Cry - Lisa Jackson - E-Book

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Lisa Jackson

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Beschreibung

Der berühmte Arzt Terrence Renner soll den Tod einer Patientin verursacht -haben. Sogar seine Stieftochter Eve zweifelt an seiner Unschuld, da ihr alter Freund Roy angeblich stichhaltige Beweise hat. Doch als Eve sich deshalb mit ihm treffen will, findet sie seine grausam entstellte Leiche – auf Roys Stirn prangt eine -rätselhafte Tätowierung. Schockiert will Eve um Hilfe rufen, als plötzlich ihr Liebhaber, Staranwalt Cole Dennis, auftaucht, eine Waffe auf sie richtet und -abfeuert …

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Seitenzahl: 670

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Lisa Jackson

Cry

Meine Rache ist dein Tod. Thriller

Aus dem Amerikanischen von Elisabeth Hartmann

Knaur e-books

Über dieses Buch

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. KapitelEpilogAnmerkung der AutorinDanksagung
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Für Dad.

Du warst und bist der Beste

und wirst es immer sein.

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Prolog

In der Nähe von New Orleans in Louisiana Drei Monate zuvor

Die Stimme Gottes dröhnte in seinem Kopf.

Töte.

Töte sie beide.

Den Mann und die Frau.

Opfere sie.

Heute Nacht.

Das ist deine Buße.

Er lag auf seinem Bett, das Laken war schweißdurchtränkt. Neonlicht pulsierte blutrot durch die Schlitze der Jalousien am Fenster. Die Stimme donnerte in seinen Ohren. Hallte in seinem Kopf wider. Das Echo war so laut, dass es die anderen übertönte – die kleinen, schrillen, nervtötenden Stimmen, wie Fingernägel an einer Wandtafel; Stimmen, die ihn an lästige Insekten erinnerten. Auch diese Stimmen erteilten Befehle. Auch sie störten seinen Schlaf, doch sie waren leise, zornig, nicht so machtvoll wie die Stimme, die – davon war er überzeugt – von Gott persönlich kam.

Nagender Zweifel schlich sich in sein Bewusstsein: War die Stimme womöglich doch böse? Konnte es sein, dass sie die Worte Luzifers, des Herrn der Finsternis, sprach?

Aber nein … So durfte er nicht denken. Er musste glauben. An die Stimme glauben, an das, was sie ihm sagte, an ihre grenzenlose Weisheit.

Hastig wälzte er sich von der Pritsche und kniete nieder, schlug rasch – durch jahrelange Übung war es ihm in Fleisch und Blut übergegangen – das Kreuzzeichen über der nackten Brust. Schweißperlen traten auf seine Stirn, während er betete, der Herr möge ihn leiten, flehte, Er möge ihn zu Seinem Botschafter machen. Der Gedanke daran, dass er der Auserwählte war, brachte in seinem Innern etwas zum Klingen. Er war der Jünger Gottes. »Zeige mir den Weg«, flüsterte er mit Inbrunst und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Sag mir, was ich tun soll.«

Töte.

Die Stimme sprach klar und deutlich.

Töte sie beide.

Opfere den Mann und die Frau.

Er furchte die Stirn, verstand nicht ganz … Die Frau: Eve, das war ihm klar. Oh, wie lange hatte er darauf gewartet, genau das zu tun, was die Stimme ihm jetzt befahl. Er sah Eve vor sich. Ihr herzförmiges Gesicht mit dem ausgeprägten, dreist vorgereckten Kinn. Ein Hauch von Sommersprossen auf der kurzen, geraden Nase. Lebhafte Augen, klar und blau wie eine tropische Lagune. Feuerrotes, windzerzaustes Haar.

So schön.

So starrsinnig.

Und solch eine Hure.

Er stellte sich vor, wie sie den Männern ihren athletischen Körper hingab … Oh, er hatte sie gesehen, durch einen Spalt zwischen den Vorhängen: die straffe Haut, das fließende Spiel der weiblichen Muskeln darunter, wenn sie badete. Ihre Brüste waren klein, fest, mit rosigen Brustwarzen, die sich aufrichteten, wenn sie ins Badewasser stieg.

Ja, er hatte sie beobachtet, hatte zugesehen, wie sie mit ihren langen Beinen über den Rand der Wanne stieg, wobei sie ihm unbewusst einen flüchtigen Blick auf rosa Hautfalten und rotes Kräuselhaar zwischen ihren Schenkeln gewährte.

Wenn er an sie dachte, empfand er dieses ganz besondere, erwartungsvolle Prickeln, das niemand anders als Eve in ihm wachrief. Sein Blut geriet in Wallung, seine Haut rötete sich, und sein Penis richtete sich auf.

Wenn er nur einmal mit den Fingern über die Innenseite ihrer Oberschenkel streichen könnte, diese festen kleinen Brüste küssen, sie ficken dürfte bis zur Besinnungslosigkeit. Sie war ja ohnehin eine Hure. Im Geiste sah er vor sich, wie er sie bestieg, sein kräftiger, muskulöser Körper über dem ihren, während sein Schwanz tief in diese heiße, wollüstige Höhle hineinstieß, in die andere vor ihm ihren Samen ergossen hatten.

Sein Atem ging schwer.

Er wusste, dass seine Gedanken Sünde waren.

Doch er wollte nur ein einziges Mal tief, gewaltsam in sie eindringen.

Bevor er sie tötete.

Und tatsächlich bot sich ihm die Gelegenheit dazu. Hatte die Stimme ihm nicht befohlen zu beweisen, was für eine Hure sie war?

Doch was war mit dem Mann?

Als hätte die Stimme seine Gedanken gelesen, flüsterte sie: Du bist der Retter. Der Eine, den ich dazu auserwählt habe, die Seelen der Schwachen zu neuem Leben zu erwecken. Enttäusche mich nicht. Es liegt in deiner Hand, wer leben und wer sterben wird. Geh jetzt!

Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er immer noch auf den Knien lag. Schnell schlug er noch einmal das Kreuz, beschämt, dass Gott womöglich seine Gedanken gelesen und von seiner Schwäche für sie erfahren hatte. Er musste die Lust niederkämpfen. Er musste es einfach.

Und dennoch spürte er, als er aufstand und seine durchtrainierten Muskeln dehnte, das Prickeln der Vorfreude auf der Haut. Seine Lenden schmerzten beinahe vor Verlangen.

Der Retter. Die Stimme hatte ihm einen Namen gegeben. Er überdachte diesen Namen, betrachtete ihn von dieser und jener Seite und kam zu dem Schluss, dass er ihm gefiel. Er genoss die Vorstellung, dass er derjenige war, von dem alles abhing, derjenige, der letztendlich darüber entschied, wer leben und wer sterben sollte. Es war doch zweifellos ein gutes Zeichen, dass die Stimme ihm einen Namen gegeben hatte? Fast wie eine Salbung oder ein Ritterschlag. Der Retter. Ja!

Er zog im Dunkeln seine Uniform an, die an einem Haken bei der Tür hing: seine Tarnhose und -jacke, die Skimütze und dazu die Stiefel. Seine Waffen hatte er bereits im Pick-up verstaut, gut versteckt in einem verschlossenen Fach im doppelten Boden seiner Werkzeugkiste. Messer, Pistolen, Schalldämpfer, Plastikbomben, sogar ein Blasrohr samt Pfeilen mit vergifteten Spitzen …

Und noch etwas ganz Besonderes, extra für sie.

Er schlüpfte aus seinem dunklen Zimmer und trat hinaus in die düstere, nebelverhangene Nacht.

Er war bereit.

 

Eve sah auf die Uhr.

Viertel vor elf abends.

»Toll«, murrte sie mit zusammengebissenen Zähnen.

Sie war spät dran. Trotz der Dunkelheit und des dichten Nebels trat sie aufs Gas. Obwohl ihr verbeulter Toyota Camry schon fast einhundertneunzigtausend Kilometer auf dem Zähler hatte, machte er dennoch einen Satz vorwärts, zuverlässig wie immer.

Sie würde nicht ganz pünktlich kommen – na und? Ein paar Minuten Verspätung machten nichts aus.

Als sie eine Kurve etwas zu rasant nahm, geriet sie auf die Gegenspur und wäre um ein Haar mit einem entgegenkommenden Pick-up zusammengestoßen. Der Fahrer hupte, und sie riss gerade noch rechtzeitig das Steuer herum. Mit wild klopfendem Herzen verlangsamte sie ein wenig.

Sie zwang sich, ihren krampfhaften Griff um das Lenkrad zu lockern, und atmete tief durch. Roy konnte warten, entschied sie und dachte an den verzweifelten Anruf, den sie vor knapp einer halben Stunde erhalten hatte.

»Eve, du musst sofort kommen«, hatte er mit gepresster Stimme hervorgestoßen. »Zur Hütte – du weißt schon, da, wo wir als Kinder im Sommer gespielt haben. Die Hütte meines Onkels. Aber beeil dich. Ich … Wir treffen uns dort um elf.«

»Es ist schon spät«, hatte sie abgewehrt. »Ich will jetzt wirklich nicht …«

»Ich habe Beweise.«

»Beweise wofür?«

»Das sage ich dir, wenn du hier bist. Komm einfach. Allein.«

»Verdammt, Roy, verschone mich mit diesem Mantel-und-Degen-Getue! Erzähl mir einfach, was los ist!«

Statt einer Antwort klackte es, dann war die Leitung tot.

»Nein, warte! Roy! Ach, zum Teufel«, schimpfte sie und drückte ein paar Tasten an ihrem Telefon in der Hoffnung, seine Nummer im Speicher zu finden, damit sie ihn zurückrufen konnte. Doch im Display stand nur Unbekannte Nummer. Hilflos knirschte sie mit den Zähnen. Ihr Herz raste vor Nervosität. Was für »Beweise« hatte Roy gefunden? Wovon redete er überhaupt? Während sie mit halsbrecherischer Geschwindigkeit zu dem Treffpunkt fuhr, schossen ihr ein halbes Dutzend Möglichkeiten durch den Kopf, von denen keine etwas Gutes verhieß.

Vielleicht hätte sie besser doch nicht hinfahren sollen. Cole war dagegen gewesen. Er hatte sogar beinahe mit Gewalt versucht, sie zurückzuhalten, was sie erst recht in Rage versetzt hatte. Im Geiste sah sie immer noch sein angespanntes, besorgtes Gesicht vor sich. Aber sie hatte darauf bestanden, sofort aufzubrechen, und hatte auch nicht geduldet, dass er sie begleitete. All seinem Protest zum Trotz war sie in die kalte, neblige Nacht hinausgelaufen.

Diese Angelegenheit musste sie allein regeln.

Nun fuhr sie also unter dem mondlosen Himmel Louisianas hinaus in das Sumpfgebiet, wo Roys Onkel Vernon eine alte Fischerhütte besaß. Sofern die Hütte überhaupt noch existierte. Als sie das letzte Mal dort gewesen war, vor etwa zehn Jahren, waren bereits deutliche Anzeichen des Verfalls zu erkennen gewesen. Sie versuchte vergebens, sich vorzustellen, wie die Hütte jetzt aussehen mochte.

Als sie einen Blick in den Rückspiegel warf, erkannte sie die Sorge in ihren eigenen Augen. Was zum Teufel ging hier vor?

Sie hatte seit über einem Jahr nicht mit Roy gesprochen.

Weshalb rief er gerade jetzt an?

Er steckt natürlich mal wieder in der Klemme. Du kennst doch Roy. Eine typische Borderline-Persönlichkeit. Der Mann hat eine Neurose der ganz besonderen Art.

Warum springst du dann immer, wenn er pfeift, hm?

Welche Macht hat er über dich?

Welche ganz besondere Art von Neurose hast du, die dich zwingt, ihm immer und immer wieder zu Hilfe zu kommen?

»Schluss damit«, schimpfte sie halblaut vor sich hin. Seit sie ein Graduiertenstudium in Psychologie aufgenommen hatte, konnte sie es einfach nicht lassen, sich ständig selbst zu analysieren.

Das wurde allmählich lästig.

Sie schaltete das Radio ein. Die letzten Töne einer Country-Ballade über eine Dreiecksbeziehung gingen in einen Werbespot für das neueste Diätprogramm über. Auch nicht viel besser. Sie wechselte den Sender und hörte mit halbem Ohr zu, während sie mit zusammengekniffenen Augen in den dichter werdenden Nebel spähte. Bis zu Vernons Hütte war es nicht mehr weit. Am Stamm einer hohen Fichte erkannte sie ein verblichenes Schild, das besagte, dass Jagen hier verboten war. Die Einschusslöcher unzähliger Schrotladungen hatten die Schrift beinahe unleserlich gemacht.

Nur ein einziges Fahrzeug überholte sie auf ihrem Weg durch das Sumpfgebiet. Obwohl die Nacht weiß Gott nicht kalt war, fröstelte sie. Endlich fiel das Licht ihrer Scheinwerfer auf den verbrannten Ast einer Pappel, und gleich dahinter befand sich der Zugang zu Vernon Kajaks Grundstück. Ein verrostetes Tor hing schief an einer einzigen Angel; der alte Viehzaun war noch intakt. Behutsam steuerte sie den Wagen auf das Privatgelände.

Die Zufahrt, einst ein Kiesweg, bestand jetzt nur mehr aus zwei tiefen Furchen im schlammigen Boden. Unkraut scharrte am Bodenblech des Camry. Der Wagen holperte durch Schlaglöcher und über Steine, und Eve war gezwungen, im Schritttempo zwischen bleichen Zypressenstämmen und Gestrüpp hindurchzufahren.

Himmel, war es hier dunkel. Und gespenstisch, wie in einem Horrorfilm.

Eve war gewiss kein Feigling, aber sie war auch nicht dumm. Ihr war klar, dass es keine besonders gute Idee war, sich bei düsterer Nacht in einem Sumpf in Louisiana herumzutreiben. Jahrelanges Taekwondo-Training und eine kleine Dose Pfefferspray in ihrer Handtasche boten ganz sicher keinen ausreichenden Schutz vor den Gefahren, die sich womöglich im dichten Unterholz verbargen. »Ach, mach dich doch nicht verrückt«, sagte sie laut.

Sie schaltete das Radio aus und hielt mit zusammengekniffenen Augen Ausschau nach der Hütte.

Alles, was heute passiert war, erschien ihr seltsam unstimmig, und das Ganze gipfelte in ihrem Streit mit Cole.

Wie war es dazu gekommen? Okay, nach einem Besuch ihres Vaters war sie etwas gereizt gewesen, aber war das tatsächlich der Grund dafür, dass der Mann, den sie heiraten wollte, ihr plötzlich mit kalter Wut begegnete?

Und nun hatte Roys Anruf sie in die neblige Nacht herausgelockt. Seit dem vergangenen Tag schien ihre gesamte Welt irgendwie aus dem Lot geraten zu sein. Eve schüttelte sich, versuchte, das unheimliche Gefühl loszuwerden.

Noch einmal sah sie auf die Uhr.

In ein paar Minuten würde sie es hinter sich haben.

Bis zur Hütte war es nur noch eine Viertelmeile.

 

Der Retter wartete.

Bebend.

Erregt.

Angestrengt lauschend.

Die Nerven bis zum Zerreißen gespannt.

Doch die Stimme schwieg.

Er empfing weder Lob für seine Taten noch Tadel dafür, dass er die Aufgabe nicht erfüllt hatte.

Sein Herz raste, und er hob das Gesicht zum Himmel. Ein kalter Frühjahrswind fegte über das Sumpfland, und der Mond schimmerte nur schwach durch den aufsteigenden Nebel.

Alle Sinne aufs äußerste geschärft, nahm er den metallischen Geruch von Blut wahr, das von den Fingerspitzen seiner Handschuhe tropfte.

Sprich mit mir, flehte er stumm die Stimme an. Ich habe dein Wort befolgt, so gut ich konnte. Sie war nicht da, wo sie hätte sein sollen. Ich konnte sie nicht töten. Soll ich nach ihr suchen? Sie jagen?

Sein Atem ging schneller bei der Vorstellung, wie er ihr auflauern, sie in die Enge treiben, ihre Angst sehen und sie dann nehmen würde.

Doch die Nacht blieb totenstill.

Kein Frosch quakte.

Keine Zikade sang.

Keine Grille zirpte.

Da war nichts als Schweigen und das Geräusch seiner eigenen kurzen, hastigen Atemzüge – sichtbare Wölkchen, die sich mit dem Nebel in der stillen Luft vermischten.

Die Stimme Gottes schien verstummt.

Weil er gefehlt hatte.

Schrecklich gefehlt.

Und jetzt wurde er bestraft.

Er versuchte, sich zu konzentrieren. Hatte er sich geirrt? Hatte die Stimme ihm nicht gesagt, er werde zwei Personen in der Hütte antreffen? Zwei, die er opfern sollte? Doch, er war sich dessen ganz sicher. Ein Mann und die Frau, Eve, sollten in der Hütte sein. Dennoch hatte er nur den Mann angetroffen.

»Vergib mir«, flüsterte er verzweifelt. Welche Buße würde ihm dieses Mal auferlegt werden? Er dachte an die Narben auf seinem Rücken, Spuren der Geißelung, an die Verbrennungen von heißen Kohlen in seinen Handflächen, und schauderte bei dem Gedanken, was ihn diesmal erwartete.

Und dennoch …

Sein Herz schlug noch immer unregelmäßig, das Blut sang in seinen Ohren. Wie herrlich war dieser erste Schnitt seiner Klinge gewesen, der das weiche Fleisch der Kehle durchtrennte. Und das dünne, pulsierende rote Band, als das Blut zu fließen begann … Er schloss die Augen und durchlebte noch einmal den Rausch des Tötens.

Dann biss er nervös auf die Innenseite seiner Wange.

Enttäuschung nagte in seinen Eingeweiden.

Noch immer wartete er.

Die Stimme hatte sich nie zuvor geirrt.

Und wer war er, an Gottes Befehl zu zweifeln?

Manchmal überkam ihn Verwirrung. Oft schrien die anderen Stimmen ihm zu – schrille, nervtötende kleine Stimmen, die fauchten, heulten und tobten, ihn benommen machten, seinen Kopf zum Dröhnen brachten, bis er an seinem eigenen Verstand zweifelte. Doch in dieser Nacht schwiegen auch sie.

»Hilf mir.« Er formte die Worte lautlos mit den Lippen. »Sprich mit mir. Bitte lass mich wissen, dass ich deinen Willen befolge.«

Keine Antwort; nur ein Rascheln im Laub war zu hören, als ein kurzer Windstoß durch die Zypressen und Immergrünen Eichen fegte.

Er würde warten.

Rasch, flehentlich schlug er noch einmal das Kreuzzeichen über der Brust. Da hörte er ein leises Motorengeräusch näher kommen.

Ja!!!

Er riss die Augen auf.

Reifen knirschten auf dem spärlichen Kies.

Er brauchte das Fahrzeug nicht zu sehen, um zu wissen, dass es ein Toyota war. Eves Wagen. Vorfreude brachte sein Blut in Wallung, als er die Scheinwerfer sah, in deren mattgoldenen Lichtkegeln der Nebel waberte. Seine behandschuhte Hand umfasste das Heft des Messers fester; die rasiermesserscharfe Klinge schimmerte schwach in der Dunkelheit.

Geduckt, lautlos schlich er durchs Unterholz. Bei der Garage neben der Hütte verbarg er sich hinter einem halbverrotteten Baumstumpf, nahe genug, um mit drei Schritten bei Eve zu sein, wenn sie zur Eingangstür ging.

Das Scheinwerferlicht streifte die grauen Wände der winzigen Hütte, dann verstummte der Motor. Die Wagentür öffnete sich, und er erhaschte einen Blick auf sie, die roten Locken, das energische Kinn, die lebhaften Augen. Sie warf einen Blick auf Roys Pick-up unter dem Vordach des Carports, dann ging sie im Licht einer kleinen Taschenlampe rasch zur Tür der Hütte und drückte die Klinke. Doch die Tür war abgeschlossen.

»Roy?«, rief sie und klopfte heftig. Ein Hauch von Parfüm wehte zu ihm herüber. »Hey … Was ist los?« Dann, etwas leiser: »Wenn das hier ein dummer Scherz sein soll, dann wirst du dafür büßen, das schwöre ich dir …«

Oh, das ist kein Scherz, dachte er, die Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie war ihm so nahe, dass er sie mit einem Satz hätte zu Fall bringen können.

Sie ließ den Strahl der Taschenlampe über die verfallene Seitenwand gleiten, bis zu einem schiefen Fensterladen. Zögernd griff sie dahinter und ertastete einen Schlüssel. Sie betrachtete ihn lange. »Ich kann es nicht fassen, dass ich das wirklich tue«, flüsterte sie schließlich und steckte den Schlüssel ins Schloss.

Mit einem Klick ließ es sich öffnen.

Als sie ins Innere der Hütte trat, setzte er sich flink in Bewegung, das Messer fest in der Hand. Er brannte darauf, es zu benutzen, zu sehen, wie es in ihr weiches weißes Fleisch schnitt. Für alle Fälle hatte er auch die Pistole bei sich, zwar kleinkalibrig, aber dennoch tödlich.

In der Hütte flammte Licht auf.

Durch die verstaubte Scheibe des Küchenfensters sah er sie, mit zurückgebundenem Haar, den langen Hals entblößt. Sein Herz begann zu rasen, er atmete zitternd tief durch und malte sich die Tat aus.

Sie würde seine Schritte hören, sich umdrehen, nach Luft schnappen, wenn sich ihre Blicke begegneten. Dann würde er vorschnellen, ihr den schön geschwungenen Hals aufschlitzen, die Schlagader durchtrennen, dass rotes Blut spritzte.

Er atmete scharf ein.

Sein Schwanz wurde hart.

Er konnte sie beinahe schmecken.

Eve.

Die Erbsünderin.

Zeit der Abrechnung.

 

»Roy, bist du hier?«, rief Eve in das Halbdunkel der Hütte hinein. Hin- und hergerissen zwischen Angst und Wut durchquerte sie die Küche, in der alles von einer dünnen Staubschicht überzogen war. »Hör mal«, sagte sie, und beim Anblick einer halb ausgetrunkenen Bierflasche auf dem verschrammten Klapptisch traten ihr Schweißperlen auf die Stirn, »ich grusele mich zu Tode. Also, wenn das einer von deinen Scherzen sein soll, muss ich dir leider den Hals umdrehen.«

Sie hörte ein Scharren, fuhr herum, und ihr Herz stockte beinahe. Etwas Kleines, Schwarzes huschte über das vergilbte Linoleum und verschwand hinter einem uralten Kühlschrank. Mühsam unterdrückte Eve einen Schrei, doch dann erkannte sie, dass es nur eine Maus war. »O Gott.« Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie hätte nicht herkommen sollen, das war ihr eigentlich von Anfang an klar gewesen. Als Roy anrief, hätte sie darauf bestehen sollen, dass er zu ihr kam oder dass sie sich irgendwo an einem öffentlichen Ort trafen. Hier war es entschieden zu unheimlich.

Wo zum Teufel steckte er? »Roy?« Er musste hier sein. Schließlich stand sein Wagen draußen. »Roy? Das ist wirklich nicht witzig. Wo bist du?«

Die Tür zum Bad stand sperrangelweit offen, drinnen jedoch war es dunkel. Sie betätigte den Schalter, aber die Glühbirne war durchgebrannt. Als sie den Strahl ihrer Taschenlampe über Waschbecken und Toilette gleiten ließ, sah sie nichts als Rost, Flecken und Schmutz. Hier war eindeutig etwas faul.

Mit drei Schritten erreichte sie das Wohnzimmer, das von einer Lampe auf einem alten Beistelltisch hell erleuchtet war. Anscheinend war Roy hier gewesen … oder zumindest war irgendjemand hier gewesen, auch wenn das Zimmer aussah, als sei es seit einem Jahrzehnt unbewohnt. Staub und Spinnweben bedeckten den Boden, die Kiefernholzwände und die Decke. Selbst die Asche und die verkohlten Holzscheite im Kamin wirkten uralt. Da lag eine vergilbte Anglerzeitschrift mit welligen, eingerissenen Seiten. In dieser verfallenen Hütte im Sumpfland schien die Zeit stehengeblieben.

Also, was zum Teufel wollte sie hier?

Was für ›Beweise‹ konnte Roy gemeint haben, zum Teufel?

Irgendetwas, das mit Dad zu tun hat, dachte Eve. Sie spürte es einfach. Roy weiß, ob der gute alte Dad unschuldig ist … oder schuldig wie die Sünde.

Eve schluckte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche und betrachtete es einen Moment lang unschlüssig, dann steckte sie es wieder ein.

»Royal Kajak, ich gebe dir höchstens noch zwei Minuten, dann verschwinde ich von hier«, rief sie ins Dunkel hinein. »Du kannst mir deine angeblichen Beweise ja per E-Mail schicken.«

Verärgert sah sie sich ein letztes Mal um. Hinter der offenen Treppe führte ein kurzer Flur in das einzige Schlafzimmer im Erdgeschoss. Die Tür stand einen Spaltbreit offen.

Eve straffte sich und ging darauf zu.

 

Verdammt! Sie hatte ein Handy! Diese Möglichkeit hatte er nicht bedacht. Die Stimme hatte ihn nicht gewarnt. Der Retter spähte durchs Fenster. Gleich würde sie den Notruf wählen.

Er musste sie aufhalten. Schnell!

Lautlos steckte er sein Messer ein, öffnete sein Knöchelhalfter und zog die Pistole.

Zeit, die Sache zu Ende zu bringen.

 

Nervös stieß Eve die Tür zum Schlafzimmer auf. Die rostigen Angeln knarrten. »Roy?«

Sie vernahm ein kaum hörbares Stöhnen.

Mit gesträubten Nackenhaaren tastete sie nach dem Lichtschalter. Ein Klick, dann erleuchtete eine alte Deckenlampe das Zimmer.

Sie schrie auf.

Roy lag vor dem metallenen Bettgestell am Boden. Sein Gesicht war blutüberströmt, Blut sickerte aus seiner aufgeschlitzten Kehle und bildete eine dunkle Lache auf dem Fußboden.

Sie taumelte vorwärts. Überall war Blut. Dunkel. Schwarz. Klebrig. Überall.

Roys Brustkorb hob und senkte sich kaum merklich. Eve seufzte erleichtert auf – er lebte noch!

Dann fiel ihr Blick auf die Wand, und sie erstarrte: Über Roys Kopf stand auf dem altersdunklen Kiefernholz mit Blut eine Zahl geschrieben:

 

212

 

Entsetzt zuckte Eve zurück.

Was zum Teufel hatte das zu bedeuten? »Wer war das? Herrgott …« Panik und Verzweiflung drohten sie zu überwältigen.

Beruhige dich, Eve. Wenn du Roy helfen willst, darfst du jetzt nicht die Nerven verlieren. Rasch kniete sie neben ihm nieder und versuchte, mit einer Hand die Blutung zu stillen, während sie mit der anderen das Handy wieder hervorzog, doch es entglitt ihr und fiel in die Blutlache am Boden. Ohne die Schnittwunde an Roys Hals loszulassen, hob Eve das blutige Handy auf und schaltete es mit klebrigen, zitternden Fingern ein, doch es dauerte quälend lange, bis das Gerät betriebsbereit war.

»Halt durch«, flehte sie. Der Blutstrom, der zwischen ihren Fingern hindurch aus Roys Kehle sickerte, wurde immer schwächer. O Gott …

Noch einmal ein leises Stöhnen, dann war es vorbei. Roy tat seinen letzten flachen Atemzug.

»Nein! O Gott, nein … Roy! Roy!« Doch als sie an seinem Hals nach dem Puls tastete, fand sie keinen mehr. »Du darfst nicht sterben, oh, bitte nicht …«

Eine Bodendiele knarrte.

Eve erstarrte.

Der Mörder war noch hier!

Entweder im Haus oder auf der Veranda.

Ihr eigener Herzschlag dröhnte ihr in den Ohren. Panisch sah sie auf das Display des verdammten Handys – die Verbindung war immer noch nicht hergestellt. Mach schon, mach schon, flehte sie stumm, während sie angespannt lauschte und ihr Blick unruhig durch den Raum huschte. Wenn es doch wenigstens eine Hintertür gäbe, einen Fluchtweg.

Wieder ein leiser Schritt, wie von Ledersohlen auf Holz.

Eves Eingeweide krampften sich zusammen.

Mit blutigen Fingern tastete sie in ihrer Tasche nach dem Pfefferspray. Dabei wanderte ihr Blick zwischen der Tür und den beiden Fenstern hin und her, dann zum Spiegel, in dem sie ihren eigenen panischen Gesichtsausdruck sah. Endlich fand sie das Pfefferspray. Gerade als sie die Dose aus der Tasche gezogen hatte, hörte sie erneut Schritte, diesmal näher. Der Mörder kam auf sie zu!

Er wusste, wo sie war.

Raus, Eve, sofort raus hier!

Von Angst und Adrenalin getrieben, raffte sie sich auf, betätigte den Lichtschalter, und es wurde dunkel.

Hastig drehte sie sich um. Dabei glitt sie in Roys Blut aus, stürzte polternd zu Boden und schürfte sich an dem eisernen Bettpfosten das Bein auf. Ihr Kopf schlug gegen die Wand. Schmerz explodierte hinter ihren Augen.

Wieder Schritte!

Nur nicht bewusstlos werden. Um Himmels willen, jetzt nur nicht ohnmächtig werden!

Sie stand auf, stürzte zu einem der Fenster.

Da sah sie ihn.

In der Scheibe.

Er hielt etwas in der Hand. Richtete es auf sie.

Sie erkannte ihn auf Anhieb.

Cole!

Der Mann, den sie liebte!

Cole Dennis wollte sie erschießen?

NEIN!

 

Peng!

Eine Stichflamme schoss aus dem Pistolenlauf, Glas splitterte.

Weißglühender Schmerz schoss durch ihren Kopf.

Ihre Knie gaben nach. Sie brach zusammen. Der dunkle Raum drehte sich um sie, und Cole Dennis’ wütendes Gesicht war das letzte Bild, das sich in Eves Bewusstsein einbrannte.

[home]

1.

Drei Monate später

Du machst einen Fehler, Eve. Einen gewaltigen Fehler! Du kannst jetzt nicht abreisen, du bist noch nicht so weit.« Anna Maria, ungeschminkt, in Bademantel und Plüschpantoffeln, folgte Eve bis auf die Einfahrt vor ihrem Haus.

»O doch.« Eve wollte sich nicht noch einmal auf ein Wortgefecht mit Anna einlassen. Nicht jetzt. Es war früher Morgen, noch nicht ganz hell; die Straßenlaternen leuchteten noch, während die Morgendämmerung durch die gepflegten Straßen dieses Vororts zwischen Marietta und Atlanta kroch. Zeit zum Aufbruch.

Eine Zigarette in der einen, eine überschwappende Kaffeetasse in der anderen Hand, hielt Anna mühsam mit ihrer Schwägerin Schritt. »Deine Physiotherapie ist noch nicht abgeschlossen, du hast immer noch keinerlei Erinnerungen an die Nacht des Überfalls, und, um Himmels willen, es wird erzählt – wahrscheinlich stimmt es sogar –, dass Cole Dennis aus der Untersuchungshaft entlassen werden soll. Hast du gehört? Der Mann, von dem du glaubst, dass er dich umbringen wollte, kommt wieder auf freien Fuß!«

Eves Herz krampfte sich zusammen, jedes Mal, wenn Coles Name fiel. Und jedes Mal ignorierte sie es.

»Wir haben wirklich oft genug darüber diskutiert. Ich muss nach Hause.« Eve schleppte einen Katzentransportkorb zu ihrem Camry. Samson, der langhaarige Kater, der ihr vor einiger Zeit zugelaufen war, maunzte kläglich. »Stell dich nicht so an, du wirst es überleben«, redete sie dem verängstigten Tier zu, während sie mit der freien Hand in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel kramte. Dabei schaukelte der Transportkorb heftig, und Samson, außer sich vor Angst, fauchte laut. Eve stellte ihn ab und suchte weiter nach dem verdammten Schlüssel.

»Eve …«

»Fang nicht schon wieder an.« Eve schüttelte den Kopf, wobei kurze Haarlocken ihren Nacken streiften. »Du weißt, dass ich abreisen muss.« Sie nestelte den Schlüsselring aus einem Seitenfach der Tasche, dabei fiel ihr Handy, an dem sich der Schlüsselring verhakt hatte, heraus und landete mit einem Geräusch, das nichts Gutes verhieß, auf dem Betonboden. »O nein!« Das hatte ihr gerade noch gefehlt – ein weiterer Anlass für Anna, die angeblich fromme Katholikin, in Wahrheit jedoch ungemein abergläubisch war, Eve zum Bleiben zu überreden. Eve konnte nur immer wieder staunen, wenn Anna selbst in den alltäglichsten Begebenheiten »Flüche« oder »Omen« sah. Das ging so weit, dass um ein Haar sogar Samson als schwarzer Kater aus Annas und Kyles Haus verbannt worden wäre.

»Ich hab’s gesehen«, verkündete Anna. »Gott wollte dir dadurch etwas sagen.«

»Ja, zum Beispiel, dass ich ein neues Handy-Etui brauche«, stieß Eve mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Das ist nicht komisch, Eve.«

»Im Gegenteil, es ist sogar zum Totlachen.« Mit einem gezwungenen Lächeln sah Eve zu ihrer Schwägerin auf. Über den beiden zogen schwere, dunkle Regenwolken langsam über den Himmel von Georgia. Ein leiser Windhauch raschelte in den ausladenden Ästen eines Magnolienbaums neben der Einfahrt und trocknete den Schweiß, der Eve bereits jetzt Nacken und Rücken benetzte. Sie hob das Handy auf und stellte fest, dass es noch funktionierte. »Ah, Glück gehabt.« Sie verstaute es sicher in einem Seitenfach ihrer Tasche, schloss die Wagentür auf und stellte den Katzentransportkorb auf den Rücksitz.

»Ich sage dir noch einmal, ich bin dagegen.« Anna verschränkte die Arme unter ihren üppigen Brüsten.

»Und ich sage dir noch einmal: Das weiß ich inzwischen.«

»Du könntest wenigstens warten, bis Kyle zurück ist. Er wollte nur Milch und Zigaretten holen. Er muss jeden Augenblick wiederkommen.«

Ein Grund mehr, jetzt aufzubrechen. Eve und ihr ältester Bruder hatten sich nie gut verstanden, und ihr Aufenthalt in seinem Haus, wo sie sich von ihrer Schussverletzung und der durch das Trauma ausgelösten Amnesie erholen sollte, hatte ihre Beziehung nicht gerade entspannt.

»Gib es auf, du wirst mich nicht umstimmen. Nita sagt, ich bin zu fünfundachtzig Prozent wiederhergestellt.«

»Nita hat keine Ahnung.« Anna Maria zog an ihrer Zigarette und blies den Rauch aus dem Mundwinkel.

»Sie ist staatlich anerkannte Physiotherapeutin.«

»Und was sagt dein Therapeut?«

Eve hielt inne. »Du weißt, dass ich die Sitzungen bei ihm schon lange aufgegeben habe, Anna.« Genaugenommen war Eve ganze dreimal bei dem Psychiater gewesen. Sie hatte einfach keinen Draht zu ihm gefunden – Dr. Calvin Byrd war für ihren Geschmack allzu beherrscht, zu ruhig, zu eifrig. Seine Art hatte ihr nicht behagt, und immerhin verstand sie selbst genug von Psychologie, um zu wissen, dass ein Patient dem Seelenarzt vollkommen vertrauen musste. Sie vertraute ihm nicht. Und nachdem jene Nacht in der einsamen Hütte im Sumpf ihr Leben in den Grundfesten erschüttert hatte, war ein Arzt, der sie zusätzlich nervös machte, wirklich das Letzte, was sie brauchen konnte.

»Dr. Byrd ist ein hochangesehener Psychiater, einer der besten in Atlanta. Er hätte dir bestimmt helfen können, dein Gedächtnis wiederzufinden«, wandte Anna ein.

»Ich sagte doch schon, ich mag ihn einfach nicht. Es ist etwas Persönliches – eben so ein Bauchgefühl.« Eve war bereits auf dem Weg zurück zum Haus, zum Windfang, wo sie ihr Gepäck aufgestapelt hatte. Sie ging am Dienstwagen ihres Bruders vorbei – einem schmutzigen Lieferwagen, auf dessen Heckfenster jemand in den Staub die Worte ›Wasch mich‹ geschrieben hatte. Anscheinend hatte Kyle für seinen morgendlichen Einkauf den Porsche genommen. »Hör zu, Anna, ich will nicht mehr mit dir darüber streiten. Entweder du hilfst mir, mein Gepäck einzuladen, oder du bleibst hier stehen und zeterst sinnlos weiter. Also?«

»Aber das ist doch Wahnsinn, Eve.«

Eve lächelte sanft. »Ach, komm schon. So schlimm ist es auch wieder nicht.«

»Nicht? Um Gottes willen! Seit wann bist du nur so eine unverbesserliche Optimistin? Immerhin hat jemand auf dich geschossen. Geschossen! Die Kugel hat deine Schulter getroffen, ist abgeprallt und an deine Schläfe geschmettert. Du hattest eine Gehirnquetschung. Eine Quetschung im Gehirn! Dem Himmel sei Dank, dass du nicht tot bist oder querschnittsgelähmt, aber tu jetzt bitte nicht so, als sei das alles halb so wild. Ich weiß doch Bescheid.« Anna zog heftig an ihrer Zigarette und sah ihre Schwägerin über die aufglühende Spitze hinweg finster an. »Du wärest fast gestorben. Von der Hand dieses Mistkerls, den du heiraten wolltest! Komm schon, Eve. Natürlich ist das schlimm, und wie! Das Problem ist nur, dass du dich an nichts erinnern kannst.«

Eve, die die ewigen Diskussionen leid war, griff nach einer Reisetasche und ihrem Notebook und schleppte beides zum Camry, in dem Samson inzwischen schrie, als wolle er die Toten erwecken. Ja, sie hatte tatsächlich erhebliche Gedächtnislücken, aber keine totale Amnesie. Sie erinnerte sich an bruchstückhafte Einzelheiten aus jener Nacht, schmerzhafte kleine Scherben, die immer wieder ganz plötzlich in ihr Bewusstsein drängten. Sie wusste noch, dass sie sich verspätet hatte. Sie erinnerte sich daran, wie Roy auf dem Boden lag, mehr tot als lebendig, wie er langsam verblutete. Sie erinnerte sich an die mit Blut geschriebene Zahl 212 an der Wand und daran, dass sie mit dem Handy Hilfe hatte rufen wollen. Sie erinnerte sich, im Fenster die Pistole gesehen zu haben, bevor der Schuss losging. Und sie erinnerte sich an das Blut. Überall Blut – Spritzer an den Wänden, Lachen auf dem Boden, ihr Handy klebrig von Blut, das aus Roys Hals und Schläfe rann …

Sie schloss sekundenlang die Augen und atmete tief durch. Wieder einmal überkamen sie die ewig lauernden Schuldgefühle. Tief, düster und tödlich. Nachts fraßen sie an ihr, verfolgten sie in ihren Träumen. Wäre sie zum vereinbarten Zeitpunkt in der Hütte gewesen, dann wäre ihr Freund Roy vielleicht noch am Leben … Innerlich zitternd öffnete sie die Augen, sah zu den unheilverkündenden Wolken am Himmel auf.

»Die Ärzte sagen, mein Erinnerungsvermögen wird wahrscheinlich zurückkehren«, sagte Eve mit fester Stimme und stellte die Reisetasche auf den Rücksitz. Das Notebook verstaute sie neben dem Transportkorb. Samson spähte mit geweiteten Pupillen durch das Gitter.

»Vielleicht wäre es gar nicht so gut, wenn du dein Gedächtnis wiederfindest.«

Herrgott, Anna war heute Morgen wirklich nervtötend. Eve warf ihre Handtasche auf den Beifahrersitz und drehte sich um. »Hast du nicht selbst gesagt, dass es ein Selbstschutzmechanismus ist, wenn das Bewusstsein traumatische Erlebnisse ausblendet?« Anna strich sich das lange Haar aus den Augen. Sie stand so dicht vor Eve, dass diese ihren Rauch- und Kaffeeatem und einen Hauch von Parfüm wahrnahm. »Vielleicht willst du gar nicht wissen, was passiert ist.«

»Doch, ich will es wissen«, entgegnete Eve.

Auf der anderen Straßenseite wurde eine Tür geöffnet, ein fast achtzigjähriger Mann mit beginnender Glatze trat in gestreiftem Frottee-Bademantel und Hausschuhen auf die Veranda und sah durch dicke Brillengläser zu ihnen herüber. Er winkte flüchtig, dann bückte er sich, um die Zeitung aufzuheben.

»Guten Morgen, Mr Watters«, grüßte Anna und winkte zurück, während der Nachbar die Schlagzeilen überflog und wieder im Haus verschwand. Dann senkte sie die Stimme. »Ich bitte dich doch nur, noch zu warten. Eine Woche oder zwei, bis du besser bei Kräften bist. Vielleicht wissen wir bis dahin auch Näheres über Cole. Bleib hier, bis du sicher sein kannst, dass dir keine Gefahr mehr droht.«

»Das bin ich.«

»Aber er ist gefährlich.«

Eve war bereits auf dem Weg zurück zum Haus. »Außerdem will ich mir einen Hund zulegen … einen Welpen.«

Anna Maria zog ein letztes Mal an ihrer Virginia Slim, dann ließ sie die Kippe fallen und trat sie aus. »Einen Welpen? Der wird dich wohl kaum vor Verbrechern beschützen!«

»Ich meine einen ganz, ganz gefährlichen Welpen.«

In Annas besorgtem Blick lag nicht die Spur von Humor. »Hör mal, Eve, so sehr du auch versuchst, die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen – Tatsache ist und bleibt doch: Jemand hat versucht, dich umzubringen.«

»Ich war einfach nur zur falschen Zeit am falschen Ort.«

Anna sah sie entnervt an. »Du hast doch selbst gesagt, dass es Cole war. Du wolltest sogar vor Gericht bezeugen, dass er auf dich geschossen hat. Und jetzt … jetzt scheint es, als käme er wieder auf freien Fuß. Die Beweisführung gegen ihn ist in sich zusammengefallen. Das heißt aber nicht, dass er dich in Zukunft in Ruhe lassen wird. Er hat dir doch schon einmal nachgestellt, nicht wahr? Als er auf Kaution frei war? Er hat angerufen, wollte sich mit dir treffen, und du idealistisches Dummchen hättest dich tatsächlich um ein Haar darauf eingelassen! Was in aller Welt hast du dir nur dabei gedacht?«

Eves Magen verkrampfte sich. Der Kopfschmerz, der nie ganz verschwand, pochte jetzt zäh in ihrem Schädel. Sie wollte nicht wieder an all das denken.

»Cole hat geglaubt, du hättest eine Affäre. Wahrscheinlich mit Roy.«

Angst schnürte Eve die Luft ab. An diesen Teil der Geschichte konnte sie sich leider tatsächlich nicht erinnern. Der Kopfschmerz hämmerte heftiger. »Zum Teufel damit.« Sie nahm ihre Handtasche wieder aus dem Wagen, kramte aus einem Seitenfach ein fast leeres Röhrchen Ibuprofen hervor und schluckte zwei Tabletten. »Ich sagte doch, ich will dieses Thema endlich ruhenlassen. Schluss mit der Diskussion.« Sie nahm Anna die Tasse aus der Hand und spülte die Tabletten mit lauwarmem Milchkaffee hinunter. »Himmel, der ist widerlich.«

Eve spürte, wie ein Muskel unter ihrem Auge zuckte – der Vorbote einer neuerlichen Panikattacke. Ihr Herz raste, und sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen.

Nicht jetzt. Nicht hier. Eine ausgewachsene Angstattacke wäre Öl in Anna Marias Du-bist-noch-nicht-so-weit-dass-du-abreisen-kannst-Feuer. … Eins … Atmen! … Zwei … Denk an etwas Beruhigendes … Drei … Dein Puls beruhigt sich … Vier …

Als sie bis zehn gezählt hatte, atmete sie wieder normal, doch Anna musterte sie scharf. »Ich muss jetzt los.« Eve griff nach ihrer Kosmetiktasche. Nicht dass Schminke ihr jetzt etwas genutzt hätte – ihr Gesicht war immer noch ein wenig aufgedunsen, die Spuren der plastischen Chirurgie an ihrem rechten Auge waren noch nicht ganz verheilt. Sie legte die Kosmetiktasche neben den Transportkorb, drehte sich um und griff nach ihrem großen Rollkoffer.

»Okay, also schön. Hey! Nein! Halt! Um Himmels willen, das darfst du nicht heben! Warte einen Moment, ja?« Anna stellte ihre Tasse ab und packte Eves Koffer. »Herrgott, der ist ja tonnenschwer. Was hast du eingepackt, Bleigewichte?«

Eve lächelte matt. »Wenigstens hast du nicht gesagt ›eine Leiche‹.«

»Nein, aber ich war kurz davor.«

Aus dem Wageninneren ertönte gequältes Katzengeschrei. »Treibt dich das nicht in den Wahnsinn?«, fragte Anna.

»Wahrscheinlich.« Eve öffnete den Kofferraum. »Aber ich werde es überleben.«

»Hör mal, du bist wirklich unmöglich. Genauso stur wie deine Brüder.« Anna wehrte Eves Hilfe ab und wuchtete den Koffer allein in den Wagen. »Und erzähl mir jetzt nicht wieder, dass du nicht aus demselben Genpool stammst wie Kyle und Van. Das tut nichts zur Sache. Ihr seid alle unter demselben Dach aufgewachsen, und deswegen seid ihr alle so dickköpfig.«

Eve hatte jeglichen Widerspruch aufgegeben. Mit Logik kam sie hier nicht weiter. Anna wusste sehr wohl, dass Eves ältere Brüder aus der ersten Ehe ihrer Mutter stammten und bereits zwölf beziehungsweise zehn Jahre alt waren, als Eve im Kleinkindalter von Melody und Terence Renner adoptiert wurde, doch in ihren Augen spielte das keine Rolle. Eve hegte den Verdacht, dass Anna Maria darauf bestanden hatte, sie nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus bei sich einzuquartieren. Sie konnte sich jedenfalls nicht vorstellen, dass Kyle es aus brüderlicher Liebe, Edelmut oder gar aus schlechtem Gewissen heraus vorgeschlagen hatte.

Anna trank einen Schluck aus ihrer Tasse und verzog das Gesicht. »Du hast recht. Der Kaffee ist wirklich scheußlich.« Sie goss den Rest unter der Magnolie aus.

»Sag ich doch.«

»Also, wenn du denn unbedingt abreisen musst«, sagte Anna mit einem Blick zum finsteren Himmel, »dann fahr. Aber – Eve?«

»Ja?«

»Halte dich von Cole fern. Er ist einfach nicht gut für dich.«

»Ich weiß.«

»Das ist nicht die Antwort, die ich hören wollte.« Anna nahm Eve in die Arme und drückte sie an sich, als wollte sie sie am liebsten gar nicht fortlassen. Eve fragte sich, ob nur die Sorge um ihr Wohlergehen dahintersteckte oder ob ihre Schwägerin womöglich nicht mit ihrem Mann allein bleiben wollte. Sie selbst wusste nur zu gut, was für ein grüblerischer, launischer Tyrann ihr ältester Bruder sein konnte. Anna musste wirklich eine bemerkenswert starke Persönlichkeit sein, denn sie hatte sich all die Jahre hindurch nie von ihm unterkriegen lassen.

»Pass auf dich auf, Anna«, flüsterte Eve bewegt. »Und danke für alles. Das werde ich dir nicht vergessen.«

»Pass du auch auf dich auf.« Bevor der Abschied noch schwerer wurde, löste sich Eve aus Annas Umarmung, setzte sich ans Steuer und ließ den Motor an, ohne die schreiende Katze zu beachten. »Tschüs!«

Anna zog bereits die Zigarettenschachtel aus ihrer Tasche. Sie klopfte die letzte Zigarette heraus und zerknüllte die Packung.

Als Eves Wagen aus der Einfahrt rollte, sprenkelten die ersten Regentropfen den Boden. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Bis New Orleans lagen vierhundert Meilen vor ihr.

Und wenn du dort bist, was dann?

»Das weiß der Himmel.« Sie schaltete die Scheibenwischer ein und trat aufs Gas. Um Samsons jämmerliches Klagen zu übertönen, schaltete sie das Radio ein. Sie erwischte einen Country-Sender und fragte sich, was schlimmer war: die jaulende Gitarre oder die unglückliche Katze.

Der Rest ihres Lebens, wie auch immer er sich gestalten mochte, wartete auf sie.

 

»Hol mich hier raus, zum Teufel!« Cole Dennis lief in der engen Zelle unruhig auf und ab. Er war angespannt. Aufgewühlt. Dieser winzige Raum mit den zerkratzten Zementwänden und Stahlgittern stank nach Moder, Dreck und zerbrochenen Träumen. Schlimmer noch, durch den schweren Tannenduft eines Reinigungsmittels drang der Geruch von Ammoniak und Urin, als hätte derjenige, der zuletzt in dieser Zelle gewesen war, vor Angst die Kontrolle über seine Blase verloren. Oder er hatte absichtlich gepinkelt, aus Trotz gegenüber den Cops.

Coles Anwalt, Sam Deeds, saß an einem schlichten Tisch, der am Boden festgeschraubt war. In seinem schicken Armani-Anzug mit Seidenkrawatte und einem Haarschnitt, der ein durchschnittliches Monatsgehalt gekostet haben musste, war Deeds der Inbegriff des aalglatten Anwalts: sorgfältig rasiert, mit ernster Miene und scharf blickenden dunklen Augen, denen nichts entging.

Wie oft hatte Cole selbst auf diesem Stuhl gesessen, gekleidet wie Deeds, hatte seine Klienten beruhigt und dabei niemals diesen Geruch der Verzweiflung bemerkt, der den verschrammten Wänden anzuhaften schien.

»Die Formalitäten dauern eben ihre Zeit. Du kennst das doch«, sagte Deeds.

»Ach was. Die zögern es absichtlich hinaus. Und warum bin ich hier eingesperrt? Ich soll doch entlassen werden. Das hier ist eine Verhörzelle, um Himmels willen.«

»Dein Fall hat erhebliche Wellen geschlagen.«

»Dann geschieht es zu meinem Schutz? Um mich vor der Presse abzuschirmen?« Cole schnaubte verächtlich. »Quatsch!«

»Beruhige dich.« Deeds warf einen bedeutsamen Blick zu dem großen Einwegspiegel an einer Seitenwand des Raumes.

Cole schwieg. Er wusste Bescheid über den Spiegel und die Kerle auf der anderen Seite, die jede seiner Regungen verfolgten und vergeblich hofften, ihm irgendwie doch noch den Mord an Royal Kajak anhängen zu können. Herrgott, welch ein Schlamassel. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und spürte warmen Schweiß auf der Kopfhaut. Genauso, wie er es hundertmal bei den armen Kreaturen beobachtet hatte, die er verteidigte.

Er fragte sich kurz, ob Montoya, dieses unnütze Stück Scheiße, wohl gerade auf der anderen Seite des Einwegspiegels stand. Oder vielleicht Bentz, der ältere, stämmige, ruhigere Typ, Montoyas Partner. Oder Brinkman … Himmel, der war ein Fall für sich. Weshalb der nicht längst seinen Job verloren hatte, war Cole ein Rätsel. Und dann war da noch die Bezirksstaatsanwältin, Melinda Jaskiel. Die hatte wahrscheinlich ihre helle Freude an dieser Sache. Cole konnte nicht mehr zählen, wie viele Male er im Gerichtssaal Jaskiel oder einem ihrer Assistenten gegenübergesessen hatte, als Vertreter der Gegenseite. Es hatte ihn gewundert, dass Jaskiel seinen Fall nicht selbst übernommen, sondern ihn an einen Untergebenen weitergereicht hatte.

Kein Wunder, dass sie alles taten, was in ihrer Macht stand, um ihm die Schuld anzuhängen.

Was hatte Bentz gesagt, als sie ihn eingelocht hatten? Wer austeilt, muss auch einstecken können. Nun, das galt schließlich nicht nur für ihn. Er kniff die Augen zusammen und hoffte, dass dieser wichtigtuerische Scheißkerl ihn jetzt beobachtete und ohnmächtig zusehen musste, wie ihm sein »guter Fang« durch die Lappen ging. Schwein. Und dann Montoya, dieses aufgeblasene, eigennützige Arschloch.

Die Polizei hatte nicht genug in der Hand, um ihn noch länger festzuhalten. Das belastende Material war von Anfang an spärlich gewesen, und schließlich hatten die Vorwürfe nicht mehr aufrechterhalten werden können, denn Deeds hatte Unstimmigkeiten in der Beweiskette aufgedeckt: Jemand in der Behörde hatte Mist gebaut, hatte entscheidendes Beweismaterial gegen ihn unbeaufsichtigt gelassen, so dass es möglicherweise hatte verfälscht werden können. Und dann war da Eve. Die schöne, tödliche, betrügerische Eve. Sie war bereit gewesen, gegen ihn auszusagen, hatte behauptet, er habe auf sie geschossen, verdammt! Aber ihre Erinnerung an jene Nacht war lückenhaft, sagte sich Cole mit unterdrückter Wut.

Deeds war drauf und dran gewesen, sich Eve vorzunehmen, sie als Schwachkopf, Lügnerin, als Frau ohne Moral und Gewissen hinzustellen, die einen »äußerst zweckdienlichen« Gedächtnisverlust erlitten hatte. Ja, er hatte sich innerlich gewunden, wenn Deeds davon sprach, sie ins Kreuzverhör zu nehmen. Doch schließlich, so sagte er sich, hatte sie ihn betrogen.

Glücklicherweise kam der Fall nicht vor Gericht, auch wenn Cole aufgrund eines falschen Verdachts zunächst in Untersuchungshaft genommen wurde.

Idioten!

Cole trat vor den Spiegel und starrte böse hinein, sah jedoch nur sich selbst: harte blaue Augen unter dichten, finster zusammengezogenen Brauen, hohe Wangenknochen und ein schmaler Mund, dessen zusammengepresste Lippen fast weiß aussahen. Die Krähenfüße in den Augenwinkeln und die grauen Strähnen in seinem dunklen Haar schienen ausgeprägter als noch vor drei Monaten. Er war in dieser elenden Zelle um Jahrzehnte gealtert. Seine ausgewaschene Jeans und sein T-Shirt waren verknittert und rochen nach Schweiß, noch von jener Nacht, als er verhaftet und im Streifenwagen hergebracht wurde. Er war barfuß gewesen. Inzwischen hatte Deeds ihm immerhin ein Paar ausgetretene Nikes gebracht, allerdings eine Nummer zu klein, so dass sie drückten.

Im Spiegel sah er, dass ein Muskel in seiner Wange zuckte.

Deeds bemerkte es ebenfalls. »Setz dich, Cole.«

»Ich kann nicht.«

»Tu’s einfach.« Sam Deeds’ Stimme klang ruhig, fest, eindringlich.

Genauso war Cole immer mit seinen Klienten umgegangen. Als er noch Klienten hatte, eine eigene Anwaltspraxis, ein Haus, einen Jaguar, verdammt noch mal ein Leben. Das alles war den Bach runtergegangen. Restlos. Jetzt wusste er, wie es war, wenn man seine Freiheit verlor, tun musste, was einem gesagt wurde, kalten Stahl an Hand- und Fußgelenken spürte.

Er wandte sich vom Spiegel ab, rieb sich die Handgelenke, dort, wo die Handschellen in die Haut gedrückt hatten. Er glaubte sie noch immer zu spüren, wie in jener Nacht, als die Polizei in sein Haus eingedrungen war, ihm seine Rechte verlesen und ihn ins Gefängnis gesteckt hatte. Er war gerade aus der Dusche gekommen, mit nichts am Leib außer einer Jeans, und wollte eben ein Hemd anziehen, als es plötzlich an der Tür hämmerte. Als er öffnete, sah er draußen im Dunkeln blaue und rote Lichter aufblitzen. Seine Nachbarn und die Presse standen am Gartenzaun und verfolgten die Szene. Kameras blitzten, seine nackten Füße sanken in den Lehmboden seines Vorgartens, und obwohl er sofort einen Anwalt verlangte, wurde er in den Streifenwagen gestoßen und zur Wache gefahren. Dort sperrte man ihn in eine Zelle, klärte ihn noch einmal über seine Rechte auf, und anschließend musste er geschlagene drei Stunden auf Deeds warten. In dieser Zeit sprach er kein Wort, doch den Fragen, die man ihm stellte, entnahm er, dass er im Zusammenhang mit einem Mordfall, der Eve Renner und Royal Kajak betraf, verhaftet worden war.

Bei dem Gedanken daran verzog er den Mund.

Eve. Himmel, er hatte sie geliebt.

Leidenschaftlich.

Ungestüm.

Ohne Rücksicht auf die Folgen.

Das war das Problem: Er hatte sie verdammt noch mal zu sehr geliebt. Glühend, beinahe krankhaft.

Und sie hatte diese Liebe gegen ihn verwendet.

Jetzt hatte er nicht nur sie verloren, sondern überhaupt alles.

Er würde noch einmal ganz von vorn anfangen müssen. Bei null.

Nun, es war nicht das erste Mal.

Er ballte die Hände zu Fäusten, öffnete sie, schloss sie erneut.

Als er einen weiteren strengen Blick von Deeds auffing, beschloss er, den Widerstand aufzugeben. Er hätte gegen den Spiegel hämmern können, schreiend und tobend seine Unschuld beteuern, mit Klagen wegen ungerechtfertigter Verhaftung drohen.

Doch das hätte alles nur noch schlimmer gemacht.

Und er hatte sich bereits tief genug hineingeritten, hatte Dummheiten begangen, als er auf Kaution frei war. Verdammt, er steckte wirklich gründlich in der Klemme.

Das Ganze roch nach einem abgekarteten Spiel – jemand wollte ihm etwas in die Schuhe schieben. Und das würde er beweisen, sobald er wieder frei war.

Allerdings versprach es nicht leicht zu werden. Die verdammten Bullen waren entschlossen, ihm die Sache anzuhängen, nachzuweisen, dass er in der Nacht von Royal Kajaks Ermordung am Tatort war und dass er den Schuss aus der Pistole abgefeuert hatte, der Eve Renner beinahe getötet hätte.

Er konnte sich keine weiteren Pannen leisten.

Selbst wenn er absolut unschuldig gewesen wäre.

Was er natürlich nicht war.

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2.

Er ist schuldig.« Montoya blickte finster durch den Einwegspiegel in den Raum, in dem Cole und sein Anwalt warteten. »Schuldig wie die gottverdammte Sünde.«

Bentz grunzte etwas und nickte knapp. Sie standen in einem abgedunkelten Raum, in dem es schwach nach kaltem Zigarettenrauch roch.

Mittlerweile hätte Montoya für einen Zug an einer Zigarette zum Mörder werden können, doch er hatte das Rauchen aufgegeben, hatte die geliebten Marlboro zuerst durch ein Nikotinpflaster ersetzt und dann, in den letzten paar Monaten, durch geschmacksneutralen Kaugummi, der allerdings kaum mehr war als eine nutzlose orale Ersatzbefriedigung. In Situationen wie dieser, wenn er sich konzentrieren wollte, war die Versuchung, wieder zur Zigarette zu greifen, am stärksten. Er kratzte sein Kinnbärtchen und kämpfte gegen den Drang an, in den Nebenraum zu stürmen, Cole Dennis am Kragen zu packen und die Wahrheit aus ihm herauszuprügeln.

»Wir können ihn nicht länger festhalten. Die Bezirksstaatsanwältin lässt die Mordanklage fallen.« Bentz war ebenfalls enttäuscht. Und wütend. Er biss die Zähne zusammen, und seine Lippen wurden schmal.

»Himmelherrgott.« Montoya wollte Cole Dennis im Gefängnis sehen. Er zupfte an seinem Diamant-Ohrstecker. Zwar hatte es ihn befriedigt, dass der Anwalt in Handschellen abgeführt worden war und fast neunzig Tage in Untersuchungshaft verbracht hatte, wo er die steife baumwollene Gefängniskluft tragen musste – lange genug, dass ihm sein überlegenes Grinsen verging –, doch das genügte nicht. Der Mistkerl war für den Großteil seines Erwachsenenlebens in Designeranzügen herumgelaufen, war Mitglied in den exklusivsten Tennis- und Golfclubs gewesen und hatte einige der größten, reichsten Drecksäcke vor ihrer gerechten Strafe bewahrt, wenn sie wegen Verbrechen, die von Steuerhinterziehung bis hin zu Körperverletzung reichten, vor Gericht standen. Es war höchste Zeit, dass er dafür bezahlte.

Aber der verdammte Fall war ihnen unter den Händen zerronnen. Zuerst war Dennis gegen Kaution auf freien Fuß gekommen, dann wegen Verstoßes gegen die Kautionsauflagen erneut inhaftiert worden, aber nun mussten sie ihn trotz allem laufen lassen. Montoya schüttelte den Kopf. Der Kerl hatte eine glatte Million verloren, aber er würde freikommen. Montoya kratzte seinen Bart noch energischer, bemerkte, dass Bentz ihn beobachtete, und furchte die Stirn. »Was denn?«

»Vergiss die Sache.«

»Das kann ich nicht, verdammt. Dennis war in der Mordnacht in Roy Kajaks Hütte. Schließlich haben wir vor der Tür einen Fußabdruck gefunden, Größe zwölfeinhalb – Dennis’ Größe.«

»Und wo ist der passende Schuh oder Stiefel?«

»Weg. Genau wie die Kleidung. Da muss eine Menge Blut von Kajak dran gewesen sein. Und immerhin haben wir Dennis unter der Dusche erwischt, nicht wahr?«

»Aber wir haben sein ganzes Haus auf den Kopf gestellt auf der Suche nach den Schuhen, den Kleidern, Blutspuren – da war absolut nichts zu finden.«

Montoya zuckte die Schultern. Die Forensiker hatten tatsächlich keinerlei Rückstände von Blut gefunden, nicht einmal in den Abwasserrohren. Wohl aber Reste von Bleichmittel … Der Scheißkerl hatte gewusst, wie er es anstellen musste, seine Spuren zu beseitigen. Und er hatte keine Zeit verloren.

Bentz, der immer gern den Advocatus Diaboli spielte, sagte: »Vielleicht hat Cole Roy ja gar nicht umgebracht, sondern nur auf Eve Renner geschossen.«

»Und wer hat Roy dann die Kehle durchgeschnitten?«, fragte Montoya wohl zum hundertsten Mal. Er und Bentz hatten diesen Wortwechsel Tag für Tag aufs Neue durchgespielt, jedoch ohne Ergebnis. Hin und wieder führten sie eine neue Idee ins Feld, nur um wiederum in einer Sackgasse zu landen. Und was zum Teufel hatte die Zahl 212 zu bedeuten? Mit Blut geschrieben, mit dem Zeigefinger der rechten Hand des Opfers.

Und die gleichen Ziffern waren auch auf die Stirn des Toten tätowiert worden. Der Coroner hatte es entdeckt, als er die Leiche säuberte. Handelte es sich um eine Art Code? Die Nummer eines Postfachs? Eine Postleitzahl? Das Passwort für einen Computer? Einen Geburtstag? Die Polizei hatte nichts darüber herausgefunden.

Es war das Gleiche wie bei Faith Chastain. Sie war vor Jahren in der psychiatrischen Klinik Our Lady of Virtues ermordet worden. Und unter ihrem Haar hatte man eine Tätowierung gefunden … Zufall? Zum Teufel! Montoya brauchte dringend eine Zigarette. Vielleicht auch einen Drink.

Welcher Mörder machte sich die Mühe, sein Opfer zu tätowieren? Die Vorstellung, eine Tätowierung an einer Leiche vorzunehmen … pervers. Sie verursachte ihm eine Gänsehaut.

Montoya sah Bentz an. Der harte Blick des älteren Cops war auf den Einwegspiegel gerichtet. Er schürzte gedankenverloren die Lippen, zog die Stirn in Falten und kaute Kaugummi. Nach außen hin mochte er ruhiger wirken als Montoya, aber auch er war gereizt. Aufs Äußerste gereizt.

Wie auch immer, vorerst mussten sie den Scheißkerl auf freien Fuß setzen.

Montoya sah durch die Scheibe zu, wie der zuständige Beamte die Verhörzelle betrat, um Cole Dennis im wahrsten Sinne des Wortes den Laufpass zu geben.

Mist.

Sein Magen krampfte sich zusammen. Es war nicht richtig. Verdammt, es war nicht richtig.

Ein paar Federstriche, und das war’s.

Cole Dennis in seinem zerknitterten T-Shirt und den verwaschenen Jeans war wieder ein freier Mann. Er mochte um eine Million Dollar ärmer sein, vielleicht würde er auch seine Zulassung als Anwalt verlieren, aber man konnte ihn nicht länger hinter Schloss und Riegel halten.

Scheiße!

Ohne den Blick abzuwenden, nahm Montoya seine Lederjacke von der Lehne eines freien Stuhls.

Dennis, bereits an der Tür, besaß die Dreistigkeit, über die Schulter einen Blick zurück zu dem Einwegspiegel zu werfen, doch er lächelte nicht. Nein, seine Augen wurden schmal, er presste die Lippen zusammen, und die Haut über seinen Wangenknochen spannte sich. Er war rasend wütend.

Gut so.

Montoya konnte nur hoffen, dass der Scheißkerl in seiner Wut einen weiteren Fehler beging.

Und dann würde er, Montoya, Cole Dennis bis ans Ende seines erbärmlichen Lebens hinter Gitter bringen.

 

Eve hielt das Steuer fest umklammert. Sie bewegte die Schultern, um ihren verspannten Nacken zu lockern, und versuchte die Kopfschmerzen zu ignorieren, die sich während der Fahrt nach Süden in Richtung New Orleans noch verstärkt hatten. Der Regen hatte zwischenzeitlich immer wieder zu- und abgenommen, manchmal fielen nur vereinzelte Tropfen vom düsteren Himmel, dann wieder gingen wahre Wolkenbrüche nieder. Als sie durch Montgomery fuhr, hörte es schließlich ganz auf, und die Sonne brach durch die Wolken und tauchte die Hügel, die Wolkenkratzer und den Alabama River in goldenes Licht. Zur selben Zeit war auch Samsons klägliches Geschrei endlich verstummt.

Doch der Frieden währte nicht lange. Jetzt, ein paar Meilen vor Mobile, prasselte der Regen wieder erbarmungslos auf den Camry nieder. Die Scheibenwischer konnten die Fluten kaum bewältigen, Eves Magen knurrte, und Samson maunzte kläglich.

An der nächsten Ausfahrt beschloss Eve entnervt, an einem Imbiss haltzumachen, etwas zu essen und das Ende des Wolkenbruchs abzuwarten. Bei diesem Unwetter kam sie ohnehin nur langsam voran. Auf dem asphaltierten Parkplatz standen nur hier und da ein paar vereinzelte Fahrzeuge. Eve spannte ihren Schirm auf und lief auf das Lokal zu, wobei sie großen Regenpfützen ausweichen musste. Unter einem Vordach bei der Hintertür standen ein paar rauchende Teenager, offenbar Mitarbeiter des Lokals, die gerade eine Pause machten. In einen dunklen Pick-up saß ein Mann, der ebenfalls rauchte. Die Glut seiner Zigarette glomm rot im dunklen, verqualmten Wageninneren.

Eve beachtete ihn nicht weiter, sondern trat durch die Glastür in das hufeisenförmig angelegte Restaurant, in dem die Klimaanlage ächzte und die Friteusen zur Melodie eines Johnny-Cash-Klassikers brutzelten. Der Geruch von Röstzwiebeln und gebratenem Fleisch schlug ihr entgegen.

Eve ließ sich in einer freien Nische am Fenster nieder und studierte die Speisekarte, bis die Kellnerin kam und ihre Bestellung aufnahm. »Was darf’s denn sein?«, fragte die Frau. »Kaffee? Tee? Mineralwasser? Übrigens, unser Tagesgericht, der Hackbraten, ist sehr zu empfehlen. Wirklich ganz köstlich!«

»Ich nehme einen Tee und ein Shrimp-Sandwich.«

»Kommt sofort.« Die Kellnerin eilte davon und brachte Sekunden später den Tee. Eve schüttelte die letzten drei Ibuprofen aus dem Röhrchen in ihrer Handtasche, spülte die Tabletten mit einem großen Schluck Tee hinunter und betete, dass sie schnell wirkten. Flüchtig fragte sie sich, ob Anna Maria recht gehabt hatte – vielleicht war sie dieser Fahrt wirklich noch nicht gewachsen.

Nicht darüber nachdenken. Alles wird gut. Wenn du nur erst zu Hause bist.

Sie schloss die Augen. Zu Hause. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, seit sie zuletzt die vertrauten Stufen zu dem viktorianischen Haus im Garden District hinaufgestiegen war. Sie sah den steilen Giebel vor sich, die Sprossenfenster, das zierliche Schnitzwerk und das Türmchen … Himmel, sie liebte dieses Türmchen. Nana hatte das Turmzimmer immer als ›Eves kleinen Garten Eden‹ bezeichnet. Wenn sie von dort aus über die Dächer und Bäume hinwegschaute, hatte sie das Gefühl, die ganze Welt überblicken zu können.

Klirr! Jemand hatte ein Tablett mit Gläsern fallen lassen, die lautstark zu Bruch gingen.

Eve wäre beinahe aus der Nische gesprungen. Ihr Herz schlug schneller, und sie blinzelte mehrmals rasch, doch die Erinnerungsfetzen strömten unaufhaltsam auf sie ein. Sie sah sich wieder in der dunklen Hütte stehen, sah die Stichflamme aus dem Pistolenlauf, splitterndes Glas und Coles hartes Gesicht, das sie böse anstarrte. Als sie die Augen niederschlug, stellte sie fest, dass sie die Hände unwillkürlich zu Fäusten geballt hatte. Ihr Atem ging flach und schnell. Langsam öffnete sie die Hände wieder und zählte bis zehn. Es war nur ein Missgeschick gewesen. Schon kam ein Lehrling mit Besen und Kehrschaufel um die Ecke, während ein Mädchen, kaum älter als sechzehn, sich mit hochrotem Kopf für ihre Ungeschicklichkeit entschuldigte.

Erschrick nicht dauernd vor deinem eigenen Schatten, ermahnte Eve sich stumm und sah aus dem Fenster. Das Unwetter tobte noch immer unvermindert, heftiger Regen prasselte gegen die Scheibe und nahm ihr die Sicht. Ihr Handy klingelte. Sie fuhr so heftig zusammen, dass sie sich die Knie an der Tischkante stieß.

»Verdammt.«

Dr. Byrd hat recht: Du bist nicht ganz richtig im Kopf.

Während Eve das Handy aus der Tasche zog, ging sie in den Eingangsbereich hinüber, um ungestört sprechen zu können. Im Display stand Anna Marias Nummer. »Hallo«, meldete sich Eve, und allmählich beruhigte sich ihr Herzschlag wieder.

»Wo bist du gerade?«, wollte ihre Schwägerin wissen.

»Kurz vor Mobile.«

»Hast du es schon gehört?«

»Was denn?«

»Cole ist heute entlassen worden. Wie ich es dir gesagt habe. Sämtliche Anklagepunkte wurden fallengelassen.«

Eves Magen krampfte sich zusammen. »Uns war doch klar, dass es so kommen würde.«

»Aber ausgerechnet an dem Tag, an dem du nach New Orleans zurückfährst? Kann das Zufall sein? Eve, es ist ein böses Zeichen, ich schwör’s dir. Ich weiß, du glaubst nicht an so etwas, aber ich sage dir, hier sind Kräfte am Werk, die wir nicht begreifen. Es sei denn, du wusstest davon und wolltest deshalb unbedingt gerade heute nach Hause fahren.«

Eve hörte den vorwurfsvollen Unterton ihrer Schwägerin. »Ich hatte keine Ahnung«, beteuerte sie wahrheitsgemäß.

»Sie haben es in den Nachrichten gebracht«, berichtete Anna, »aber ich dachte mir, wenn du das Radio nicht eingeschaltet hast, kannst du es noch nicht erfahren haben. Und wie sagt man doch: Gefahr erkannt, Gefahr gebannt.«

»Danke für die Warnung.«

»Der Mann ist eine Gefahr für dich, Eve. Das weißt du so gut wie ich. Wenn nicht körperlich, dann zumindest emotional.«

»Ich bin fertig mit ihm, Anna. Ich dachte, darüber wären wir uns einig.«

»Ja, sicher.«

»Es ist mein Ernst. Wenn jemand eine Pistole auf dich richtet, sind sentimentale Gefühle ganz schnell verflogen.«

»Gut«, sagte Anna, doch sie wirkte nicht recht überzeugt. »Denk daran und pass auf dich auf. Und wenn du doch lieber wieder zu uns zurückkommen möchtest, bist du hier jederzeit willkommen.«

»Danke, ich werde darüber nachdenken.« Doch das war geschwindelt. Sie fuhr nach Hause, basta. Eve beendete das Gespräch, entschlossen, sich durch die Aussicht auf eine Begegnung mit Cole nicht einschüchtern zu lassen. Doch als sie wieder in den Gastraum trat, ging sie nicht gleich zu ihrer Nische zurück, sondern in entgegengesetzter Richtung durch einen dunklen Flur und an einem Zigarettenautomaten vorbei zur Bar, in der ein paar Männer am Tresen saßen und Bier tranken. Ein Bursche von Anfang zwanzig mit tätowierten Unterarmen spielte allein eine Trainingsrunde Billard, und in den Fernsehern über der Bar liefen Sportsendungen. Kein Bild von Cole Dennis, wie er in Begleitung seines hochkarätigen Anwalts das Polizeirevier verließ, »Kein Kommentar« sagte und den Spießrutenlauf durch die Scharen der Reporter mit Mikrofonen vermied, indem er in ein wartendes Auto stieg.

Nur keine Aufregung, ermahnte sich Eve und ging zurück an ihren Tisch, wo auf einem ovalen Teller ihr Shrimp-Sandwich und ein Schälchen Krautsalat warteten. Das Sandwich troff von Butter, der Weißkohl ertrank schier im Dressing. Nach Anna Marias Anruf war Eve der Appetit eigentlich vergangen, dennoch setzte sie sich an den Tisch und biss in ihr Sandwich. Der Mensch muss essen, sagte sie sich, schmeckte die würzigen gebratenen Shrimps jedoch kaum.

Was würde sie sagen, wenn Cole ihr über den Weg lief? Was würde er sagen? Würde er ihr ausweichen? Oder im Gegenteil nach ihr suchen? Sie schluckte mechanisch einen Bissen hinunter und bemühte sich, nicht an seine eindringlichen blauen Augen zu denken, an sein dichtes, schwarzes Haar, das energische Kinn. Doch das erwies sich als unmöglich. Sein Bild stand ihr klar vor Augen – so, wie er damals ausgesehen hatte, als sie sich kennenlernten.

Es war auf der geräumigen Veranda ihres Vaters gewesen. Cole hatte auf einem Hocker gesessen, vorgebeugt, die gebräunten Arme auf die jeansbekleideten Knie gestützt. Sein dunkles Haar sah aus, als müsste er dringend zum Friseur, und ein Bartschatten verdunkelte sein Kinn.