Crossroads - Jürgen Albers - E-Book

Crossroads E-Book

Jürgen Albers

0,0
4,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sommer 1940: Für den erfahrenen Londoner Chief Inspector Norcott scheinen die beschaulichen Kanalinseln keine Herausforderung bereit zu halten. Aber kurz bevor die deutsche Wehrmacht an der französischen Küste auftaucht, verliert eine schöne junge Frau ihr Leben. Auf einer kleinen Insel, abgeschnitten und besetzt vom Feind, muss Norcott erkennen, dass er es mit mehr als einem Gegner zu tun hat. Die Welt scheint voller Masken und auch im hellen Sommersonnenschein bleibt die entscheidende Frage: Hinter welcher Maske steckt ein Freund, hinter welcher der Gegner?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Kapitel 71
Kapitel 72
Kapitel 73
Kapitel 74
Nachwort und Erläuterungen
Glossar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar

Copyright © 2017 Dr. Jürgen Albers

Parkstr. 85

58675 Hemer

Deutschland

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

E-Book-Erstellung: Corinna Rindlisbacher // www.ebokks.de

Korrektorat: Daniela Höhne // www.verlorene-werke.de

Umschlaggestaltung: Tina Köpke // www.legendaryfangirl.de

Nachweis Bildherkunft (via Bigstockphoto.com):

Stockfoto-ID: 135160157, Copyright: haraldmuc

Stockfoto-ID: 101268935, Copyright: Sateda

Stockfoto-ID: 141862067, Copyright: aradaphotography

Stockfoto-ID: 84227681, Copyright: Eugene Sergeev

Autor der Grundkarte: NordNordWest/Wikipedia

Verwendung unter der CreativeCommons-Vereinbarung

(http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/legalcode)

ISBN-13: 978-1545357613

ISBN-10: 1545357617

Jürgen Albers

Crossroads

Ein Inspektor Norcott-Roman

Kapitel 1

Jersey, St. Helier, Amtssitz der Verwaltung am Royal Square

Donnerstag, 20. Juni 1940, früher Nachmittag

Er drehte langsam sein Handgelenk, bis er einen unauffälligen Blick auf das Ziffernblatt seiner Uhr werfen konnte. Exakt 14:41 Uhr. Über zwei Stunden saß er nun in der großen Besprechungsrunde beim Bailiff, dem Verwaltungschef der Insel Jersey, fest. Bei dem Gedanken daran, dass sie sich erst ungefähr in der Mitte der Tagesordnung befanden, entfuhr ihm ein leiser Seufzer. Er zog den Ärmel seines sandfarbenen Jacketts wieder zurecht und ließ seine Gedanken zu den Ereignissen der letzten Tage zurückschweifen.

Vor fünf Tagen, am Samstag, dem 15. Juni 1940 hatte das britische Kriegskabinett angesichts des deutschen Vormarsches in Frankreich beschlossen, die britischen Kanalinseln nicht zu verteidigen und alle Truppen schnellstmöglich abzuziehen. Vier Tage hatte man gebraucht, um alle britischen Soldaten nach England zu schaffen. Gestern, am 19. Juni, hatten die Vorbereitungen für die Evakuierung der Zivilbevölkerung begonnen und schon morgen sollte es losgehen.

Erneut musste Norcott seufzen, stritten sich doch zum wiederholten Male einige Anwesende lautstark über Details der Evakuierung. Wenn wir in diesem Tempo weitermachen, dachte er sarkastisch, ist die deutsche Wehrmacht hier, bevor wir überhaupt angefangen haben. Seine Ungeduld veranlasste ihn beinahe dazu, erneut auf die Uhr zu sehen, als die Tür zum Konferenzraum aufging und ein uniformierter Polizeisergeant eintrat.

»… kann ich absolut nicht nachvollziehen! Ich denke …«, der Bailiff brach ab. »Ja? Was können wir für Sie tun, Sergeant?«

Der Polizist salutierte. »Entschuldigen Sie, Sir. Ich muss den Chief Inspector in einer dringenden Angelegenheit sprechen.«

Detective Chief Inspector Charles Norcott, Chef der Kriminalpolizei, zugleich Leiter aller Polizeikräfte auf den Kanalinseln seiner britischen Majestät, gelang es mühelos, seine Erleichterung über die Unterbrechung zu verbergen. Mit angemessen entschuldigender Geste nickte er dem Bailiff zu, raffte Notizbuch und Papiere mit einer fließenden Bewegung zusammen und war mit wenigen langen Schritten aus dem Raum verschwunden.

»Entschuldigen Sie, Sir. Ich hätte nicht gestört, wenn …«, begann der Sergeant draußen.

Der Chief Inspector winkte ab. »Lassen Sie nur, Sergeant.« Er dehnte vorsichtig seinen Rücken. »Sie haben mir sozusagen das Leben gerettet.« Beide Männer mussten grinsen.

»Verstehe, Sir. Schwere Kämpfe an der Papierfront?«

Norcott zwinkerte dem Mann zu. »Schwere Kämpfe, Sergeant, äußerst schwere. Und? Was haben wir?«

Die Miene des Sergeants wurde augenblicklich ernst. Er räusperte sich. »Eine Tote auf Guernsey, Sir. Wie es aussieht, Mord.«

Charles Norcott atmete tief ein. Er kannte die Reaktion, die jetzt kam, genau. Adrenalin trieb Herzschlag und Blutdruck nach oben, alle Sinne schienen sich wie auf ein geheimes Kommando hin zu schärfen und zu fokussieren. Der Jagdhund in ihm erwachte mit einem Schlag zum Leben.

»Der Anruf kam vor einer Viertelstunde. Eine Frau ist tot in ihrer Wohnung aufgefunden worden. Dem Anschein nach erwürgt oder erdrosselt.«

»Hinweise auf den Täter?«, fragte Norcott, während er bereits zum Ausgang des Gebäudes strebte.

»Nichts Augenfälliges, Sir. Das Motorboot der Lifeguard liegt bereit und Ihr Koffer ist schon im Wagen.« Der Sergeant lief voraus und hielt seinem Chef die Tür zum wartenden Streifenwagen auf. »Soll ich noch mal?« Er wies mit dem Daumen hinter sich auf das Gebäude der Zivilverwaltung.

»Bescheid geben, dass ich nicht in die Sitzung zurückkomme?« Der Chief Inspector schüttelte den Kopf. »Lieber die Papierschlacht nicht stören.« Grinsend schlug er die Tür zu.

Sein Fahrer gab Gas. Dank Blaulicht schafften sie den Weg durch den Mittagsverkehr in wenigen Minuten. Bis zur Station der Lifeguard am Rande des Hafens waren es nur knapp zwei Meilen.

Norcott hob einen kleinen Reisekoffer aus dem Streifenwagen und ging in Richtung Anleger. Es war nicht nachvollziehbar, wieso es kein eigenes Polizeiboot gab. Bisher hatte man sich der Boote der Coastguard bedient, die aber, wie die Armee, inklusive aller Fahrzeuge von den Kanalinseln abgezogen worden waren. An Fliegen war schon gar nicht zu denken. Die Royal Air Force war auf und davon und bis man einen der wenigen Freizeitpiloten aktiviert hatte, konnte man ebenso gut das Motorboot der Lifeguard benutzen. Das brauchte für die Strecke nach Guernsey immerhin nur zwei statt der vier Stunden, die es mit der regelmäßig verkehrenden Barkasse dauerte.

Norcott nickte der wartenden Besatzung des Motorbootes zu und setzte sich ins Heck. Wortlos schob der Bootsführer den Gashebel nach vorn und sofort hob der Schub der zwei Dieselmotoren die Nase des Bootes aus dem Wasser. Ab jetzt hatte der Polizeichef der britischen Kanalinseln zwei Stunden Zeit, über die bisher eigenartigste Station seiner Laufbahn als Kriminalbeamter nachzudenken.

Der Ärmelkanal lag mit einer trägen Ruhe in der Nachmittagssonne. Harmlos wirkende Schleierwolken zierten einen unschuldig blauen Himmel. Alles strahlte gemächliche Sommerferienstimmung aus. Und nie, dachte Norcott, war der Anschein von Frieden und Ruhe verlogener.

Die Fahrt und das Dröhnen der Motoren wurden schnell eintönig, nachdem das Boot den Hafen verlassen hatte, und ebenso rasch glitten Norcotts Gedanken fünfzehn Monate zurück, zum Anfang des Jahres 1939.

Heather Norcott war Lehrerin mit einer guten Stelle an einer soliden Public School gewesen. Ihre Aufgabe hatte sie erfüllt. Vielleicht wegen ihres Jobs, vielleicht weil ihr Mann wieder einmal bis zum Hals in einem Fall steckte, hatte sie wegen der Schmerzen nichts unternommen, die sich ganz langsam in ihr Leben geschlichen hatten. Nach sieben Tagen war Heather tot. Nach achtunddreißig Jahren Leben und einer Woche Schmerzen hatte sie ihn allein gelassen. Und noch immer, nach über einem Jahr, fühlte sich Charles Norcott wie taub, noch immer gab es Momente, in denen er glaubte, an seiner Wut und seiner Verzweiflung ersticken zu müssen.

Die Tage und Monate nach Heathers Tod waren vergangen und die Welt drehte sich unbarmherzig weiter. Der alte Lebensrhythmus schien wieder hergestellt. Aber Norcott wusste, dass es nicht so war. Etwas hatte sich in ihm verhärtet, das er im Zaum halten musste. Nur seine engsten Mitarbeiter bemerkten, wie der Chief Inspector immer früher kam und immer später ging. Manchmal verließ Norcott nur noch stundenweise sein Büro, um in seiner Apartmentwohnung zu duschen und sich umzuziehen. Ihr altes Haus hatte er verkauft. Er hatte es darin nicht mehr ausgehalten. Der neue Charles Norcott machte sich nicht nur Freunde. Nicht im Yard und nicht in Westminster. Er war nie besonders feinfühlig bei seinen Ermittlungen gewesen, aber irgendwann hatte sich die Geduld seiner Vorgesetzten offenbar erschöpft.

An einem trüben Montagmorgen im März hatte Norcott eine Vorladung zum Chef der Metropolitan Police, Sir Philip Game, erhalten. Der Commissioner of Police of the Metropolis war der leitende Polizeioffizier für das gesamte Königreich, auch wenn sich sein Titel auf die Polizei der Hauptstadt bezog. Charles Norcott wunderte sich nicht über die Vorladung, eher erstaunte ihn, dass es so lange gedauert hatte. Wenn man rücksichtslos durch London jagte, trat man zwangsläufig einigen Leuten auf die Füße. Und Norcott hatte in dieser Beziehung ganz neue Maßstäbe gesetzt. Jetzt, an Bord eines einsamen Motorbootes im Kanal, erinnerte er sich schmerzhaft an die Nervosität, mit der er vor Sir Philips Vorzimmertür gestanden hatte.

»Sie wollten mich sprechen, Sir?«

»Charles. Bitte kommen Sie.« Noch bevor Norcott den Stuhl vor dem weiträumigen Schreibtisch des Polizeichefs erreicht hatte, hob der die Hand und sah gleichzeitig auf seine Taschenuhr. »Wie ich sehe, ist es schon nach 15:00 Uhr. Durchaus eine angemessene Zeit, um etwas zu trinken.« Um seinen schmalen Mund mit den Bleistiftlippen spielte, kaum wahrnehmbar, für eine Sekunde ein Lächeln.

Norcott blieb stehen und deutete auf ein chinesisches Lacktischchen an der Wand, auf dem eine Reihe von Karaffen stand. »Darf ich?«

»Ich bitte darum. Und nicht diese unchristlichen Portionen, die sie im Army & Navy Club ausschenken.«

Norcott reichte dem Polizeichef ein großzügig gefülltes Kristallglas. Bei seinem eigenen Quantum war er vorsichtiger. Game nickte einladend und Norcott setzte sich auf einen der beiden Stühle, die vor dem Schreibtisch bereitstanden. Sir Philip trank einen Schluck und begann dann, das schwere Kristallglas in seiner Hand zu drehen. »Charles, ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden. Sie haben in den letzten Monaten versucht, die Kriminalität auf den britischen Inseln im Alleingang auszurotten. So jedenfalls schien es. Und wo gehobelt wird, fallen Späne, sagt man. Falls Sie sich gewundert haben, dass Sie nicht schon längst hier sitzen mussten: Sie haben das allein Ihren Ermittlungserfolgen zu verdanken!« Der hagere, fast zierlich wirkende Polizeichef betrachtete einen Moment seine schmalen Hände. Er holte sichtlich Atem. »Charles, bevor wir weiterreden, möchte ich, dass Sie etwas lesen.« Er nahm einen dünnen Aktendeckel und reichte ihn Norcott über den Schreibtisch. Der schlug den Deckel auf und begann zu lesen. Das erste Blatt Papier war eine Aktennotiz aus dem Büro des Premierministers, ungefähr einen Monat alt. Darin ließ Premierminister Neville Chamberlain seinen Polizeichef wissen, er sei während der wöchentlichen Besprechung von Seiner Majestät angesprochen worden. Georg der VI. habe sich freudig erstaunt über die Ermittlungserfolge eines gewissen DCI Norcott geäußert. Die Notiz endete in höflichen nichtssagenden Floskeln. Das zweite Schriftstück war eine dienstliche Beurteilung, wie sie vor Beförderungen verfasst wurde. Im letzten Teil hatte Sir Philip seine Beförderung zum Detective Superintendent mit Nachdruck befürwortet. Norcott ließ den Aktendeckel sinken und sah den Polizeichef an.

»Sie haben sicher bemerkt, dass Ihre Beurteilung noch nicht von mir unterschrieben wurde?«

Norcott nickte. Er hatte plötzlich einen sehr trockenen Hals.

»Sie sind mit Sicherheit einer der fähigsten Kriminalbeamten, die wir im Land haben. Und mit noch größerer Sicherheit sind Sie einer der Unvorsichtigsten, Charles! Sie sind seit dem Tod Ihrer Frau hohe Risiken eingegangen und haben sich eine Menge Feinde gemacht. Und damit meine ich nicht die Bosse aus der Unterwelt! Wenn ich Sie jetzt befördere, werden einige Herrschaften nicht ruhen, bis man Sie so oder so zur Strecke gebracht hat.«

Norcott machte Anstalten, etwas zu sagen, aber Game schüttelte den Kopf. »Nein, Charles, ich weiß, was Sie sagen wollen. Und Sie wissen, ich teile Ihre Meinung über solche Menschen. Leute, denen ein blindes Schicksal einen Sitz im Oberhaus beschert hat, aber nicht genug Verstand, damit sie mit ihren zugekoksten Köpfen auch den Eingang finden!« Er machte eine wegwerfende Geste. Seine buschigen Augenbrauen sträubten sich vor Erregung. »Es ist besser, ich ziehe Sie ein wenig aus der unmittelbaren Feuerlinie. Sie gehen als neuer Polizeichef auf die Kanalinseln. Kriminalistisch sicher keine Herausforderung für einen Mann Ihres Kalibers, aber vielleicht der geeignete Ort, um, um …« Game rang sichtlich nach Worten. »Herrgott Charles, um wieder zu sich zu kommen! So kann es doch nicht weitergehen! Ich verbiete Ihnen ausdrücklich, weiter so Schindluder mit sich zu treiben. Das sind Sie Heather schuldig!«

Es gab nicht einmal eine Handvoll Menschen, die sich in Norcotts Gegenwart auf seine tote Frau berufen durften, ohne einen Schlag auf die Nase zu riskieren. Der kleine, hagere Polizeichef gehörte dazu.

Norcott nickte stumm, aber Sir Philip ließ ihn nicht aus den Augen. Er insistierte: »Versprechen Sie mir, dass Sie Jersey für einen Neuanfang nutzen werden, Charles?«

»Ja, Sir«, war die einsilbige Antwort.

Sie hatten sich per Handschlag verabschiedet. Es war Montag, der 27. März 1939 gewesen. Vier Tage später, am 1. April, hatte Charles Norcott seinen neuen Posten auf den britischen Kanalinseln angetreten. Das alles war nun fünfzehn Monate her und über den scheinbar so ruhigen Inseln hatte sich ein Sturm zusammengebraut. Wie, um ihn aus seinen Gedanken zu wecken, schrammte der Bootsbug an die Kaimauer. Er war auf Guernsey angekommen.

Kapitel 2

Guernsey, St. Peter Port, Parnell Road 5

Donnerstag, 20. Juni 1940, später Nachmittag

Der Notruf ging um 14:17 Uhr bei uns ein, Sir,« sagte Sergeant Mulgrave. »Eine Frau meldete, sie habe ihre Arbeitgeberin tot in deren Wohnung aufgefunden. Sie sei ermordet worden. 14:28 Uhr war ich zusammen mit Constable Haydon vor Ort.« Mulgrave blätterte seinen Notizblock um und folgte Detective Chief Inspector Norcott aus dem Flur ins Schlafzimmer. Der Chief trug, wie immer, einen eleganten Anzug mit passender Krawatte. Sergeant Mulgrave machte ein verdrossenes Gesicht und es schien, als würde er sich über sich selbst ärgern. Er hatte, auch wie immer, heute Morgen irgendein Jackett gegriffen und schwitzte nun in dickem Harris-Tweed.

»Die Tote ist, nach derzeitigem Erkenntnisstand, Mrs. Nora Henley, 34 Jahre, Hausfrau, Ehefrau von William Henley. Er arbeitet in der Western Channel Bank in der North Esplanade.«

»Wer hat sie identifiziert?«, wollte Norcott wissen und beobachtete gleichzeitig den Gerichtsmediziner Dr. Hamilton bei der Untersuchung der Toten.

»Einmal die Zeugin, die uns angerufen hat: Libby O’Meare, sie putzt bei den Henleys seit zwei Jahren. Und die Nachbarin, die im Erdgeschoss wohnt, Mrs. Elanor Dobbs.«

»Was ist mit dem Ehemann?«

Mulgrave kratzte sich mit dem Bleistift am bulligen Nacken. »Da wir nicht wussten, wie schnell man Sie auf Jersey benachrichtigt und wie schnell Sie es schaffen würden, herüberzukommen, hielten John Pearson und ich es für das Beste, ihn gleich am Arbeitsplatz abzuholen. Sie hätten es ihm vielleicht lieber selbst gesagt, um die Reaktion zu beobachten. Ich hoffe, wir haben’s nicht verpatzt?« Er sah Chief Inspector Norcott an und kratzte sich weiter verlegen am Nacken.

Norcotts Ruf eines Perfektionisten war ihm vorausgeeilt, als er auf die Kanalinseln versetzt wurde. Da sich der Chief Inspector zumeist auf der größten Kanalinsel Jersey aufhielt und auch dort sein ständiges Büro unterhielt, hatten Clive Mulgrave und John Pearson, die beiden leitenden Sergeants der Polizeistation auf Guernsey noch keine Erfahrung mit seiner Arbeitsweise bei Kapitalverbrechen.

»Wer hat ihm die Nachricht überbracht?«, fragte Norcott, ohne eine weitere Reaktion zu zeigen.

»John Pearson und Detective Constable Lancer, Sir.«

»Dann wird das auch gut gelaufen sein, Clive.« Norcott drückte Mulgrave freundlich am Arm. »Das war schon gut so. Wir reden heute Abend in der Besprechung darüber. Wo ist Henley jetzt? Hat er seine Frau schon gesehen?«

»Er ist nebenan, Sir, im Wohnzimmer. Das Zimmer am Ende des Flurs.« Mulgrave deutete mit dem Bleistift aus der offenen Schlafzimmertür. »Lancer ist bei ihm. Und nein, er hat sie nicht gesehen. Der Doc war schon mit ihr beschäftigt, als John und Constable Lancer mit ihm eintrafen.«

»Gut. Ich werde kurz mit Dr. Hamilton sprechen und gehe dann rüber.«

Der Chief Inspector lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete still Dr. Hamilton, der ruhig und systematisch arbeitete. Norcott hielt überhaupt nichts davon, die Gerichtsmediziner während der laufenden Untersuchung zu überfallen. Nach seiner Erfahrung purer Aktionismus, der nur dazu führte, dass dem Arzt womöglich ein Detail entging, weil er im falschen Moment abgelenkt worden war. Ein guter Gerichtsmediziner meldete sich schon, wenn er fertig war. Und ausnahmsweise, dachte Norcott bei sich, ausnahmsweise haben wir hier mal Glück. Von den zwei Ärzten auf Guernsey, die als Gerichtsmediziner zugelassen waren, hatte sich der jüngere und unerfahrenere evakuieren lassen. Ansonsten war der Polizei auf Guernsey – genau wie auf Jersey – ein beträchtlicher Aderlass nicht erspart geblieben. Kriminaltechniker, einfache Streifenbeamte, ein junger Inspector, Schreibkräfte, selbst Mechaniker hatten innerhalb von Stunden ihren Arbeitsplatz geräumt und entweder schon zusammen mit den Truppen die Insel Richtung England verlassen oder würden es heute oder morgen tun. Bald würde der Mangel die Herrschaft übernehmen.

Dr. Hamilton holte ihn aus seinen trüben Überlegungen. »Charles?«

»Hallo, Brian, entschuldige, ich war in Gedanken. Was kannst du mir sagen?«

»Noch nicht so furchtbar viel im Moment«, antwortete der Arzt und zog sich dabei seine Gummihandschuhe aus. »Die Frau ist ungefähr vier bis maximal sechs Stunden tot.«

Norcott sah auf die Uhr, es war mittlerweile fast halb sechs. Dann war die Frau noch nicht lange tot, als sie entdeckt wurde, dachte er bei sich und sagte: »Der Tod trat also zwischen 11:30 und 13:30 Uhr ein, richtig?«

»Ja, das ist richtig, wobei ich eher auf später tippen würde.«, erwiderte Dr. Hamilton. »Sie ist erdrosselt worden, mit einem etwa 1 bis 1,5 Inch breiten, härterem Gewebe. Ich tippe auf einen Ledergürtel, dazu würden auch die feinen Abriebfasern passen, die ich gefunden habe. Aber das ist alles erst einmal Augenschein, Genaueres nach der Laboruntersuchung. Sie hat sich gewehrt, aber sie hat wohl hauptsächlich versucht, den Gürtel oder was immer es war, loszubekommen und hat weniger ihren Angreifer attackiert. Jedenfalls konnte ich keine nennenswerten Gewebereste unter ihren Fingernägeln feststellen.«

»Ist sie vergewaltigt worden?«, fragte Norcott nach.

»Nein … das sieht nicht so aus.«

Norcott hatte das kurze, sekundenlange Zögern in der Antwort des Arztes bemerkt. »Aber? Du bist dir nicht sicher?«

Der Arzt zögerte noch einen Moment, sagte dann: »Charles, das ist noch alles wacklig, aber ich würde behaupten, sie war ›bereit‹, es ist aber nicht mehr zum Geschlechtsverkehr gekommen.«

Charles Norcott strich sich nachdenklich durch die graumelierten Haare. »Das wäre also ein Indiz dafür, dass sie ihren Mörder gekannt hat.« Er überlegte weiter. »Und ein Unfall?«

»Ah, du meinst, die Strangulation könnte einvernehmlich …?«, assistierte Hamilton. Er blies ein wenig die Wangen auf und dachte einen Moment nach. »Das will ich nicht hundertprozentig ausschließen, heutzutage probieren die Leute ja allerhand aus, aber das ist im Moment reine Spekulation.« Er nahm seine Tasche. »Ich kann dir nur sagen, dass sie erregt war, als sie starb, alles Weitere müssen wir sehen. Und ihr wollt ja auch noch etwas zu tun haben, nicht wahr?« Der Gerichtsmediziner lächelte Norcott aufmunternd zu und betrachtete ihn einen Moment. Das ohnehin schlanke, scharf geschnittene Gesicht mit der schmalen Nase wirkte grau und unnatürlich straff. Der Arzt trat mit seiner Tasche zur Tür und für einen Moment standen die beiden Männer dicht beieinander. »Sag mal, mein Freund, gönnst du dir auch genug Ruhe? Ich möchte bald mal wieder deine Blutwerte überprüfen.« Er tippte Norcott mit dem Zeigefinger auf die Brust und fügte leise hinzu: »Und deine Leberwerte auch!«

Jeder andere hätte sich damit bei Norcott eine patzige Replik eingefangen, aber Brian Hamilton war einer der wenigen Freunde, die er an sich heranließ. Er sah Brian einen Moment stumm an, nickte dann aber resigniert. Man gab sich die Hand und der Arzt verließ die Wohnung der Henleys. Unmittelbar danach kamen die Mitarbeiter der rechtsmedizinischen Abteilung des Métivier-Krankenhauses. Sie sahen Norcott fragend an und er nickte stumm. Dann transportierten sie Mrs. Henley ab.

Norcott sammelte sich kurz, dann durchquerte er den kurzen Flur und betrat das Wohnzimmer. Er nickte dem Ehemann nur knapp zu und wandte sich dann an Constable Lancer. »Kommen Sie kurz?«

»Hallo, Sir, schön Sie zu sehen«, freute sich Lancer, der erleichtert wirkte.

»Wie hat er sich verhalten, seit Sie mit ihm hier sitzen?«, wollte Norcott wissen.

»Erstaunlich gefasst, wenn Sie mich fragen, Sir. Kein Geheule oder großes Gejammer. Scheint eher herumzugrübeln. Knetet viel an seinen Händen herum, das werden Sie noch sehen. Wahrscheinlich noch im Schock. Dr. Hamilton hat ihn sich vorhin kurz angesehen, hat ihm aber nichts gegeben. Wir haben angeboten, ihm Tee zu kochen. Das hat er auch angenommen, dann seinen Tee aber nicht getrunken.«

Eine Tasse Tee könnte ich jetzt auch vertragen, dachte Norcott, der seit dem Morgen nichts mehr in den Magen bekommen hatte. »Meinen Sie, Sie könnten mir auch …?«

»Tee? Ja, klar, Sir. Kommt gleich.« Der Constable war sichtlich froh, von der Warterei mit dem Ehemann wegzukommen und verschwand in der Küche.

Charles Norcott betrat das Wohnzimmer. William Henley saß in einem von zwei zierlichen Clubsesseln, die neben einem massigen Sofa verloren wirkten. Verloren wirkte auch der Mann im Sessel, der jetzt mit leerem Blick den hochgewachsenen Polizisten ansah.

Norcott griff in seine Jackettasche und präsentierte seinen Dienstausweis. »Mr. Henley, ich bin Detective Chief Inspector Norcott. Lassen Sie mich mein Beileid aussprechen zum Tod Ihrer Frau.« Er machte eine kurze Pause und Henley nickte stumm. »Fühlen Sie sich soweit in Ordnung, dass wir erste Fragen klären können? Sie werden sicher verstehen, dass nach einer Gewalttat die Zeit eine große Rolle spielt.«

Wenn William Henley das Gesagte verstanden hatte, ließ sich dies an keiner Regung in seinem Gesicht ablesen.

»Mr. Henley?« Norcott machte einen kleinen Schritt auf den Ehemann zu. »Darf ich mich setzen?«

Henley schien zu erwachen, machte eine Geste zum leeren Sessel und räusperte sich. »Bitte entschuldigen Sie, Inspector. Ja, es geht mir gut. Bitte stellen Sie Ihre Fragen.«

Ganz der korrekte Bankangestellte, dachte Norcott, der sich vorsichtig in den Sessel setzte und die sofort einsetzende Entspannung in seinem Rücken genoss. Seit Monaten machte der ihm zu schaffen. Bei einer Körpergröße von fast sechseinhalb Fuß war mit Rückenproblemen früher oder später zu rechnen. Aber in diesem Moment verfluchte Norcott seinen Rücken und die damit verbundenen Einschränkungen und versuchte, sich wieder ganz auf William Henley zu konzentrieren. Er beschäftigte sich lang genug mit Gewaltverbrechen, um niemals dem ersten Anschein zu glauben. Selbst in Menschen, die im Angesicht eines Mordes scheinbar völlig stumpf und unbeteiligt schienen, konnte ein ordentlicher Kampf der Gefühle toben. Es war immer ein Fehler, in so einem Fall vorschnell zu urteilen.

»Mr. Henley, wir konnten bei der bisherigen Untersuchung Ihrer Wohnung keinerlei Einbruchsspuren oder sonstige Merkmale gewaltsamen Eindringens feststellen. Wir müssen also davon ausgehen, dass Ihre Frau dem Täter entweder selbst die Tür geöffnet hat oder er einen Schlüssel besaß. Beginnen wir bei diesem Punkt: Wer hat außer Ihnen und Ihrer Frau noch Schlüssel zu dieser Wohnung?«

»Mrs. O’Meare hat einen Schlüssel, aber das wissen Sie sicher schon und dann liegt ein Schlüssel für Notfälle bei meinen Eltern.«

»Mr. Henley, ich kann mir vorstellen, wie erschreckend diese Frage für Sie klingen muss, aber haben Sie einen Verdacht, wer Ihre Frau ermordet haben könnte?«

Henleys Augen flackerten nervös und er begann wieder, sich die Hände zu reiben, wie Lancer es schon beschrieben hatte.

»Hatte Ihre Frau Feinde?«

Der Kopf schnellte hoch und nun sah der Ehemann ehrlich überrascht aus. »Feinde? Meine Frau?«

Ruhig setzte Norcott hinzu: »Hat jemand Ihre Frau genug gehasst, um ihr den Tod zu wünschen?«

Henley schüttelte wortlos den Kopf, das Reiben der Hände wurde stärker.

Norcott stellte diesen Punkt gedanklich zurück und beschloss, ein weiteres heikles Thema anzugehen.

»Wie würden Sie Ihre Ehe beschreiben, Mr. Henley?«

Wieder schnellte der Kopf des Ehemanns hoch. Norcott hatte sich bei der Frage ganz auf die Reaktion konzentriert und versuchte, jeden noch so kleinen Teil in sich aufzunehmen.

»Ich habe«, Henley brach ab, räusperte sich und setzte lauter hinzu, »meine Frau geliebt!« Seine Hände verkrampften sich in seinen Hosenbeinen und er war sichtlich aufgewühlt, aber Norcott wusste, er musste noch weiterbohren.

»Und Ihre Frau«, Norcott baute eine kaum hörbare Pause ein, »hat Sie auch geliebt?«

»Glauben Sie etwa, ich habe sie umgebracht?« Es brach förmlich aus dem Ehemann heraus und er sprang auf.

Norcott zwang sich zu maximaler Ruhe. »Bitte, Mr. Henley. Niemand hat das unterstellt und ich habe das auch nicht gesagt. Aber Sie werden verstehen, dass ich alle Möglichkeiten überprüfen muss.«

Henley ging nun zwischen Sessel und Fenster hin und her und seine Hände rieben sich weiter ineinander. »Vielleicht wollen Sie gleich noch wissen, wo ich gewesen bin?«, setzte er aufgebracht hinzu.

Je nervöser Henley wurde, umso mehr zwang sich Charles Norcott zur Ruhe. »Ja, Mr. Henley, das muss ich tatsächlich fragen. Also bringen wir es hinter uns. Wo waren Sie zwischen 11:00 und 14:00 Uhr?«

»Ich war selbstverständlich in der Bank. Ich arbeite in der Western Channel Bank.«

»Sie waren die ganze Zeit über im Bankgebäude? Ich nehme an, das können Kollegen oder Ihr Vorgesetzter bezeugen?«

Henley, der weiter im Wohnzimmer umhergewandert war, blieb abrupt stehen. »Ich … Ich war in meiner Mittagspause an der Luft. Ich war im Cambridge Park.«

»Allein?«

»Ja, allein.«

»Haben Sie niemanden getroffen? Freunde, Kollegen? Irgendwen, der sich an Sie erinnern könnte?«

»Ich fürchte nein, Inspector. Und ich habe auch nicht darauf geachtet, wenn Sie es genau wissen wollen!« Henley drehte sich zum Fenster und nach einem Moment sagte er: »Ich war nervös. Jeder ist doch im Moment nervös. In der Bank ist die Hölle los. Alle wollen jetzt ihr Geld abheben, ihr Geld in Sicherheit bringen.«

Norcott beschloss, die Gelegenheit zum Themenwechsel zu nutzen. »Hatten Sie auch vor, sich evakuieren zu lassen?«

Der Ehemann starrte weiter aus dem Fenster.

»Mr. Henley? Würden Sie bitte meine Frage beantworten?«

»Ich hätte nie daran gedacht.« Die knappe Antwort kam gepresst.

Charles Norcott runzelte kurz die Stirn, hielt es aber für besser, in diesem Punkt nicht weiter nachzubohren.

»Vielen Dank, Mr. Henley. Dann möchte ich Sie jetzt auch nicht weiter behelligen. Ich kann Ihnen leider noch nicht sagen, ab wann wir das Schlafzimmer wieder freigeben können, unter Umständen müssen die Kollegen der Spurensicherung dort morgen noch weiterarbeiten.« Norcott stand auf und verabschiedete sich von William Henley.

Auf dem Flur wartete schon Constable Lancer auf ihn. »Ihr Tee, Sir. Ich dachte, es ist wohl besser, jetzt nicht hineinzuplatzen.« Er reichte Norcott einen etwas angeschlagenen Becher voller Tee, der offensichtlich reichlich Sahne enthielt, so wie ihn Norcott mochte.

»Danke, Constable.« Norcott nahm einen vorsichtigen Schluck und verbrühte sich doch fast die Lippen. »Lassen Sie sich von Henley die Adresse seiner Eltern geben, die haben einen Ersatzschlüssel für die Wohnung. Fahren Sie hin und überprüfen Sie, wo der Schlüssel aufbewahrt wird, ob er noch da ist und ob ihn jemand unbemerkt benutzen konnte.«

»Ja, Sir.«

»Wo ist Sergeant Mulgrave?«

Der Gesuchte steckte seinen Kopf aus einer Tür neben der Küche. »Ich bin hier, Sir. Das hier scheint so etwas wie ein Damenzimmer gewesen zu sein.« Er wies mit einer leicht hilflosen Geste in einen recht großzügigen Raum, der im Wesentlichen mit einem großen bequemen Sofa, einem Tisch mit Plattenspieler und Radio sowie einer auffallend großen Frisierkommode gefüllt war. Daneben fanden sich ein großer drehbarer Schneiderspiegel und eine Damenkleiderpuppe.

»Clive, haben Sie irgendwo Koffer entdeckt?«

Mulgrave stutze einen Augenblick. »Sie meinen, ob die beiden wegwollten? In einem der Schlafzimmerschränke – auch etwas übergroß, wenn Sie mich fragen – standen verschiedene Koffer, aber alle leer, soweit ich weiß. Ich werde das gleich überprüfen.«

Im selben Moment stand Sergeant Pearson in der offenen Tür. »Hallo, John«, sagte Norcott und sie gaben sich die Hand. »Wie geht es mit den Nachbarn voran?«

»Alles im Lauf, Sir. Ich habe zwei Männer darauf angesetzt und war bis eben selbst dabei. Die Spurensicherer kommen auch gut voran.«

»John, ich würde gern«, er sah auf seine Armbanduhr, »in einer Stunde eine Besprechung in der Hospital Lane haben. Kriegen wir das hin?«

»Das dürfte kein Problem sein, Sir«, antwortete Pearson zuversichtlich und betrachtete mit Interesse Norcotts Teebecher. Norcott fing den Blick auf und zeigte zur Küche. »Lancer.«

Kapitel 3

St. Peter Port, Polizeizentrale in der Hospital Lane

Donnerstag, 20. Juni 1940, nach sieben Uhr abends

Um neunzehn Uhr war die Befragung der Nachbarschaft erst einmal abgebrochen worden. Das Team der Spurensicherung hatte in der Wohnung der Henleys bereits früher seine Taschen gepackt. Nur das Schlafzimmer als engerer Tatort war versiegelt worden. Sollten aus den ersten Untersuchungen neue Verdachtsmomente entstehen, bestand keine Gefahr, dass Spuren vorschnell verwischt wurden.

In der Hospital Lane, wie die Polizeizentrale von Guernsey nach der kurzen Straße, in der sie lag, genannt wurde, hatte sich das kleine Ermittlungsteam in den Besprechungsraum zurückgezogen. Staubteilchen tanzten dort in den letzten Strahlen der Frühsommersonne. Sie tauchte den Raum in unschuldig warmes Orange, heuchelte Ruhe und Frieden. Am Rand des Raumes hatte man eine große Tafel platziert. Die Bilder an dieser Tafel sprachen eine andere Sprache, zeigten den Tod in Schwarz-Weiß. Zeigten den Tod, der kein warmes Hinübergleiten kannte. Nur Kälte und grausige Schwärze.

Charles Norcott hatte sich von den Bildern losgerissen und betrachtete verstohlen die vier Männer, die mit ihm an dem abgenutzten Tisch Platz genommen hatten. Der grauhaarige John Pearson, immer beherrscht; Clive Mulgrave, dessen bullige Gestalt scheinbar nicht zu seiner zerstreuten Art passen wollte. Nahe zur Tafel, der leitende Sergeant der Spurensicherung, Roderick Alleyn und schließlich Hubert Haydon, dienstältester Detective Constable, ein hagerer Mann mit militärisch wirkendem Bürstenhaarschnitt.

Nach dem langen Tag hatten sich alle mit Tee versorgt und hingen für einen Moment ihren eigenen stillen Gedanken nach. Trotzdem glaubte Norcott, das Jagdfieber der Männer fast körperlich spüren zu können. Jetzt galt es, die Untersuchung weiter systematisch und penibel aufzubauen. Er wusste, dass sein Team über kaum Erfahrung mit Gewaltverbrechen verfügte. Übermotivation war das größte Risiko.

Norcott löste sich von seinen heimlichen Sorgen und gab eine kurze Einleitung für alle. In den vielen Jahren der Erfahrung mit Ermittlungsteams hatte Charles Norcott eines ganz sicher gelernt: Von glücklichen Zufällen abgesehen, waren Erfolge immer das Ergebnis gewissenhafter, manchmal kleinlicher Teamarbeit. Ermittlungspannen konnten meistens auf mangelnde Kommunikation zurückgeführt werden. Norcott war fest entschlossen, diesen Fall mit maximaler Energie zu einer schnellen Aufklärung zu bringen. Die Kriegssituation hing als riesengroße, unberechenbare Drohung über allem. Niemand konnte erahnen, wie schnell und wie gründlich der Krieg ihr Leben auf den Kopf stellen würde.

»Was ist bei der Befragung der Nachbarn herausgekommen?«, wollte Norcott von Sergeant Pearson wissen.

»Zunächst wenig Detailliertes, was die Charakteristik der beiden Henleys angeht, Sir.« Pearson blätterte in seinem Notizbuch. »Ich beschränke mich auf das, was wir nicht schon ohnehin an biografischen Daten hatten. Er, William Henley, wird durchgängig von allen Nachbarn als stiller, zurückhaltender Mensch beschrieben. Ich mag solche Klischees nicht, aber er wird als klassischer Bankangestellter beschrieben – korrekt, ruhig, ein wenig langweilig. Das einzig Aufregende in seinem Leben scheint Sie, Nora, gewesen zu sein. Bei ihr laufen die Beschreibungen dann auch deutlich auseinander. Einige Nachbarn wollten sich zuerst gar nicht zu ihr äußern.«

»Sag nichts Schlechtes über Tote«, warf Sergeant Mulgrave ein.

»Ja, so ungefähr«, stimmte Pearson zu und nickte. »Wir haben allein …«, er zählte in seinen Notizen nach, »vier Nachbarn, die ihre Aussagen tatsächlich mit ›Man soll ja nichts Schlechtes über Tote sagen‹ anfingen! Ob so oder anders eingeleitet, letztlich kamen alle Befragten zum gleichen Urteil: Sie ist Arbeit, wo immer es möglich war, aus dem Weg gegangen, war mit dem Geld großzügig, solange es um ihre Wünsche ging und wurde knauserig, wenn es um ihn oder andere ging. Außerdem war sie Männerbegegnungen, um es einmal so zu nennen, nicht abgeneigt. Zwei Zeugen aus der Nachbarschaft haben sie am Haus oder in der Nähe ihres Hauses mit fremden Männern gesehen.«

»Wie glaubwürdig sind diese Zeugen?«, unterbrach Norcott. »Können wir das als Tratsch neidischer Nachbarn abtun oder steckt Substanz hinter den Aussagen?«

»Nein, Sir, ich denke, das können wir nicht abtun«, antwortete Pearson. »Clive, vielleicht gibst du mal dein Gespräch mit Mr. Woolton wieder«, wandte sich Pearson an Mulgrave.

»Roger Woolton, 43 Jahre, ist Büroleiter in einer der großen Gemüseplantagen. Wohnt Parnell Road 7, schräg gegenüber dem Haus der Henleys. Macht auf mich einen ausgesprochen scharfsinnigen Eindruck. Dem entgeht nichts so schnell, bewertet aber sehr zurückhaltend. Er konnte sich an insgesamt drei Begegnungen erinnern, in denen er die Henley mit ihm nicht bekannten Männern – also keinem Nachbarn oder Lieferanten oder ähnlichem – in nicht eindeutiger Situation gesehen hat. Einmal kam sie ihm auf der Maurepas Road aus Richtung der Henleyschen Wohnung entgegen und hatte sich bei einem Mann untergehakt. Sobald sie ihn sah, ließ sie den Mann los. Mit demselben Mann sah er sie im Hauseingang stehen, wobei sie den Mann wohl, wie Woolton sagte ›ziemlich eilig aus der Tür schob‹. Mrs. Henley hatte bei dieser Gelegenheit, es war seiner Erinnerung nach bereits nach dem Mittag, nur einen Morgenmantel an. Woolton war an diesem Tag nur zufällig zu Hause, weil er irgendwelche Unterlagen vergessen hatte. Er suchte sie gerade auf seinem Schreibtisch, als er die Szene durch das Fenster beobachtet hat. Ich habe es ausprobiert, Sir, man kann von seinem Schreibtisch aus die gegenüberliegende Haustür unmittelbar und gut einsehen und sicher auch Gesichter erkennen.«

»Kann Woolton eine Beschreibung des Mannes abgeben?«, hakte Norcott nach.

»Eine ziemlich gute sogar, Sir, nach meiner Einschätzung. Er würde ihn mit einiger Sicherheit wohl auch wiedererkennen. Möchten Sie …?« Er deutete auf seine Notizen.

»Details brauchen wir jetzt nicht. Wenn es jemand Bekanntes gewesen wäre, hätten Sie das wohl schon erwähnt. Was noch? Sie sprachen von drei Begegnungen?«

Mulgraves Augen leuchteten auf. »Ja, das ist sicher der interessanteste Teil der Aussage! Mr. Woolton hat Mrs. Henley drei Tage vor dem Mord, also am vergangenen Montag, dem 17., abends gegen 21:30 Uhr im Cambridge Park gesehen. Beziehungsweise um exakt zu sein, er sagt, er hat sie nicht gesehen, oder um noch präziser zu sein …«

»Clive, bitte«, stöhnte Norcott, »kommen Sie auf den Punkt.«

»Entschuldigung, Sir. Also, Woolton sagt, er sei durch den Cambridge Park gegangen, auf dem Weg nach Hause. Als er an einer Gruppe von großen Eichen am Westausgang vorbeiging, hätte er zwei Stimmen gehört, die leise, aber ziemlich heftig diskutierten. Weil ihm die eine, die weibliche Stimme bekannt vorgekommen sei, sei er einen Moment stehengeblieben. Er ist sich absolut sicher, dass es Mrs. Henleys Stimme gewesen ist. Und obwohl er die beiden Personen nicht gut erkennen konnte, ist er ebenfalls sicher, dass der Mann Uniform getragen hat!«

»Okay. Weitere Merkmale? Groß? Klein?«

»Nichts, was uns wirklich weiterhilft. Mittelgroß, etwa 8-10 Inch größer als Mrs. Henley, wobei Woolton – guter Beobachter – sagte, er hätte ihre Schuhe nicht sehen können. Ansonsten wollte er sich auf keine weiteren Merkmale festlegen, weder ein ungefähres Alter noch sonst irgendwas.«

»Besser, als wenn er etwas hinzuerfindet, was er glaubt, gesehen zu haben!«, warf Hubert Haydon ein und die anderen murmelten zustimmend.

Norcott hob kurz die Hand und das Gemurmel verstummte. »Weiß jemand, ob unser Zeichner noch hier ist oder auch die Insel verlassen hat?« Er blickte in die Runde, erntete aber nur Kopfschütteln und Schulterzucken. »Clive, bitte versuchen Sie den Zeichner, wie hieß der noch?«

»Franoux. Norman Franoux. Er ist Zeichenlehrer am Mädchen-College.«

»Ja der. Versuchen Sie ihn oder sonst jemanden aufzutreiben, der ein halbwegs brauchbares Phantombild anfertigen kann und bringen Sie ihn mit Mr. Woolton zusammen. Ich möchte ein Bild von diesem Mann, mit dem die Henley zweimal gesehen wurde.« Er wandte sich wieder Sergeant Pearson zu.

»Okay John, Sie sprachen von zwei Zeugen, die Nora Henley mit Männern gesehen haben? Wer ist der andere Zeuge?«

»Die andere Zeugin, Sir«, antwortete Pearson. »Mrs. Elanor Dobbs. Das ist die Nachbarin, die unter den Henleys im selben Haus wohnt. Sie ist gleichzeitig auch die Vermieterin. Und keine einfache Zeugin, wenn ich das sagen darf.« Er seufzte, für seine sonst eher nüchterne Art, tief.

»Moment John. Was dürfen wir uns denn unter ›nicht einfach‹ vorstellen?« Norcott wirkte ungeduldig und Pearson beeilte sich mit einer Erklärung.

»Mrs., richtigerweise ›Miss‹, Dobbs ist offenbar unverheiratet und interessiert sich auffallend für Männer, um es vorsichtig auszudrücken. Nach meinem Eindruck hat sie eine Vorliebe für Farben und Blumenmuster und genauso farbig und blumig sind ihre Antworten.«

Pearsons Erläuterung sorgte für ein allgemeines Schmunzeln. Es erstarb aber schnell unter dem genervten Blick des Sergeants.

»Es war wirklich mühsam, die Dame bei der Aussage immer wieder zum Kern zurückzubringen.« Er seufzte noch einmal. »Fakt ist, sie gibt an, einen Mann in Uniform gesehen zu haben, der aus dem Haus ging. Sie konnte sich nicht mehr an das genaue Datum erinnern, es war ungefähr Anfang dieses Monats. Sie hörte die Vordertür und hat aus der Küche durch die Tür des Wohnzimmers auf die Straße geschaut. Da ging der bewusste Mann am Fenster vorbei. Wobei wir, bei allem Enthusiasmus bezüglich des Uniformträgers, auch berücksichtigen müssen, dass theoretisch die Person, die aus der Vordertür das Haus verließ, auch nach links, Richtung Evans Lane gegangen sein könnte und der Mann in Uniform kam aus Richtung Evans Lane und passierte zufällig im passenden Moment das Fenster von Mrs. Dobbs.«

Norcott bohrte nach: »Hat sie den Uniformierten so gut erkennen können, dass sie Genaueres sagen konnte? Navy? Air Force? Dienstgrad? Irgendetwas Auffälliges an der Uniform? Und würde sich auch bei ihr ein Phantombild lohnen?«

»Die Teilstreitkraft können wir nicht bestimmen. Der Mann trug Khaki, keine Ausgehuniform. Also könnte es sich um jede der drei Teilstreitkräfte handeln, wobei sich Mrs. Dobbs ja nicht einmal sicher war, dass es sich um eine Militäruniform handelte, von Details wie Rangabzeichen oder Ähnlichem einmal ganz abgesehen.« Pearson stülpte kurz die Lippen nach innen, was immer ein untrügliches Zeichen für eine gesalzene Bemerkung war, die gleich kommen musste. Und sie kam auch.

»Mrs. Dobbs interessiert sich zwar ausgesprochen stark für jede Art von männlichen Wesen, aber leider fehlt ihr jeglicher Funken von Beobachtungsgabe. Dass sie sich ihres Mangels in keiner Weise bewusst ist, macht es nicht einfacher. Sie ist eine der schlechtesten Zeuginnen, die ich jemals befragen musste.« Pearson nahm einen großen Schluck Tee.

Norcott wechselte das Thema: »John, lassen Sie uns noch einmal über Ihr erstes Treffen mit dem Ehemann, William Henley, sprechen. Sie fanden sein Verhalten auffällig?«

Pearson nickte zustimmend. »Ich denke, wir kennen das alle. Wenn Polizei auftaucht, noch dazu am Arbeitsplatz, dann reagieren die Leute meistens erschrocken, manchmal abweisend oder sie sind nervös. Henley war ganz anders. Keine Frage im Stil von ›ist etwas mit meiner Frau? Ist meinen Eltern etwas zugestoßen?‹. Nichts. Ich glaube, er hat mein Erstaunen bemerkt und dann umgeschaltet und gefragt, ob zu Hause etwas passiert sei. Aber auch das klang für meine Begriffe nicht besorgt, sondern eher verärgert. Er hat versucht, es zu kaschieren, aber für mich schien es die ganze Zeit durch.« Pearson sprach nicht mehr, aber dachte sichtlich nach. Dann ergänzte er: »Als wenn von außen ein Schatten auf ein Fenster fällt. Ich hab es die ganze Zeit gespürt.«

Es herrschte einen Moment Stille in der Runde, bis Norcott das Schweigen brach. »Gut. Ich denke, wir sind uns einig: Das bringt ihn auf der Liste der Verdächtigen weiter nach oben. Aber ich will es genauer wissen. John, Ihr Job wird morgen sein, die bisherigen Erkenntnisse zu sortieren und fehlende Bestandteile aufzuarbeiten. Ergänzen Sie die Hintergrundinformationen zu den beiden Henleys, konzentrieren Sie sich ganz auf ihn. Ich will alles wissen, was es zu wissen gibt über diesen Mann.« Norcott blätterte noch einmal in seinen Unterlagen, bis er die richtige Notiz gefunden hatte. »Ja genau. Was uns schon in der Wohnung aufgefallen ist – dieses ständige Händekneten und Abwischen. Henley ist ständig mit seinen Händen beschäftigt. Ist Ihnen das auch in der Bank aufgefallen, John?«

Pearson überlegte einen Moment und antwortete dann zögernd: »Nein, kann ich nicht behaupten. Aber ehrlich gesagt, habe ich mehr auf sein Gesicht und den Tonfall geachtet. Vielleicht ist es ja auch nur ein Tick von ihm.«

Die andere mögliche Deutung, nämlich die, sich zwanghaft von etwas befreien zu wollen, was seine Hände befleckt hatte, sprach keiner aus. Sie alle wussten, worauf diese Deutung hingewiesen hätte.

Norcott nickte bedächtig. Er beugte sich vor. Leise sagte er: »Finden Sie’s raus. John. Finden Sie es heraus.« Nach einer Pause wandte sich Norcott an den Leitenden Kriminaltechniker: »Dann eine andere wichtige Sache. Roddy, konntet ihr Fingerabdrücke herausfiltern?«

Roderick Roddy Alleyn zog an seiner Calabash-Pfeife, schien aber mit dem Ergebnis unzufrieden. Er stocherte mit seinem Pfeifenbesteck im Kopf herum und jeder, einschließlich Norcott, wusste: Es war besser, jetzt Geduld zu haben. Roddy Alleyn wirkte für jeden Außenstehenden oft wie die Wurzel eines alten Olivenbaumes – verdreht und störrisch. Aber worauf es einem detailverliebten Perfektionisten wie Norcott ankam: Die Ergebnisse aus Alleyns Abteilung waren makellos. Ungenauigkeiten merzte er gnadenlos aus. Seine Techniker wussten ein Lied davon zu singen. Und in Probleme bohrte er sich mit derselben Beharrlichkeit wie eine Olivenwurzel in den kargen Sandboden Siziliens.

»Nachdem wir die Fingerabdrücke vom Ehepaar Henley, der Putzfrau und dieser Nachbarin, Mrs. Dobbs, ausgeschlossen hatten, blieben noch eine Menge brauchbarer übrig. Fast zu viel für meinen Geschmack.« Wieder ein tiefer Zug aus der Pfeife. »Es wäre gut, wenn wir noch die Abdrücke der Familie bekommen könnten oder wer sonst noch regelmäßig in der Wohnung verkehrte.« Der Satz war mit einem spürbaren Fragezeichen versehen.

Norcott nickte Haydon zu. »Kümmern Sie sich darum.« Der Constable macht sich eine entsprechende Notiz.

»Die Interessantesten«, ergänzte Alleyn, »besonders die Abdrücke, die wir ausschließlich an der Wohnungstür und im Schlafzimmer gefunden haben, können Sie gleich haben.«

Norcott wandte sich wieder Haydon zu. »Teilen Sie Constable Lancer für den Abgleich der Fingerabdrücke ein. Er soll mit den Tätern anfangen, die wegen Sittlichkeitsdelikten vorbestraft sind, dann die Gewalttäter, dann die Einbrecher. Außerdem möchte ich, dass die Gruppe notorischer Wiederholungstäter auch mit einbezogen wird, gleichgültig wofür sie vorbestraft sind.«

Haydon seufzte bei dieser Vorstellung. Der Vergleich von vielleicht zwei Dutzend Fingerabdrücken mit jeweils hunderten von Karteikarten war echte Sklavenarbeit, die überdies noch mit äußerster Genauigkeit durchgeführt werden musste. Er nickte wieder und machte auch hierzu eine Notiz.

Damit waren für den Moment alle Aufgaben verteilt und Norcott war schon aufgestanden, da sprach Mulgrave ihn noch einmal an.

»Was machen wir mit den Zeugen, die Mrs. Henley mit anderen Männern gesehen haben? Mr. Woolton und Mrs. Dobbs? Wir sollten die Fotos der einschlägig Vorbestraften mit ihnen durchgehen, finden Sie nicht, Sir?«

»Ja, natürlich, das sollten wir wohl. Wäre ein gottverfluchter Zufallstreffer, aber Sie haben recht, Clive. Nur keine Option offenlassen. Sorgen Sie dafür, dass das morgen im Laufe des Tages passiert? Danke.«

* * *

Der Chief Inspector hatte sich nach der Besprechung in sein Büro zurückgezogen. Er wollte noch einmal alle Fakten durchgehen, um keinen Aspekt zu übersehen, kein Detail unbeachtet zu lassen. Sie war sofort wieder da, die alte Sucht nach Perfektion, seine Besessenheit. Der Drang, sich in den Fall zu verbeißen, dem Täter gnadenlos näher zu rücken, den Zwang, den er nicht unterdrücken und nur mit äußerster Anstrengung kanalisieren konnte. Und Norcott kannte auch die Nebenwirkungen: Nervosität und Perfektionismus, eine Mischung, die Mitarbeiter zum Wahnsinn trieb.

Er strich sich, wie immer, wenn er nervös war, durch die Haare. Dabei sah er auf die Uhr und musste auf einmal lachen. Es war weit nach neun Uhr und ihm fiel gerade ein, dass er noch gar nicht wusste, wo er übernachten sollte.

Wie auf ein Stichwort klopfte es kurz und Sergeant Pearson schaute herein.

»Entschuldigung, Chief, die meisten haben für heute Feierabend gemacht und ich wollte fragen, ob Sie mich noch brauchen?«

Norcott winkte ihn herein. »Ganz kurz noch, John«, er grinste verlegen. Wieder das Streichen über sein Haar. »Ich habe gar nicht an ein Bett für heute Nacht gedacht.«

Aber ich, sagte das Lächeln, mit dem Pearson antwortete. »Ich habe mir die Freiheit genommen, ein bisschen vorzusorgen. Im Hotel ›Guillaume de Beauvoir‹ ist ein Zimmer reserviert.«

»Danke, John«, erwiderte Norcott erleichtert. »Ich hatte mich schon gefragt, ob überhaupt noch Hotels geöffnet sind. Urlauber gibt es wohl keine mehr auf der Insel?«

»Leider nein.« Pearson nickte. »Viele Hotels haben schon vor Wochen geschlossen. Einzelne, wie das Beauvoir, halten sich mit Flüchtlingen, vor allem aus Frankreich und Belgien, über Wasser. Aber wie das Ganze weitergehen soll …« Der Sergeant zuckte mit den Achseln und verstummte.

Was die kommende Finsternis für sie alle bereithielt, das wollte sich Norcott nicht vorstellen. Für heute Nacht freute er sich einfach nur noch auf ein bequemes Bett, etwas Warmes zu essen und vielleicht auch auf einen Whisky. Weitere Zukunftsgedanken würde er auf morgen verschieben. Er schlug mit Entschiedenheit die vor ihm liegende Akte zu. »Kommen Sie, John. Es ist fast zehn. Schluss für heute!«

Kapitel 4

St. Peter Port, Polizeizentrale

Freitag, 21. Juni 1940, morgens

Normaler Dienstbeginn in der Hospital Lane war um sieben Uhr. Gewöhnlich war das Arbeitstempo der Beamten, speziell morgens, eher gemächlich. Dies schien sich seit gestern komplett verändert zu haben. Bereits um zwanzig Minuten vor sieben trafen die ersten Constables ein und auch Sergeant Mulgrave war schon seit halb sieben im Büro. Der ältere Sergeant vom Dienst, der die Nacht über Bereitschaft gehabt hatte, beobachtete stirnrunzelnd das geschäftige Treiben um sich herum. Eine Aufregung, als wenn der König auf Besuch käme, dachte er bei sich. Als Constable Lancer dann noch mit einer Kanne duftenden Inhaltes vorbeistrebte, zog er endgültig die Augenbrauen in die Höhe.

»Lancer, was zur Hölle ist das?«

»Kaffee, Sergeant. Starker heißer Kaffee zum Wachwerden. Möchten Sie einen Becher?« Er strahlte und hob einladend die Kanne.

Der Sergeant hob zweifelnd die Augenbrauen. Er war sich sicher, dass bei dieser Truppe von neu entstandenen Frühaufstehern nichts so überflüssig war wie Kaffee zum Wachwerden, behielt diesen Gedanken aber für sich.

»Nein, schönen Dank, Lancer«, sagte er milder. »Ich hab gleich Schichtende und werde mich dann in mein Bett legen.«

Um zehn Minuten vor sieben betrat Charles Norcott das Gebäude. Seine latenten Rückenschmerzen hatten dank eines guten Hotelbettes nachgelassen. Auch zwei großzügige Portionen eines überirdisch guten schottischen Whiskeys hatten ihre Wirkung getan. Den Morgen begann Norcott optimistisch und voller Entschlossenheit. Auch wenn er gestern bereits das Jagdfieber der Männer gespürt hatte, war der Chief Inspector doch überrascht, auf dem Weg zu seinem Büro die Stimmung so überdeutlich spüren zu können.

Da und dort standen Männer zu zweit oder zu dritt zusammen und diskutieren ganz offensichtlich lebhaft den Fall. Eine leise innere Stimme warnte Norcott zwar weiter vor Übereifer, aber auch in ihm stieg das lange vermisste Jagdfieber auf. Er konnte nachfühlen, dass die meisten von ihnen nicht Polizist geworden waren, um bis ans Dienstende verirrten Urlaubern den Weg zu weisen oder auf der Promenade Taschendieben hinterherzujagen.

Leider nahm der täglich wachsende Papierkrieg keinerlei Rücksicht auf seinen neuen Fall und so wusste Norcott, er würde sich heute dem Berg Papier widmen müssen, der sich auf seinem Schreibtisch türmte. Vorher wollte er aber unbedingt, wenigstens kurz, mit den beiden Detective Sergeants sprechen. Der Mordfall Nora Henley war mittlerweile knapp achtzehn Stunden alt.

Er traf beide in ihrem gemeinsamen Büro an, das im selben Flur lag wie sein eigenes. Nach der knappen Begrüßung zog sich Norcott einen der betagten Besucherstühle heran. »Sie beide sehen nicht aus, als wäre heute Nacht etwas Bahnbrechendes vorgefallen.«

Auch wenn es eher eine Feststellung als eine Frage gewesen war, verneinten beide Männer.

Norcott lächelte. »Offen gesagt hatte ich auch wenig Hoffnung, dass der Täter die Güte haben würde, sich zu stellen. Also werden wir heute dort weiterarbeiten, wo wir gestern aufgehört haben.« Er seufzte.

»Ich beneide Sie nicht um das, was Sie in Ihrem Büro erwartet, Chief.« Mulgrave lächelte mitfühlend.

Norcott zuckte mit den Achseln. »Es hilft ja nichts, Clive. Die Evakuierungen werfen jeden Tag neue Fragen auf. Tausende jetzt unbewohnte Wohnungen und Häuser, allein gelassenes Vieh …« Er hob in einer hilflosen Geste die Hände. »Für das alles gibt es keine Planungen. Nicht einmal Ansätze zur Planung.«

»Bis hin zu der Frage«, ergänzte Pearson, »wie wir mit deutlich weniger Personal auskommen sollen.«

Die Polizei der Kanalinseln war auf die Bevölkerung von knapp 100.000 Menschen ausgerichtet. Die Kriminalität, die mit den zahlreichen Feriengästen auf die Insel kam, im Wesentlichen Taschendiebstahl und Ruhestörungen, wurde durch die fast vollständige Abwesenheit von Gewaltverbrechen aufgewogen. Bestimmte Delikte, etwa Autodiebstahl kam überhaupt nicht vor. Wohin sollte man mit einem gestohlenen Wagen auch fahren? Nun war zwar durch die Evakuierungen die Bevölkerung geschrumpft und der Fremdenverkehr zum Erliegen gekommen, aber ganz neue Probleme forderten Aufmerksamkeit. Flüchtlinge, vor allem aus Frankreich, die versuchten, Hitlers Armeen zu entkommen, trafen täglich mit kleinen und kleinsten Booten ein. Viele hatten kaum Nahrung bei sich, die Versuchung in leer stehende Häuser einzudringen, war groß.Der Chief Inspector erhob sich von seinem Stuhl. »Hat keinen Sinn, Trübsal zu blasen. Wir müssen es durchstehen.«

»Aye, Chief!« Beide Sergeants nickten, aber die Nachdenklichkeit blieb.

Zurück in seinem Büro widmete sich Norcott zunächst den Dienstplänen. Es würde eine Menge Erfindungsreichtum dazu gehören, mit weniger Kräften umfangreichere Aufgaben zu lösen. Das begann bei Norcotts eigenem Schreibtisch. Sein bisheriger Stellvertreter auf Guernsey, ein junger Detective Inspector, war Reserveoffizier der Royal Military Police und hatte schon am Mittwoch die Insel mit den Truppen verlassen. Seither hatte es keinen Polizeioffizier mehr auf Guernsey gegeben. Norcott setzte sich an seinen Schreibtisch und überflog die obersten Papiere. Dienstplanentwürfe der nächsten Wochen, alle Arten von Verwaltungspapieren, zu denen er als leitender Polizeibeamter Stellung nehmen sollte und, immer wieder, offene Fragen der Evakuierung.

* * *

Ein lautes Klopfen ließ Charles Norcott aus seinen Gedanken aufschrecken. Sergeant Pearson stand mit leicht schuldbewusstem Gesicht in der Tür. »Entschuldigung, Chief, ich hatte schon zweimal geklopft, aber Sie haben mich wohl nicht gehört.«

»Macht nichts, John, kommen Sie. Was kann ich tun?«

»Oh, die Zeichnerin ist gerade gekommen, Miss Rhys-Lynch. Clive Mulgrave hat sich vorhin noch darum gekümmert, bevor er in die Parnell Road gefahren ist. Mr. Franoux, unser alter Phantomzeichner hat sich evakuieren lassen und … ach, sie wird es Ihnen sowieso selbst erzählen. Ich wollte sie Ihnen kurz vorstellen?«

Norcott hätte auch darauf verzichten können, die Phantomzeichnerin persönlich kennenzulernen, aber ihm war jede Unterbrechung seines Papierkrieges willkommen. »Ja, John. Sicher.«

Pearson öffnete die Bürotür. »Miss Rhys-Lynch? Bitte entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten. Detective Chief Inspector Norcott würde Sie jetzt gern kennenlernen.«

Die junge Frau, die jetzt sein Büro betrat, war eine wirkliche Erscheinung. Sie war nur unwesentlich kleiner als Norcott selbst und überragte Sergeant Pearson um mindestens einen halben Kopf. Die kinnlangen, weißblonden Haare lagen in weichen Wellen um ein ebenmäßiges Gesicht, das von strahlenden, meerblauen Augen dominiert wurde. Sie hielt ihre schlanke Hand ausgestreckt und lächelte ihn gewinnend an.

»Chief Inspector, Vicky Rhys-Lynch – mit drei Ypsilon. Schön, Sie kennenzulernen, wenn auch vielleicht nicht …«

»Nicht unter diesen Umständen«, ergänzte Norcott leicht stockend, der immer noch ihre Hand festhielt. »Ja, Mrs. Rhys-Lynch, ich kann …«

»Miss, bitte.«

»Entschuldigung, Miss Rhys-Lynch …«

»Sagen Sie doch einfach Vicky, Chief Inspector. Das macht vieles einfacher.« Sie sprach mit einem kaum wahrnehmbaren walisischen Akzent. »Sie können mir übrigens jetzt meine Hand zurückgeben.«

Norcott musste lachen. »Bitte entschuldigen Sie, Miss …«

»Vicky.«

»Vicky ja. Bitte entschuldigen Sie nochmals, ich war gerade vertieft in diese Papiere.« Er machte eine Geste über die Papierberge. »Bitte setzen Sie sich doch einen Moment. Darf ich Ihnen einen Tee bringen lassen?«

»Offen gesagt, Chief Inspector, ein Kaffee wäre mir lieber. Ich konnte mit Tee noch nie etwas anfangen. Sehr unbritisch, in der Tat.«

Norcott sah zu Pearson, der nickte und dann das Büro verließ.

»Ihr Mr. Mulgrave rief heute Morgen in der Schule an und schien einigermaßen konsterniert, dass sich Mr. Franoux zum Festland aufgemacht hat. Nun, Sie haben ja wohl noch einen Mörder zu fangen, machen wir es also kurz. Ich bin ausgebildete Kunsterzieherin, zur Künstlerin hat es damals nicht gereicht. Ich habe versucht, mein Geld damit zu verdienen, kleinen Mädchen und Jungen so etwas wie Sinn für Stil und Kunst beizubringen, bis eine entfernte Tante sich entschloss zu sterben, rechtzeitig bevor ich im Schuldienst alt und grau werde. Sie hat mir ein Cottage hier vermacht und ein bisschen Geld und so habe ich dem Schuldienst adieu gesagt und widme mich wieder dem Malen.«

Ein Constable brachte den Kaffee und so hatte Miss Rhys-Lynch Zeit, Luft zu holen. Norcott, der immer noch damit beschäftigt war, ihre blauen Augen zu bewundern, wartete auf die Fortsetzung.

»Wo war ich? Ach ja. So hat es mich also von Aberystwyth hierher verschlagen. Nachdem sich viele Lehrkräfte haben evakuieren lassen, wir aber immer noch einen Haufen Kinder hier haben, hatte ich angeboten, wieder zu unterrichten. So bin ich quasi die Nachfolgerin oder der Ersatz für Mr. Franoux. Und wenn Sie wollen, versuche ich auch seine Aufgabe hier zu übernehmen.«

Charles Norcott musste sich eingestehen, dass er fasziniert war. Natürlich war sie eine wirklich attraktive Frau, aber es war vor allem die Energie, die sie versprühte. Er war bereits jetzt überzeugt, dass es nur wenige Herausforderungen gab, vor denen Vicky Rhys-Lynch kapitulieren würde.

Ms. Rhys-Lynch kniff ein wenig die Augen zusammen und beugte sich zu Norcott vor. »Chief Inspector, Sie haben da sicher mehr Erfahrung, aber sollten wir nicht vielleicht jetzt mit den Zeichnungen anfangen?« Ihr energiegeladenes Lächeln war so bezaubernd und völlig ohne Arg – Norcott streckte die Waffen.

Er holte Atem. »Bitte entschuldigen Sie, Vicky, ich halte Sie hier die ganze Zeit im Gespräch fest.« Norcott stand entschlossen auf. »Nein, bitte warten Sie doch einen Moment hier. Ich werde sehen, ob schon beide Zeugen bereitstehen. Es wäre mir wichtig, dass Sie mit den beiden Zeugen getrennt arbeiten.«

»Mmm, ich verstehe, Sie befürchten gegenseitige Beeinflussung.«

Norcott nickte und öffnete seine Bürotür. John Pearson, der im Büro schräg gegenüber saß, sprach dort mit einem stämmig gebauten Mann im Tweed-Anzug. Als er Norcott sah, nickte er ihm zu und entschuldigte sich bei dem Mann.

»Das ist Roger Woolton, Chief. Wir könnten mit ihm gleich anfangen, falls Miss Rhys-Lynch bereit ist?«

»Was ist mit Mrs. Dobbs?«, fragte Norcott zurück. »Haben wir sie erreicht oder ist sie schon hier?«

Sergeant Pearson räusperte sich bei der Erwähnung der Zeugin. »Ja, sie ist hier. Constable Lancer geht seit einer halben Stunde mit ihr unsere Fotoalben durch. Er gibt wirklich sein Bestes. Aber«, er hüstelte leise, »nun, sie ist wirklich anstrengend. Der Junge kann einem leidtun.«

Norcott nickte zur Bestätigung. »Wo sitzen die beiden?«

»Im Besprechungsraum 2. Soll ich mich dann mal um Mr. Woolton und Miss Rhys kümmern?«

»Ja bitte, John, übernehmen Sie das. Miss Rhys, ähm … Vicky muss auch noch ein bisschen eingewiesen werden.« Er drehte sich um. »Vicky. Kommen Sie? Wir würden gern mit Mr. Woolton hier anfangen.«

Norcott streckte sich und versuchte, den Rücken zu dehnen, während er der kleinen Gruppe hinterher sah, die in Pearsons Büro verschwand. Er sehnte sich plötzlich nach einem starken Kaffee. Etwas zu essen, wäre auch eine gute Idee, dachte er sarkastisch. Sein Frühstück hatte mal wieder nur aus einer schnellen Tasse Tee bestanden und er musste sich nicht erst Dr. Hamiltons Ermahnungen ins Gedächtnis rufen, um ein schlechtes Gewissen zu bekommen. Er straffte sich. Jetzt wollte er sich erst einmal Mrs. Dobbs ansehen. Er ging den Flur entlang und öffnete die Tür zum Besprechungsraum. Lancer sah sofort hoch, als er die Tür hörte, während Mrs. Dobbs wie gebannt auf die Fotoalben starrte.

Norcott ging auf sie zu und streckte ihr mit einem freundlichen Lächeln die Hand entgegen. »Guten Tag, Mrs. Dobbs. Ich bin Chief Inspector Norcott. Ich leite die Ermittlungen im Fall Nora Henley.«

Im ersten Moment wirkte es so, als könne sich die Angesprochene nicht von den Bildern lösen, dann wandte sie sich aber doch Norcott zu. Wieselflink, bemerkte er, wanderten ihre Augen über sein Äußeres. Für einen kurzen Moment hatte der Chief Inspector das Gefühl, taxiert zu werden. In einer Art, in der man ein altes Pferd taxiert, um zu entscheiden, ob es sein Futter noch wert sei. Mrs. Dobbs trug ein Sommerkleid mit großen Blüten in Pastellfarben. Es wirkte betont jugendlich und war etwas zu knapp für die leicht füllige Zeugin. Sie gaben sich die Hand und Mrs. Dobbs schenkte dem Kriminalbeamten ein Lächeln. Ein Lächeln, das eine Spur zu freundlich war und doch kalt wirkte. Wieder glaubte Norcott, Berechnung spüren zu können.

»Mrs. Dobbs, zunächst vielen Dank für Ihre Hilfe. Wir sind uns bewusst, was für ein Schock der Tod Ihrer Nachbarin für Sie sein muss.«

Ihre Miene veränderte sich pflichtschuldigst. Mechanisch bewegten sich die Mundwinkel nach unten, züchtig wurden die Augen niedergeschlagen. Mrs. Dobbs schaffte es, in den Sätzen, die folgten, alles einzuschließen: Ihre Bestürzung über den Tod ihrer ach so geschätzten Nachbarin, die Befürchtung, sicher das nächste Opfer des Killers zu werden und ihre Bereitschaft, der Polizei tapfer und selbstlos zu helfen.

Norcott hörte kaum auf den Inhalt ihres Geplappers. Er wusste instinktiv, dass nichts davon echt und ehrlich war. Es schoss ihm durch den Kopf, dass allein Mrs. Dobbs’ Stimme nicht so perfekt zu der Vorstellung passte, die hier gerade gegeben wurde. Sie war zu schrill. Auf eine irrationale, unlogische Art schien es Norcott, als ob diese Stimme das einzig ehrliche an dieser Frau war. Trotzdem mussten sie versuchen, alle eventuell vorhandenen Informationen aus ihr herauszubekommen.

»Mrs. Dobbs, wir sind Ihnen für Ihre Mithilfe wirklich dankbar. Es kann für uns eine wichtige Hilfe sein, falls Sie einen Verdächtigen wiedererkennen würden.« Norcott ließ seine Stimme leiser werden und gab ihr einen verschwörerischen Unterton. »Zeit, Mrs. Dobbs, ist für uns bei einem Kapitalverbrechen immer der wichtigste Faktor. Die ersten Stunden und Tage nach der Tat sind entscheidend. Es wäre uns daher höchst willkommen, wenn Sie sich – bei aller notwendigen Sorgfalt – die Bilder möglichst zügig ansehen könnten.«

Ohne ihr die Chance einer Antwort zu geben, sagte Norcott: »Constable, sobald Mrs. Dobbs mit den Fotoalben fertig ist, fragen Sie bitte Sergeant Pearson, ob die Zeichnerin für das Phantombild schon frei ist. Mrs. Dobbs«, er reichte ihr die Hand, »nochmals vielen Dank für Ihre Mithilfe.«

Norcott widerstand auf dem Weg zurück in sein Büro der Versuchung, in Pearsons Büro hineinzuschauen um der neuen Zeichnerin über die Schulter zu sehen. Zufrieden mit sich, gab er einer anderen Versuchung nach. Er bog in die Teeküche ab und nahm einen Becher Kaffee mit.

Kapitel 5

St. Peter Port, Polizeizentrale

Freitag, 21. Juni 1940, Mittag

Es war weit nach ein Uhr, bis Sergeant Pearson wieder an Norcotts Bürotür klopfte. Der Chief Inspector warf seinen Bleistift auf die Akten und winkte seinen Sergeant erleichtert herein. »Kommen Sie, John. Wie sieht’s aus?«

Pearson setzte sich auf einen der Besucherstühle und rieb sich über die Augen. »Wie Sie wohl schon erwartet hatten, ist bei der Zeichnung mit der Hilfe von Mrs. Dobbs nicht viel herausgekommen. Miss Rhys hat wirklich eine Engelsgeduld bewiesen, aber letztendlich, wir wussten ja, dass die Dobbs diesen Soldaten oder was immer er war, nur kurz und nur im Profil gesehen hat.« Pearson zuckte mit den Schultern.

Norcott nickte. »Was ist mit der anderen Zeichnung?«

Als Antwort entrollte Sergeant Pearson ein großes Zeichenblatt und Norcott pfiff leise durch die Zähne. »Alle Wetter, John. Das sieht ja fast wie ein Foto aus!« Er streckte die Hand aus, als wolle er das Bild berühren. »Wirklich gute Arbeit!« Er war ehrlich begeistert. Falls dieser Mann noch auf der Insel war, dann würden sie ihn mit diesem Bild auch finden.

Pearson lächelte zufrieden. »Mit dieser Qualität können eine Menge der hauptberuflichen Polizeizeichner im Yard nicht mithalten, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Miss Rhys ist ein absoluter Glückstreffer. Wobei auch Mr. Woolton ein idealer Zeuge ist. Clive hatte ganz recht bei seiner Beurteilung.« Er rollte das Blatt wieder zusammen und stand auf. »Wenn Sie keine andere Anweisung für mich haben, würde ich das Bild dann jetzt zum Abfotografieren und Vervielfältigen an Roddy geben?«

»Ja, John, machen Sie das. Und dann das Übliche, Streifenbeamte, Hafenbehörde, öffentliche Dienststellen und so weiter.« Er sah auf die Uhr. »Haben Sie schon gegessen, John?«

»Nein, Sir, ich wollte gleich runter zu Largo’s am Hafen auf eine Portion Fish’n’Chips. Möchten Sie mitkommen?«

Norcott, der normalerweise kein Liebhaber der fettigen Fischspezialität war, nickte. Largo’s war ein kleiner Stand direkt am Hafen, der nur tagesfrischen Fisch anbot und dessen Qualität unschlagbar war. Der Stand war derart beliebt, dass man munkelte, der Besitzer sei mittlerweile Millionär.

Viele der Angestellten hatten Mittagspause und so dauerte es eine Weile, bis sie bei Largo’s an der Reihe waren. Der nahezu kugelrunde Verkäufer strahlte, er schien Pearson zu kennen.

»Mr. Grantly, einen schönen Tag für Sie«, begrüßte Pearson den Mann. »Wir hätten gern zwei Portionen mit allem bitte.«

»Eine gute Wahl, Sergeant! Zweimal Fish’n’Chips mit Erbsenbrei und eingelegten Zwiebeln, kommt sofort. Mit Mayonnaise die zwei?«

»Mit allem, was Sie uns Gutes zu bieten haben, Mr. Grantly!«