Crown of Three – Die letzte Schlacht (Bd. 3) - J. D. Rinehart - E-Book

Crown of Three – Die letzte Schlacht (Bd. 3) E-Book

J. D. Rinehart

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Beschreibung

So gewaltig und episch wie »Game of Thrones«: Das Finale der opulenten Fantasy-Trilogie um Macht und Schicksal, Liebe und Verrat, Sieg und Niederlage. Sie wurden in einer schicksalhaften Nacht geboren und dazu auserkoren, ein ganzes Land zu retten: Die Drillinge Gulph, Tarlan und Elodie töteten ihren eigenen Vater, den grausamen König Brutan, um das Königreich Toronia zu befreien. Eine uralte Prophezeiung sagte voraus, dass die Drillinge Elodie, Tarlan und Gulph den grausamen Herrscher Brutan stürzen und dem Königreich Toronia den Frieden zurückgeben werden. Doch die Mission scheint gescheitert: Gulph ist verschwunden, Elodie hat die Gruppe verraten und Tarlan steht alleine gegen eine Übermacht von Feinden … Kann sich die Prophezeiung doch noch erfüllen? »Wie ›Game of Thrones‹ an einem milden Tag.« Publisher's Weekly »Dieser aufregende, mystische und kreative Jugendroman zieht seine Leser sofort in den Bann. […] Spannend, kurzweilig, zauberhaft – ab nach Toronia!« Bücher, Spiele und Co Alle Bände der Crown-of-Three-Trilogie: Crown of Three – Auf goldenen Flügeln (Band 1) Crown of Three – Das Lied der Schlange (Band 2) Crown of Three – Die letzte Schlacht (Band 3)

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J. D. Rinehart

Crown of Three – Die letzte Schlacht (Bd. 3)

Aus dem Amerikanischen von Friedrich Pflüger

FISCHER E-Books

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Alle Rechte vorbehalten. Die Verwendung von Text und Bildern, auch auszugsweise, ist ohne schriftliche Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Dies gilt insbesondere für die Vervielfältigung, Übersetzung oder die Verwendung in elektronischen Systemen.

© S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Inhalt

Danksagung und WidmungGedichtPrologErstes BuchKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Zweites BuchKapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Drittes BuchKapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Zehn Jahre später

Mit besonderem Dank an Graham Edwards

Für RK

Toronia, das Reich der drei

ächzt’ lang in dunkler Nacht.

Wo schwache Menschen nimmer frei,

verführt von großer Macht.

 

Viel Blut und Treu’ verlorengeht

in der verwünschten Zeit.

Doch zieht der Dreistern auf, ersteht

das Königreich erneut.

 

Erstarkt im neuen Himmelslicht,

drei Erben zieh’n ins Land.

Die Macht des Unrechtskönigs bricht,

er fällt durch ihre Hand.

 

Drei Kronen tragen sie fortan

an Herz und Klugheit gleich.

Und eine neue Zeit bricht an

in Frieden für das Reich.

 

 

– Gryndor, erster Zauberer von Toronia

Prolog

Gryndor, der Zauberer, nahm einen Kiesel aus der Kristallschale und drehte ihn zwischen seinen knochigen Fingern. Der Stein war glattgeschliffen und schimmerte milchig weiß. In der Schale lagen schon Tausende von Kieseln, ein jeder von anderer Form und Farbe.

Meine Steine, dachte Gryndor. Meine Magie.

Die Schale stand auf einem Tisch aus Kristall unter dem verdunkelten Fenster von Gryndors Turm. Draußen sah er rot- und schwarzgestreifte Fahnen in der nächtlichen Brise wehen, hoch über dem prächtigen, weitläufigen Rubinpalast von König Warryck. Um den Palast breiteten sich die Stadt der Sterne und das ganze kristallene Reich Celestis aus. Die diamantenen Dächer funkelten im Mondschein, und die Straßen aus Saphir schimmerten wie Flüsse. Eine schützende Ringmauer zog sich um die Stadt, höher noch als im vergangenen Jahr.

Gryndor betrachtete die Befestigungen mit Sorge. Wenn wir den Krieg nur noch ein wenig länger aufhalten könnten!

Die anderen Zauberer in seiner Nähe rutschten ungeduldig auf ihren Bänken hin und her.

»Ich mache mir Sorgen um das, was du uns wohl zeigen könntest, Gryndor«, sagte Hathka. Seine dunkle Haut glänzte in der schwülen Abendluft.

»Und ich sorge mich, wann ich wohl zurück an meine Arbeit komme«, brummte Ravgar. Ihre Haut war im Gegensatz zu Hathkas ganz blass und ihre Miene noch säuerlicher als sonst.

Gryndor strich sich durch den dichten, grauen Bart. Wenn er Hathka und Ravgar in seinen Turm rief, war es meist wegen eines neuen Zauberspruchs oder einer magischen Theorie, an der sie gerade arbeiteten. Aber schon jetzt schienen diese Tage längst vergangen.

»Ich sorge mich ebenfalls«, erklärte Gryndor. Er ergriff seinen knorrigen Holzstab. »Und ich zeige euch jetzt, warum.«

Er schritt durch den großen, runden Raum. Sein silberner Umhang wirbelte Staub vom Boden auf. Seine alten Knochen knarrten, und er war froh, dass er sich auf seinen Stab stützen konnte.

Ein roter Punkt markierte die Mitte des Zimmers – der einzige Farbklecks im ganzen weißen Kristall. Gryndor bückte sich steif, legte den Kiesel, den er in der Hand hielt, auf den markierten Punkt und richtete sich wieder auf.

»Alter Ozean, bringe Stein«, hob er an. »Stein, bringe Magie. Magie, bringe Wahrheit. Wahrheit, bringe Erleuchtung …«

Dann sprach er schneller, und bald überstürzten sich seine Worte. Während er den Zauberspruch aufsagte, flogen seine Gedanken zurück zu seiner Zeit als junger Zauberer.

Ich ging am Strand des Ersten Tages entlang, und das Meer spülte die Kieselsteine an – also sammelte ich sie auf und erfuhr dabei, dass die Magie bei jedem Zauberer einer bestimmten, seiner eigenen Melodie folgt.

Stein ist meine Melodie.

»… Stein, rolle weit, Stein, rolle fern. Stein, zeige uns eine Welt, drei Reiche. Zeige uns die Wahrheit, Stein. Zeige uns die Wahrheit.«

Er verstummte und rang nach Atem. Sein Körper fühlte sich steifer an denn je – fast als wäre auch er aus Stein. Hathka und Ravgar drängten von beiden Seiten dicht heran und starrten auf den kleinen weißen Kiesel hinunter.

Aber der Kiesel war nicht mehr klein. Er war über alle Maßen gewachsen. Aber vielleicht waren es auch die drei Zauberer, die geschrumpft waren.

Vielleicht ist aber auch beides wahr, ging es Gryndor durch den Sinn, als er auf den Stein von der Größe einer ganzen Welt hinabblickte, über den sie nun wie Vögel hinwegzogen.

Hathka lachte auf und breitete seine Arme wie Flügel aus.

»Dies ist gefährliche Magie«, grunzte Ravgar. »Wenn wir nun abstürzen?«

»Wir werden nicht abstürzen.«

Gryndor deutete mit seinem Stab. Auf dieses Zeichen sanken er und seine Gefährten nun langsam auf die riesige steinerne Scheibe herunter. Auf ihrer Oberfläche zeichneten sich nun farbige Muster ab.

»Das ist eine Karte des Reichs!«, rief Hathka.

»Seht nur … Ritherlee«, sagte Gryndor und zeigte auf ein weites Grasland zu ihrer Linken.

»Und da liegt Isur.« Hathka wies auf einen ebenso großen, dunkel bewaldeten Landstrich. »Und dort Celestis! Wie es leuchtet!«

Ravgar schien nicht beeindruckt. »Gryndor, die drei Länder von Toronia sind uns allen bekannt. Deine Karte ist wirklich raffiniert, aber brauchen wir tatsächlich …«

»Still«, unterbrach Gryndor. »Seht nur.«

Je weiter sie auf die Karte niederschwebten, desto mehr Einzelheiten konnten sie erkennen. Städte zuerst, dann einzelne Gebäude und schließlich Menschen.

»Das sind ja Hunderte!«, ächzte Hathka. »Nein, Tausende! Aber warum …?« Seine Worte blieben in der Luft hängen.

»Du fragst dich wohl, warum sie kämpfen?«, bemerkte Gryndor.

Schweigend verfolgten die drei Zauberer die Schlacht, die tief unter ihnen tobte. Überall in Toronia kämpften gewöhnliche Leute mit Harken, Mistgabeln und anderen Behelfswaffen gegen denselben Feind: Soldaten in schwarzen und roten Waffenröcken.

»Aber das ist doch die königliche Armee!«, rief Hathka entsetzt aus. »Warum bekämpft König Warryck sein eigenes Volk?«

Als Gryndor sie näher an Ritherlee heranführte, zeigte sich, dass dort viele Felder kahl waren. Ausgemergelte Gestalten schleppten sich gebeugt über die schlammigen Ebenen.

Hathka keuchte entrüstet auf. Ravgar presste ernst den Mund zusammen.

»Auch das ist König Warrycks Werk«, sagte Gryndor. »Er lässt sein Volk ausbluten. Kaum wird in Ritherlee die Ernte reif, lässt er alles in die Palastküchen und Speicher schaffen. Während Warryck immer fetter wird, verhungert sein Volk.«

Sie schwebten jetzt über Isur, wo winzige Menschen Bäume fällten und bedrohlich wirkende Türme errichteten.

»Allen außer dem König und seinen Männern ist die Jagd verboten. Wer sich diesem Gesetz widersetzt, wird aufgehängt. Ihr kennt Isur als das Land der Wälder? Nun ist es das Land der Galgen.«

Mit einer Bewegung seines Granitstabes lenkte Gryndor sie weiter nach Celestis.

»Und was die Stadt der Sterne betrifft«, fuhr er fort, »so kann dort niemand mehr die Steuern aufbringen, die Warrycks Eintreiber fordern. Den Menschen in Celestis bleibt nichts. In ganz Toronia bleibt den Menschen nichts. Wen wundert es da, wenn es einen Aufstand gibt?«

»Zu lange habe ich mich für meine Studien eingeschlossen«, hauchte Hathka. »All dieses Leid habe ich nicht bemerkt.«

»Die Zeit für Studien ist vorüber«, erklärte Gryndor. »Die Zeit zum Handeln ist gekommen.«

»Handeln?«, fragte Ravgar zweifelnd. »Gryndor, wir müssen dieser Ungerechtigkeit ein Ende bereiten. Aber wir sind Zauberer, keine Krieger.«

»Trotzdem müssen wir handeln.« Gryndor deutete auf die Soldatenkolonnen, die aus den Ringmauern von Celestis strömten. »Weitere Truppen der königlichen Armee, die sich aufmachen, die Rebellen zu vernichten. Schon jetzt sind zu viele gestorben. Und das ist nur der Anfang. Wenn wir jetzt nichts unternehmen, wird in Toronia offener Krieg ausbrechen.«

Hathka schien entsetzt. »Aber so weit wird es doch nicht kommen! Auch Warryck muss doch früher oder später zu Vernunft gelangen!«

Gryndor ballte unversehens die Faust. »Und wenn ich euch sage, dass dieser Krieg tausend Jahre dauern wird? Dass man die Toten nicht in Tausenden, sondern Millionen zählen wird?«

»Wie kannst du das wissen?«, wandte Hathka ein.

»Meine Steine«, antwortete Gryndor. »Sie haben mir alles gezeigt, was ich wissen muss – dass das, was wir jetzt sehen, nichts ist im Vergleich zu dem, was kommen wird. Tausend Jahre Finsternis. Tausend Jahre Leid. Das ist die Zukunft … wenn wir es nicht verhindern.«

Ravgar zog argwöhnisch die Augen zusammen. »Und was genau sollen wir deiner Ansicht nach tun?«

»Wir müssen den König stürzen!«

Gryndor beschrieb mit seinem Stab einen weiten Kreis. Die Karte wich zurück, und die drei Reiche Toronias schwanden zu winzigen Punkten, während der Zauber in sich zusammenfiel. Nun standen sie wieder in der obersten Kammer des Kristallturms.

Zu Gryndors Überraschung lachte Ravgar. »Den König stürzen? Ihn töten? Wahrlich eine kühne Idee! Und ich hätte wirklich nichts dagegen, den Kopf dieses Tyrannen auf einer Lanze aufgespießt zu sehen. Ich wünsche dir viel Glück bei diesem Vorhaben.«

Hathka indessen schüttelte den Kopf. »Aber Gryndor … Was ist mit der Prophezeiung? Wird sie nicht Toronia vor dem Krieg bewahren, wenn wir einfach abwarten?«

»Die Prophezeiung?«, schnaubte Ravgar. »Pah! Nichts als Ammenmärchen! Drei Kinder, dem König geboren unter dem Schein magischer Sterne? Drei Kinder, auserkoren, Toronia zu retten? Hathka, glaubst du wirklich alles, was Gryndor dir erzählt?«

Gryndor hob den milchigen Kieselstein auf und ließ ihn in seine Tasche gleiten. Selbst hier tobt eine Schlacht. Wenn schon die Zauberer nicht in Frieden zusammenleben können, was bleibt da an Hoffnung für das übrige Reich?

»Mir ist nur beschieden, die Prophezeiung zu verkünden«, erklärte er gewichtig, »Mein Werk ist sie aber nicht, wie du sehr wohl weißt, Ravgar. Sie rührt aus den Sternen her, wie letztlich wir alle.«

»Wenn du glaubst, dass deine Prophezeiung …«

»Ich glaube nicht. Ich weiß. Die Prophezeiung ist ausgesprochen. Aber sie wird sich nicht gleich erfüllen, Ravgar. Noch nicht.«

Gryndor trat wieder ans Fenster, schob die Hände unter seine gesammelten Kieselsteine und ließ sie zwischen den Fingern spielen. Sie stießen aneinander und klangen dabei wie Glocken.

»Ohne euch kann ich das nicht tun, meine Freunde«, sagte er mit tiefer, ernster Stimme. »Wenn ich mich Warryck allein entgegenstelle, werde ich scheitern. Gegen drei Zauberer kann er aber nicht bestehen. Kein Mensch kann das. Steht mir bei, bitte, denn gemeinsam können wir Toronia retten.«

Hathka schluckte, schien für einen Moment zu überlegen und kam dann herüber ans Fenster. Er fasste Gryndors Hand. »Ich stehe zu deinen Diensten, Gryndor.«

Gryndor wandte sich an Ravgar und hob die Augenbrauen. Ravgar runzelte die Stirn und presste den Mund zu einem dünnen, weißen Strich zusammen.

»Ich glaube nicht an Prophezeiungen«, antwortete sie schließlich. »Aber ich vertraue auf die Gerechtigkeit. Ich werde dir beistehen, Gryndor.«

»Wenn werden wir zuschlagen?«, fragte Hathka.

Draußen dröhnte schallendes Gelächter in die Nacht. Die Fenster des königlichen Festsaals waren hell erleuchtet und die Luft von Rauch und vom Duft nach gebratenem Fleisch erfüllt.

»Der König feiert«, sagte Gryndor.

Die Erkenntnis schlug sich auf Ravgars bleichem Gesicht nieder. »Er wird keinen Angriff befürchten«, sagte sie langsam.

Gryndor nickte. »Eine bessere Gelegenheit werden wir wohl nicht bekommen.«

Jetzt, wo es so weit war, fühlte sich sein Rücken so gerade an wie damals als junger Zauberlehrling. In Erwartung des kommenden Kampfes bog er die Finger durch.

»Wir schlagen sofort zu.«

Die drei Zauberer nahmen ihre Stäbe und liefen zur Tür. Ravgar, eifrig wie immer, drängte an den beiden vorbei und legte als Erste die Hand auf den Türgriff.

Plötzlich war ein Zischen zu hören.

Gryndor blieb stehen und starrte entgeistert auf die rings um den Türrahmen aufblitzenden grellen Lichtstrahlen.

»Feuerstaub!«, schrie er. Er riss seinen Zauberstab in die Höhe.

Zu spät.

Die Tür ging in Flammen auf. Heiße Luft traf Gryndor wie ein Fausthieb und schleuderte ihn nach hinten. Er prallte so hart auf, dass es ihm den Atem verschlug. Wo die Tür gewesen war, loderte glühend weißes Feuer. In seinem Schein konnte Gryndor zwei gekrümmte Gestalten ausmachen, von denen kaum mehr als Knochen übrig war. Während er hinsah, zerfielen die spröden Skelette zu Asche.

Hathka und Ravgar waren tot.

Der Boden bebte. In der kristallenen Wand hinter Gryndor tat sich ein senkrechter Riss auf. Dichter weißer Rauch quoll heraus. Im Boden bildete sich ein zweiter Spalt, wurde größer. Der ganze Turm riss entzwei.

Gryndor rappelte sich unter Schmerzen auf, das Herz von Trauer und Grauen erfüllt. Dies war Warrycks Werk, da war er sich sicher. Er musste geahnt haben, dass Gryndor zuschlagen würde, und hatte seine Kammer mit Feuerstaub präparieren lassen, um ihn umzubringen. Aber wusste Warryck auch, was geschah, wenn ein Zauberer getötet wurde?

Oder gar zwei Zauberer?

Der Spalt im Boden weitete sich zu einem Abgrund. Gryndor setzte seine ächzenden Knochen in Bewegung und sprang hinüber. Im Türstock wütete noch immer der weißglühende Feuerstaub. Hinter ihm ballte sich dichter, beißender Rauchnebel.

Gryndor begriff, dass seine Hände leer waren. Er äugte über den Abgrund zurück. Sein Blick fiel auf einen Haufen von zersplittertem Holz.

Mein Zauberstab!

Aus der Türöffnung schoss eine Feuerzunge heran. Gryndor duckte sich und hinkte zum Fenster, die Augen auf die Schale mit den Kieselsteinen geheftet. Ihm fehlten kaum fünf Schritte bis zum Ziel, als der Turm zur Seite kippte. Die Schale rutschte vom Fenstersims, die Kiesel tanzten über die Steinfliesen und weiter in die monströse Kluft im Boden.

Meine Magie!

Ein weiterer Riss spaltete den Turm in zwei Hälften. Diesmal drang nicht Rauch herein, sondern das Licht der Sterne. Gryndor stolperte darauf zu. Wieder lief eine gewaltige Erschütterung durch den Turm. Von der Decke regneten Kristallsplitter herunter. Gryndor wich zweien aus, aber ein dritter – eine mannshohe, messerscharfe Diamantnadel – schnitt ihm tief in die Brust.

Er heulte auf vor Schmerz, riss sich los und zwängte sich durch den Riss. Draußen auf der Wendeltreppe, die um den Turm herumlief, blieb er entsetzt stehen angesichts dessen, was er sah. In ganz Celestis waren Feuer ausgebrochen. Die kristallenen Straßen waren voller kämpfender, rennender und schreiender Menschen. Die Fahnen auf dem Dach des Palastes brannten.

Aber das war noch nicht das Schlimmste. Die ganze Stadt war … gekippt. Die Mehrzahl der Gebäude war schon jetzt zur Seite gestürzt. Und vor Gryndors Augen zerbrach das schimmernde Land Celestis in Kristallsplitter.

Sieh nur, was du angerichtet hast, Warryck! Mit dem Mord an Hathka und Ravgar hast du auch Celestis zerstört!

Die Stadt neigte sich noch weiter. Gryndor klammerte sich an die Kristallbalustrade und achtete weder auf das Blut, das aus der Wunde in seiner Brust strömte, noch auf den Schmerz, der seinen ganzen Körper peinigte.

Schon war von den Nebengebäuden des Palastes unter ihm nur noch ein Trümmerhaufen aus zerbrochenen Kristallen übrig. Schreiend liefen Menschen durch die Ruinen und wurden von einstürzenden Mauern erschlagen oder verschluckt von neuen Abgründen, die sich unter ihren Füßen öffneten.

Gryndor blickte nach oben.

Sein eigener, bescheidener Turm war nur ein kleiner Teil von einem sehr viel größeren Bauwerk – dem Turm des Himmels, dem höchsten im ganzen Land. Er war nun das einzige Gebäude von Celestis, das noch aufrecht emporragte.

Die Treppe, auf der Gryndor stand, führte direkt dorthin.

Der Turm des Himmels wartet auf mich.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht hastete er die Stufen hinauf. Bei jedem Schritt nach oben spürte er, wie Celestis unter ihm absackte. Rings um die Stadt reckten sich nun riesige Felsnadeln in die Höhe. Celestis versank, und das umliegende Land war im Begriff, sich darüber zu schließen.

Gryndor setzte seinen schmerzhaften Anstieg fort und fragte sich, was Hathka und Ravgar im Augenblick wohl widerfuhr. Zauberer konnten nicht ins Reich der Toten gelangen. Irgendwo mussten sich ihre körperlosen Geister einen Weg aus dieser Welt in die nächste bahnen, und dabei ließen sie Chaos und Zerstörung zurück.

Wohin mochten sie wohl gehen?

Bald brauche ich mich das nicht mehr zu fragen. Er presste die zitternde Hand auf den immer größer werdenden Blutfleck auf seiner Robe. Bald werde ich selbst dorthin gehen.

Aber nicht, bevor er seine letzte Aufgabe erfüllt hatte.

Gryndor nahm alle Kraft zusammen und erreichte die oberste Spitze des Turms des Himmels. Mit dem Spektakel der untergehenden Stadt vergeudete er keine Zeit. Er widmete sich stattdessen dem, was ihn nun erwartete.

Die drei Statuen aus Kristall waren riesig – jede so hoch wie zehn Männer. Unter ihren schlangenhaft verschlungenen Körpern zeichneten sich im grünen Smaragd straff gespannte Muskeln ab. Unter jedem Leib verbarg sich ein Paar vogelartiger Beine, und über ihren Rücken spannten sich gewaltige grüne Schwingen. Unter den wütenden Reptilienbrauen funkelten goldgesprenkelte Augen aus gleißend rotem Rubin.

Die Lindwürmer!

Gryndor schleppte sich über das Turmdach. Im Licht der Sterne hinterließ er dabei eine zähe, dunkle Blutspur.

Mit zitternden Fingern schob er die Hand in die Tasche seines Umhangs. Er nahm den Kiesel heraus, den er dort hatte hineingleiten lassen.

Das Letzte meiner Magie.

»Stein, bringe Himmel«, krächzte er und war bestürzt über die Schwäche seiner Stimme. »Himmel, bringe Flucht. Flucht, bringe alles zum Schluss ins Recht.«

Er schloss die Finger fest um den milchigweißen Stein. Der Kiesel zersprang und bohrte ihm Splitter tief ins Fleisch. Gryndor achtete gar nicht darauf. Seine Aufmerksamkeit galt einzig den Lindwürmern.

Alle drei geflügelte Schlangen entringelten sich gleichzeitig. Knarrend richteten sie ihre kristallenen Körper auf. Ihre Flügel breiteten sich weit aus, wie ungeheure Segel aus Smaragd, krümmten sich in der Luft und begannen zu schlagen. Auf ihren mit Krallen bewehrten Beinen hoben sie sich von den Sockeln. Sie öffneten weit ihre Rachen und bleckten mörderische Zahnreihen aus Rubin. Und dann kreischten sie.

Als die ersten Schreie der erweckten Lindwürmer die Luft erfüllten, sank Gryndor seitwärts nieder. Sein Werk war getan. Ihm blieb jetzt nur noch zu sterben.

Diese Erkenntnis machte ihn unsagbar traurig. Noch schlimmer war jedoch, dass er wusste, dass sich mit dem Fall von Celestis seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten würden.

»Tausend Jahre Finsternis«, murmelte er. »Tausend Jahre Leid.«

Er blickte zu den Lindwürmern empor, die nun in Richtung der Sterne emporschwebten.

Oh, dachte er voller Verwunderung. Ihr seid wunderbar!

Schon rasselte der Atem scharf in seiner zerbrochenen Brust. Der Turm unter ihm erbebte und begann nun ebenfalls zusammenzustürzen.

Wenigstens Melchior war in Sicherheit, fern in seiner Werkstatt im Wald, ein junger Zaubererlehrling, der pflichtschuldig alles in sich aufnahm, was er als Gryndors Schüler zu lernen hatte. Dieser Gedanke machte Gryndor froh.

Hätte ich dich nur die Prophezeiung gelehrt, Melchior. Wirst du von ihr erfahren? Wird von meinen Büchern etwas für dich erhalten bleiben? Und wenn die Sterne der Prophezeiung schließlich erstrahlen und die drei geboren werden, die Toronia wieder ins Licht führen sollen, wirst du wissen, was zu tun ist?

Er nahm noch einmal all seine Kraft zusammen und rief zu den ihre Kreise ziehenden Lindwürmern hinauf: »Sucht euch einen sicheren Ort in der Welt! Geht dorthin und wartet! Falls die Prophezeiung scheitert, müsst ihr Toronia zu Hilfe kommen! Dann werdet ihr wieder fliegen!«

Mit einem ungeheuer knirschenden Dröhnen neigte sich der Turm des Himmels zur Seite. Gryndor musste mit Entsetzen beobachten, wie einer der drei Lindwürmer von einem herumwirbelnden Kristallbrocken getroffen wurde. Der Flügel der Kreatur zerbarst in Hunderte blitzender Splitter. Mit einem entsetzlichen Knacken brach sein Hals entzwei.

Und genau wie Celestis stürzte der leblose Körper des Lindwurms nieder.

Gryndor spürte keinen Schmerz mehr. Nun empfand er nur noch Verzweiflung, und das war sehr viel schlimmer. Die Lindwürmer waren seine letzte Hoffnung zum Schutz der Prophezeiung gewesen. Und nun war einer der drei vor seinen Augen gestorben.

Alles ist verloren. Die Prophezeiung wird scheitern. Toronia ist dem Schicksal verfallen.

Dann stürzte er in den Abgrund. Bevor sich die Erde über ihm schloss, konnte Gryndor einen letzten Blick hinauf zu den Sternen werfen.

Und die Sterne blickten zurück.

Erstes Buch

1015 Jahre später

Kapitel 1

Tarlan sank mit dem Gesicht nach unten auf Theetas Rücken. Der Atem pfiff rau durch seine vom Rauch versengte Kehle. Auf seinen Wangen glänzten Tränen.

Fort, dachte er. Es ist Zeit, weit, weit fort zu gehen.

Er barg sich tief in die fedrige Kuhle zwischen Theetas warmem Hals und ihren gewaltigen, schlagenden Flügeln. Dort verharrte er für einen Moment, reckte aber dann den Kopf wieder hinauf in die Luft und spähte nach unten.

Dort in der Tiefe brannte die Stadt Idilliam. Er sah, wie der spindeldürre Turm, der aus den Ruinen von Schloss Berg ragte, nun ebenfalls einstürzte und im Rauch versank. Wenige Augenblicke zuvor waren er und Theeta in dem Versuch, Gulph zu retten, noch über seine Zinne hinweggefegt.

Aber wir haben versagt! Mein Bruder ist abgestürzt – und ich hatte keine Gelegenheit, ihn kennenzulernen!

Aber er war nicht allein gefallen. Bei ihrem Überflug hatte Theeta auch das untote Monster, König Brutan, in die Flammen hinabgestoßen. Der Tyrann Brutan, Vater von Tarlan, Gulph und ihrer Schwester Elodie, war nun nichts mehr als Asche im Wind.

 

»Wir haben ihn zur Rechenschaft gezogen, Theeta«, sagte Tarlan unter Tränen. »Brutan hat Gulph getötet, aber er musste dafür bezahlen.« Er schluckte schwer. »Auch wenn das nicht genug ist. Es wird niemals genug sein.«

Theeta schwieg.

»Und wozu das alles?« Tarlan setzte sich auf und wischte sich wütend übers Gesicht. »Die Schlacht von Tiefenthal? Alles umsonst!«

»Sternengeschichte«, krächzte Theeta. »Lebenslicht.«

Nur zu oft zerbrach sich Tarlan über die seltsamen Äußerungen der Thorrods den Kopf. Diesmal jedoch nicht.

»Die Prophezeiung kann mir gestohlen bleiben! Und um mein sogenanntes Schicksal schere ich mich auch nicht! Ist mir egal, wenn irgendeine alte Legende behauptet, Gulph, Elodie und ich würden eines Tages Toronia regieren! Es stimmt: Unser Vater ist tot, wie von der Prophezeiung vorhergesagt – aber sonst ist alles schlimmer denn je. Gulph ist gestorben! Elodie ist zur Verräterin geworden! Und was mich angeht …«

Er ließ den Satz in der Luft hängen.

Ich werde nicht schon wieder anfangen zu weinen! Auf keinen Fall!

»Von den Menschen habe ich genug. Frische Luft und ein Bach, aus dem ich trinken kann – mehr brauche ich nicht. Mehr hatte ich in Yalasti auch nicht. Ich hätte gleich dort bleiben sollen.«

»Weit fliegen«, sagte Theeta.

»Das stimmt, Theeta. Yalasti ist weit weg.« Tarlan schöpfte tief Atem und ließ ihn langsam wieder ausströmen. »Aber eines muss ich vorher noch erledigen.«

Er zog sacht an Theetas Halskrause aus goldenen Federn und steuerte den Thorrod auf diese Weise weg von den brennenden Trümmern Idilliams in Richtung der grünen Wälder Isuriens. Wenig später kreisten sie über Tiefenthal.

Als sich Theeta den Hängen im Umfeld der befestigten Stadt auf der Anhöhe näherte, machte Tarlans Herz einen Sprung. Wo der Boden nicht vom Feuer versengt war, glich das Schlachtfeld einer zertrampelten Schlammwüste. Und überall lagen die Leichname von Bären und Pferden, Tigrons und Wölfen in ihrem eigenen Blut – seine treuen Freunde, die mit ihm gekämpft hatten. Die für ihn gekämpft hatten. Alle waren sie tot. Er konnte ein Stöhnen kaum unterdrücken.

Ich hatte kein Recht, sie in die Schlacht zu führen, warf er sich vor. Was kümmert es diese armen Kreaturen, wer dieses Land regiert? Toronier, Galadronier … wo ist da der Unterschied?

Nun wandte er sich der Stadt zu und beobachtete eine Gruppe von Leuten, die an einer Bresche in der Ringmauer ein Gerüst errichteten. Hier war einst der Eingang von Tiefenthal gewesen. Jetzt machten sich die Stadtbewohner daran, die von den Kriegsmaschinen der Galadronier angerichteten Schäden zu beseitigen.

Die Arbeit leitete der Verteidiger von Tiefenthal, ein riesenhafter Mann mit einem feurigen Rotschopf, der Hammer genannt. Neben ihm stand ein runzliger Mann in einem schmutzigen gelben Umhang. Beide sahen herauf, als Theetas Schatten über sie hinwegzog.

Theeta öffnete den Schnabel und kreischte. Die Männer, die unten die Verteidigungsanlagen reparierten, hielten sich erschrocken die Ohren zu. Selbst Tiere, die verwundet am Boden lagen oder zwischen den Kadavern herumwanderten, hoben die Köpfe, um den Grund für die Aufregung zu erfahren.

Auch zwei weitere Thorrods waren darunter.

»Nasheen!«, rief Tarlan. »Kitheen!«

Die gewaltigen Vögel hoben die Schwingen und kreischten ihrerseits zum Gruß. Tarlan wurde es etwas leichter ums Herz.

Meine Freunde! Mein Rudel!

Theeta landete neben den beiden Thorrods, und die Vögel rieben ausgiebig ihre Schnäbel aneinander. In diesem Augenblick kam ein blauweißer Blitz über die Wiese geschossen und sprang Theeta auf den Rücken. Tarlan nahm das junge Tigronweibchen in die Arme und ließ zu, dass es ihm mit seiner nassen, heißen Zunge ausgiebig das Gesicht leckte.

Filos schnurrte: »Ich bin froh, dich zu sehen, Tarlan!«

»Schluss jetzt, Filos! Du wirst mich noch ersäufen!«

Filos riss ihn zu Boden, wo Graudorn und Brock bereits warteten. Tarlan umarmte zuerst den Wolf – sehr behutsam wegen Graudorns Wunden – und dann den Bären.

»Wie geht’s mit dem Sehen?«, fragte er und strich über das verklebte Fell um das linke Auge des Wolfs. Das Auge selbst war weißlich getrübt.

»Ein gutes Auge genügt mir vollauf«, erwiderte Graudorn.

»Brock hat viele Feinde getötet!«, donnerte der Bär. Er reckte vor Tarlans Gesicht seine beiden Tatzen mit ihren gewaltigen Klauen in die Höhe. »Brock wird kämpfen, wann immer Tarlan befiehlt!«

Tarlan schob Brocks Pranken entschlossen von sich. »Ich werde dich nicht noch einmal bitten zu kämpfen, Brock. Keinen von euch werde ich mehr um irgendetwas bitten.«

Der große Bär zog verwundert die zotteligen Augenbrauen zusammen. »Brock versteht nicht.«

Filos rieb die Schnauze an Tarlans Hand. »Tarlan? Was ist los?«

Tarlan kraulte den Tigron hinter den spitzen Ohren. »Nichts. Alles wird gut werden.«

Alle blickten ihn erwartungsvoll an: Filos und Graudorn, Brock und die Thorrods.

Hinter ihnen hatte sich inzwischen eine größere Gruppe von Vögeln und anderen Tieren versammelt – die Überlebenden der Armee der Tiere, die er gegen die Eindringlinge aus Galadron angeführt hatte. Sein Rudel.

»Tarlan!«

Eine knorrige Hand legte sich Tarlan auf die Schulter und drehte ihn herum. Er stand Auge in Auge mit dem alten Mann im gelben Umhang.

»Melchior«, murmelte er. »Ich werde nicht bleiben.«

Der Zauberer blickte ihn verwundert an, was die Falten in seinem verwitterten Gesicht vervielfachte. Er fuhr sich mit der knorrigen Hand durch den verfilzten weißen Bart. »Wie meinst du das, Tarlan?«

»Lass mich in Ruhe!«

Nun trat bei Melchior Sorge an die Stelle der Verwunderung. »Was ist geschehen? Hast du Gulph gefunden?«

Tarlan machte sich los. »Ich kam zu spät nach Idilliam! Er ist gestorben! Bist du jetzt zufrieden?«

Ein Knurren lief durch die Menge der umstehenden Tiere. Melchior machte große Augen.

»Gestorben?«, fragte der Zauberer und stützte sich schwer auf seinen hölzernen Stab. »Meinst du …?«

»Was glaubst du, dass ich meine? Gulph ist tot. Und damit ist auch deine kostbare Prophezeiung hinfällig.«

»Was ist passiert?«

Tarlan sah ihn finster an. »Was spielt das für eine Rolle?«

»Erzähl es mir.«

»Er stürzte ins Feuer. Genügt dir das? Die ganze Stadt hat gebrannt, und Gulph ist hineingestürzt.«

»Aber hast du gesehen, wie er gestorben ist?«

Tarlan schüttelte den Kopf. »Das war nicht nötig. Niemand hätte diese Flammen überleben können. Niemand! Gulph ist tot! Und schon bald …«

Tarlan verkniff sich den Rest. Er kehrte Melchior den Rücken zu und ging vor seinem Rudel auf die Knie.

»Es tut mir leid«, sagte er; langsam bekam er seine Wut wieder in den Griff. »Ich hätte euch nie darum bitten dürfen, für so eine nutzlose Sache in den Kampf zu ziehen. Ohne mich seid ihr besser dran, ihr alle.«

Graudorn und Filos starrten ihn entgeistert an. Brock der Bär trat unsicher von einer Tatze auf die andere. Nasheen und Kitheen senkten die Köpfe. Als Tarlan Theeta ansah, durchbohrte sie ihn förmlich mit ihrem Blick.

»Ihr seid frei«, fuhr er fort, aber die Worte blieben ihm fast im Hals stecken. »Ihr alle – geht, wohin ihr wollt. Ihr braucht mir von nun an nicht mehr zu folgen.«

Es wurde ganz still. Vom Gras drang Feuchtigkeit in Tarlans zerlumpte Hosenbeine. Er wartete auf ihre Antwort. Und hoffte, dass sie nichts erwidern würden.

»Als du mich fandest«, sagte Graudorn schließlich, »da war ich auf Schloss Vicerin gefangen. Du hast mir die Freiheit geschenkt.« Der graue Wolf musterte Tarlan mit seinem verbliebenen Auge. »Das ist nun schon lange her, Tarlan. Ich bin dir bis heute gefolgt, weil ich das so wollte.«

»Du hast mir das Leben gerettet«, schloss sich Filos an. »Wo du hingehst, werde auch ich hingehen.«

»Du hast Brocks Käfig geöffnet«, dröhnte der Bär und blickte verloren vor sich hin.

Ringsum – offenbar auf dem gesamten Schlachtfeld – erhob sich missmutiges Knurren. Tarlans gesamtes Rudel war mit seiner Ankündigung nicht einverstanden.

Nasheen und Kitheen wechselten einen unergründlichen Thorrod-Blick und traten gemeinsam vor. Zu Tarlans Überraschung war es der schwarzbrüstige und sonst so schweigsame Kitheen, der ihre gemeinsamen Gedanken aussprach.

»Bleib, Junge«, krähte der riesige Vogel. Seine dunklen Augen funkelten wild.

Ich kann nicht, dachte Tarlan und rappelte sich hoch. Noch ein Augenblick, und ich werde das hier nicht mehr durchziehen können.

Er wandte sich zu Theeta um und musste feststellen, dass sie lautlos zu einer freien Stelle an einem nahen Hang hinübergeflogen war. Von dort aus starrte sie mit unergründlichen Zügen zu ihm herüber, die Flügel aber bereits ausgebreitet.

»Es tut mir leid«, sagte er zu den anderen. »Lebt wohl.«

Es brach ihm das Herz, als er ihnen den Rücken zukehrte und auf die wartende Theeta zuging. Er hatte sich kaum in Gang gesetzt, als ihm Melchior in den Weg trat.

»Tarlan, du irrst dich.« Die Stimme des Zauberers klang ruhig, aber kräftig. »Die Prophezeiung ist nicht verloren. Wenn du jetzt gehst …«

»Ich gehe jetzt wirklich!« Tarlan drängte am Zauberer vorbei, aber Melchior hielt ihn am Handgelenk fest. »Lass mich gehen! Hast du gehört? Gulph ist tot! Elodie ist zurück bei den Vicerins! Es ist vorbei!«

»Aber begreifst du nicht? Gulph könnte noch am Leben sein. Dir und Gulph und Elodie ist es bestimmt, Toronia zu regieren. Das besagt die Prophezeiung, und die Prophezeiung ist mächtig. Mächtiger als das Feuer, das du gesehen hast, und mächtiger, als wir alle fassen können. Ein alter Zauberer wie ich mit eingeschlossen.«

»Genau! Hört auf den Zauberer!«, erschallte eine andere Stimme.

Über Melchiors Schulter hinweg sah Tarlan den Hammer herankommen. Hinter dem Hünen folgte ein bunter Haufen von Leuten aus Tiefenthal. Tarlan stöhnte. So viel zu seinem geräuschlosen Aufbruch.

»Die Prophezeiung bringt Hoffnung«, fuhr der Hammer fort. »Ohne Hoffnung sind wir nichts.«

»Dann sind wir nichts«, schrie ein anderer aus der Menge. »Der Junge hat recht. Es war alles umsonst.«

Es erhoben sich weitere Rufe.

»Was ist nun mit der Prophezeiung?«

»Schert euch nicht um den Jungen! Wir müssen die Stadt wieder aufbauen!«

»Hört auf den Hammer!«

Die Stimmen verschwammen zu einem heillosen Durcheinander. Tarlan riss sich von Melchior los und rannte zu Theeta. Er drückte die Stirn gegen den großen, gebogenen Schnabel seiner besten Freundin.

»Tarlan geht«, krähte Theeta leise. »Theeta geht.«

Du glaubst, du verstehst, dachte Tarlan. Aber das stimmt nicht.

»Es tut mir leid, Theeta. Aber ich muss auch dich verlassen. Ich … bei mir ist man nicht sicher.«

»Theeta geht«, wiederholte der Thorrod.

»Nein. Bleib bei den anderen. Pass auf sie auf. Sie werden dich brauchen.«

Theeta wandte den Kopf und starrte den Abhang hinunter, wo die anderen Thorrods standen. Der Rest von Tarlans Rudel drängte sich verwirrt und bestürzt an die Flanken der großen Vögel. Die Leute aus Tiefenthal und auch der Hammer waren verstummt und beobachteten Tarlan mit unverhohlener Neugierde. Warum auch nicht? Hatte er ihnen nicht vor kurzem noch erzählt, er sei ihr König?

Melchior – der Zauberer, der doch sonst immer wusste, was zu tun war – stand regungslos, das Gesicht zu einer Maske der Trauer verzerrt.

Tarlan blickte Theeta tief in die Augen.

Du hast mich gefunden. Er getraute sich nicht zu sprechen. Wenn er jetzt den Mund öffnete, dann würde einzig das Geräusch vom Zersplittern seines Herzens herausdringen. Du hast mich gerettet, als ich ein Baby war, verlassen im Schnee. Du hast mich zur Frosthexe Mirith gebracht, die mir wie eine Mutter war, als ich keine eigene Mutter hatte.

Aber du, Theeta … eigentlich warst du es, die mich in diese Welt gebracht hat.

Er schloss die Hand um die tödliche Spitze von Theetas Schnabel. Mit der kleinsten Bewegung würde der Thorrod ein Loch in seine Handfläche stoßen. Dies war der ultimative Vertrauensbeweis.

»Lebewohl, Theeta.«

Dann schleppte sich Tarlan mühsam durch den zähen Schlamm davon.

Die ersten fünfzig Schritte musste er sich durch die von der Schlacht aufgerissene Erde seinen Weg suchen. Der Hang lief schließlich in eine raue Weide aus, und er kam leichter voran. Vor ihm ragte wie eine Mauer der Wald von Isurien auf.

Bis er den Waldsaum erreichte, trottete Tarlan mit gesenktem Kopf voran, jeder Schritt ein stumpfes Echo seines pochenden Herzschlags. Sein Kopf war leer – kein Gedanke, nur ein durchdringendes Tosen. Er trat nicht hinaus in die Welt, er sank in sie ein, so wie man in Treibsand versinkt. Die Welt zog ihn hinab, bis sie über seinem Kopf zusammenschlug. Dann wurde alles dunkel.

 

Ein leises Rauschen drang ihm ins Bewusstsein. Er blinzelte, blickte sich zuerst um und sah dann nach oben. Ein Schatten huschte vorüber. Ein warmer Luftschwall traf sein Gesicht. Die Sonne blitzte auf, blendete ihn.

Tarlan beschirmte seine Augen und sah verwundert zu, wie Theeta vom Himmel stürzte und nur eine Armlänge vor ihm landete. Ihre goldenen Federn strahlten, und die Sonne funkelte aus der Tiefe ihrer durchdringenden schwarzen Augen.

»Tarlan geht«, krächzte der Thorrod. »Theeta geht. Wir gehen.«

»Aber …«

»Nicht sprechen. Wir gehen.«

Das goldene Licht erfüllte Tarlans Kopf und raubte ihm das Sprachvermögen. Keine Worte, kein Gedanke. Keine Menschen, kein Rudel. Nur er und Theeta.

Tarlan stieg auf ihren Rücken. Mit den riesigen Krallen stieß sich der Thorrod vom Boden ab. Die breiten goldenen Schwingen zogen einmal durch die Luft, ein zweites und dann hundert Mal. Die Welt wich unter ihnen zurück. Die Höhenluft war rein wie ein kalter Bergbach. Tarlan sog sie in sich ein und fühlte sich geläutert.

»Thorrod fliegt«, sagte Theeta. »Fliegt weit. Rastet nie.«

Es war nicht die Art der Thorrods, Fragen zu stellen, aber Theetas bedächtiges Kreisen zeigte Tarlan, dass sie auf Anweisungen wartete. Er blickte hinunter auf den Wald – nun ein grüner Flickenteppich im Streiflicht der Sonne –, und dann über die Schulter zurück nach Süden in Richtung Yalasti, seiner eisigen Heimat.

Dann wandte er den Blick nach Norden. Er hatte keine Ahnung, was in dieser Richtung lag. Er war nie dort gewesen.

»Dorthin, Theeta.« Wie sich seine Stimme in der Kehle anfühlte … fast als hätte er nie zuvor gesprochen. »Nordwärts, bis die Sonne untergeht. Dann werden wir rasten. Und dann geht es weiter.«

»Rasten nie«, sagte Theeta und pflügte durch die frische, klare Luft voran.

»So ist es, meine Freundin. Wir werden niemals anhalten.«

Kapitel 2

Elodie starrte dem Geist ins Gesicht. Alles andere trat zurück: die Mauern ihrer Zelle an der Spitze des Weißen Turms, die Schwärze der Nacht draußen vor dem vergitterten Fenster und auch Sylva und Cedric, die sich neben ihr behutsam erhoben. Und der sonst so ernste Samial, der nun grinste.

Der Geist, den man im Leben Lady Darrand genannt hatte, fragte: »Was ist Euer Befehl?«

Elodie fiel ein, dass Leute in Ritherlee, wenn sie nervös oder aufgeregt waren, manchmal sagten, sie hätten eine Motte im Bauch. Nur dass es sich bei Elodie jetzt nicht wie eine Motte anfühlte, sondern wie Hunderte.

»Freiheit«, antwortete sie dem Geist von Lady Darrand. »Das ist mein Befehl. Freiheit und Sieg!«

Ihr Puls raste. Sie wusste – mit einem Mal wusste sie, und zwar so ohne jeden Zweifel, dass es ihr den Atem verschlug –, dass die Tage ihrer Haft hinter ihr lagen.

Nun würde sich alles ändern.

Lady Darrand stand auf. Ihr gelbes Gewand flatterte über ihrer schimmernden Rüstung. Sie barg ihr Schwert wieder in der Scheide, sah zunächst von Elodie zu Sylva und Cedric, dann blieb ihr Blick bei Samial hängen.

»Du bist wie ich«, sagte sie nachdenklich. Sie drehte sich ein wenig und deutete auf die Reihe der Phantome, die schwankend hinter ihr standen: die Edlen von Ritherlee, die – wie sie selbst – nur Tage zuvor von Lord Vicerin niedergemetzelt worden waren. »Du bist … tot.«

»Aber nicht vergessen, gnädige Frau«, erwiderte Samial, der immer noch grinste. »Und dafür hat Elodie gesorgt. Sie hat mich gesehen. Sie hat uns alle gesehen, unsere ganze Armee. Sie hat uns in die Schlacht geführt …«

Samial verstummte und suchte mit einem Seitenblick Elodies Unterstützung. Diese lächelte ihrem geisterhaften Freund zu. Er hat recht, dachte sie. Aber was ich hier getan habe, ist anders.

Und so war es. Die aus den Weinenden Wäldern auferstandene Armee hatte sich Elodie aus freiem Willen angeschlossen. Lady Darrand und die Edlen von Ritherlee dagegen waren nur hier, weil Elodie sie heraufbeschworen hatte.

Vor ihren Füßen lag ein Haufen von Gegenständen, die diesen Geistern einst gehört hatten. Samiel hatte sie auf dem Gelände der Burg zusammengetragen: ein Goldcollier, eine Münze, ein Fetzen verkohlter Seide, Lady Darrands Ring. Mit ihrer Hilfe hatte Elodie die Geister ihrer einstigen Besitzer herbeirufen können.

 

»Elodie«, flüsterte Sylva. »Wir können sie sehen. Cedric und ich – auch wir sehen und hören die Geister. Wie ist das möglich?«

Elodie lächelte. »Ist das wahr? Das liegt wohl daran, dass ich immer stärker werde.«

Lady Darrand holte ihr Schwert noch einmal hervor, hob es in die Höhe und fuhr mit der Hand über die breite Seite der Klinge. Ein alter Mann in einem feinen goldenen Waffenrock, der hinter ihr stand, blickte sich in Elodies Zelle um. Andere Geister taten dasselbe.

»Freiheit und Sieg«, sagte Lady Darrand. Ihre Stimme klang kräftig, zugleich aber eigentümlich fern, als rufe sie von der anderen Seite einer Schlucht herüber. »Erzählt mir mehr.«

Elodie presste die Lippen aufeinander. Wo sollte sie anfangen?

»Ich war mein ganzes Leben lang eine Gefangene«, fing sie schließlich an. »Ich wuchs auf im Glauben, Lord Vicerin sei mein Beschützer. Aber er log. Er versprach, eines Tages würde ich Königin sein, aber jetzt weiß ich, dass er mich nur benutzt hat. Vielleicht wäre ich dem Anschein nach Königin geworden, aber er hätte die Fäden in der Hand gehalten.«

»O Elodie«, sagte Cedric mit hängendem Kopf. »Sylva und ich werden unserem Vater niemals vergeben, was er dir angetan hat.«

»Von der Tochter zur Puppe«, bemerkte Lady Darrand. »Von der Puppe zur Gefangenen. Wie kommt es, dass Ihr in dieser Zelle sitzt, Elodie?«

Es tat Elodie so gut, ihre Geschichte zu erzählen. Wochenlang hatte sie eine Rolle gespielt und so tun müssen, als stünde sie auf Vicerins Seite, obwohl sie in Wahrheit nach einem Weg gesucht hatte, Fessan zu befreien. Als Vicerin das erkannte, sperrte er sie ein. Nach all den Lügen war es nun einfach wunderbar, die Wahrheit auszusprechen.

»Vor einigen Monaten wurde ich vom Dreizack aus Burg Vicerin entführt. Sie wollten mich zu ihrer Anführerin machen. Der Dreizack ist …«

»Die Rebellenarmee, die das Ziel verfolgt, die Prophezeiung erfüllt zu sehen. Ich weiß. Ich habe diese Leute unterstützt und ihnen wenn nötig Waffen und Nahrung gesandt.« Lady Darrand hatte die Augen aufgerissen. »Was wolltet Ihr sagen, Elodie?«

Elodie atmete tief durch. »In einem hatte Lord Vicerin recht: Ich werde Königin sein. Das besagt die Prophezeiung.«

Unter den Geistern erhob sich Gemurmel. Alle gingen vor ihr in die Knie.

»Ein Drilling der Prophezeiung«, sagte Lady Darrand verwundert. »Und, habt ihr Eure Geschwister schon gefunden, Elodie, eine der drei?«

»Ja, einen. Wir waren zusammen, als der Dreizack Idilliam angriff. Als Lord Vicerin aber Fessan gefangen nahm – er führte den Dreizack an –, da kam ich hierher zurück, um ihn zu retten. Doch dann …«

»Was dann, meine Liebe?«

»Vicerin ließ ihn hinrichten. Anschließend zwang er mich, ihn zu heiraten, damit er mir den Thron rauben konnte.« Sie wies auf das kitschige goldene Hochzeitskleid mit den vielen Bändern. »Jetzt bin ich wieder seine Gefangene. Aber nun, wo Ihr hier seid, werde ich frei sein.«

Vor dem Fenster loderten orangefarbene Flammen bis in den Nachthimmel hinauf.

Samial lief ans Gitter. »Ein Kampf«, berichtete er. »Die Hirschleute greifen die Vicerins an. Der Hof liegt schon voller toter Soldaten. Auch am Westturm brennt Feuer.«

Elodie erzählte Cedric und Sylva, was er gesagt hatte.

»Die Hirschleute?«, fragte Cedric und trat zu Samial ans Fenster. »Meinst du die Helkrags?«

»Diejenigen, die uns ermordet haben?«, fragte der Geist mit dem goldenen Waffenrock.

»Ja«, antwortete Elodie. »Aber ich verstehe das nicht. Ich dachte, sie hätten sich mit Vicerin zusammengetan.«

»Das bezweifle ich«, erklärte Cedric. »Soweit ich gehört habe, halten die Helkrags niemandem die Treue. Sie kümmert einzig, dass man sie bezahlt.«

»Unser Vater hat sie dafür bezahlt, Menschen umzubringen?« Sylvas Stimme klang matt und schockiert zugleich.

»Was hat er bezahlt?« Lady Darrands Stimme klang kalt und streng. »Was war der Preis für unser Leben?«

Die übrigen Geister drängten sich um sie. Einige hatten Schwerter und Dolche gezogen. Alle sahen sehr wütend aus.

»Kinder«, erklärte Samial. »Vicerin hält Kinder gefangen. Die wollte er den Hirschleuten als Sklaven überlassen.«

»Woher weißt du das?«, wollte Elodie wissen.

»Das habe ich zwei Männer von der Wache sagen hören. Man bekommt eine Menge mit, wenn man unsichtbar ist.«

»Erinnert Ihr Euch an die Kinder, die wir befreit haben?«, fragte Elodie. Mit Cedric und Sylva hatte sie die Kinder aus dem Kerker geholt und bei Hauptmann Leom in Obhut gegeben, einem alten Waldläufer, der sie in Sicherheit brachte – wohin, das wusste Elodie auch nicht. »Die Kinder waren der Preis«, sagte sie angewidert. »Die Helkrags müssen sich gegen Vicerin gewandt haben, als er den ausgehandelten Lohn nicht liefern konnte.«

Ein aufsteigender Feuerball ließ den Nachthimmel für einen Moment gelb aufleuchten. Schreie drangen herauf, gefolgt vom Getöse von einstürzendem Mauerwerk. Alle drängten sich vor dem Zellenfenster, Menschen wie Geister. Alle außer Elodie. Sie wusste, wie Schlachten aussahen, und brauchte nicht hinzusehen. Allerdings bot das Getümmel die vollkommene Ablenkung für ihre Flucht.

Rasch sammelte Elodie die Gegenstände auf, die sie zum Einberufen der Geister verwendet hatte. Sie stopfte alles in die Tasche ihres schlammverkrusteten Hochzeitskleides, wo sie auch die Pfeilspitze von Samial aufbewahrte, die es ihm ermöglichte, weiterhin in der Welt der Lebenden zu wandeln. Sie hoffte, die anderen Dinge würden dies auch den Geistern der Edlen ermöglichen.

»Hört alle her!« Alle Gesichter wandten sich ihr zu. Elodie fasste Lady Darrand ins Auge. »Ihr habt nach meinem Befehl gefragt.«

»Und Ihr habt ihn gegeben«, antwortete Lady Darrand. »Freiheit und Sieg, soweit ich mich erinnere.«

»Ja. Aber nicht nur für mich.« Elodie trat einen Schritt näher. »Wir werden Folgendes tun. Zuerst werden wir schauen, dass wir aus dieser Zelle herauskommen. Dann werden wir uns die Juwelen zurückholen …«

»Juwelen?«, fragte Cedric.

»Grüne Juwelen.« Elodie musste ihre Ungeduld bezähmen. Jetzt war keine Zeit für Erklärungen. Jetzt musste gehandelt werden. »Je ein Edelstein für mich und meine Brüder. Sie sind wichtig – ich weiß nicht, warum, aber es ist so. Vicerin hat zwei davon gestohlen.«

»Dann müssen wir sie zurückholen«, sagte Lady Darrand.

»Und wenn wir die Juwelen haben?«, fragte Sylva.

»Dann stellen wir eine Armee auf und marschieren gegen Idilliam. Wir werden meine Brüder finden. Gemeinsam werden wir die Krone ergreifen. Ich werde Königin sein! Und meine Brüder Könige! Dann wird sich die Prophezeiung erfüllen! Das meinte ich mit Freiheit und Sieg. Nicht nur für mich. Und nicht nur für Euch. Sondern für ganz Toronia!«

Elodie verstummte, atemlos. Zu ihrer Verblüffung machten die meisten Geister wieder einen Kniefall und beugten die Häupter. Lady Darrand und Samial taten es ihnen gleich. Auf den Treppen vor der Zellentür hörte man Stiefeltritte. Ein Mann hustete, und dann hörte Elodie einen Schlüssel im Schloss. Sie drehte sich in dem Moment um, als die Tür aufschwang. Vier stämmige Wachleute in verschrammten Rüstungen mit Vicerin-blauen Schärpen marschierten herein. Ein stämmiger Mann mit Schweißperlen im roten Gesicht hielt ein Bündel klingender Ketten und stachelbewehrter Handeisen in die Höhe.

»Ihr sollt mitkommen«, bellte er. »Fort vom Kampf. Lord Vicerin sagt …«

Sein Satz blieb in der Luft hängen. Wie seine drei Gefährten starrte er nicht auf Elodie, sondern auf das, was er hinter ihr sah.

Elodie verschränkte die Arme. »Wolltest du nicht etwas über Lord Vicerin sagen?« Sie spürte, wie etwas an ihrer Schulter vorbeistrich, als die Geister der Edlen von Ritherlee an ihr vorbeiströmten und mit erhobenen Schwertern auf die Wächter eindrangen.

Der Rotgesichtige quiekte. Er wirbelte auf dem Absatz herum, ließ die Ketten fallen und stolperte an seinen Kameraden vorbei, die ebenfalls nur einen einzigen Blick auf den Raum voller Geister warfen und ihm dann hastig nachstürzten.

»Folgt mir alle!«, rief Elodie den Geistern zu und lief ihnen nach.

Atemlos und in rasender Eile jagte sie die Treppe hinunter und hielt dabei den Saum ihres Kleides in die Höhe, damit sie nicht über die Bänder stolperte. Hinter ihr folgten Sylva, Cedric, Samial und die geisterhaften Edlen. Nach drei vollen Umrundungen im spiralförmigen Treppenaufgang gelangten sie in einen engen Flur, der sich in einem weiten Torbogen zu einem Anblick von blankem Chaos öffnete.

Am anderen Ende des Hofes lagen die Reste des Westturms, eines kleineren Nachbarn des Weißen Turms. Von dem gedrungenen Gebäude war nur noch ein Schutthaufen mit zersplitterten Balken übrig, die lichterloh brannten.

Zwischen den Ruinen befanden sich Hunderte von Soldaten im Handgemenge: die Vicerins mit ihren schimmernden Brustschilden und blauen Schärpen, die barbarischen Helkrags mit ramponierten Lederpanzern und mit Zähnen besetzten Pelzen. Die Luft war erfüllt vom klingenden Zusammenprall der Vicerin-Schwerter und Helkrag-Äxte.

»Das Nordregiment!«, rief Cedric im Schlachtgetöse. »Vater hat Verstärkung anrücken lassen!«

Aus der Richtung, in die er zeigte, sah Elodie eine berittene Abteilung auf riesigen, zotteligen Pferden heranpreschen und eine Schneise in das Durcheinander pflügen. Die Reiter trugen schwere Rüstungen und Helme mit silbernen Spitzen.

»Ich kann ihn sehen«, keuchte Sylva. »Seht, dort, in der Mitte zwischen den anderen.«

Elodie sog scharf die Luft ein. Tatsächlich: Lord Vicerin, der Mensch, den sie einst Vater genannt hatte.

Nur dass du kein Mensch bist, dachte sie grimmig. Du bist ein Ungeheuer.

Vicerins Pferd war sogar noch größer als die des Nordregiments – ein gewaltiges weißes Streitross mit dichter, geflochtener Mähne. Seine polierte Rüstung fing den Widerschein der nahen Flammen auf, und die riesigen blauen Federn auf seinem Helm bauschten sich im heißen, brausenden Wind.

»Unser Lord sieht ja fast wie ein Held aus«, bemerkte Lady Darrand spöttisch.

»Schöner Held, verkrochen hinter fünf Reihen gepanzerter Ritter«, murmelte Cedric.

Elodie sah, wie Vicerin das Schwert schwang und Befehle brüllte – Drohungen vor allem, was seinen Soldaten geschehen würde, falls sie den Feind nicht besiegten.

»Ich habe noch nie erlebt, dass das Nordregiment zur Burg zurückbeordert wurde«, sagte sie.

»Und nicht nur das«, erwiderte Cedric. »Dort, jenseits der Flammen – siehst du die Fahnen? Der ausgesandte Feldzug ist zurück. Wie es scheint, hat der Lord alle Regimenter zurückbeordert. Die ganze Armee ist hier auf Burg Vicerin versammelt.«

»Er ist verzweifelt«, sagte Lady Darrand.

»Und schwach«, fügte Elodie an.

Alle Blicke richteten sich auf sie.

»Schwach?«, fragte Sylva. Sie wies mit beiden Händen auf die Schlacht. »Ich habe noch nie so viele Soldaten gesehen.«

»Er ist schwach«, wiederholte Elodie. »Er hat alle seine Soldaten an einem Ort versammelt. Das macht ihn verletzlich.« Sie schüttelte den Kopf. »Offenbar kennt er nicht einmal die Grundlagen der Militärstrategie.«

»Dieser Mann ist ein verhätschelter, gepuderter Schnösel«, sagte Lady Darrand. »Elodie – ich sehe eine Lücke, dort. Da könnt Ihr durchkommen. Ich werde die Vicerins zu Eurer Rechten in Schach halten.«

Der alte Mann im goldenen Waffenrock führte sein Schwert an seine Stirn. »Und ich werde mich um die Helkrags zu Eurer Linken kümmern«, erklärte er.

»Ich danke Euch«, sagte Elodie. »Leider weiß ich nicht einmal Euren Namen.«

»Lord Winterborne. Mein Besitz liegt in den westlichen Ebenen nahe an der Küste. Und ich stehe Euch zu Diensten.«

»Glaubt Ihr, Ihr könntet uns sicher bis zur äußeren Ringmauer bringen?«

Lord Winterborne verbeugte sich tief. »Es wird uns ein Vergnügen sein, Euer Hoheit.«

Die kleine Gruppe von Geistern teilte sich und bahnte sich mit den Schwertern einen Weg durch die Kämpfenden, die niedersanken wie gemähtes Gras. Elodie und die anderen eilten durch den geschaffenen Korridor. Voller Befriedigung registrierte Elodie die überrumpelten und entsetzten Blicke der Helkrags und Vicerin-Soldaten, als die Phantomschwerter aus der feuerhellen Nacht auf sie herniederfuhren.

Und während sie rannte, hörte Elodie Stimmen. Sehr fern. Sehr alt. Sehr schwach. Stimmen, die trotz des Getöses der Schlacht an ihr Ohr drangen.

Die Stimmen der Toten.

Sie kamen von den Schlossmauern her, die ringsum aufragten, uralt und gewaltig.

Kann ich auch sie heraufbeschwören?, fragte sie sich.

Sie bog um eine Ecke und stand in einem kleinen Kräutergarten. Von den Kämpfenden war sie nun durch hohe, efeuberankte Mauern getrennt. Nach dem Gestank von Blut und Rauch war sie für den würzigen Duft von Salbei und Petersilie dankbar. Durch einen schmalen Torbogen am anderen Ende des Gartens fiel ein fahler roter Lichtschein. Doch es handelte sich dabei nicht um Feuer, es war die anbrechende Morgendämmerung.

Die lange Nacht neigte sich dem Ende zu.

»Hier ist jemand«, meldete Winterborne. Er erhob die Stimme. »Kommt heraus!«

Elodie spähte dem Geist über die Schulter und sah zwei Umrisse, die sich aus dem Zwielicht lösten.

Noch mehr Geister?

Die Gestalten verdichteten sich zu festen Körpern – keine Geister, sondern lebendige Menschen, die Elodie erkannte.

»Frida!«, rief sie aus, stürzte nach vorn und schlug die in einen schwarzen Umhang gehüllte Hexe in die Arme, die versucht hatte, Lady Vicerin zu retten, als deren Gemahl versuchte, sie zu vergiften. Frida hatte sich offenbar mit ihrem Sohn hier versteckt. Der kleine Junge klammerte sich an den Arm seiner Mutter und machte große Augen.

Frida führte eine Hand an Elodies Wange. »Du bist in Sicherheit«, sagte sie. »Den Sternen sei Dank.«

»Aber was ist mit euch beiden?«, fragte Elodie. »Wenn Vicerin euch findet …«

»Ich weiß, wie man ungesehen bleibt.«

Der Wind brauste auf und brachte mit sich den Geruch von Rauch – und das Murmeln geisterhafter Stimmen. Sie waren nun lauter und hallten durch den Garten.

Frida sah Elodie in die Augen. »Du kannst sie hören, nicht wahr?«

Elodie nickte.

»Es ist das Lied der Vergangenheit. Das Lied der Toten. Es ist in diesem Schloss verwurzelt. Verwurzelt im ganzen Land.«

Elodie fasste Fridas Hände. »Hilf mir, Frida. Ich weiß, dass sie für mich kämpfen können. Aber … ich weiß nicht, wie ich sie herbeirufen soll.«

»Wenn du sie rufst, dann werden sie kommen.«

»Aber wie? Ich weiß, wie ich Geister beschwören kann – eine ganze Armee, wenn nötig.« Sie ließ Frida los und fuhr sich ärgerlich durchs kurze Haar. »Aber dazu brauche ich etwas, das ich greifen kann. Habseligkeiten. Kleidung. Irgendetwas. Wenn ich nichts in meinen Händen halte, das den Verstorbenen gehört hat, kann ich nicht …«

»Dinge sind nicht wichtig, meine Liebe. Du trägst die Macht in dir.«

»Aber wie soll ich …?«

»Geh zu ihnen. Sei ihnen nah. Finde den Ort, an dem sie liegen, und sprich dort zu ihnen. Sie werden dich hören. Und sie werden auferstehen.«

Die Hexe führte Elodie bis an den schmalen Torbogen in der Gartenmauer. Sie deutete an den knorrigen Efeuranken vorbei auf einen fernen, mit einzelnen kahlen Bäumen bewachsenen Hügel.

»Dahinter gibt es einen Ort«, sagte Frieda. »Du wirst ihn erkennen, wenn du ihn siehst. Man nennt ihn den Vergessenen Friedhof.«

Als Elodie dort hinsah, brach eben die Morgensonne durch und überzog die Hügelkuppe mit Gold. Für einen Augenblick schienen die Bäume in Flammen zu stehen. Elodie ließ die Wärme auf ihr Gesicht wirken und kniff gegen das grelle Licht die Augen zusammen.

Ich komme, sagte sie den Toten, die dort lagen. Nun werdet ihr nicht mehr vergessen sein.

Sie wandte sich wieder zu ihren Gefährten um.

»Ich werde die Toten von Burg Vicerin rufen«, verkündete sie. »Heute werden sie meine Armee werden. Heute werden sie auferstehen!«

Kapitel 3

Zwei Tage lang flogen Tarlan und Theeta ohne Unterbrechung, bis sie an den Fuß einer gewaltigen Gebirgskette gelangten. Idilliam hatten sie weit hinter sich gelassen, Isurien noch weiter. Fern im Süden lag Ritherlee und jenseits davon das Eisland Yalasti, in dem Tarlan aufgewachsen war.

Tarlan musste an seine frühere Heimat denken, als Theeta die beiden mit ihren starken Flügeln höher und höher trug und die Luft immer dünner wurde. Riesenhaft türmten sich vor ihnen schneebedeckte Berge mit steilen Hängen und schroffen Gipfeln. Alles in allem wirkten sie noch bedrohlicher als die Berge in Yalasti.

Aber ich kann nicht dorthin zurück, dachte er. Yalasti ist nun nur noch ein Friedhof.

Bei der Erinnerung an das Gesicht der im Sterben liegenden Frosthexe Mirith und ihren eisigen Blick übermannte ihn die Trauer. Und dann war da Seethan, der älteste der vier Thorrods, den die Helkrags vor seinen eigenen Augen geschlachtet hatten. Tod, Tod, immer wieder der Tod.

Unvermittelt schlug ihm eisige Luft entgegen; er biss die Zähne zusammen und tätschelte Theeta den Hals.

»Was meinst du, Theeta? Keine Schlösser, keine Spur von Menschen. Nur du und ich und jede Menge Wild, das wir jagen können.«

»Neue Heimat.«

»Genau.«

Abermals brauste der Wind auf. Etwas Körniges prasselte ihm ins Gesicht. Tarlan schüttelte den Kopf und blinzelte heftig. Er wollte etwas sagen, aber mit der nächsten Bö hatte er schon wieder eine Ladung Körner im Mund. Er spuckte aus und wischte sich die Lippen ab. Er blickte in seine Hand und sah nun, was es war.

Sand.

»Luft heiß«, bemerkte Theeta. Der Wind warf sie bald hierhin, bald dorthin, und sie konnte nur mit Mühe die Höhe halten.

Theeta hatte recht. Tarlan bemerkte, dass auch er schwitzte, während sie weiterhin von Windstößen gebeutelt wurden.

»Wie kann das sein?«, rief er in den immer heftiger heulenden Wind. »Wir haben doch keine Wüste überquert.«

Vor ihnen schraubte sich eine rasend wirbelnde Sandsäule in die Höhe. Es sah aus, als würde sich eine riesige gelbe Schlange in den Himmel hinaufwinden. Ihr Schwanz war tief unten im Boden verankert; ihr Kopf verlor sich in den Wolken.

»Sturmsand!«, schrie Theeta und zog instinktiv an der Windhose vorbei.

Zwei weitere Schlangen schossen in die Höhe und versperrten ihnen den Weg. Tarlan drang heißer Sand in die Kehle, der ihm das Atmen schwermachte. Tarlans Augen tränten.

»Umkehren!«, krähte Theeta, und ihre Stimme klang dabei noch rauer als sonst.

»Nein! Kommt nicht in Frage! Weiter!«

Theetas Flügelschlag stockte. Einen Augenblick lang fürchtete Tarlan, der Sturm hätte sie besiegt. Dann sah er, dass er sich irrte.

Theeta zögerte.

Sonst ignoriert sie meine Befehle doch nicht. Niemals. Warum also …?

Bevor er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, schwang sie sich mit energisch rudernden Flügeln voran, wich nach links aus und schwenkte dann nach rechts, um schließlich zwischen den wirbelnden Sandsäulen hindurchzuschießen. Falls sie tatsächlich Zweifel gehegt hatte, so waren diese verflogen.

Aber warum all der Sand hier im Gebirge?, dachte er verwundert, während er sich fest an Theeta klammerte, die sich weiter voranarbeitete.