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Der Leshan Nelt erfährt, dass er einen älteren Bruder hat, über den nicht mehr gesprochen wurde. Denn sein Bruder hat Unerhörtes getan, er hat ein uraltes Gebot gebrochen und seine Familie und sein Volk beschmutzt. Nun ist er zurückgekehrt, nicht weil er Volk und Familie um Vergebung bitten möchte, sondern um sie zu befreien. Der junge Isbe Or Can Tor glaubt nicht mehr an die Regeln und Gebote seines Volkes. Er will nicht mehr töten und Furcht und Leid bringen. Er erkennt nicht den Sinn darin auf Leben und Tod seine Kräfte zu messen und legt seinen Isbennamen ab. Für jeden anderen Isben hat er damit den Tod verdient. Die Geschwister Eldor und Lyth von den Ardesen sind von ihrem Herrn mit klaren Anweisungen nach Sverida geschickt worden, um für ihre Stämme Hilfe zu erbitten. Doch es zeigt sich, dass sie Rettung nur erlangen können, wenn sie diese Anweisungen missachten. Die Geschwister entscheiden sich dafür, die Regeln nicht mehr zu beachten Wer sagt, dass ein Gebot oder eine Regel für immer richtig ist? Ist wahr, was von allen befolgt wird und was schon immer galt? Wer aus eigenem Erkennen etwas anderes für besser hält, wer nicht mehr den Göttern, den Herrschern oder seinem Stamm folgen will, der ist allein und geht in die Dunkelheit. Sechs Erzählungen aus der Welt des Pendogmion zeigen, dass nur wenige bereit sind die Folgen auf sich zu nehmen, umzukehren und einen besseren Weg zu gehen. Andere haben nicht die Wahl diese Entscheidung zu fällen. Sie müssen dies tun, weil alles andere unvorstellbar ist.
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Seitenzahl: 421
Veröffentlichungsjahr: 2024
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1 Der sanfte Isbe
2 Der Kaufmann von Sverida
3 Cries
4 Der Ungläubige
5 M´Attars Aufgabe
6 Bastard
Die Karte der bekannten Welt nach der Neuordnung der Welt durch den Than
Wer der Wahrheit folgt und scheitert, ist nicht der Lüge gefolgt.
58. Ausspruch Meascáns, des Bastards, aus dem dritten Buch der Schriften des Bastards aus der Einsiedelei auf dem Sliabhard, gefunden, übertragen und aufbewahrt von Terenc, Priester des Dal.
Das kalte Wasser rann dem jungen Isben über den Kopf und über seine unförmige Stirnwulst bis in sein Gesicht hinunter. Es floss über seine geschlossenen Augenlider, die beiden Atemöffnungen, die er anstelle einer Nase hatte, über die spitz gefeilten Zähne, die aus seinem Mund ragten und ihn daran hinderten, sich zu schließen. Bläuliche Adern und Warzen waren auf seiner blassen Haut zu erkennen. Ein erneuter Schwall klaren Wassers ergoss sich über Or Can Tor und er spürte deutlich, was hier geschah. Alles wurde weggespült. Da war der Schweiß, der Dreck und der Geifer, der sich an diesem Tag bereits abgesetzt hatte. Aber da waren auch der Zorn, die Wut, die Gier nach Blut und die Lust zu töten, die von dem Wasser in diesem Moment abgewaschen wurde. Der junge Isbe atmete tief durch, als ihm der alte Priester den Inhalt eines dritten Krugs mit kaltem Wasser über den Kopf goss. Verständnis breitete sich nun in ihm – wie der Schwall Wasser – über seinem Kopf aus. Verständnis und Wohlwollen und eine tiefe Dankbarkeit. Den Göttern sei Dank! Ohne die Wassermassen aus dem Krug hätte man sehen können, dass der junge Isbenkrieger zu weinen begonnen hatte, denn so sehr hatten diese Gefühle sein Herz erfasst. Den Göttern sei Dank! Dank sei ihnen!
Der alte Priester reichte ihm ein derbes Stofftuch und Or Can Tor begann sich abzutrocknen. Ciallmar war schon seit seiner frühen Jugend Priester des Dal. Er gehörte der Spezies der Grauden an und hatte gleich nach der Niederlage des Dreierbunds in einem der Klöster des Dal eine Zuflucht für seinen nach dem Krieg verwirrten Geist gefunden. Alt war er inzwischen und der Bart, den er an seinem Kinn wachsen ließ, sowie das lange Haupthaar, das er zu einem Zopf zusammengebunden hatte, waren weiß geworden. Aus seinen ziegenartigen Augen sah er ernst zu dem jungen Isben hinunter. Ciallmar spürte genau, welch ein gewaltiger Konflikt jetzt in ihm tobte, aber er wusste, dass Or Can Tor dennoch keine Wahl haben würde. Die Worte Dals hatten ihn längst erreicht und von nun an gab es für ihn kein Zurück mehr. Beruhigend hatte der Priester eine seiner vier Hände auf die Schulter des jungen Isben gelegt.
„Alles ist so, wie es sein soll und wie die Götter es gerichtet haben“, sagte Ciallmar mit leiser brüchiger Stimme. „Sei ganz ohne Furcht und höre auf das, was jetzt aus Deinem Inneren zu Dir spricht.“ „Es ist so schwer, Meister, so schwer“, flüsterte Or Can Tor. „Aber es ist wahr“, sagte Ciallmar. „In seiner ersten Inkarnation sprach Dal bereits, dass das Wasser in allen Dingen ist und alle Dinge durchdringt. Es ist im Meer, in den Flüssen, in der Luft und in uns. So wie das Wasser durchdringen auch die Götter alle Dinge und sind auch in uns. Du spürst sie in Dir und eigentlich weißt Du bereits ganz genau, was wahr und richtig ist. Du kannst sie immer fragen, sie werden Dir immer antworten und Du wirst die Antwort eigentlich bereits kennen. Was ist die Antwort auf Deine Frage, Or Can Tor?“ Der Isbe sah in das graue ziegenartige Antlitz seines Meisters. „Die Antwort ist“, fing er an und in seinen Augen zeichnete sich ungläubige Furcht ab, „die Antwort ist, dass es nicht nötig ist, zu töten und bei den anderen Wesen Furcht zu verbreiten. Ehrenvoll im Kampf zu sterben und an der Tafel der Ahnen Platz zu finden, ist nicht nötig. Besser ist es, nicht Tod und Schmerz zu verbreiten. Es wäre richtiger.“ „Was ist Dein eigener Wille?“, fragte der alte Priester. „Sieh nicht zu mir, sieh nicht zu Deiner Familie, siehe nicht nach außen, sondern siehe allein in Dich. Was ist Dein Wille?“ Der junge Isbe schloss seine Augen und begann zu zittern. „Wenn es nicht nötig ist, Tod und Schmerz zu verbreiten, warum wäre dies ehrenvoll? Es liegt in meiner Hand dies zu tun, aber die Götter fordern dies nicht“, flüsterte er. „Es ist nicht richtig, dies zu tun. Bei den Göttern, ich glaube, dass es nicht richtig ist. Ich glaube, dass ich das nicht tun möchte. Ich spüre es.“
„Was fürchtest Du so sehr?“, fragte der alte Priester. „Das, was ich gesehen habe“, antwortete Or Can Tor, „hat niemand gesehen, den ich kenne. Sie alle könnten das auch sehen und erkennen, aber sie werden nicht hinsehen, denn sie verspüren keinen Grund dafür. Sie möchten nur das sehen, was sie kennen. Ich bin alleine. Ich bin alleine und ich werde immer alleine bleiben. Wenn ich nun handele, werde ich etwas anderes tun, als sie es erwarten. Das heißt für sie, dass ich gegen sie handele.“ Ciallmar sah dem jungen Isben ruhig in die Augen und sprach: „Zu töten und zu verletzen, vor allem zu kämpfen und zu vernichten, ist ehrenvoll, weil es Mut erfordert. Wer nicht so handelt, wer sich davon abwendet, dem wird abgesprochen, diesen Mut aufzubringen. Dies wird auch dann geschehen, wenn die Gründe andere sind. Wer anders handelt, als von ihm erwartet wird, anders als alle anderen, wird Wut und Hohn und Spott ernten und damit allein sein. Wer seiner Erkenntnis dennoch folgt, der wird Stärke und Mut brauchen. Dem vorgegebenen Weg aller zu folgen oder dem eignen Weg zu folgen. Wofür braucht man mehr Mut? Was ist ehrenvoller?“ Or Can Tor schloss kurz die Augen und sah Ciallmar dann entschlossen an. „Ich sehe, was mein Weg ist“, erwiderte er. „Also muss das der Weg sein, den ich gehen werde. Etwas anderes ist nicht möglich.“
Der alte Priester half dem jungen Isben wieder auf die Beine. Als Graude überragte er trotz seines hohen Alters den jungen Mann immer noch deutlich. Dürre Arme und Beine zeichneten sich in seinem weißen Priestergewand ab. „Du bist nicht alleine“, sagte er mit seiner brüchigen ruhigen Stimme. „Dein Weg ist schwer, doch wenn Du ihn nicht gehst, wird es nicht einfacher werden. Denn Du weißt, was Du tun solltest und was nicht und Du kannst nicht mehr weiterhin kämpfen und Dich darauf vorbereiten Tod und Schmerz zu bringen. Doch Du wirst nicht allein sein, denn der Prophet Dal ist bei Dir. In seinen Schriften wirst du Antworten auf jede Fragen finden.“ „Aber ich bin ein Isbe“, sagte Or Can Tor und sah den Priester wieder mit großer Furcht an. „Wie soll ich als Isbe dem Propheten Dal folgen können?“ Der alte Priester sah ihn aus seinen ziegenartigen Augen ruhig an. „Die Antwort kennst Du bereits, denn Du trägst sie in Dir“, antwortete er. „Du bist Or Can Tor und es ist allein wichtig, wie Du Dir diese Frage beantwortest.“
Or Can Tor hatte an diesem Nachmittag noch einen Übungskampf in der Hohen Kriegerschule seiner Heimatstadt Escar. Seine Familie war einflussreich in der zweitgrößten Stadt des Isbenreichs Consere. Sein Großvater Cash Ken Dor hatte noch die Krönung des großen Königs Tar Con Thek miterlebt. Es war die Krönung der drei Könige des Thansbunds und es war der Großvater, der die Isbenkrone an den Than übergeben durfte, auf dass er den neuen Isbenkönig krönte. Or Can Tors Vater wünschte, dass sein ältester Sohn die Hohe Kriegerschule von Escar durchläuft und hatte all seinen Einfluss geltend gemacht; ansonsten wäre Or Can Tor bereits an den Aufnahmeprüfungen gescheitert. Zum Leidwesen seines Vaters war seine Kampfkraft nicht sehr ausgeprägt und dies sollte in der Kriegerschule grundlegend geändert werden. Drei Jahre hatte er dort schon verbracht und seine Erfolge waren noch nicht sehr deutlich zu erkennen. Heute würde er einen Tash Qeldesh kämpfen, einen Übungskampf, bei dem ein besonders begabter Schüler aus dem ersten Lehrjahr gegen einen weniger kraftvollen und nicht völlig unbezwingbaren Schüler aus dem dritten Lehrjahr kämpfte. Or Can Tor war der ältere Schüler.
Es war sehr ungünstig, nach dieser Handlung bei seinem Priester und zu diesem Zeitpunkt einen Tash Qeldesh kämpfen zu müssen. Als Or Can Tor den Kampfraum betrat, war er etwas zu spät und sah deutlich die missbilligenden Blicke seines Lehrmeisters. Einige der Schüler aus verschiedenen Lehrjahren waren gekommen, um den Kampf zu sehen. Zunächst verbeugte sich Or Can Tor vor seinem Lehrmeister, dann sah er seinen Gegner. Der junge Schüler mochte gut einen Kopf kleiner sein als er selbst. Er hatte offenbar versucht dies wettzumachen, indem er sein Haar, so gut es ging, in der Sherpac-Form trug, wie dies die fortgeschrittenen Jungkrieger taten. Dabei wurde das lange Haar nicht zusammengebunden, sondern mit einem weißen Kalkbrei so geformt, das es starr nach allen Seiten abstand. Es hatte ebenfalls den Vorteil, dass es nicht in das Sichtfeld gelangen konnten. Or Can Tor sah aber auch, warum man diesen Schüler ausgewählt hatte. Es war nicht allein der jetzt schon sehr starke und herangebildete Körperbau. Dieser Schüler verbrachte sicher jeden freien Augenblick mit der Übung von Kampftechniken. Es war seine Wut und seine Gier nach dem Kampf und seine unstillbare Ungeduld. Der Schüler hatte schon lange auf ihn gewartet, war wohl schon früh gekommen und nun lief jener im hinteren Teil des Raumes voller Unruhe hin und her, schwang sein Schwert und fixierte ihn mit lodernden Blicken. Or Can Tor hatte kein gutes Gefühl.
Schnell hatte der junge Schüler die Herzen der Zuschauer auf seiner Seite. Das war abzusehen, denn so ist das meist bei einem Tash Qeldesh. Der Jüngere gilt als mutiger und wenn er tapfer kämpft, lieben ihn die Zuschauer. Or Can Tor war in den hinteren Teil des Raumes zurückgewichen und sein junger Gegner kämpfte den Kampf seines bisherigen Lebens. Er selbst aber wollte nicht. Alles in ihm sträubte sich. Wieder ein Kampf, wieder musste für die Ehre alles gegeben werden. Nun hatte er diesen gut und kraftvoll kämpfenden Jungkrieger vor sich. Or Can Tor wollte nicht, er wollte das einfach nicht. Ein heftiger Schmerz durchfuhr plötzlich seine Schulter. Er war unaufmerksam, er war getroffen worden und diese Wunde ging durch bis auf den Knochen. Für einen Isben war das keine große Sache. Zumindest war ihm jetzt wieder bewusst, was hier von ihm erwartet wurde und der Schmerz stieß in ihm eine Tür auf. Er spürte die Wut über sich kommen. Groß war der Jubel der Zuschauer für diesen Erfolg seines Gegners und immer wieder wurde dessen Namen gerufen. Or Can Tor sah, dass der Boden um sie herum voller Blut war, sein Blut. Geschickt wich er aus und überraschte so seinen Gegner. Nun galt es, Erfahrung umzusetzen. Dies tat er jetzt. Sein Gegner zeigte die in dieser Situation einzig richtige Reaktion und wich zurück. Voll überlegener Kraft drang Or Can Tor nun hinterher, während seine linke Seite blutüberströmt war. Aber so einfach war dies nicht. Unter Aufbietung seines gesamten Könnens und seines Willens gelangen dem jungen Schüler noch drei hervorragende Gegenschläge. Aber dann ließ seine Kraft nach. Or Can Tor vollführte eine oft eingeübte Drehbewegung und schlug hart zu. Mit einem lauten Krachen landete das Schwert seines Gegners in einem hinteren Teil des Raumes auf dem Boden, während dieser strauchelte und zu Boden ging. Laut schrie Or Can Tor auf, holte mit seinem Schwert aus, zog es herunter und stoppte es wenige Haarbreiten vor dem Kopf seines am Boden liegenden Gegners. Der Tash Qeldesh war beendet.
Rasch eilten zwei Kiris herbei, um seine Wunde zu versorgen und den Blutfluss zum Stillstand zu bringen. Or Can Tor sah es in den Augen seines Lehrmeisters, der ihm kurz zunickte und dann den Raum verließ. Das war viel zu langsam, sein Sieg war viel zu hart erkämpft und kam viel zu spät. Auch sah er die Augen seines jungen Gegners, der inzwischen wieder auf den Beinen war. Er spuckte wütend vor Or Can Tor aus, sah ihn hasserfüllt an und verließ ebenfalls den Raum. Or Can Tor wusste, dass es von nun an dessen sehnlichster Wunsch war, ihn eines Tages im Kampf zu töten. Dies würde nun seine gesamte Ausbildung begleiten. Auch das war abzusehen, denn so dachte ein Isbe.
Wie froh er war, dass sein Vater gerade jetzt für einige Tage auf einer wichtigen Reise in die Hauptstadt aufgebrochen war. Ansonsten hätte er ihn alle Einzelheiten des Kampfes berichten müssen. Er würde nun sicher auch auf anderem Wege seine Erkundigungen einholen. So war nur seine Mutter zu Hause und natürlich die weiteren vier Frauen seines Vaters und seine fünf Brüder. Or Can Tor vermied es, sie zu treffen und zog sich gleich in seinen Raum zurück. Erst in der nächsten Woche würde sein Vater zurück sein und sich seinen nächsten Prüfungskampf ansehen. Der erste ernsthafte Kampf, den er in diesem Jahr hatte. Sein Gegner war im gleichen Lehrjahr und ein kaltblütiger Kämpfer. Er würde unbedingt noch vorab hart üben müssen, denn ihm drohten sonst schwerste Verletzungen und noch schlimmer: Sein Vater würde den Kampf sehen. Aber noch war es nicht so weit und so beendete er den Tag mit einer Dalsandacht. Der junge Isbe saß mit dem Gesicht zum Fenster auf dem Boden und hatte eine Schale mit Wasser vor sich aufgestellt. Lange sah er auf das Wasser und fühlte sich in es hinein. Or Can Tor wurde immer ruhiger und fühlte die Kühle und die Klarheit und er spürte die Verbindung zu dem übrigen Wasser überall in der Welt. Kein Wind und keine Erschütterung berührten die makellose Oberfläche des klaren Wassers in der Schüssel. Rein und vollkommen war das Wasser unter der Oberfläche. Or Can Tor hatte sich bald tief in seine Wesenheit hineinbegeben und war selbst klar und völlig ruhig in diesem Augenblick. Nur dies war wirklich in diesem Augenblick und nichts anderes wollte er mehr anerkennen.
Als er am nächsten Morgen im Dal-Kloster von Escar wieder den alten Meister Ciallmar aufsuchte, berichtete er ihm zunächst von seinem letzten Kampf und von den Gefühlen, die er währenddessen hatte. Ciallmar hörte ihm aufmerksam zu, reagierte aber nicht, denn offenbar war er der Meinung, dass dazu bereits alles gesagt worden war. Dann stellte Or Can Tor eine Frage, die ihn in letzter Zeit immer öfter beschäftigte. „Meister“, begann er, „was muss ich tun, um ein Priester des Dal zu werden?“ Der alte Meister nickte und sagte: „Ich dachte mir, dass Du diese Frage stellen würdest. Ich möchte zunächst wissen, warum Du dies in Erwägung ziehst. Man kann immer ein Anhänger des Dal sein, aber man muss deswegen nicht Priester werden.“ „Man kann nicht als Isbe leben und allein ein Anhänger des Propheten Dal sein“, antwortete Or Can Tor. „Ich kann dies nicht. Als Isbe kann man nicht ganz und gar den Weg des Dal beschreiten, man muss immer wieder davon abweichen. Ich möchte den Weg des Dal vollkommen beschreiten und ich möchte lernen, was die Götter durch ihn mitteilen. Führe ich weiter das Leben eines Isben, wird mir dies nicht gelingen.“
Der alte Meister schloss für einen Moment die Augen und erläuterte: „Ein anderer Prophet der Götter ist der Than, der ihr dunkler Herold ist. In seiner letzten Inkarnation zerstörte er die Welt, wie sie war und schuf sie dann neu. Der König der Isben, die dies überlebte, musste ihm jedoch geloben, dass die Schulung der Kinder und Jünglinge, bevor sie dem Heer überantwortet werden, durch die Priester des Dal erfolgt, nicht durch die Priester des Than. Viel haben die Führer der Isben seitdem gerätselt und hinterfragt, warum der Than dies wollte. Ich weiß nicht, zu welchem Ergebnis sie gekommen sind. Aber der Wille des Than wurde umgesetzt. König Tar Con Thek hätte dem Than niemals zuwidergehandelt und er hätte niemals sein Gelöbnis gebrochen und so haben auch seine Nachfahren gehandelt. Seit nun die Priester des Dal die Jünglinge vor dem Heer ausbilden, ist es immer wieder vorgekommen, dass junge Männer, so wie Du, ein Priester des Dal werden wollten.“ „Was ist aus ihnen geworden?“, fragte Or Can Tor. „Fast alle konnten diesen Schritt letztlich nicht gehen. Allein fünf waren es, die sich durch ihre Familien und alle Umstände nicht haben abhalten lassen. Sie sind als Anwärter in ein Kloster des Dal eingetreten.“ „Wo sind sie heute?“, fragte Or Can Tor. „Die Oberhäupter dieser Familien konnten diese Schande nicht bestehen lassen“, sagte Ciallmar. „Mit ihren Verwandten und Kriegern sind sie gekommen und haben die Klöster zerstört, die Priester und auch ihre Söhne, die übergetretenen Isben, getötet. Oft wurde der Kopf des jungen Isben auf einem Pfahl aufgespießt und auf dem Markt aufgestellt, als Zeichen dafür, dass die Ehre durch den Vater wieder hergestellt worden ist.“
Or Can Tor nickte, er verstand. Natürlich ist es genau so geschehen. Eine andere Möglichkeit bestand nicht. „Or Can Tor“, erhob der alte Meister seine Stimme. „Sehr gerne werde ich Dich immer unterweisen, denn es ist viel in Dir, was dem Dal gefallen würde. Aber ich bin auch Klosteroberhaupt all der Priester, die hinter diesen Mauern leben. Ich kann Dich hier nicht aufnehmen. Der Weg zum Priester des Dal findet nur mit der Einwilligung Deines Vaters oder an einem anderen Ort statt. Mehr kann ich hier in der Stadt Escar nicht für Dich tun.“ „Auf keinen Fall will ich Unheil über dieses Kloster bringen“, sagte Or Can Tor. „Somit bleibt mir nur, mit meinem Vater zu sprechen oder Escar für immer zu verlassen.“ „Gegen den Willen Deines Vaters müsstest Du ein Kloster aufsuchen, das weit weg ist“, sagte Ciallmar. „Er würde Dich suchen und verfolgen. Du müsstest so schnell wie möglich aufbrechen und weit fortgehen.“ Or Can Tor hatte verstanden. Letztendlich hatte er es schon gewusst.
Der Vater traf schon früher ein, denn seine Reise war schnell erfolgreich gewesen. Ran Tor Cas war es gewohnt, dass die Dinge sich schnell so entwickelten, wie er es wünschte. Wenn er nach einer Reise heimkehrte, ließ er sich zuerst von seinem Haushofmeister berichten, was in seiner Abwesenheit Wesentliches geschehen ist. Anschließend ließ er sich Tesh und Fleisch oder eines seiner Weiber bringen. An diesem Abend wollte er zunächst einen seiner Söhne sprechen. Wie immer hatte Or Can Tor ihm Probleme bereitet. Or Can Tor trat in den kleineren Ruheraum seines Vaters ein. Als er diesen Raum betrat, war er in einem dämmrigen Licht gehalten. Sein Vater hatte es sich auf einer der Liegen bequem gemacht und die Kiris hatten ihn bereits mit einem großen Krug Tesh und einer Schüssel mit halbgegarten Innereien versorgt. Der Sohn verbeugte sich beim Eintreten und wartete dann darauf, dass der Vater die Stimme an ihn richtete. Ran Tor Cas war nicht mehr jung, aber er war immer noch ein beeindruckender Krieger. Sein ergrautes Haar trug er normalerweise zu einem Zopf nach hinten gebunden, aber er hatte es sich bequem gemacht und so waren seine Augen von wirrem Haar verdeckt und der Sohn wusste nicht, wohin er sah. Ohne ihn zu beachten, nahm er zunächst einen großen Schluck Tesh. „Mein Sohn, in wenigen Tagen steht Dein Prüfungskampf bevor“, sagte er ohne weitere Begrüßung und mit gefährlich leiser Stimme. „So nehme ich an, dass Du hart an Deinen Übungen arbeitest, Tag für Tag und in jedem freien Augenblick. Das ist doch so?“ „Ich habe viel geübt“, bestätigte Or Can Tor. „Aber ich weiß, dass ich mich noch zu steigern habe.“ „Du hast Dich noch zu steigern,“ wiederholte Ran Tor Cas. „Also hast Du bisher noch nicht alles gegeben? Hast Du Dich also stattdessen mit Weibern herumgetrieben oder mit Freunden beim Tesh gesessen?“ „Vater, Ihr wisst, dass ich mich für die Lehre des Dal interessiere“, antwortete Or Can Tor zögernd, „auch hier habe ich Übungen durchzuführen und Unterweisungen zu erhalten.“
„Die Lehre des Dal“, sagte Ran Tor Cas. „Ah, ja, die Lehre des Propheten, der direkt bis zu den Göttern sehen kann. Der in bisher vier Inkarnationen die Welt betrat und weiß, wie die ewigen Gezeiten die Welt durchdringen, die tote und die lebendige Welt. Ist es das, was Du meinst?“ „Ja, das ist es“, sagte Or Can Tor, „das und noch viel mehr.“ „Dies“, begann Ran Tor Cas und sah seinen Sohn mit lodernden Augen an, „dies ist mit Sicherheit das Gegenteil von einer Vorbereitung auf einen Prüfungskampf. Wenn Dir der Gegner die Kehle durchschneiden will, wenn er Deine Eingeweide aus Deinem Leib schneiden will, wenn er Dein Blut schmecken will, was rät Dir der Prophet für diesen Augenblick? Wird er Dir mit einem Schluck Wasser beistehen?“ Ran Tor Cas war inzwischen aufgestanden. Er trug immer noch sein Kettenhemd, sodass dies mit dem dafür üblichen Rasseln geschah. Dann nahm er einen weiteren kräftigen Schluck Tesh aus dem Krug. „Lang ist die Liste der fähigsten Krieger aus unserer Familie. Stets wurden ihre Namen mit großer Furcht und großer Ehrerbietung genannt. Ruhmreich sind die Taten, die unsere Ahnen im Jenseits an der Tafel erzählen können. Was aber macht mein Sohn? Lässt sich von einem Anfänger, einem Kind in einem schlichten Übungskampf vorführen, wie ich hörte. Einem Weiberpropheten folgst Du, einem Propheten für Gärtner- und Unterflächenvölker. Das ist eines Isben nicht würdig!“
„Vater, der Than selbst war es, der seinerzeit von König Tar Con Thek forderte, dass Kinder und Jünglinge von den Priestern des Dal geschult werden sollen“, antwortete Or Can Tor leise. „Der Than selbst hat verstanden, dass die Lehre des Dal auch für Isben taugt.“ „Die Kinder sollten zu den Priestern“, rief nun Ran Tor Cas und war plötzlich außer sich vor Zorn. „Ob die Kinder und die ganz Jungen bei den Weibern oder den Priestern sitzen, ist doch einerlei. Aber wir sind Isben und unsere Bestimmung vor den Göttern ist der Kampf! Soll ich einst vor meine Ahnen treten und berichten, mein Sohn kämpft nicht, er gewinnt keine Kämpfe, sondern sitzt bei den Priestern und betrachtet Wasserschüsseln. Wenn er mir einst zu den Ahnen nachfolgt, wird er keinen ehrenhaften Platz an der Tafel finden. Er wird auch keinen Platz bei den Geringeren finden, bei den Schwachen oder den Furchtsamen. Er wird überhaupt nicht an der Tafel sitzen, er wird im Jenseits bei dem Vieh sitzen und aus dem Trog fressen.“ Mit voller Wucht schleuderte er nun den leeren Krug in die Richtung seines Sohnes, den er knapp verfehlte. Mit lautem Klirren zerbarst der Krug an der Wand. „Da werde ich mich gleich dazusetzen können, wenn ich dies nicht verhindere! Wage es nicht, bei dem Prüfungskampf zu versagen, Sohn. Wage es nicht. Ich erwarte, dass Du Dich bis zum Äußersten vorbereitest. Nichts anderes wirst Du tun. Gleich jetzt wirst Du damit beginnen und wehe Dir, wenn ich unter den Zuschauern sitze und einen Weiberpriester kämpfen sehe!“
Als Or Can Tor den Raum verließ, war sein Kopf leer und seine Beine fühlten sich an, als würden sie ihn nicht tragen können. Was hatte er erwartet? Das war der Verlauf, der voraussehbar war, der sich genauso fortsetzen und steigern würde, wenn er nicht von seinem Weg abwich. Natürlich war es nicht seine Absicht, gegen seinen Vater, gegen seine Familie zu handeln. Er wollte keinen Schaden zufügen. Aber dies hier, war ein Handeln gegen seine Person, gegen ihn ganz allein und er hatte hier kein Verständnis und keine Hilfe zu erwarten, von niemanden. Langsam lief er den Gang in Richtung des Übungsraumes entlang, denn ja, er würde jetzt noch Übungen für den Prüfungskampf durchführen. Er würde diesen Kampf schließlich nicht verhindern können. Also sollte er ihn zumindest überleben.
Immer noch dachte er an die Worte seines Vaters. Im Übungsraum angekommen, nahm Or Can Tor eine Kampfstange und vollführte erste Übungen über seinem Kopf. Dabei drehte er sich und vollführte mehrere Schrittfolgen. Vertrauen, als Kind hatte er seinem mächtigen Vater vertraut, der ihn beschützte und ihm den richtigen Weg wies. Vertrauen bedeutet, die Verantwortung für das eigene Tun in die Hände eines anderen zu legen. Es bedeutet, anderen zuzubilligen, zu wissen, was gut und richtig für einen ist. Es bedeutet, darauf zu hoffen, dass andere einem in der Not zur Seite stehen. Ein großer Irrtum, denn all dies ist so unwahrscheinlich, dass man nicht damit rechnen sollte. Zeigte sich das nicht gerade wieder? Sein Vater meinte es sogar gut mit ihm. Das wusste er. Aber das ist kein Grund für Vertrauen. Sirrend zerteilte die Kampfstange die Luft. Er war allein. Ganz gleich, wo er sich aufhalten würde, er war allein und nur auf sich selbst sollte er von nun anhören. Or Can Tor vollführte die Übungen mit der Kampfstange bis in die Nacht hinein. Er wollte nicht mehr denken, er wollte die große Unruhe nicht mehr spüren und den Schmerz. Erst als es ihm immer schwerer fiel, die Stange zu schwingen, legte er sie einfach auf den Boden und verließ den Übungsraum. Aber er ging immer noch nicht auf sein Nachtlager. Unmittelbar vor der Stadt gab es einen kleinen See, den er aus seinen Kindertagen kannte. Oft war er an heißen Tagen zum Baden hier draußen, auch mit seinem Vater. Der Mond spiegelte sich auf der dunklen und ruhigen Oberfläche und Or Can Tor setze sich in dieser Nacht an das Ufer des Sees und sah hinaus, dorthin, wo die Oberfläche des Sees mit der Dunkelheit zusammenfloss. Die Sterne waren auf der Oberfläche zu sehen und Or Can Tor fühlte sich in die kühlen Wasser des Sees und er war jetzt nicht allein. Er war in der Welt und außerhalb der Welt bei den Göttern. Er war in den Blättern der dunklen Bäume ringsum, in der Tiefe des Meeres, in den Tropfen des Taus, der am kommenden Morgen auf den Gräsern liegen wird. Er war in der Seele seines Gegners, der ihm beim Prüfungskampf gegenüberstehen würde. Sein Gegner würde ihm mit äußerster Entschlossenheit entgegentreten und ihn, wenn es nötig wäre, töten. Or Can Tor verstand dies gut und er hegte keinen Groll gegen ihn. Jetzt und in diesem Moment fiel die Unruhe von ihm ab und Or Can Tor fühlte den Propheten Dal in sich und er war frei.
An den Prüfungskampf hatte er später keine vollständigen Erinnerungen mehr. Viele waren gekommen, sein Vater und drei seiner Brüder waren da. Er sah seinen Lehrmeister, viele weitere Schüler, die er kannte, und viele Zuschauer, die ohnehin immer kamen, um die Prüfungskämpfe der älteren Schüler zu sehen. Er sah aber auch seinen Gegner und natürlich kannte er diesen Schüler schon lange. Er sah seine Augen, die voll von Entschlossenheit, Hass und Gier waren und er wusste in diesem Moment, dass es für ihn keine Möglichkeit geben würde, den Kampf zu gewinnen. Zu Beginn musste er das Schwert seines Gegners noch gut abgewehrt haben. Er vollführte mehrere Drehbewegungen und schütze sich mit kraftvollen Schlägen. Aber zu keinem Zeitpunkt gelang es ihm selbst anzugreifen und das Geschehen zu übernehmen. Er reagierte auf seinen Gegner, versuchte ihm keine Gelegenheiten zu bieten, aber dieser war wachsam wie ein zutiefst hungriges Raubtier. Aus dem Publikum hörte er das vielstimmige Johlen seiner Anhänger. Dann gelang ihm ein gut gesetzter Treffer. Tief drang seine Klinge in die linke Schulter seines Gegners, aber dann wurde im gewahr, dass er in diesem Moment ohne jede Deckung war. Schmerz ist nichts, womit sich ein Isbe aufhalten würde, eine Verletzung, die bei anderen Spezies schwer zu überstehen war, konnte bei Isben schnell verheilen. Eine Verletzung konnte beim Kampf in Kauf genommen werden. Rasch hatte der Gegner sein Schwert hochgezogen und während sich Blut und Geifer mischten, schlug und hackte er nun immer wieder zu. Or Can Tor hatte später erfahren, dass sein Lehrmeister den Kampf schließlich abgebrochen hatte. Er war aussichtslos verloren gewesen und ein Prüfungskampf unter Schülern musste nicht mit dem Tod enden. Dies war späteren Kämpfen vorbehalten. Nur ein Isbe hatte dies überleben können und Or Can Tor war noch jung und stark. Zwei Finger seiner linken Hand würden ihm nun auf Dauer fehlen, eine kreuzartige Narbe würde auf seiner Stirn zurückbleiben, aber sowohl sein linker Arm als auch sein linkes Auge würden sich vollständig regenerieren. Die große Wunde in seiner rechten Seite war tief und auch wenn sie wieder verheilt war, würde er dort wohl immer wieder Schmerzen verspüren. Aber er war am Leben und bis zu seiner Genesung würde er nicht mehr kämpfen müssen.
Sein Vater, so hatte er später erfahren, war nach dem Kampf sofort gegangen und hatte sich auch nicht mehr dafür interessiert, wie ernst seine Verletzungen waren. Seine Brüder hatten ihn zurückgebracht, nachdem er versorgt war und wieder leidlich gehen konnte. Er verbrachte viele Tage auf seinem Nachtlager; allein seine Mutter sah regelmäßig nach ihm. Die Kiris versorgten ihn mit Nahrung und Wasser und kümmerten sich um seine Wunden. Von nun an, das war ihm bewusst, würde nichts mehr so sein wie zuvor. Sein Rang in der Familie war beträchtlich gesunken und sowohl von seinem Vater als auch von seinen Brüdern hatte er bestenfalls Hohn und Spott zu erwarten. Sobald es ihm möglich war, begann er wieder mit seinen Kampfübungen, aber auch seine Andachten und geistigen Übungen im Sinne des Dal nahm er wieder auf. Sie brachten ihn wieder zurück und halfen ihm, dass er sich nicht verlor. Als genug Zeit vergangen war, seine Ausbildung als Kämpfer bei seinem Lehrmeister wieder aufzunehmen, stand eine große Feier seines Vaters bevor. Es jährte sich der Trasc-Kampf seines Vaters, die Endprüfung seiner Ausbildung als Krieger. Sein Vater hatte seinen Gegner damals in sehr kurzer Zeit getötet und war es somit wert, als vollwertiger Krieger dem König die Treue zu schwören. Dieser Festtag, war für einen Isben höher als jeder andere im Jahr. Zu Or Can Tors Überraschung sollte er bei der Feier anwesend sein.
Tagelang wurde diese Feier vorbereitet. Ein großer Teil der Verwandten war gekommen, aber auch Freunde und ehrwürdige und bedeutende Männer der Stadt, denn Ran Tor Cas war eine geachtete Person. Es gab Tesh in Mengen und alle Arten von Braten, sogar am Spieß gebratenes Kazcak, eine erlesene und kostbare Speise, die es nur in guten Häusern gab. Man hatte dafür nach alter traditioneller Art den Leib eines größeren Tieres genommen, es gehäutet, aber nicht ausgenommen und für einige Zeit in der Erde vergraben. Wenn die Zersetzung des Fleisches fortgeschritten war und sich Maden und Würmer in dem Leib eingefunden hatten, wurde es wieder ausgegraben und mit einem besonderen Sud bestrichen. Dieser bestand aus Blut, scharfem und saurem Gewürz und Kräutern. Dann wurde das Fleisch an einem Spieß gegrillt, bis es außen fast schwarz war. Das war eine Speise für Könige.
Or Can Tor wusste, dass sich sein Vater besonders über den Besuch seines Bruders und seines besten Freundes, eines erfahrenen Feldherren, freute. Es gab auf der Feier kleinere Schaukämpfe, Feuerspeier und Gaukler und natürlich Musikanten, die bekannte Heldenlieder sangen, die von den Gästen lauthals mitgegrölt wurden. Natürlich würden auch die sechs Söhne des Gastgebers den Onkel und den Freund begrüßen. Dabei wurde über die letzten Fortschritte und über Zukunftspläne berichtet. Or Can Tors Brüder waren erfolgreich und berichteten darüber. Sein ältester Bruder hatte gerade seinen ersten Gegner erschlagen. Dann war Or Can Tor an der Reihe. „Ach, ich sagte es ja schon“, sprach der Vater. „Wo Licht ist, da ist auch Schatten. Dieser jüngere Sohn ist das genaue Gegenteil und wenn ich nicht wachsam bin, dann wird er noch die Ehre der gesamten Familie besudeln. Aber ich werde wachsam sein. Das kann ich Euch versprechen.“ „Was ist denn so verkehrt mit dem Jungen?“, wollte der Onkel wissen. „Er sieht doch ganz passabel aus und hat auch schon ein paar Narben vom Kampf.“ „Was ihm fehlt“, sagte Ran Tor Cas, „ist der Wille zu siegen, die Lust daran den Gegner zu bezwingen, der Durst nach Blut und Kampf. Aber das ist noch nicht alles. Dies hat nämlich einen Grund. Der junge Mann, den Ihr dort seht, möchte nach den Lehren des Propheten Dal leben. Ihr wisst, was das heißt?“ „Was?“, rief der beleibte Feldherr und spuckte dabei ein Stück Kazcak auf die Kissen. „Der Weiberprophet für die Kinder? Der sich eher töten lässt, als zu kämpfen und dessen Priester in leere Schüsseln starren? Oder Wasser ist wohl drin.“ Er brach brüllend in ein lautes Gelächter aus und nahm einen Schluck Tesh. „Und die Weiber?“, wollte der Onkel wissen. „Wie steht es denn mit den Weibern?“ „Nichts ist mit den Weibern“, sagte der Vater. „Ihr wisst doch, dass die Weiber zu dem gehen, der seine Gegner reihenweise umschlägt und später Beute bekommt, Gold und Schätze. Weiber gehen doch wohl nicht zu einem leisen Jungen, der still in Wasserbecher schaut, um die Welt zu ergründen. Das sagen sie zwar nicht, aber so sind sie doch alle! Oder etwa nicht?“ „Vielleicht will der Knabe ja auch gar nicht die Weiber“, brüllte der Feldherr und sprühte beim Lachen einen feinen Speichelregen über seine Nachbarn. Er hatte einen verformten und sehr großen Unterkiefer und einige seiner bläulich oder braun verfärbten Zähne waren nicht mehr vorhanden.“ Wir hatten in alten Zeiten einen König, den verlangte es nach etwas anderem. Man hat gesehen, wie das endete.“
Inzwischen waren auch anderen Gäste auf das Gespräch aufmerksam geworden und viele Augenpaare sahen Or Can Tor an. Sie blickten abschätzig und spöttisch. Einige der Blicke waren ernst oder drohend. „Und?“, fragte sein Vater. „Was ist, Sohn? Mich würde nichts mehr in Erstaunen versetzen. Sind es die Knaben, die Du bevorzugen würdest?“ „Nein“, sagte Or Can Tor mit sehr leiser Stimme. „Die Knaben bevorzuge ich nicht.“ „Habt Ihr das gehört?“, rief Ran Tor Cas und äffte dann seinen Sohn mit hoher zittriger Stimme nach: „Die Knaben bevorzuge ich nicht. Nicht: Weiber will ich! Oder: Natürlich nur Weiber und nicht zu knapp! Sondern: Die Knaben bevorzuge ich nicht.“ Mit einem Schwung nahm Ran Tor Cas einen Krug Tesh und übergoss seinen Sohn damit. „Da, damit bist Du geweiht für den Dal. Kannst bis zu den Göttern sehen.“ Grölendes Lachen brach rings um sie los und Ran Tor Cas hatte seinen Sohn zu sich herangezogen. „Melde Dich bei den Kiris“, sagte er als der Lärm wieder abgeebbt war. „Heute Abend wirst Du mit ihnen die Gäste bedienen. Denn mehr bist Du nicht wert. Haben wir uns verstanden?“ Dann stieß er Or Can Tor von sich, denn er hatte sichtlich genug von ihm.
Or Can Tor verließ den Saal, aber er ging sicher nicht zu den Kiris. Es war nicht einfach, bis zu dem Ausgang zu gelangen, denn die Feier war in vollem Gange. Er versuchte all die Blicke und Rufe nicht zu beachten, aber das war nicht immer möglich. Einige Gäste stellten sich ihm in den Weg oder versuchten ihn festzuhalten. Es wurde mehr Tesh auf ihn geschüttet und ein Teller flog dicht an ihm vorbei. Seltsam ruhig war er. All dies berührte ihn wenig. Es war völlig vorhersehbar gewesen, aber es war so eine Leere in seinem Kopf, aber auch in seinem Herzen. Dennoch wusste er, was er nun zu tun hatte. Er brauchte nicht darüber nachzudenken. Es war ganz eindeutig die Folge von all dem. Es war so, wie Meister Ciallmar von den Dal-Priestern es gesagt hatte. Er musste fort aus Escar, weit fort von alldem und zwar sofort. Er hatte viel zu lange gezögert. Nur noch schnell in seine Räume wollte er jetzt, einige wenige Dinge zusammensuchen und dann noch Wasser und Proviant einpacken. Dann würde es losgehen – jetzt und noch heute Nacht. Er hatte einen abgelegenen Ausgang des Saals genommen. Es war der Ausgang, den er rasch erreichen konnte und der nicht von zu vielen Gästen versperrt war. Nun musste er noch den Außengang entlang, einmal um den Saal herum, um zur großen Treppe zu gelangen. Aber dies würde ihm nicht mehr gelingen.
Sein Vater hatte einen anderen Ausgang genommen und dort am Ende des Ganges stand er und sah mit ernstem Blick zu ihm hinüber. Sein Freund, der Feldherr, war bei ihm und drei, vier andere Gäste, die er nicht kannte. Der Onkel war nicht gekommen. Ran Tor Cas trug an seinem Ehrentag seine volle Kriegerkleidung mit Brustpanzer und dem gezackten Säbel, dem, der Knochen spalten konnte. Sein mit grauen Strähnen durchsetztes Haar hatte er zu einem Zopf zusammengebunden. Or Can Tor wusste augenblicklich, dass sein Vater geahnt hatte, dass er nicht zu den Kiris gehen würde und er sah, dass seine Augen, nun da er recht behalten hatte, loderten, während er zu ihm sah. „Ist es also das, was man von dem Dal lernt?“, fragte er mit leiser Stimme, „seinem Vater den Gehorsam zu verweigern?“ „Niemals war es meine Absicht respektlos und ungehorsam zu sein, Vater“, antwortete Or Can Tor. „Ich bin sehr unglücklich, dass wir in diese Lage gekommen sind. Aber ich werde dieses Haus nun verlassen, Vater. Ich bin ein Anhänger des Dal und werde das immer bleiben. Ich werde kein Krieger der Isben. Ich gehe, um ein Priester des Dal zu werden. Nichts wird mich davon abhalten können.“ „Wenn dies Dein Vorhaben ist“, sagte sein Vater mit gefährlich ruhiger Stimme, „dann werde ich das zu verhindern wissen. Kein Sohn aus unserem Hause wird ein Priester des Dal. Ich sagte, dass Du zu den Kiris gehst für diesen Abend und so hat das zu geschehen.“ „Verzeih mir, Vater“, sagte Or Can Tor und verbeugte sich. Dann setze er seinen Weg fort und sah, wie sein Vater seinen Säbel zog. Ran Tor Cas würde es nicht zulassen, dass sein Sohn das Haus verließ, um ein Priester des Dal zu werden. Er würde dies jetzt verhindern.
Als Ran Tor Cas zuschlug, konnte Or Can Tor im letzten Moment zur Seite springen. Er wich sofort einige Schritte zurück und war außer Reichweite. Alles, was hier geschah, jede Einzelheit, prägte sich tief ein in sein Gedächtnis und Zeit seines Lebens, würde er diese Bilder nicht vergessen können. Auch in seinen Träumen würden sie ihn heimsuchen. Sein Vater hätte ihn getroffen und mit einem einzigen Schlag ausgelöscht wie die Flamme einer Kerze, wenn sein Vater nicht bereits zu viel Tesh getrunken hätte. Er schwankte fast unmerklich, aber er wusste immer noch, mit einem Säbel umzugehen. Rasende Wut sah Or Can Tor in den Augen seines Vaters, der sofort zu einem zweiten mächtigen Schlag ausholte. Or Can Tor hatte keinen Säbel bei sich, auch sein Schwert hatte er nicht mit zur Feier genommen. Was er aber immer an seinem Gürtel trug, war ein gut geschärftes Messer, denn das konnte ihm bei vielen Aufgaben nützlich sein. Sein Vater würde nicht mehr ablassen. In diesem Haus gab es keinen sicheren Rückzugsort mehr für ihn. Niemand würde seinen Vater nun noch aufhalten, denn die Gesichter der Männer hinter ihm zeigten Zustimmung und eine gierige Freude am Kampf. Or Can Tor hatte kein Tesh getrunken. Er war zwar kein vollendeter Kämpfer, aber er war jung und flink und er war an allen Waffen ausgebildet worden. Rasch zog er sein Messer und in derselben fließenden Bewegung warf er es kraftvoll und aus kurzer Entfernung.
Für einen Moment wusste sein Vater nicht, was geschehen war. Mehr als die Hälfte der Klinge war in seinem rechten Oberschenkel verschwunden und auf dem Boden um ihn herum breitete sich immer mehr Blut aus. Den Schmerz mochte er in diesem Moment nicht spüren, aber Or Can Tor hatte mit seinem Wurf wichtige Sehnen durchtrennt und das Bein verweigerte völlig unerwartet seine Funktion. Mit laut schepperndem Brustpanzer ging Ran Tor Cas zu Boden und verlor dabei einen Säbel. Or Can Tor wusste, was nun geschehen würde. Noch mit Unglauben im Gesicht zückten die übrigen Männer Säbel und Schwerter, sofort bereit, den Gastgeber zu verteidigen. Or Can Tor sah sich um – das große Fenster neben ihm. Es war nicht mehr sehr hell, aber man konnte direkt zu der großen Wiese sehen, die zu den Ställen führte. Er sprang mit aller Kraft, die Füße voraus, und die Scheibe vor ihm zersprang in unzählige Scherben. Drangen die Splitter in ihn ein, schnitt er sich an dem scharfen Glas? Er spürte nichts in diesem Moment, während er das Fenster hinter sich ließ und vom ersten Stockwerk zu Boden fiel. Auch den Aufprall und das Abrollen auf dem harten Kiesboden des Weges spürte er nicht, denn dies war für einen Isben in solchen Momenten ohne Belang. Aufstehen konnte er noch; keine Verletzung würde ihn also jetzt noch aufhalten können. Er spürte die Blicke aus dem Fenster über ihm, während er in der Dunkelheit der Wiese verschwand. Die alten Herren dort oben würden nicht zu ihm herunterspringen.
Aber andere würden sehr bald die Verfolgung aufnehmen. Seine Brüder werden voller Zorn sein, denn sie sahen, was mit ihrem Vater geschehen war. Unbedingte Eile war geboten. Er musste fort, so schnell wie möglich. Mit einem Mal war überdeutlich, was nun geschehen musste. Er musste jetzt darüber nicht mehr nachdenken und er konnte dies auch nicht. Während er in der Dunkelheit so schnell wie möglich zu den Ställen rannte, sah er immer wieder die Augen seines Vaters vor sich. Dies hier war der Ort seiner Kindheit, hier war sein Zuhause. Das hatte sich soeben unumkehrbar verändert. Er war alleine. Letztendlich war er das schon immer. In dem zweiten Stall trat er vor sein Tschakaki. Accai hatte ihn bereits gerochen und Or Can Tor sah seine gelben Augen leuchten, die voller Erwartung auf ihn gerichtet waren. Fleischfresserpferde nannte man die Tschakakis auch, denn dies war eines der Merkmale, die sie von ihren friedlichen pflanzenfressenden Verwandten unterschied. Tschakakis waren in der Regel größer und von sehr muskulösem Körperbau. Sie waren aggressive Jäger, Bestien, die, wenn sie Blut rochen, kaum zu bändigen waren. Eigentlich war es kaum möglich, Tschakakis in Ställen zu halten oder sie gar zu reiten. Isben vermochten dies. Sie gehörten zu den wenigen Völkern, die sie halten konnten. Sie waren die einzige Spezies, die sie auch reiten konnte. Ein Isbe konnte mit seiner Kraft und Präsenz einem Tschakaki seine unbedingte Überlegenheit zeigen und dies allein war es, was sie gelten ließen. Or Can Tors Vater hatte seit seiner frühsten Kindheit darauf bestanden, dass er Kontakt zu Tschakakis hatte und lernte sie zu beherrschen. Er nannte dies eine Willensschule. Accai hatte er als Jungpferd bekommen und es gleich geritten. Or Can Tor war Accais Herr und niemanden anderes erkannte das Tier an. Rasch strich er ihm über die Nüstern und legte ihm das Zaumzeug an. Einen Sattel fand er nicht und es war auch keine Zeit. Lautes Rufen hörte er in der Ferne. Hastig sprang er auf und ritt hinaus ins Freie. Das Tier spürte, dass hier eine Gefahr drohte. Voller Anspannung war sein Körper und es hatte die Ohren angelegt. Or Can Tor ritt sein Tschakaki durch die Dunkelheit. Er ritt es frei und ohne Sattel und er war auf dem Weg seine Entscheidung umzusetzen, diese nicht seinem alten Leben zu opfern. Bald hatte er die Stadtmauern hinter sich gelassen. Die Stadtwächter kannte ihn und er benötigte keinen Halt, um das Stadttor von Escar zu passieren. Es gab keine Rückkehr mehr in sein altes Leben. Er war allein und er war frei.
Die erste Zeit dachte er nicht. Die Dämmerung war inzwischen der Dunkelheit der Nacht gewichen und ein großer runder Mond leuchtet über ihm. Er war aufgebrochen, ohne Proviant und ohne Wasser. Nichts hatte er bei sich, nicht einmal eine standesgemäße Waffe. Allein ein Messer hing noch an seinem Gürtel, das andere steckte eben noch im Bein seines Vaters. Or Can Tor ritt auf dem alten Handelsweg, weg von Escar und geradewegs in Richtung des freien Nomadenlandes, das in früheren Zeiten Teil des gewaltigen Reichs der Grauden war. Aber das war, bevor der Than die Welt neu geordnet hatte. Dies war jetzt der Teil der bekannten Welt, den der Than den Völkern zugedacht hatte, die kein festes Territorium für sich beanspruchten. Diejenigen dieser Völker, die sich nicht selbst schützen konnten, hatten die Isben zu schützen. Dies war eine dem Propheten Than zugeordnete Aufgabe und sie zu erfüllen, war eine hohe Ehre. Dort draußen in dem weiten Nomandenland hatten sich vereinzelt Siedler niedergelassen und all die, die ohne Herrscher leben wollte. Es gab auch Klöster, auch Klöster des Dal. Meister Ciallmar hatte ihm verraten, wo er eines davon finden konnte. Dort würde man ihn nicht aufspüren können. Das war völlig ausgeschlossen.
Auch zu dieser späten Stunde war Or Can Tor auf dem alten Handelsweg nicht alleine. Drei Krieger kehrten zurück nach Escar. Er sah sie schon aus der Ferne. Als sich ihre Wege kreuzten, grüßte er sie und sprach: „Ich bin Or Can Tor, Sohn von Ran Tor Cas aus Escar. Wenn Ihr in Escar angekommen seid und meinem Vater aufsuchen würdet, um von unserer Begegnung zu berichten, wird Euch, da bin ich sicher, ein guter Lohn gewiss sein. Sagt ihm, er soll nicht Meister Ciallmar aus dem Kloster des Dal aufsuchen, um nach mir zu suchen. Er soll den Priestern des Dal nichts antun, sondern bedenken, dass der Than ihren Schutz fordert. Sagt ihm, dass sein missratener Sohn in die Nomadenlande geht und dann weit darüber hinaus.“ „Und wenn er nach Eurer Rückkehr fragt?“, wollte einer der Krieger wissen. „Sagt ihm“, antwortete Or Can Tor, „dass seine fünf wohlgeratenen Söhne ihm genügen mögen.“
Nachdem er der alten Handelsstraße noch einige Zeit gefolgt war, ritt Or Can Tor querfeldein, denn mögliche Verfolger würden ihn auf der Straße zu schnell finden können. Er kannte die Richtung, der er zu folgen hatte und das Tschakaki brauchte keine Straße. Gegen Morgen erreichte er einen flachen Bach und dort konnte er Accai endlich trinken lassen. Er selbst stieg in den Bach, erfrischte sich und fing drei fette Fische, von denen er zwei dem Tschakaki überließ. Es lohnte sich nicht, ein Feuer zu machen. Der Rauch würde ihn nur verraten und sein frischer Fisch schmeckte ihm roh hervorragend.
Erst als er mehrere Tage unterwegs war, wurde Or Can Tor ruhiger, denn er hatte keinen geraden Weg gewählt, sondern mehrere Umwege genommen. Schon als Junge hatte er gelernt, wie man Fährten liest, wie Tiere sie aufspüren können und wie man die Verfolgung verhindern konnte. Es würde schwer sein, ihm zu folgen. Er wurde ruhiger, denn er wusste, dass ihm nun keine unmittelbare Gefahr mehr drohen würde. Or Can Tor hätte nicht sagen können, wo genau das Isbenreich Consere endete und er das freie Nomadenland betrat. Er war mehr als einen Mond unterwegs, als er sicher war, dass er nunmehr im freien Nomadenland angekommen war. Es war ein weites Steppen- und Pferdeland und Städte oder Dörfer waren dort nicht zu finden. Ebenso war es ihm nicht möglich, andere Wanderer oder Nomaden zu fragen, denn alle, die ihm auf seinem Weg begegneten, mieden ihn voller Furcht. Er war ein Isbenkrieger, der imstande war, ein schreckliches Tschakaki zu reiten. Immer wieder sah er erst ungläubiges Staunen und dann blankes Entsetzen. Wer konnte ahnen, dass er ein Anhänger des Propheten Dal war? Niemand würde ihm nahekommen wollen.
Selbst wenn er eine Vorstellung davon hatte, wo er nach dem Kloster suchen sollte, war es kaum möglich, es alleine und ohne weitere Hinweise zu finden. Das Nomadenland war groß und wenig bewohnt. Da alle, denen er begegnete, vor ihm und dem Tschakaki flohen, konnte Or Can Tor nicht nach dem Weg fragen und so sah er schließlich einen weiteren runden Mond am Himmel aufgehen und hatte sein Ziel immer noch nicht gefunden. Seine Suche hätte er noch lange fortsetzen müssen, wenn er nicht den alten Steppennorn gefunden hätte. Steppennorne lebten meist nicht alleine, sondern in Sippen. Sie hatten eine glatte Haut und nur am Hinterkopf Haare. Der längliche Kopf endete in einer gewölbten Schnauze. Diese hatte zwei Atemlöcher und auf dem Nasenrücken waren zwei genau hintereinander liegende, kleine Hörner vorhanden. Anstelle von Augenbrauen hatte es vier nebeneinander liegende, warzenförmige Gebilde und darunter zwei kleine Augen. Dieser Steppennorn war schon sehr alt und es war bekannt, dass alte Steppennorne ihre Sippe mitunter verließen, um ihnen nicht mehr zur Last zu fallen und alleine in der Steppe zu sterben. So war es auch bei diesem Steppennorn, dem Or Can Tor begegnete und der ihm seinen Namen nicht verraten wollte. Jetzt, da er bald vor die Götter treten würde, habe er seinen Namen bereits abgelegt, erklärte er. Er brauchte seinen alten Namen ab jetzt nicht mehr. Sehr dünn und gebrechlich war er, aber er hatte seine spitzen Ohren zu ihm gerichtet, als er an seinem Zelt eintraf. Dieser alte Steppennorn fürchtete weder ihn noch sein Tschakaki, denn ihn trennte kein Tag mehr von seinem Tod, wie er erklärte. Inzwischen würde er sich allein von seinem Platz nicht mehr erheben können. Er würde hier vor seinem Zelt sitzen und schauen, was die Welt ihm an seinem letzten Tag noch zeigen würde.
Ein Isbe mit einer kreuzförmigen Narbe kam an seinem letzten Tag auf einem schrecklichen Tschakaki zu ihm geritten. Er stieg ab, sprach mit ihm und berichtet ihm über sein bisheriges Leben und dass er ein Priester des Dal werden wollte. Dafür wollte sein Vater ihn töten. Als er über sich berichtete, weinte der Isbenkrieger und ließ sich von ihm trösten. Der alte Steppennorn erklärte ihm genau den Weg ins das Kloster des Dal, denn es war nicht mehr weit. Dann strich er ihm lächelnd über sein unbehaartes mit Warzen, Adern und Verformungen geprägtes Gesicht und starb. Or Can Tor begrub ihn mit einem Ritus des Dal und schenkte ihm sein letztes Trinkwasser. Anschließend machte er sich auf, um den Rest des Weges zum Kloster zurückzulegen.
Er hatte von Meister Ciallmar gehört, dass es sich um eines der größten Klöster des Dal handelte. Es war ein verlassenes Lager der Grauden, das während des großen Krieges als Station auf dem Weg nach Süden genutzt wurde. Hier lebten jetzt Priester aus vielen Völkern. Oft fanden dort auch Wanderer, die das Nomadenland durchquerten, eine Herberge. Meister Ciallmar nannte es Sectadon, was in alter graudischer Sprache sieben Brunnen heißt, aber die meisten Spezies nannten es schlicht das große Kloster oder das große Kloster des Dal. Es war früher Nachmittag, als Or Can Tor in der Ferne die ersten Gebäude des Klosters erkennen konnte. Er sah schlichtes Mauerwerk, wie es in der Tat von den Grauden in dieser Zeit errichtet wurde. Ein Lager der graudischen Krieger benötigte keine Gebäude, denn es bestand aus Zelten und war häufig nicht von Dauer. Allein wichtige Lager, bei denen sich viele Routen kreuzten, hatten Gebäude, denn dort ließen sich leichter Proviant kühl lagern oder Gefangene sicher unterbringen. Eine Mauer gab es nicht, denn ein Graudenlager vergrößerte oder verminderte die für Zelte benötigte Fläche immer wieder. Auch um das Dal-Kloster hatte man keine Mauer errichtet. Or Can Tor sah grüne Felder, auf denen Korn und andere Feldfrüchte wuchsen und er sah Priester, die die Äcker bearbeiteten und bei seinem Anblick voller Furcht davonliefen.