Menschen erfasst sind, Sie sind also nicht der Einzige, Major. Falls sich herausstellt, dass Sie unschuldig sind …«

»Wenn, nicht falls. Wie dem auch sei, es stört mich nicht, ich fand’s nur eigenartig. Übrigens, wie fanden Sie das Kricketspiel von England gestern? Einundachtzig für fünf, also ich bitte Sie …«

Der Themenwechsel ließ Cooper innerlich aufatmen und allmählich schmeckte ihm sein Bier wieder, aber Maidments Einladung zum Lunch am Wochenende in seinem Golfclub lehnte er dennoch ab.

»Wenn die ganze Sache abgeschlossen ist, dann gern, aber im Augenblick, na ja, da sollte ich eigentlich nicht mal mit Ihnen reden.«

»Ach so, ja, verstehe. Aber Sie werden in meinem Fall doch wohl nicht ermitteln, oder?«

»Nein.«

»Schade, Sie hätten Ihre Sache gründlich gemacht. Bitte sagen Sie mir, dass die nicht irgendeinen Schwachkopf damit betraut haben.«

»Inspector Nightingale zählt zu unseren besten Leuten. Ich denke, Sie werden beeindruckt sein.«

»Gut. Ich freu mich drauf, ihn kennenzulernen.«

Cooper grinste. Nightingale würde sich freuen.