Da Capo im Theaterpark - Ron Robert Rosenberg - E-Book

Da Capo im Theaterpark E-Book

Ron Robert Rosenberg

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

"Ein junger Kerl ist ums Leben gekommen. Gewalttat. Muss ein Schauspieler gewesen sein."
Wer kennt sie, die Wahrheit über den Theaterpark-Mord? Diese Frage stellt sich Heribert Quengel, als er über den Tatort stolpert. Dabei sehnt sich der Enthüllungsjournalist lediglich nach innerer Ruhe, nachdem er wegen eines unverzeihlichen Fehlers seinen Zeitungsjob verlor.
Als nun eines Morgens die Leiche des erschlagenen Schauspielers Frerk van Drachten im Theaterpark entdeckt wird, überreden ihn der neurotische Jasper und die Ex-Kollegin Molly einen gemeinsamen True-Crime-Podcast zu gründen, um in dem Mordfall zu ermitteln. Doch trotz vielversprechender Hinweise ihrer Follower lauern weitere Fallstricke auf sie. Weshalb geistert eine verängstigte Frau zwischen den Bäumen umher? Welche dunkle Machenschaften gehen im Staatstheater vor? Welches Geheimnis birgt die Ermordung einer jungen Frau vor fünfundzwanzig Jahren? Und überhaupt: Hängen die Ereignisse womöglich miteinander zusammen?
Eine Antwort gibt es bereits jetzt: Heribert Quengel wird seinen Frieden erst finden, wenn er den Täter zur Strecke gebracht hat.

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Ron Robert Rosenberg

Da Capo im Theaterpark

Nur Morde unter freiem Himmel

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Da Capo im Theaterpark

Da Capo im Theaterpark

 

Ron Robert Rosenberg

 

 

Buchbeschreibung:

"Ein junger Kerl ist ums Leben gekommen. Gewalttat. Muss ein Schauspieler gewesen sein."

Wer kennt sie, die Wahrheit über den Theaterpark-Mord? Diese Frage stellt sich Heribert Quengel, als er über den Tatort stolpert. Dabei sehnt sich der Enthüllungsjournalist lediglich nach innerer Ruhe, nachdem er wegen eines unverzeihlichen Fehlers seinen Zeitungsjob verlor.

Als nun eines Morgens die Leiche des erschlagenen Schauspielers Frerk van Drachten im Theaterpark entdeckt wird, überreden ihn der neurotische Jasper und die Ex-Kollegin Molly einen gemeinsamen True-Crime-Podcast zu gründen, um in dem Mordfall zu ermitteln. Doch trotz vielversprechender Hinweise ihrer Follower lauern weitere Fallstricke auf sie. Weshalb geistert eine verängstigte Frau zwischen den Bäumen umher? Welche dunkle Machenschaften gehen im Staatstheater vor? Welches Geheimnis birgt die Ermordung einer jungen Frau vor fünfundzwanzig Jahren? Und überhaupt: Hängen die Ereignisse womöglich miteinander zusammen?

Eine Antwort gibt es bereits jetzt: Heribert Quengel wird seinen Frieden erst finden, wenn er den Täter zur Strecke gebracht hat.

 

Über den Autor:

Ron Robert Rosenberg lebt mit seiner Familie in der Nähe von Braunschweig, der Stadt Heinrichs des Löwen. Beruflich jongliert er mit Paragraphen und Zahlen. Dabei wirbelt er viel lieber doppeldeutige Wörter aufs Papier. Mit dieser Leidenschaft schreibt er nebenbei Kriminalromane und humorvolle Kurzgeschichten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Da Capo im Theaterpark

 

Nur Morde unter freiem Himmel

 

 

Ron Robert Rosenberg

 

 

 

 

 

1. Auflage 2023

© Dezember 2023 Ron Robert Rosenberg –

alle Rechte vorbehalten.

 

Ron Robert Rosenberg

c/o Block Services

Stuttgarter Str. 106

70736 Fellbach

 

Umschlaggestaltung: Ron Robert Rosenberg

mit canva.com

 

[email protected]

 

Zitate

Sonnenglanz und Lichtermeer

Sommer war’s, noch nicht lang her!

 

Strahlen, hell wie heißes Kupfer,

malen gleißend gelbe Tupfer

in die Kronen mancher Bäume,

Wind spielt auf zur Nacht der Träume.

 

Abends unterm Sterngefunkel

wandeln Paare gern im Dunkeln.

Blümelein und ein Verehrer,

Liebelein, bald wird es leerer.

 

Eine Lilie bleibt verweilen,

alsdann viele heimwärts eilen.

Kindlich zart von bester Güte,

lind im Park vor erster Blüte.

 

Schatten fallen, tiefe Schwärzen,

Harpyien krallen reine Herzen,

brechen in die Welt der Lilie,

schrecklich wild, voll finstrer Ziele.

 

Haltet ein, lasst eure Klauen!

Da erscheint der Herr im Grauen:

Fürst des Bösen, Todesengel,

bricht das Köpfchen von dem Stängel.

 

Mondesabend, sternenklar, schuldlos darbend, sterbend starr.

 

Verfasser ?

 

 

Shall I compare thee to a summer’s day?

Thou art more lovely and more temperate;

Rough winds do shake the darling buds of May,

And summer’s lease hath all too short a date.

 

Soll ich Dich einem Sommertag vergleichen?

Nein, Du bist lieblicher und frischer weit;

durch Maienblüten raue Winde streichen

und kurz nur währt des Sommers Herrlichkeit.

 

Shakespeares Sonett 18

 

 

Ein jeder Tag bricht dir was ab, von deiner Schönheit bis ins Grab.

 

Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen

 

 

Ob nun Totschlag oder Mord,

wir in Braunschweig klärn‘s vor Ort.

 

Jasper

Prolog

Braunschweig, Sommer 1997

 

Ein Sommernachtstraum.

Sie standen am Ufer und beobachteten die Mondsprenkel auf dem sich kräuselnden Wasser. In den Böschungen dümpelten Enten, einige bereits mit dem Schnabel unter dem Flügel.

Milder Windhauch strich ihr über die nackten Arme und den Nacken, oberhalb des Reißverschlusses ihres luftigen Sommerkleids. Ihre Finger spielten mit dem silbernen Anstecker in Form eines Notenschlüssels. Das Programmheft, zusammengerollt und mit seiner Telefonnummer, steckte in der losen Hand. Sie lehnte am morschen Holzgeländer, direkt an der Wasserlinie, und spürte dem Prickeln des Pausensekts nach. Er bescherte ihr eine zusätzliche Leichtigkeit.

Die Stimmung der beiden war gelockert.

Was für ein wundervoller Abend, sagte sie sich.

Die Vorstellung war längst beendet. Es hatte den Sommernachtstraum von Shakespeare gegeben.

Wie passend, dachte sie.

Nachtschwärmer und Pärchen hatten sich allmählich im Park zerstreut.

Ihr Begleiter betrachtete sie. Er wartete auf den richtigen Moment, überbrückte die Szene, indem er leichthin etwas über die Oker sagte. Die natürliche Lebensader von Braunschweig. Eine Stadt im Mittleren Westen der Republik. Die Wiedervereinigung war sieben Jahre her, alte Wunden versorgt und neue geschlagen worden. Mit der Einheit war Braunschweig vom östlichen Rand des Radars in die Mitte der Nation gerückt.

Sie gähnte. Er entschuldigte sich und sie lachte.

Er fragte, ob es ihr gefallen habe.

Sie konnte es kaum in Worte fassen, wie sehr sie den Abend genossen hatte. Das Theater, der Sekt auf dem Balkon in der Pause, das Stück als heiteres Verwirrspiel von Liebe und Ehe, eine Komödie mit lauter Missverständnissen, zum Brüllen komisch, überhaupt die ganze Stimmung dieser lauen Nacht.

Während sie noch plapperte, näherte er sich ihr und berührte sie am Oberarm. Sie stockte. Sie verharrten zwischen zwei Bäumen und einer Rhododendronhecke. Dunkelheit umfing sie, als die Sichel hinter einer Wolkendecke verschwand. Schimmer des buttergelben Laternenlichts erreichte kaum ihren schattigen Fleck. Niemand war zu sehen. Er nahm allen Mut zusammen und reckte ihr das Kinn entgegen. Nur Zentimeter trennten sie. Sie zuckte unwillkürlich zurück. Sie stimmte ein Kichern an, das gleichzeitig eine Barriere ziehen sollte. Doch er fasste sie an den Schultern und küsste sie. Sie drehte den Kopf, so dass es bei einem flüchtigen, verrutschten Versuch blieb. Mit bebender Brust trat sie einen Schritt zurück. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre geflohen, aber das Geländer hinderte sie.

Sie sagte, sie müsse nun nach Hause. Hastig schob sie ein Wort des Dankes für die Einladung hinterher. Sie nahm sich vor, höflich zu bleiben.

Er ignorierte das alles. Stattdessen gestand er ihr seine aufrichtige Liebe. Er meinte es mit ritterlichem Ernst.

Die junge Frau stand stocksteif und rieb sich die nackten Arme. Sie fröstelte und trat auf der Stelle. Sie wiederholte ihre Bitte. Der Abend sei wunderbar gewesen. Sie umklammerte ihre winzige Umhängetasche, zusammen mit dem Heft, als diente es ihr wie ein Schild.

Er beugte sein rechtes Knie und insistierte. Sie brauche keine Angst zu haben, er liebe sie abgöttisch. Er wolle sein Leben mit ihr teilen.

Ihre Augen funkelten und der leichte Schwips verlieh ihr die Kraft, ihre Beherrschung zu überwinden.

Dann brach es aus ihr heraus.

Sie lachte wieder. Erst zaghaft glucksend, dann ohne Hemmungen. Es hätte befreiend und mit zunehmendem Anschwellen entwaffnend sein sollen. Doch im Gegenteil.

Es überschwemmte ihn wie Unrat. Sein filigranes Liebesgespinst hing in Fetzen. War nichts weiter als zerschlissene Kochwäsche im Regen. Besudelt mit Zurückweisung und Demütigung. Eiskalt traf ihn dieser Spott, diese tief empfundene Ungerechtigkeit. Eine Faust in die Magengrube.

Das Gelächter verzerrte sich zu einer Schandmaske, einer hässlichen Fratze des Hohns.

Er hielt es nicht mehr aus. Gerade noch liebestoll, nun elektrisiert. Er sprang auf die Beine.

Ehe sie ihre Gedanken ordnete, fühlte sie die Eisklauen an ihren Halsmuskeln. Sie spürte den kräftigen, ungezügelten Druck der Männerhände, die ihr jedes Glucksen und jeden Atemzug abschnürten. Das Rasen, als er sie schüttelte, sein entgleister Mund und die Wildheit seiner schmalen Augen versetzten sie zunächst in eine andere Welt. In ein Schauermärchen voller Staunen. Dann stellte sich der Schock ein, dass das nicht jemand anderes war, der angegriffen wurde, sondern dass es ihr geschah. Ihr blieb die Luft weg. Das Programmheft flatterte zu Boden. Sie wehrte sich, schnappte, zog, kratzte und schlug auf die knorrigen Hände, die so unerbittlich klammerten, als würden sie ein Segel reffen, im Angesicht eines aufkommenden Sturms. Dann verlor sie die Besinnung.

Die junge Frau war eine Frohnatur. Sie fühlte sich leicht und ruhig. In der Abgeschiedenheit ihrer Echokammer lauschte sie in die Sommernacht.

Wie zauberhaft, dachte sie.

Dann hörte sie sich selbst.

Immer noch lachen.

Teil I Vorhang auf

 

Kapitel 1

Braunschweig, 18.05.2022, Mittwoch

 

Heribert Quengel spürte, wie die dunstige Frühlingsluft seine Lungen füllte und ihn vor dem Ersticken rettete. Er saß auf einer Bank im Theaterpark, seinem neuen Lieblingsplatz. Dem einzigen Ort, an dem das neue Lebensgefühl in ihn einsickerte.

Die Bank thronte auf dem grasbewachsenen Bastionshügel. Zu ihren Füßen präsentierte sich der prunkvolle Theaterbau aus gelbem Sandstein. Das ehemalige Hoftheater, dem Stil der Florentiner Frührenaissance nachempfunden, verkörperte von dort oben selbst eine Figur auf einer mit Eichen und Zürgelbäumen gesäumten Bühne. Eine Hofdame im Safrankleid, die scheinbar gelangweilt mit angewinkelten Gliedern auf ihrer zementgrauen Chaiselongue ruhte. Leicht dekadent, leicht beunruhigt, aber immer abenteuerlustig. Ihr überheblicher Blick war über das Blätterdach gerichtet, auf den smaragdgrünen Umflutgraben des mäandernden Flüsschens, der Oker. Als läge dieses Juwelenband neben ihr auf dem Nachtschrank.

Heribert Quengel wartete. Oftmals über Stunden. Aber nicht wie ein Zugreisender oder ein Aktienhändler, der sein Geschick dem richtigen Timing unterordnete. Er wartete auf die innere Ruhe, die sich bei ihm einstellte, wenn er nur lange genug seine Aufmerksamkeit von den äußeren Eindrücken abwendete. Auf den Zeitpunkt, wenn sich seine innere Kompassnadel nur in eine Richtung einpendelte.

Dann war er an einem Ort angelangt, wo alles zum Erliegen kam. Er nannte ihn den Nordpol.

Dann erstarrte alles um ihn herum wie in einem Stop-Motion-Trickfilm.

Dann schloss er die Augen und atmete tief ein.

Er lauschte dem Luftstrom, dem Pulsieren der Wirbel in seiner Brust, die die Lungenbläschen zum Tanzen brachten, bis sie zerplatzten. Er konzentrierte sich. Auf den Frühling, die Wärme und die Freiheit, die ihn umfing. Mit jeder vorbeistreichenden Brise schmeckte er das geschwängerte Aroma von Heu und Jasmin. Es entströmte den Blütenkelchen, die wie reitende Kuriere ihrer Frühlingsgöttin an ihm vorbei stoben.

Dann fühlte er sich wieder lebendig.

Endlich.

 

Als Heribert – von guten Bekannten einfach Harry genannt – erwachte, war der Nachmittag fortgeschritten. Das zarte Licht verblasste bereits zu einem Spritzer Pastell. Die Turmuhren schlugen die vierte Stunde.

Noch vor ein paar Wochen hätte er nicht unterscheiden können, ob es sich um die Glocken der Domkirche Sankt Blasii, der Kirche Sankt Katharinen oder Sankt Magni handelte. Die alten Braunschweiger waren ein gläubiges Volk und so erklärten sich die fast zwanzig Kirchen und Kapellen in der Viertelmillionenstadt. Dabei hatten längst nicht alle ein Läutwerk. Nicht einmal eine Kirchturmspitze, wie die skalpierte Sankt Pauli-Kirche im Östlichen Ringgebiet. Aber heute besaßen auch nicht alle Braunschweiger eine tiefreligiöse Frömmigkeit. Die meisten hatten sie vor lauter unwürdigem Kirchspiel eingebüßt.

Inzwischen hatte Heribert ein feines Gehör entwickelt. Der dumpfe Ton der dreihundert Jahre alten Uhrschlagglocke rührte von der Katharinen-Kirche. Es war aber nicht ihr Klang, der ihn aufrüttelte.

Jemand sprach mit ihm.

 

Sehr viel später gab Heribert einem ehemaligen Kollegen ein Interview. Zu seiner Überraschung einem früheren Volontär, mit dessen moderner Technik er damals schon nicht Schritt gehalten hatte. Er hielt ihm eines dieser Hochleistungstelefone unter die Nase, für die es mal eines Tontechnikers und einer Fünftausend-Mark-Ausrüstung bedurft hatte.

Auf die Frage, wann das alles begonnen habe, konnte Harry keinen genauen Zeitpunkt festlegen. Nur so viel stand fest: Alles entwickelte sich, als Jasper aufgetaucht war.

Plötzlich sei er da gewesen, sagte Heribert. Wie aus dem Nichts. Direkt neben ihm auf der Parkbank. Allerdings mit etwas Abstand, so dass er ohne Probleme dessen Profil studiert habe.

Um wen es sich gehandelt habe, fragte der Ex-Volontär.

Heribert beschrieb ihn. Ein mittelgroßer Mittfünfziger mit zerzausten, grauen Haaren, starker Hornbrille und Kolbennase. Er habe neben ihm in der Sonne gelümmelt. Mit ausgestreckten Spargelbeinen, die in Baumwollhosen und am Ende in braunen Slippern steckten. Oben herum habe ihn ein zerknittertes Hemd samt schräg gelandeter Fliege ausgezeichnet. Darüber ein Tweed-Jackett mit Ärmelschonern, den Kragen lässig oberhalb der Rückenlehne aufgestellt. In allen Belangen vollkommener Durchschnitt, mit einer Ausnahme. Er habe eine große Klappe besessen und sei der Prototyp einer zynischen Nervensäge gewesen.

Der Journalist wollte mehr in Erfahrung bringen. Zum Beispiel, was er gesagt habe.

Vorträge über Braunschweig, erwiderte Heribert. Die habe er gehalten.

Sei er Dozent gewesen?

Heribert überlegte. Vielleicht ein Philosoph. Von der ersten Sekunde habe er agiert, als seien sie seit einer Ewigkeit enge Bekannte. Völlig ungeniert und mit intellektuellem Eifer. Wie ein Oberstufenlehrer, der sich jeden Morgen Amphetamine in sein Buchstaben-Müsli mischen würde.

Schließlich kreiste das Interview nicht mehr um Jasper. Immerhin ging es um ein Verbrechen. Aber in einem waren sich alle einig.

Mit ihm hatte der Mordfall seinen Lauf genommen.

 

Jemand sprach mit ihm.

Heribert hatte Mühe, die hügelabwärts gerichteten Worte auf sich zu beziehen.

„Eins-zwei-drei-vier-fünf-sechs-sieben.“

Heribert drehte den Kopf. Ein Durchschnittstyp mit Kolbennase, einer Hornbrille aus Lakritz und lächerlichem Buchmacher-Outfit.

„Verzeihung?“

„EINS-ZWEI-DREI-VIER-FÜNF-SECHS-SIEBEN!“

Heribert schwieg. Er entschied, Schweigen sei die beste Antwort.

„Ich heiße Jasper“, sagte Kolbennase.

Heribert hatte eine gute Kinderstube genossen und legte Wert auf Höflichkeit. Er hasste es, dass sie ihm manchmal im Weg stand.

„Freut mich. Manche nennen mich Harry.“ Heribert war nicht am Austausch plumper Vertraulichkeiten interessiert. Er hatte seine Gründe, nicht jedem Erstbesten seinen bürgerlichen Namen an den Kopf zu werfen. Andererseits war er auch nicht der Typ, der unnötige Lügen verbreitete. Also legte er sich gerne auf seinen Spitznamen fest, der ausreichend anonym war. So wie jetzt.

Jasper grinste. Er hielt die Augen nach vorne gerichtet.

„Ein Prachtbau“, sagte er. „Wie eine Diva. In einem safrangelben Kleid.“

Heribert staunte. „So etwas Ähnliches habe ich auch gedacht. Im Mittagslicht strahlt sie noch imposanter.“

„Davon habe ich gehört. Vielleicht morgen.“

Die Vorstellung, dass Jasper ihm am nächsten Tag wieder Gesellschaft leisten würde, erschrak Heribert. Am liebsten war er allein auf der Bank und nur selten verirrten sich hierher ein paar Rentner oder Jogger, die ihren müden Beinen eine Pause gönnten. Sie zogen lieber am Fuße des Hügels entlang, zumal der Umweg nur wenige Meter betrug und dafür keine Steigungen barg. Er dachte an die rätselhafte Zahlenfolge.

„Was meinten Sie? Vorhin, die Zahlen von eins bis sieben?“

Jasper antwortete nicht sofort. Vielleicht knapste er an Heriberts Reserviertheit und daran, ob er ihn trotz dieses Hindernisses in ein Geheimnis einweihen durfte. Dann gab er sich einen Ruck.

„Wusstest du, Harry, dass das eine Telefonnummer hier in Braunschweig ist? Wenn man diese Nummer wählt, landet man automatisch dort unten, beim Besucherservice des Staatstheaters. Sie gehört zur Kassenhalle des Großen Hauses und man kann Karten für eine Vorstellung reservieren.“

„Wirklich? Nie gehört“, räumte Heribert ein.

„Oder bloß vergessen.“

Heribert ärgerte sich über diese anzügliche Boshaftigkeit. Schließlich war er nicht dement. Aber der Typ schien ein Freak zu sein, der sich irgendwann tummeln würde. Es nütze niemanden, sich über diesen ungebetenen Gast aufzuregen, sagte er sich. Stattdessen schielte er auf seine Uhr. Es war tatsächlich kurz nach vier.

„Früher war das hier der Herzogliche Park. Mit dem Theaterbau wurde er in zwei Hälften geteilt, den Theaterpark und den Museumspark auf der anderen Seite.“

„Sind Sie ein Geschichtslehrer?“

„Gott bewahre!“ Jasper unterdrückte ein Kichern. „Eher ein Zukunftsforscher.“

Heribert nickte höflich und wünschte sich, er könnte erneut seinen inneren Kompass wiederfinden.

„Du kannst mich gerne duzen“, sagte Jasper.

Heribert nickte weiter, vor allem um die Distanz zu wahren.

„Interessanter ist jedoch die Sache mit Faust“, sagte Jasper.

Zuerst dachte Heribert, er meinte etwas Gewalttätiges.

„Faust?“

„Johann Wolfgang von Goethe ließ hier in Braunschweig seinen berühmten Faust das erste Mal aufführen. Den ersten Teil der Tragödie.“

„Im Ernst?“

„Ja, das war 1829, bereits auf einer richtig stehenden Bühne. Bis zu dieser Zeit spielten landauf, landab nur Wandertruppen. Der Theaterbetrieb kannte noch kein festes Schauspielensemble. Aber bald lösten Schauspieler mit Festanstellung diesen umherziehenden Zirkus ab. So kam es zur berühmten Uraufführung. Das war sehr fortschrittlich.“

„Du scheinst eine Menge über das Staatstheater zu wissen.“ Jaspers Schatz aus den Geschichtsbüchern, den er mit sich herumtrug, beeindruckte Heribert. Auch wenn er es ungern zugab. Dennoch ließ er sich ein Kompliment entlocken. „Ich wünschte, ich könnte das auch.“

„Was denn?“

„Ähnliches vorweisen. Über die Geschichte von Braunschweig.“

„Warum?“, fragte Jasper. Seine Augäpfel huschten an den Rand seines Horngestells.

Heriberts Miene verfinsterte sich. „Jemand hat mir mal vorgeworfen, journalistisch solle ich es mit der Regionalgeschichte probieren. Ich wisse zu wenig über die Stadt, in der ich lebe.“

„Hast du es mal versucht?“

„Sehe ich aus wie ein Heimatpfleger? Nein, es war im übertragenen Sinne gemeint.“

„Hm. Was war passiert?“

„Etwas, das mich den Job kostete.“

Jasper schwieg eine Weile. Dann wölbten sich seine Brauen, als ihn ein Geistesblitz durchzuckte.

„Ich könnte etwas beisteuern. Du weißt schon. Etwas Kitt für deine Bildungslücken.“

„Was soll das bringen? Seit meinem Rausschmiss ist mein Gedächtnis so löchrig wie das deutsche Steuersystem.“

„Pfeif darauf. Von mir bekommst du jeden Tag eine Prise Lokalgeschichte. Gratis und garantiert steuerfrei.“

Heribert rümpfte die Nase, aber Jasper zuckte die Achseln, als sei sein einziger Zweck, ihm zu helfen.

„Also, zum Kasten da unten ließe sich einiges sagen. Genau genommen gab es ursprünglich ein Hoftheater, errichtet von Herzog Anton Ulrich von Braunschweig-Lüneburg. Das ist über dreihundert Jahre her. Es stand etwa einen Kilometer von hier Richtung Stadtmitte, am Hagenmarkt. Damals eine der ersten öffentlich zugänglichen Theaterbühnen im deutschsprachigen Raum. Für kurze Zeit sogar Nationalbühne. Das mit dem Staatstheater ergab sich sehr viel später, etwa vor hundertsechzig Jahren. Da wurde diese Bühne, das Große Haus, gebaut und die alte Stätte am Hagenmarkt wegen Baufälligkeit geschlossen. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verwandelten britische Bomber die ganze Stadt in ein Inferno. Leider auch das Theater. Aber nur drei Jahre später erhob es sich wie Phoenix aus der Asche. Genau zu Weihnachten 1948 öffnete es wieder. Mit Don Giovanni.“

„Wow!“

„Ja, eine Meisterleistung der Baukunst und des zivilen Überlebenswillens.“

„Ich wünschte, es gäbe heute mehr von diesem Spirit.“

„Nun, womöglich hatten die Menschen damals auch schlicht keine andere Wahl.“

„Unser Glück.“ Heribert merkte, dass seine Aussage irritierte. „Ich meine, sonst stünde dort heute ein in Beton gegossenes Kongresszentrum oder ein hässliches Parkhaus.“

Gemeinsam verfolgten sie das Glitzern auf dem Wasser. Eine Entenfamilie watschelte durch das Unterholz, auf dem Weg zu einem Badeausflug.

Welch ein Glück, dachte Heribert. Dann schob sich eine Wolke über den Gedanken und mit ihr Goethes Worte, die er mal gelesen hatte:

Aus dem Glück entwickelt oft sich Schmerz.

 

Am Uferweg trabte eine Joggerin. Von der anderen Seite näherte sich ein junger Mann mit einer Promenadenmischung an der Leine. Irgendwas zwischen Bulldogge und Terrier im bedrohlichen Schwarz. Der Hund nahm Kurs auf die Parkbank. Sein schaukelnder Oberkörper gebärdete sich wie ein übermotivierter Türsteher. Das Herrchen hielt an der gespannten Leine Schritt. Der Vierbeiner bohrte seine Schnauze in Heriberts Schienbeine.

„Ramses!“, schnauzte der Mann, sparte sich jedoch eine Kraftprobe. Er glich seinem Hund. Irgendwas zwischen Gefahr und Coolness. Mit tätowierten Armen in einem dunklen Military-Muskelshirt. Beide hatten einen verlotterten Charme und entschieden, dass sie einen respektablen Sitzplatz gefunden hatten.

Jasper nahm keine Notiz von den Neuankömmlingen. Er fror zu einer Skulptur, das Kinn abgewandt.

Heribert blieb nichts anderes übrig, als ein wenig zu rücken, wollte er den Schweiß des Mannes nicht an seinem Blouson kleben haben. Er hockte nun in der Mitte. Ein Prellbock zwischen zwei Welten.

Vor ihm spitzte Ramses wie ein verrußtes Ventil unter Volldampf hervor. Die hechelnde Zunge schlackerte zwischen den Reißzähnen. Unwillkürlich verlagerte Heribert sein Gewicht auf die Zehenspitzen und stützte seine gespreizten Finger auf die zusammengepressten Knie.

„Keine Angst“, nuschelte der Muskelmann aus dem schiefen Mund. „Der hat schon gefressen.“

Heribert rang sich eine gütige Grimasse ab, als hätte ihm seine tollpatschige Tanzpartnerin ihren Stiletto geradewegs in den Spann gerammt.

„Rüdiger mein Name. Ich beiße ebenfalls nicht.“ Damit entblößte der Fremde eine schräge Reihe spitzer Zähne. Er streckte Heribert seine Hand entgegen, die dieser flügellahm ergriff. Jasper hatte sich neben ihn in Luft verwandelt, jedoch hörte Heribert ihn gedämpft seufzen.

„Harry“, sagte Heribert. Inzwischen rutschte ihm der Tarnname locker über die Lippen.

Ein paar Sekunden länger und er hätte sich erhoben, um zu gehen. Steif und mit unmerklicher Verärgerung. Doch Rüdigers Neugierde verhinderte die Flucht.

„Ich habe dich hier schon öfter gesehen, wa? Mindestens seit ein paar Wochen.“ Halb Feststellung, halb ungeschickte Frage, waren die Worte Rüdigers Brückenpanzer, um einen Kontakt anzubahnen.

„Das dürfte passen“, sagte Heribert. Dabei wusste er es mit Sicherheit. Es waren auf den Tag genau zwei Monate, seit er sein Überleben im Theaterpark trainierte. Mit den ersten Sonnenstrahlen des abklingenden Winters. Am Tag zuvor war er als Journalist gefeuert worden.

„Muss schön sein, wenn man independent ist“, sinnierte Rüdiger. Er tätschelte Ramses den Scheitel. „Ich spiele ja seit fünf Jahren Rentenlotto. Aber bis jetzt niente. Hätte mir lieber Kippen von kaufen sollen.“

„Ekelhaft.“ Heribert hörte Jaspers gepresste Stimme. Er erschrak und ignorierte das Pöbeln, wenngleich auch ihm die Ausdünstungen nach kaltem Tabak und einer fehlenden Dusche auffielen.

„Was machste beruflich?“, fragte Rüdiger. Er fischte ein Leckerli aus der Hose, brach es, schob einen Teil in Ramses‘ Schnauze und das andere Teil zwischen seine eigenen Backenzähne. „Ich meine, von irgendwas muss der Mensch ja leben, wa?“ Diesmal eine hundertprozentige Feststellung.

„Ich jobbe. Mal hier, mal da.“

Rüdiger musterte ihn wie einen Gebrauchtwagenhändler mit Pilotenbrille.

„Ich schreibe Kolumnen.“ Heribert blickte in zwei eng stehende Augen. Vollkommen leer. Er korrigierte sich. „Also, für eine Zeitung.“

„Oh, krass. Mit schicken Bildern?“ An Rüdigers Mundwinkel zog ein imaginärer Angelhaken.

„Eher nicht.“

„Kenn ich das Blättchen?“

„Nur, wenn du mal das Papier betrachtest, mit dem du in deinem Loch die kaputten Fenster abdichtest“, grollte Jasper. Heribert wirbelte herum, aber der selbsternannte Zukunftsforscher löste weiterhin eine mathematische Gleichung, irgendwo über den Wolken.

„Was is‘? Kenn ich es?“

Rüdiger war wohl ein Meister in selektiver Wahrnehmung, wenn es um sein Ego ging. Vielleicht hatte er heute auch seinen sozialen Tag. Jedenfalls überließ er dem Nörgler sich selbst.

Heribert überlegte, ihm ein paar Blüten vor den herübergerollten Panzer zu streuen.

„Ich glaube nicht. Ich bin das, was man einen Freiberufler nennt.“ Dies war eine passende Berufsbezeichnung, solange seine Abfindung reichte.

Rüdiger schob seine Unterlippe vor und nickte im Takt. „Ich wusste es. Ein Freelancer. Cool, Mann. Über was schreibst du so?“

„Über alles, was vom Teflon unserer Gegend abperlt.“

Rüdiger setzte sich die Buchstaben wie beim Scrabble zusammen. „Du meinst Essensreste?“

„Sagen wir Schmutz. Ich bin ein Enthüllungsjournalist.“

„Krass! So was wie Lorimer Stark in Criminal Investigation. Coole Serie. Bin schon bei Staffel 4.“

„Meinen Glückwunsch“, giftete Jasper. „Dann bleibt er wenigsten der Straße fern.“

Diesmal griff Heribert ein. An Jasper gerichtet zischte er: „Lass das. Du magst zwar intellektuell überlegen sein, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, deine Mitmenschen anzufeinden.“

Jasper reagierte eingeschnappt. Er drehte ihm den Rücken zu.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte Rüdiger. Er schaute Heribert über die Schulter.

„Ja, von mir aus schon. Manche Zeitgenossen wissen nicht, wann sie sich zurückzuhalten haben. Sie verpesten die Umwelt mit Ihrer Missionierung. Man sollte sich nichts daraus machen. “

„Okay, Harry. Mach ich auch nicht.“

„Jeder hat eine Chance verdient.“ Heribert merkte, dass das ebenfalls nicht schmeichelnd klang, aber zum Glück fehlte Rüdiger die Antenne für das Feintuning.

„Nett, dass du das sagst. Ich muss dann mal wieder.“ Rüdiger blinzelte, warf einen letzten Blick in Jaspers Richtung und trottete mit Ramses davon.

Kurz bevor sie hinter dem Hügel verschwanden, winkte Heribert ihnen hinterher. Zu gern hätte er Jasper für sein ungehobeltes Verhalten zur Rechenschaft gezogen, doch als er sich umwandte, saß er allein auf der Bank. Umso besser, dachte er. Dann sparte er sich einen Disput mit diesem Besserwisser. Die Stimmung war trotzdem dahin. An diesem Nachmittag war seine Kompassnadel verbogen. Sie kreiste gegen jede Wahrscheinlichkeit eines Naturgesetzes auf dem Ziffernblatt umher. An Ruhe und seinen Nordpol war nicht mehr zu denken. Immerhin hatte er etwas gelernt. Über Braunschweigs Straßen und über seine Menschen.

Kapitel 2

Braunschweig, 19.05.2022, Donnerstag

 

Der nächste Morgen trumpfte mit Überraschungen auf. Von der Art, die man nicht an den Absender zurücksenden konnte. Böse Überraschungen! Und wer hatte schon die Adresse des Schicksals?

Erst hatte Heribert sich Kaffee über seine Pyjamahose gekleckert. Dann war er wie jeden Morgen in den Hausflur geschlichen, um die Zeitung seines Nachbarn, eines notorischen Langschläfers, aus dem Briefkasten zu fischen. Heribert lieh sich das Braunschweiger Tageblatt, um die Schlagzeilen zu überfliegen. Seitdem er bei dieser Tageszeitung entlassen worden war, steckte er in einem Dilemma. Sein Stolz verbot ihm, das Druckwerk weiter zu abonnieren, und seine Neugierde befahl ihm, auf dem Laufenden zu bleiben. Dieses Mal ertappte ihn der Nachbar auf der Schwelle, gerade als er seine Hand nach der Zeitung ausstreckte. Der Nachbar blickte schlaftrunken, als habe er ihn schon länger im Verdacht. Vermutlich hätte Heribert die Seiten vor dem Zurücklegen bügeln sollen. Mist! Damit hatte er sich dieses Vergnügen gründlich verdorben.

Die größte Überraschung erwartete ihn jedoch im Park.

 

Auf seiner gewohnten Runde näherte sich Heribert dem Grashügel vom Norden. Er genoss das Schauspiel, wenn sich die Theaterfassade langsam wie ein Bühnenbild über der Grasnarbe erhob, je höher er die terrassenförmigen Stufen erklomm.

Diesmal erstarrte er. Das abschüssige Gelände glich einem Ameisenhaufen.

Zu seinen Füßen, zwischen der Oker und dem Großen Haus, ereignete sich eine Szene, die zu einer Krimiserie im Vorabendprogramm passte. Polizeiwagen hatten die Straße um das Theater abgeriegelt. Ein Rettungswagen stand auf dem Rasen. An den Absperrungen des angrenzenden Cafés Stracher drängelten sich Schaulustige. Techniker in schneeweißen Ganzkörperanzügen sondierten das Gelände wie Außerirdische vor der Entführung von Lebewesen. Einige tauchten hinter einer weißen Plane ab, die ein paar Quadratmeter des unteren Weges abschirmte. Rotweißes Flatterband zog sich zwischen Baumstämmen entlang, begrenzte ein Spielfeld, dessen undurchsichtige Regeln zumindest für die zwei Dutzend Polizisten elementar waren. Sie durchkämmten Sträucher und Mülleimer, stocherten in den Büschen und befragten eine Handvoll Passanten. Darunter eine alte Dame, die auf ihrem Rollator saß und einen Pappbecher umklammerte. Sanitäter kümmerten sich um sie.

Heribert hatte die Parkbank beinahe erreicht, als ein uniformierter Polizist sich näherte. Er schlang eine Rolle Trassierband um das Eisen der Bank und vergrößerte die Verbotszone um ein weiteres Footballfeld. Dann drehte er sich um. Er breitete die Arme aus, als gelte es, entlaufene Hühner einzufangen.

„Verzeihen Sie. Dies ist ein Tatort. Sie dürfen nicht hier sein.“

„Was ist passiert?“

„Lesen Sie morgen die Zeitung.“

Wohl kaum, dachte Heribert.

„Ist jemand zu Schaden gekommen?“ Er blickte auf den Sichtschutz, der nichts Gutes ahnen ließ. Zumindest im Fernsehen.

„Ich bin nicht befugt, darüber zu sprechen.“

„Stört es Sie, wenn ich einen Moment Platz nehme?“

„Ich habe strikte Anweisung.“ Das war ein klares Nein.

In dem Moment entdeckte Heribert Jasper. Er lehnte etwa dreißig Meter entfernt an einem Baumstamm, auf gleicher Höhe. Ebenfalls allein und bis jetzt noch unentdeckt. Heribert winkte. Ein Impuls, obwohl er so etwas nach gründlicher Überlegung lieber unterlassen hätte. Der Uniformierte folgte seinem Blick. Er schob den Schirm seiner Mütze hoch und kratzte sich die Stirn. Eher genervt, als verärgert.

„Gehen Sie, bitte.“

Heribert lächelte. Als ehemaliger Investigativ-Journalist wusste er, wie er sich zu verhalten hatte. Doch dies war nicht mehr seine Story. Er war raus. Er konnte sich entspannen und morgen in die Zeitung schauen. Allerdings würde er sich eine andere Strategie einfallen lassen müssen, um an die Informationen seines Nachbarn zu gelangen.

 

Heribert bedauerte den vergeudeten Tag. Dieser versprach mild zu werden und er verspürte große Lust nach seinem Nordpol. Zu gerne hätte er dort die nächsten Stunden verbracht, um sich zu erden. Die einzige Möglichkeit, neben seinem Zuhause, um mit seiner Angststörung umzugehen.

Für solche Fälle hatte er seinen Plan B. Der bestand darin, sich in seiner Wohnung zu verschanzen und Podcasts zu hören. Sie lenkten ihn ab, damit er nicht an die Probleme denken musste, die sich fest an seinen Rücken klammerten. Chimären der Vergangenheit.

Wichtiger aber war, dass er darüber die Zeit vergaß und die Stunden nur so vorbeiflogen. Auf diese Weise musste er sich nicht mit seinen Panikattacken beschäftigen.

Heribert litt seit Jahren an Klaustrophobie, der Angst vor engen und geschlossenen Räumen. Oftmals wurde sie mit der Platzangst, der Agoraphobie, verwechselt. Diese wurde vom genauen Gegenteil verursacht. Von öffentlichen Plätzen oder bevölkerten Umgebungen. Heribert fuhr nie mit dem Fahrstuhl und bestellte seine Klamotten über den Versandhandel, ohne traumatische Umkleidekabinen. Er ließ seine Wohnungstür immer einen Spalt geöffnet, legte jedoch eine Kette vor. Seine Nachbarn hatten Verständnis, soweit es sie überhaupt interessierte. Die meisten Wände hatte er mit Spiegelfolie beklebt, die sein Zuhause in eine Illusion aus einem Wintermärchen verwandelte. Ein Gefangener in einem unendlichen Eispalast.

Am Abend, mitten in der neuen Folge seines Krimi-Podcasts Zeugen im Zwielicht, klingelte das Telefon. Er meldete sich mit einem leisen Murren.

„Ich bin es. Molly.“ Ihre Stimme war mit tausend Sonnen aufgeladen. Mit rundherum überschwänglichen Rotationen und mit voller Energie.

Melanie Obermöller arbeitete als Anzeigenberaterin beim Braunschweiger Tageblatt. Sie empfand mehr als nur Kollegialität für Heribert. Nach seinem Rauswurf hatte sie sich erst nach einer Woche erholt, in der sie immer wieder Heulkrämpfe schüttelten. Hin und wieder meldete sie sich bei ihm, um sicherzugehen, dass er sie nicht vergessen hatte.

„Hallo Molly. Schön, von dir zu hören.“ Sofort hatte Heribert das quirlige Actionbündel greifbar vor Augen. Sie hüllte sich in wallende Gewänder, die ihr Hüftgold kaschierten, trug das kastanienbraune Lockenhaar offen und große Klunker aus buntem Glas auf dem üppigen Busen. Gewöhnlich duftete sie nach einer Blumenwiese.

„Na, sicher, mein Schnuckelchen.“

Heribert erahnte ihre Grübchen und überlegte sich etwas Nettes.

„Ich wollte dich eben gerade anrufen.“

„Alter Charmeur. Das hast du die letzten drei Male auch behauptet.“

Heribert wusste, dass sie ihm die Flunkerei nicht krummnahm.

„Was gibt es Neues beim Blatt?“, fragte er.

„Oh, Margrit aus der Buchhaltung hat geheiratet. Stell dir vor, diesen schmierigen Kerl vom Fahrdienst, den sie früher unmöglich fand. Er lud sie öfter zu einer Spritztour ins Blaue ein.“

„Tobi?“

„Ja, so heißt er.“

„Er war mal ein guter Freund von mir.“

„Oh! Na, jeder kann mal irren.“ Sie ließ offen, an wen sich diese Aussage richtete und vermied weiteren Klatsch über die Hochzeit. Dann fiel ihr etwas ein.

„Ach, und Marc Litten ist befördert worden. Eine fette Gehaltserhöhung, verriet Margrit mir.“

„Der Kerl hat meinen Job“, empörte sich Heribert. „Ich habe fünfmal länger gebraucht, um diesen... diesem aufgeblasenen Frosch einen Bonus aus dem Kreuz zu leiern.“

Gemeint war Hans-Jörg Faberbusch. Heribert hatte sich geschworen, den Namen seines ehemaligen Chefredakteurs so bald nicht mehr auszusprechen. Ihn allenfalls bei seinem Spitznamen zu nennen: Fröbe. Eine Anspielung auf den berühmten, vierschrötigen und übergewichtigen Schauspieler, mit dem ihn eine gewisse Ähnlichkeit verband. Außerdem begannen die Silben seines Nachnamens mit denselben Buchstaben. FB.

„Wirklich? Das hatte ich ganz vergessen. Er macht seine Sache jedenfalls gut, was ich so höre. Aber für mich warst und bleibst du der Beste, Harry. Das Ehrenwort einer Expertin.“

Heribert bohrte nicht nach, was sie zu diesem Urteil befähigte. Schließlich sortierte sie Familieninserate und nahm Todesanzeigen entgegen.

„Wie war dein Tag, Zuckerherz?“

Nachdem sie das Gefühl hatte, sie sei für Harry unsichtbar, war sie dazu übergegangen, ihn mit allerlei Kosenamen zu überhäufen. Nur war er dafür so empfänglich wie ein toter Briefkasten im Kloster.

„Och, nicht der Rede wert. Frühmorgens war ich Hochseeangeln an der Nordsee, gegen Mittag dann mit meinem Paraglider im Harz und eben gerade komme ich von einer Showeinlage mit einem Krokodil im Zoo Hannover zurück. Wenn du magst, schicke ich dir die heutigen Schnappschüsse, zusammen mit einer Handtasche aus Reptilienleder.“

Molly lachte aus vollem Hals, und Heribert liebte den leicht verruchten Klang. Dann fing sie sich.

„Nun mal im Ernst. Geht es dir gut?“

„Diese Frage stellt man nur jemandem, der exekutiert werden soll. Alles andere wäre unmenschlich.“

Heribert lag nichts an einer Beziehung, die dem Verhältnis zwischen einer Krankenschwester zu einem Patienten glich.

„Du hast deinen Humor nicht eingebüßt. Immer noch der Alte.“

„Sagen wir, ich nehme hin und wieder meine Pillen und vertrödele meine Zeit im Park. Ich treffe dort jede Menge nette Leute.“ Dabei kamen ihm hauptsächlich Negativbeispiele in den Sinn. Jasper. Rüdiger. Der Polizist. Moment mal!

„Eine Sache war heute allerdings besonders.“

„Schieß los.“

„Ich war vormittags im Theaterpark. Die Polizei hatte das Gelände großräumig abgesperrt. Du weißt nicht zufällig, was dort vor sich ging.“

„Zufälle sind etwas für Leute ohne Fantasie.“

„Komm schon, Molly.“

Sie lachte wieder. „Ausgetrickst! Du hast mich auch zappeln lassen. Also gut. Litti war auf die Geschichte angesetzt. Ist gar nicht erst in der Redaktion aufgetaucht. Ein junger Kerl ist ums Leben gekommen. Gewalttat. Muss ein Schauspieler gewesen sein. Mehr kann ich dir nicht sagen.“

„Das klingt nach einem dicken Fisch. Das wird Litti eine halbe Seite bescheren.“

„Er macht eine Ganze daraus, das bringt ihm mehr ein.“ Sie seufzte, in Gedanken an die besseren Jahre mit Harry. „Ich komme dich besuchen. Am Samstag in der Mittagspause?“

Unter anderen Umständen hätte Heribert eine Migräne vorgetäuscht. Mollys Anteilnahme an seinen Angstzuständen waren rührend, allerdings rührte sie manchmal auch zu sehr an seinem Innern. Doch unter dem Einfluss des aufwühlenden Podcasts siegte die Neugier, etwas über den Tod des jungen Mannes in Erfahrung zu bringen.

„Einverstanden. Oben auf dem Bastionshügel im Theaterpark.“

„Fantastisch, mein Knuddelbär. Ich bringe uns einen Appetitanreger mit. Bye.“ Sie schmatzte in den Hörer.

„Dann bis übermorgen.“

Heribert legt auf. Er hatte das Gefühl, dass sich der Tag trotz der kantigen Überraschungen abrundete. Dabei hatte er Zeugen im Zwielicht noch gar nicht zu Ende gehört.

Teil II Heribert

 

Kapitel 3

Braunschweig, 20.05.2022, Freitag

 

Der Frühlingswind spielte mit der morgendlichen Ausgabe des Braunschweiger Tageblatts. Ein Geschenk eines Frühaufstehers, der sie im Park zurückgelassen hatte. Heribert griff nach ihr und faltete sie auseinander. Der Artikel hatte es auf die Titelseite der Lokalnachrichten geschafft. Von Marc Litten.

Chapeau, dachte Heribert.

 

Tötung im Theaterpark

von Mark Litten

 

Am gestrigen Donnerstagvormittag um 9 Uhr wurde die Leiche eines jungen Mannes im Theaterpark aufgefunden. Ersten Ermittlungen zufolge wurde er dort in der Früh durch stumpfe Gewaltanwendung getötet. Die ältere Zeugin, die die Leiche im Gehölz direkt neben dem Fußweg entlang der Oker entdeckte, erlitt einen Schock und musste durch Rettungskräfte behandelt werden. Sie hat sich langsam erholt.

Bei dem Toten handelt es sich um einen Schauspieler des benachbarten Braunschweiger Staatstheaters. Kollegen und die Leitung des Schauspielhauses zeigten sich erschüttert. Das Opfer gehörte zum festen Ensemble und begeisterte das Publikum immer wieder durch herausragende Leistungen. Mit ihm verlor das Theater einen beliebten und angesehenen Kollegen.

Zum Tathergang: Das Opfer befand sich wie seine Schauspielkollegen am Vorabend in einer Probe im Großen Haus. Erste Zeugenaussagen ergaben nichts Auffälliges im Verhalten des Mannes. Die Spuren deuten darauf hin, dass er die Nacht in seiner Wohnung verbrachte. Unklar ist derzeit, was den jungen Mann bewog, in den frühen Morgenstunden den Park aufzusuchen. Vermutet wird, dass er sich mit jemandem traf, bevor es zu dieser Bluttat kam. Es scheint, dass der Angreifer die Leiche unmittelbar nach der Tat ein Stück weiter in ein Gebüsch ablegte. Sie wurde etwa zwei Stunden nach der Tötung entdeckt.

Die Polizeidirektion Braunschweig bittet um Ihre Mithilfe. Für Hinweise auf Personen, die sich ab sechs Uhr morgens in unmittelbarer Tatortnähe aufhielten, oder im Falle von ungewöhnlichen Beobachtungen wenden Sie sich an die nächste Polizeidienststelle.

 

Auf der unteren Seitenhälfte folgte eine Bilderstrecke mit Angehörigen und Passanten, die versuchten, ihre Fassungslosigkeit in Worte zu kleiden.

Darunter auch der ergriffene Ausdruck des Theaterleiters und Schauspieldirektors. Klaus-Peter Sandvoss. Eckige Gesichtszüge wie mit dem Geodreieck gezeichnet. Ein Mann, dem man zutraute, dass er jeden Abend in Kampfer badete.

Rechts davon eine Schauspielerin namens Lynette. Ein blondes Gift mit Unschuldsaugen, die verquollen in die Kamera blickten.

Am Ende Osgard Hundertmark, der streitbare Regisseur, der es immer wieder in die Schlagzeilen schaffte. Kommunist, Freigeist, Exzentriker. Lange graue Haare, nach hinten gekämmt, die inzwischen schütter waren. Sein tristes Bedauern und grobknochiger Schädel wirkten versteinert.

Die übrigen Interviewpartner füllten weitere Kästen. Heribert legte das Blatt zur Seite und blickte auf die Uhr. Viertel nach zehn.

„Ich muss sagen, der Kerl hat es drauf.“

Heribert erschrak. Neben ihn räkelte sich Jasper, als hätte er sich seit vorgestern nicht von der Stelle gerührt. Wie lange mochte er ihn beobachtet haben?

Jasper zeigte auf den aufgeschlagenen Artikel.

„Litti, dieser wieselflinke Tintenspritzer.“

„Vorsicht“, sagte Heribert. „Wenn es um die Berufsehre geht, verstehe ich keinen Spaß.“

Jasper drehte die Handfläche nach außen.

„Eine Tragödie“, pflichtete er bei. „Vor allem wenn ein junger Mensch gewaltsam aus dem Leben gerissen wird.“

„Bleibt zu hoffen, dass sie den Täter kriegen.“

„Ich habe da meine Zweifel. Morgens an der Oker. Trotz des Werktags ein kaum belebter Ort. Offen und zugleich versteckt. Es könnte jeder gewesen sein. Was schreibt er über die Todesursache?“

„Stumpfe Gewalt.“

„Ich meine über den modus operandi.“ Jasper hauchte dem Fremdwort einen konspirativen Unterton ein.

„Dazu schreibt er nichts. Ermittlungstaktische Gründe. Die Polizei vermeidet, Täterwissen preiszugeben. Zumindest, solange sie ihm nicht auf den Fersen ist. Das kenn ich von früheren Fällen, für die ich recherchierte.“

„Spooky“, sagte Jasper. „Es dürfte klar sein, dass er erschlagen wurde. Ansonsten würde dort erstochen oder erschossen stehen. Oder erdrosselt. Oder geköpft.“

„Bitte!“

„Nun, geköpft ist eher unwahrscheinlich. Aber nicht unmöglich.“

Heribert schüttelte den Kopf. „Einigen wir uns auf erschlagen. Das klingt plausibel. Marc Litten hätte andernfalls seine Story mit Sicherheit á la Hollywood garniert. Mit einem Schusswechsel oder Messerkampf.“

„Das führt uns zu der entscheidenden Frage. Entweder kam es zu einem Kampf oder der Angreifer nutzte seine Arglosigkeit aus.“

„Warum nicht Angreiferin?“

„Natürlich. Wir wollen das vermeintlich schwache Geschlecht nicht benachteiligen.“

„Moment! Weshalb entscheidend?“

„Mord! Im Falle von Heimtücke war es Mord.“

Heribert zuckte zusammen. In Zeugen im Zwielicht trieb ebenfalls ein Meuchelmörder sein Unwesen, der die ahnungslosen Figuren in eine Falle lockte und dann massakrierte. Die letzte Folge hatte ihn jedoch enttäuscht. Zu viele Effekte, zu unlogisch.

Ein Mord direkt hier draußen in seinem Plan A, das änderte alles. Fast, als hätte ihn jemand in seinem Wohnzimmer verübt.

„Hoppla, da unten tut sich was“, sagte Jasper...

 

...und reckte den Hals. Heribert folgte seinem Blick. Am Fuße des Hügels versammelte sich eine kleine Prozession aus zumeist schwarz gekleideten Leuten. Sie trugen Kerzen und Pappschilder. Manche stützten sich gegenseitig, andere blieben abseits. Der Zug kam am Ufer der Oker zum Stehen. Die Teilnehmer befanden sich ungefähr dort, wo gestern die Kriminaltechnik das Zelt aufgeschlagen hatte. Sie legten Blumen und Karten nieder, zündeten Teelichter an. Druckbuchstaben auf Transparenten ragten hervor.

WARUM???

In Gedenken an Frerk.

Wir vermissen dich.

Du fehlst uns.

Heribert entdeckte Osgard Hundertmark, der mit seinem schwarzen Trenchcoat wie ein Deichgraf hervorstach. Trotz des milden Wetters bedeckte ein schwarzer Homburger seine grauen Strähnen. An seiner Schulter, aber einen halben Kopf kleiner, erkannte er den Schauspieldirektor Sandvoss. Selbst aus der Entfernung spiegelte sich seine Nickelbrille, die die enge Stirn unterstrich. Der stocksteife Körper deutete darauf hin, dass ein penibler Geist darin wohnte. In derselben Reihe wartete ein weiterer Mann. Leger in Jeans und Sweatshirt. Die Hände tief in den Hosentaschen. Der Kopf glänzte wie eine Billardkugel mit tiefen Schatten in der unteren Gesichtshälfte. Heribert kannte ihn nicht. Die Tatsache, dass er in Sandvoss Nähe weilte, verriet seine exponierte Stellung in diesem Milieu.

Von den übrigen Trauernden scharte sich eine kleine Gruppe zusammen. Obwohl intim oder gerade deswegen, zog sie viele Blicke auf sich. Schauspielerfreunde, dachte Heribert. Sie nahmen besonderen Anteil an Frerks Tod und lagen sich in den Armen. Im Mittelpunkt eine attraktive Blondine mit der Anmut einer Tänzerin, deren Oberkörper bebte. Sie muss dem Toten sehr nahegestanden haben. Lynette, der Vamp mit den Engelslocken aus der Zeitung, umarmte sie, formte die Lippen, um etwas Tröstendes rüberzubringen.

Etwas abseits trieb sich ein schlaksiger, baumlanger Kerl herum, der auf der Stelle trat. Dunkelblonde Haare, wie mit der Axt zum sauberen Scheitel gezogen. Immer wieder fasste er sich an die modische Hornbrille, aber offensichtlich keinen Entschluss.

„Ich frage mich, ob er dabei ist?“ Jasper spitzte den Mund.

„Wer?“, fragte Heribert.

„Der Mörder natürlich! Meinetwegen auch eine Sie. Es heißt doch immer, dass der Killer an den Ort des Verbrechens zurückkehrt.“

Heribert schaute auf die etwa dreißig Menschen. Alles Individuen, gemeinsam gefangen durch das tragische Ereignis. Weitere Passanten hielten, strömten aus Neugier dazu. Schwer zu sagen, dachte er. Laut äußerte er: „Wer weiß das schon. Man müsste den Hintergrund kennen. Das Motiv.“

Ihm kam eine Idee. Der Tote hieß Frerk. Kein sehr häufiger Name. Er zückte sein Smartphone und suchte nach einem Schauspieler in Braunschweig. Sofort hatte er ein Dutzend Treffer.

Frerk van Drachten. Sprössling aus reichem Hause. Sportlich, agil, ambitioniert. Beim Publikum überaus beliebt, wovon zahlreiche Preise zeugten. Er brillierte als Pianist auf einem Ozeandampfer. Die Fotos zeigten einen gepflegten Enddreißiger, modern und teuer gekleidet. Das zu groß geratene Ego sprang dem Betrachter aus den Bildern entgegen.

„Gutaussehender Kerl“, sagte Jasper. Er schielte herüber.

Heribert fielen die Worte von Grimmelshausen ein.

Ein jeder Tag bricht dir was ab, von deiner Schönheit bis ins Grab.

„Wie bitte?“, fragte Jasper.

„Nichts weiter. Ich habe mich gefragt, was den Täter veranlasste, diesen selbstbewussten Erfolgstypen zur Strecke zu bringen.“

„Vielleicht genau dieser Nimbus.“

In diesem Moment schob sich ein unförmiger Schatten in Heriberts Blickfeld, ungefähr fünfzig Meter von ihm entfernt. Eine ältere, verwahrloste Frau, die rechts von ihm, Richtung Innenstadt, hinter spröder Eichenrinde kauerte. Der Lodenmantel war zu dick für die Jahreszeit, doch womöglich ihr einziges Kleidungsstück. Von Heriberts Warte aus bildete die Position der Gestalt einen perfekten rechten Winkel zu den Trauernden unten am Fluss. Sie reckte den Hals, um die Szene besser zu betrachten.

„Interessant, wer sich hier alles tummelt“, stellte Jasper fest. „Du solltest ein paar Fotos schießen. Man kann ja nie wissen, ob sie mal nützlich werden.“

„Von der Trauergemeinde? Das gehört sich nicht.“

„Du hast schon weitaus Schlimmeres angestellt.“

Heribert klappte den Mund auf. Doch seine Empörung entwich wie Wasserdampf aus einem Teekessel. Als Investigativ-Journalist erzielte man Fortschritte, indem man Grenzen überschritt. Mitunter auch Grauzonen.

„Wer sollte sich dafür interessieren?“

„Sagen wir zum Beispiel die Polizei. Du hast es selbst gelesen.“

Heribert gab sich geschlagen. Jasper hatte einen Nerv getroffen, der zu einem altbekannten Impuls führte. Eine Art Berufskrankheit eines jeden Schnüfflers. Heribert zückte sein Smartphone, entriegelte die Sperre und richtete die Kamera auf die Umgebung.

Die Beobachterin war abgetaucht. Dem Anschein nach einer Gafferin, wie viele andere auch. Ihn eingeschlossen. Er lenkte den Autofokus auf die Schauspieltruppe und drückte ab. Dann schwenkte er auf die leitenden Köpfe des Theaters. Ihm gelangen saubere, hochauflösende Aufnahmen.

Eine Limousine hielt. Ihr entstieg eine elegante Dame reiferen Alters. Schwarzes Kostüm in schwarzer Stimmung. Ein Hut mit einem Schleier verdeckte ihr Gesicht. Eine weiße Lilie bildete Kontrast und Statement zugleich. Ihre Gestik wirkte einstudiert. Sie nahm Kondolenzen entgegen und verharrte vor den Blumen. Ihre legte sie nieder, zusammen mit ihrer letzten Grazie. Beim Aufstehen strauchelte sie. Ein junger Mann ging ihr zur Hand. Ein Fotograf, um dessen Hals eine Spiegelreflexkamera baumelte. Vorher hatte er ein paar Bilder geschossen. Die Dame empfahl sich, kletterte in ihre sargähnliche Sänfte und fuhr davon.

Heribert war zufrieden. Er hatte etliche Eindrücke festgehalten. Selbst die Szene mit der Unbekannten am Gedenkort.

Eine geschmeidige Mamba, deren Kräfte für einen Moment versagt hatten.