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Nick Beck und sein bislang gefährlichster Auftrag – der dritte Fall für den Hamburger LKA-Ermittler Keine Pause für Nick Beck beim LKA: Während seine Kollegin Cleo Torner in Elternzeit ist, muss er mit ansehen, wie zwei Amokläufer in der Hamburger Innenstadt ein Blutbad anrichten. Der eine wird von Scharfschützen erschossen, den anderen kann Beck schließlich stoppen. Dabei handelt es sich bei den beiden Attentätern um ganz normale Familienväter, gut situiert und unauffällig. Was hat sie dazu getrieben? Die Ermittlungen führen Nick Beck zu einer terroristischen Untergrundorganisation, die chemische Substanzen für ihre Zwecke einzusetzen versteht. Und die Terroristen haben ihr nächstes Anschlagsziel bereits im Blick: eine Friedenskonferenz im US-Konsulat an der Hamburger Alster. Um der drohenden Gefahr zu begegnen, muss Nick Beck alle Register ziehen ... Spannung für Fans von Jo Nesbø und Andreas Franz
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Seitenzahl: 350
Veröffentlichungsjahr: 2022
Tom Voss
Kriminalroman
In der Hamburger Innenstadt kommt es zu einem Amoklauf, dem zahlreiche Passanten zum Opfer fallen. Einer der beiden Attentäter wird vor Ort erschossen. Den anderen kann Nick Beck schließlich stoppen. Dabei handelt es sich bei den Attentätern um ganz normale Familienväter, gut situiert und unauffällig. Was hat sie dazu getrieben?
Die Ermittlungen führen Nick Beck zu einer terroristischen Untergrundorganisation, die chemische Substanzen für ihre Zwecke einzusetzen versteht. Und die Terroristen haben ihr nächstes Anschlagsziel bereits im Blick: eine Friedenskonferenz im US-Konsulat an der Hamburger Alster. Um der drohenden Gefahr zu begegnen, muss Nick Beck alle Register ziehen ...
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Tom Voss ist das Pseudonym eines deutschen Bestsellerautors, der bereits zahlreiche Krimis und Thriller geschrieben hat. Im FISCHER Verlag hat er als Pierre Lagrange die Provence-Krimi-Reihe mit dem liebenswerten Commissaire Albin Leclerc und seinem Mops Tyson veröffentlicht. In den Krimis rund um den Ermittler Nick Beck nimmt Tom Voss die Leser*innen mit in den Norden von Hamburg.
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Nick spürte instinktiv, dass mit dem Mann etwas nicht stimmte. Der Blick. Wie er sich bewegte. Das Aussehen.
Vielleicht eine Mischung aus allem.
Rückblickend hätte Nick eher reagieren sollen. Aber er hatte sich längst daran gewöhnt. Es gab immer ein Hätte, ein Würde oder Könnte. Außerdem konnte man Kerle wie diesen nicht einfach aus dem Verkehr ziehen, bloß weil sie irgendwie auffällig waren.
Solche Menschen liefen in Hamburg zu Tausenden her-um, taten aber in der Regel keinem was. Es gab welche, die sich mit unsichtbaren Wesen unterhielten. Junkies, die bis zur Halskrause mit Substanzen vollgepumpt waren und wie Superman auf Speed herumstolzierten, sabbernd in den Ecken lagen oder dringend den nächsten Schuss brauchten und bereit waren, absolut alles dafür zu tun, was man ihnen ansah. Es gab Menschen, die das vereinsamte Leben in Neurotiker mit hektischem Blick verwandelt hatte, Obdachlose mit Tourette-Anfällen, sturzbetrunkene Touristen, bis zum Hals tätowierte Skinheads auf Acid, auf Krawall gebürstete Jugendliche und, und, und … Beängstigend, ja, aber in der Regel ungefährlich.
Manchmal kam es zu einem Handgemenge und allgemeiner Aufregung. Nicht schön, aber alles nicht so schlimm. Sorgen musste man sich nicht um die Lauten und Auffälligen machen. Sorgen musste man sich um die machen, die stumm in den Schatten lauerten und irgendwann explodierten wie eine Supernova.
Jedenfalls blieb Nick einfach sitzen, weil der Kerl lediglich etwas durchgeknallt wirkte, und Nick keinen Grund zum Handeln sah. Er trank seinen Espresso unter freiem Himmel in dem kleinen Eckrestaurant auf der Fleetinsel, vor dem schlichte Holzbänke und Biergartentische unter weit ausladenden Sonnenschirmen standen, die mit den Schriftzügen einer Brauerei bedruckt waren. Er schob den Teller zur Seite, der eben noch mit Kartoffelsalat und Bockwurst gefüllt war, ignorierte das allgemeine Rauchverbot und behielt den Mann sicherheitshalber im Blick.
Der Typ war groß, schmal, hatte ein fliehendes Kinn und mochte Mitte vierzig sein. Er trug einen Lederrucksack über der rechten Schulter und ein weißes Hemd zur hellgrauen Anzughose. Es klebte ihm am Leib und war an einigen Stellen rötlich gesprenkelt – schwer zu sagen, ob es feucht war, weil der Mann sich versehentlich Rotwein darübergegossen und versucht hatte, die Flecken auszuwaschen, oder weil er schwitzte wie ein Tier. Sein Gesicht wirkte, als habe er sich gerade mit einer Handvoll Wasser erfrischt, aber das Handtuch nicht benutzt. Die Haare klebten ihm im Gesicht, die Hautfarbe war teigig und seine Augen weit geöffnet, ebenfalls der Mund, durch den er schwer atmete.
Vielleicht war er gerade einige hundert Meter gesprintet. Seine Bewegungen erschienen gleichzeitig dynamisch, aber auch fahrig –, als ob er mit einem Mal aus einem wilden Traum erwacht und deswegen noch vollkommen außer sich war. Er blieb einen Moment auf dem Platz stehen, blickte ziellos umher, schien sich zu orientieren. Dann entschied er sich für eine Richtung und joggte auf das Nicks Standort gegenüberliegende Businesscenter Fleethof zu, wo sich hinter der hochmodernen Fassade aus Glas und roten Ziegeln unter anderem Büros, Praxen, Tagungsräume und ein Hotel befanden sowie davor Cafés mit Außengastronomie – schicker als das eher gutbürgerliche Restaurant, das Nick gewählt hatte.
Der Mann drängte sich zwischen den Tischen hindurch, die mit Menschen besetzt waren, die gerade wie Nick eine Mittagspause einlegten und das schöne Wetter genossen. Die Entfernung betrug etwa fünfzig Meter, weswegen Nick für einen Moment nicht eindeutig erkennen konnte, ob der Mann auf einmal ins Innere oder nur hinter einer Gruppe von Menschen und Sonnenschirmen verschwunden war. Im nächsten Augenblick tauchte er jedoch wieder auf.
Dann begannen die Schreie und das Kreischen.
Der Mann hatte etwas aus dem Rucksack gezogen. Er ging von Tisch zu Tisch und prügelte damit auf die Gäste ein. Pflügte sich regelrecht durch die Leute und schlug sich den Weg frei. Der Gegenstand in seiner Hand sah aus wie ein Knüppel. Ein Metallrohr. Nein, eher wie ein kurzes Schwert. Wie eine Machete.
Nick sprang auf, schlug mit dem Knie gegen den Tisch und fiel beinahe hin, fing sich aber wieder. Er lief über den Platz auf das Café zu und begriff mit jedem Schritt mehr, dass vor seinen Augen gerade ein Massaker geschah.
Die Menschen stoben auseinander, schrien, brüllten. Viele stürzten. Der Angreifer schlug und stach wahllos auf die Leute ein, traf Köpfe, Arme, Beine, Hände, Oberkörper … Eine scharfe Machete konnte eine fürchterliche Waffe sein. Und das war sie, kein Zweifel.
Nick erreichte die Tische und Stühle auf der gegenüberliegenden Seite. Überall waren Blut und Menschen, die sich klaffende Wunden hielten. Wenn es eine Hölle gab, dann war hier und in diesem Moment ihr Epizentrum. Aber den Mann sah Nick in dem grauenvollen Chaos zwischen all den umherlaufenden, gestürzten und aufspringenden Menschen nicht mehr. Nick wollte sich gerade zu einer Frau beugen, die vor ihm auf dem Boden kniete und sich den Oberarm hielt. Blut sprudelte zwischen ihren Fingern hindurch. Sie starrte den Strahl ungläubig an, nicht in der Lage, die Situation damit übereinzubringen, dass sie noch eine Minute zuvor in aller Ruhe mit ihrer Freundin in der Sonne gesessen hatte, die nun neben ihr hockte, den Gürtel aus ihrer Jeans riss, um damit den Arm abzubinden. Offensichtlich kannte sie sich mit Erster Hilfe aus.
Nick blickte wieder auf, als er ein lautes Schreien hörte.
»… alle! Alle, ich bringe euch alle um! Weil ihr es verdient habt!«
Am Rande der Bestuhlung sah er den Mann mit der Machete. Jetzt war sein weißes Hemd sehr deutlich rot besprenkelt. Definitiv nicht mit Wein. Vielleicht war es auch vorher schon keiner gewesen. Die Machete, mit der er auf die Menschen deutete, troff vor Blut. Er ging rückwärts, entfernte sich vom Ort des Geschehens. Dann drehte er sich um und rannte los.
Nick hatte zwei Optionen: bleiben und helfen oder noch Schlimmeres verhindern. Helfen konnten hier manche. Den Amokläufer stoppen nur einer.
»Ziehen Sie den Gürtel, so fest es geht, zu«, sagte Nick zu der Frau, die ihre Freundin verarztete. Auch weitere Gäste kümmerten sich nun um Verletzte. Zwei Kellner standen inmitten des Schlachtfeldes und telefonierten bereits, riefen Hilfe. Das taten auch Passanten, die am Rande des Geschehens standen.
»Ich bin Arzthelferin«, keuchte eine Frau zitternd.
»Ich bin Polizist«, sagte Nick.
»Halten Sie den Mann auf, um Gottes willen!«
»Ja«, sagte Nick.
Er sprintete los, dem Kerl hinterher. Im Laufen zog er sein Handy aus der Hosentasche und suchte seine eigene Dienstnummer aus dem Speicher, die während seiner Mittagspause auf die Zentrale im Hamburger LKA geschaltet war. Es war die Mordkommission. Im Moment nicht gerade die erste Adresse für diesen Fall, aber die am schnellsten verfügbare. Zwei Sekunden später ging jemand dran. Eine weibliche Stimme. Nick verstand den Namen nicht. Aber egal.
»KHK Beck«, keuchte er ins Handy. »Amoklage vor dem Fleethaus, Angreifer mit Stichwaffe, zahlreiche Verletzte, vielleicht Tote, verfolge bewaffnete Zielperson, sofortige Hilfe und Verstärkung benötigt. Notärzte, schickt alles raus, was Beine hat!«
»Shit«, fluchte die Stimme am anderen Ende. »Wir haben zahlreiche eingehende Meldungen. Der Täter hat vorher bereits in einem Geschäftshaus an der Binnenalster um sich geschlagen und viele Menschen verletzt. SEK und Scharfschützengruppe sind bereits draußen, Hubschrauber, es gibt einen Terroralarm.«
Fuck, dachte Nick. Und er mittendrin und ohne Waffe. Was sollte das für ein Terror sein? Der Kerl wirkte eher wie ein Bürotyp, dem eine Sicherung durchgebrannt war, und nicht wie ein Islamist. Aber man konnte sich nie sicher sein.
Die Zentrale fragte: »Wohin flieht er?«
Der Mann rannte über die mehrspurige Stadthausbrücke und kümmerte sich nicht um den Verkehr. Autos hupten, bremsten scharf. Zwei fuhren laut krachend aufeinander. Im nächsten Augenblick war Nick ebenfalls auf der Straße, wich einem Transporter aus, der wiederum ihm auswich und dann mit kreischenden Bremsen gegen einen Pfosten fuhr.
»Richtung neuer Wall«, rief Nick, »und er …«
Nick sah das große Schild mit einem »S« auf grünem Grund. Rolltreppen und Stufen, die nach unten führten. Der Mann hastete um ein Geländer herum, fuchtelte schreiend mit der Machete. Menschen wichen ihm aus. Dann verschwand er im Eingang der S-Bahn-Station Stadthausbrücke, als ob ihn der Erdboden verschluckt hätte.
Die S-Bahn zur Mittagszeit.
Absolut nicht gut, dachte Nick.
»… S-Bahn-Station Stadthausbrücke …«, rief Nick. »Ich stecke jetzt das Telefon weg, brauche beide Hände, halte Kontakt aufrecht …«
»Okay, ich schicke dich auf Lautsprecher in den Lage- und Besprechungsraum.«
Was auch immer, dachte Nick, steckte das Handy in die Brusttasche seiner Jacke, ohne das Gespräch zu beenden, rannte ebenfalls um das Geländer herum und dann die Stufen hinab. Wenige Sekunden später erreichte er den Bahnsteig. Weiße Fliesen auf dem Boden, jede Menge Deckenpfeiler, blaue Paneele mit einem Muster aus schwarzen Strichen an den Wänden neben den Gleisen, Neonlicht. Mit den Linien S1, S2 und S3 konnte man von hier aus jeden Ort der Stadt erreichen.
Nick orientierte sich, blickte nach links, nach rechts. Mit einem Rauschen kündigte sich ein eintreffender Zug an. Er hörte einen Schrei von rechts.
Nick sah dorthin und erkannte den Mann mit der Machete, der direkt neben dem Gleis auf- und abstolzierte. Vor einer Bank lag jemand in seinem Blut und kroch über den Boden, rückwärts von dem Mann weg. Gleichzeitig hielt ein anderer das Opfer an den Schultern gepackt, unterstützte es und zerrte es in Sicherheit. Andere Menschen flohen.
»Das habt ihr davon, oder?«, blaffte der Machetenmann mit Stolz geschwellter Brust und fuchtelte mit der Waffe rum. »Ihr könnt mich alle mal! Das hättet ihr euch vorher überlegen sollen, hört ihr? Aber jetzt mache ich Schluss mit euch Schweinen, mit allen!«
Seine Worte vermischten sich mit dem Quäken der Stimme aus den Lautsprechern und dem Sirren, Sausen und Quietschen, als der Zug wie eine rote Schlange heranrauschte.
Nick lief los.
»Polizei!«, rief er. »Weg mit der Waffe!«
Der Mann wirbelte herum und starrte Nick an, der sein Tempo verlangsamte, die Hände anhob, um zu verdeutlichen, dass er unbewaffnet war und außerdem beschwichtigen wollte. Der Zug verlangsamte ebenfalls das Tempo. Gleich würde er stoppen.
Der Mann deutete mit der Machete auf Nick. »Ihr könnt mir nichts anhaben! Keiner kann das!«
Nick ging noch einige Schritte auf ihn zu. Dann blieb er stehen. Nick war früher bei der Bundespolizei gewesen und beim SEK. Er war in Nahkampftechniken trainiert und hatte eine semi-militärische Ausbildung, weswegen man mit ihm besser keine körperliche Auseinandersetzung suchte. Trotzdem wusste er, dass man als Unbewaffneter kein Handgemenge mit jemandem riskieren sollte, der außer Kontrolle und bewaffnet war sowie bereits bewiesen hatte, dass er seine Waffe auch benutzen würde. Vor allem, wenn dieser Jemand eine Stichwaffe in der Hand hielt, blieb man besser auf Abstand. Es gab so gut wie keine Chance, aus einer solchen Konfrontation unverletzt hervorzugehen. Mit einem Messer konnte einem auch der Ungeübteste tödliche Wunden oder schwere Verletzungen zufügen, wenn man den waghalsigen Versuch unternahm, ihn zu entwaffnen, und mit ihm rang – insbesondere dann, wenn es der Angreifer sowieso darauf anlegte zu töten. Messer waren miese kleine Dinger. Erst recht eine Machete. In Ruanda hatten die Hutu und Tutsi Hunderttausende mit den Dingern abgeschlachtet.
»Niemand will Ihnen etwas anhaben«, sagte Nick, während der Zug anhielt und sich die Türen öffneten. Es war die Linie S1. Der nächste Stopp wäre an den Landungsbrücken, dachte Nick – an einem Tag wie heute rappelvoll mit Menschen, Massen von Touristen. »Sie sollten die Waffe hinlegen – und dann reden wir.«
»Bullshit«, fauchte der Mann und sah sich um. Die Tür an dem Waggon in seinem Rücken stand weit offen. Er musste nur drei Schritte machen und wäre drin. Genau das tat er dann, ohne dabei Nick aus den Augen zu lassen.
Nick rief: »Alle raus aus dem Waggon! Polizei! Alle! Raus da! Der Mann hat eine Waffe!«
Vereinzelt stockten die aus- und einsteigenden Fahrgäste. Andere erkannten die Situation sofort, duckten und entfernten sich schnell. Aus den Augenwinkeln sah Nick, dass zwei uniformierte Polizisten die Treppe heruntergelaufen kamen.
Der Kerl mit der Machete stand nun im Waggon. Die Tür vor ihm würde sich jeden Moment schließen.
»Bleib mir vom Hals, Bulle! Ich hacke dich in Stücke!«, schrie er.
Nick ignorierte die Drohung. Er blickte zur Seite. Die zweite Waggontür war zum Greifen nah. Er lief dorthin, sprang hinein, bevor sie sich einen Wimpernschlag später schloss und der Zug wieder losfuhr. Es gab einen Ruck. Nick schwankte für einen Moment. Dann verschwand die Bahn in einem der Tunnel, mit denen Hamburgs Untergrund durchzogen war wie ein Termitenbau.
Das Abteil war bis auf Nick und den Mann leer. Zum Glück. Nick sah den blauen Bildschirm, der den kommenden Stopp anzeigte. Er hatte recht: nächster Halt Landungsbrücken, in etwa zwei Minuten.
Nick behielt den Mann im Blick, der unschlüssig vor sich hinstarrte, dann wieder zu Nick, auf die Machete, auf sein eigenes Spiegelbild in der Glasscheibe … Nick zog das Handy, gab die Information durch und dass er mit dem Angreifer allein im Waggon war.
»Behalt ihn so lange wie möglich im Zug«, hörte Nick aus der Zentrale – wer auch immer da gerade sprach. »Wir schaffen alles, was wir haben, zur nächsten Station – aber halt ihn unbedingt im Zug, lass ihn nicht aussteigen.«
Nick steckte das Handy wieder ein. Der Irre schien eine Entscheidung gefällt zu haben und kam nun auf Nick zu, schrie wirres Zeug und schwang die Machete. Er war ungeübt, aber das hatte absolut nichts zu bedeuten.
Nick orientierte sich blitzschnell. Neben der Waggontür befand sich die Notbremse mit einer Gegensprechanlage. An einer Sitzreihe etwas weiter hinten sah er das Symbol für einen Feuerlöscher, der unter einem der Sitze stecken musste.
»Weg mit der Waffe«, sagte Nick.
Der Mann lachte, ging weiter voran. Nick hingegen bewegte sich rückwärts und kickte gegen das Klappfach mit dem roten Symbol. Es sprang auf. Ein mittelgroßer Feuerlöscher befand sich in der Arretierung. Nick nahm ihn heraus, hielt den Schlauch und den Auslöser am Tank so gefasst, dass er das Gerät mit einer Hand bedienen konnte, und zielte auf den Kopf des Mannes.
»Was soll der Scheiß!«, fauchte er. »Soll mich das beindrucken?«
In gewisser Weise tat es das, denn der Kerl blieb nun stehen. Nick machte zwei Schritte vorwärts und stand wieder neben der Notbremse.
»Weg mit der Machete«, wiederholte Nick. »Sie haben keine Chance. Also geben Sie besser auf.«
»Alter, ich hack dich in Stücke!«
Der Mann hob die Machete über den Kopf, um auf Nick loszugehen. Nick betätigte den Feuerlöscher. Das Gerät fauchte und spie dem Kerl weißes Löschpulver ins Gesicht. Er verschwand in einer weißen Wolke, duckte sich weg, wich zurück.
Mit der freien Hand zog Nick an der Notbremse. Sie funktionierte nicht wie in einem Film und stoppte den Zug unmittelbar. Bei einem Brand im Abteil wäre es gefährlich und unsinnig, wenn die Bahn in einem Tunnel gebremst wurde. Stattdessen gab es eine Überbrückung, die es dem Lokführer ermöglichte, einzugreifen und sich zu erkundigen, was überhaupt vor sich ging. Eine Sekunde später vernahm Nick die Stimme aus der Gegensprechanlage, die fragte, was los war.
Nick nebelte den Angreifer weiter ein und rief: »Polizei, LKA, Nick Beck – bewaffneter Angreifer, halten sie den Zug sofort an!«
»Wir sind noch im Tunnel – in dreißig Sekunden sind wir beim nächsten Halt.«
Fuck, dachte Nick.
Er rief: »Öffnen Sie dann alle Türen und lassen Sie die restlichen Fahrgäste raus! Aber nicht die von diesem Waggon.«
»Ja, ich weiß nicht, aber …«
»Nicht von diesem Waggon! Nicht automatisch öffnen!«
»Aber …«
»Machen Sie, was ich sage, Mann!«
»Moment, ich bekomme gerade eine Meldung von der Leitstelle. Sie … Okay.«
Offenbar hatten die Kollegen schnell geschaltet und den Lokführer über die S-Bahn-Zentrale erreicht. Sie wussten ja, in welchem Zug Nick und der Irre sich aufhielten.
Der Feuerlöscher hatte sein Pulver verschossen. Im Abteil sah es aus, als habe jemand eine Rauchgranate gezündet. Aber der Nebel legte sich rasch und gab den Blick auf den Irren frei, der wie mit Mehl gepudert aussah. Fehlte nur noch der rote Mund, und er würde einen guten Joker aus Batman abgeben, der Nick jetzt breit angrinste und sagte: »Du hältst mich nicht auf. Niemand hält mich auf.«
»Du kommst hier nicht raus«, sagte Nick und griff den Feuerlöscher jetzt mit beiden Händen. »Am nächsten Halt wird es von Polizei nur so wimmeln. Es ist vorbei.«
Der Kerl brüllte wie ein angeschossener Stier, wischte sich die Augen frei. Dann ging er mit der Machete auf Nick los. Er schlug zu. Nick konnte gerade noch den Feuerlöscher hochreißen. Die harte Schneide traf krachend auf das Metall. Dann ein weiteres Mal. Nick zweifelte nicht daran, dass die Klinge einen Knochen wie ein Stück Butter durchtrennen würde. Er wich zurück und betete, dass der verfluchte Zug endlich die nächste Haltestelle erreichen würde und Hilfe kam. Es konnte sich nur noch um Sekunden handeln.
Der Mann verharrte keuchend in der Bewegung. Nick stieß mit der Hüfte gegen einen Sitz. Nur noch drei Reihen hinter ihm, dann folgte der nächste Waggon.
»Weg mit der Waffe«, sagte Nick erneut. »Was ist das hier überhaupt? Willst du Geld? Hat deine Frau einen anderen? Haben sie dich rausgeworfen?«
»Scheiß auf dich«, fauchte der Mann, spuckte Staub aus und fuhr sich erneut durchs Gesicht. »Scheiß auf euch alle. Hier ist ein Mann, der aufsteht. Ihr könnt mir nichts mehr anhaben!«
»Du hast vorher in einem Geschäftshaus aufgeräumt. Die wissen jetzt, wer der Boss ist, oder?«
Der Kerl lachte. »Nicht nur die wissen das jetzt!«
»Wer noch?«
»Alle. Die Scheißer bei Hampton & Mitch, im Supermarkt … die ganzen Wichser.«
Kacke, dachte Nick. Der Typ war ein Amokläufer, kein Terrorist. Ihm ging es um maximale Auslöschung, und in der Regel knipsten sich diese Leute am Ende selbst aus. Erweiterter Selbstmord, darum ging es. So viele andere wie möglich mitnehmen auf die große Reise.
»Dann hast du es allen gezeigt. Jetzt kannst du aufhören und mir erklären, weswegen die Leute es verdient haben«, antwortete Nick.
»Ich bin noch nicht fertig.«
»Es wird von hier aus nicht mehr weitergehen, Mann. Wenn der Zug stoppt, ist Endstation für dich. Es kann ein gutes Ende oder ein schlimmes für dich nehmen. Wenn es ein schlimmes nimmt, wird nie jemand erfahren, weswegen du es allen heimzahlen wolltest. Dann war alles umsonst. Hast du selbst in der Hand.«
»Niemand hat gar nichts in der Hand. Ihr könnt mich nicht besiegen. Niemand kann mir etwas anhaben.«
»Wie du meinst. Du bist der Boss.«
Der Zug ruckte und wurde langsamer. Er verließ den Tunnel. Die blauen Paneele der Haltestelle tauchten hinter den Fenstern auf. Die weißen Fliesen. Säulen. Das Schild mit der Aufschrift »Landungsbrücken«. Menschen liefen umher, entfernten sich panisch vom Bahnsteig. Andere rannten in umgekehrte Richtung. Sie trugen Uniformen und gezogene Waffen.
Auch der Mann blickte aus dem Fenster und musste eigentlich begreifen, dass hier Endstation war. Wenngleich Nick nicht darauf wetten wollte, dass diese Information im Gehirn des Typen ankommen würde, denn er war absolut nicht zurechnungsfähig. Schwer zu sagen, ob er auf Drogen war. Er wirkte durchaus so, als habe er sich irgendwas reingezogen. Aber vielleicht handelte es sich auch um die Wirkung der körpereigenen Substanzen, die der Amoklauf zweifellos freigesetzt hatte.
Einige schwer bewaffnete Polizisten rückten mit gezogenen halbautomatischen Waffen dichter an den Zug heran. Sie trugen Zivil und Schutzwesten und Helme über der Kleidung. Es handelte sich um ein mobiles Einsatzkommando. SEKs wurden in statischen Lagen eingesetzt, MEKs operierten in beweglichen Situationen, und bis eben war das hier noch eine solche gewesen. Statisch wurde sie erst jetzt.
Nick sah aus den Augenwinkeln, wie Menschen eilig die S-Bahn verließen, von anderen Polizisten in Empfang genommen und in Sicherheit gebracht wurden. Der Kerl mit der Machete starrte weiterhin aus dem Fenster. Dann ging er zu einer der geschlossenen Waggontüren und trat mit voller Wucht dagegen. Mit dem für das Notöffnen vorgesehenen Knopf hätte er sicher mehr Erfolg gehabt, aber für rationale Überlegungen war der Mann zu aufgebracht. Außerdem stand nun eine Gruppe von Bewaffneten auf der anderen Seite und richtete Maschinenpistolen auf den Mann. Eine andere Gruppe stand nahe der Tür, an der sich Nick aufhielt. Die zwei Teams wahrten einen Abstand von rund fünf Metern zum Waggon. Nick machte eine beruhigende Geste zu den Kollegen, die darauf aber nicht reagierten.
Der Machetenmann drehte sich wieder zu Nick und rief: »Die sollen alle verschwinden, sonst lege ich dich um!«
»Die werden nicht verschwinden.«
Der Kerl brüllte vor Wut. Es klang wieder wie ein angeschossener Stier. Er bewegte sich auf Nick zu, der den Feuerlöscher nun wieder wie einen Schild zur Abwehr vor sich hielt. Von draußen hörte man Rufen. Die Polizisten legten auf den Mann an.
Nick sagte: »Ich erkläre dir, wie das hier weitergeht. Hast du einen Namen? Ich bin Nick. Nick Beck.«
»Geht dich einen Scheiß an.«
»Dann werde ich dich Arschloch nennen. Ist das okay?«
»Urs. Urs Tredeborg.«
Der Name sagte Nick nichts. »Alles klar, Urs. Die Sache läuft so: Gleich kommt ein Verhandlungsspezialist, und der wird mit dir reden wollen. Vielleicht schalten sie mir auch einen aufs Handy, dann kannst du mit ihm sprechen. Er wird dir deine Situation erklären und fragen, was er für dich tun kann. Irgendwann wirst du dich beruhigen und zu dem Schluss kommen, dass du besser aufgeben solltest, weil du an deine Frau und deine Kinder denkst …«
»Ich gebe nicht auf. Eher …«
»Vergiss das. Wenn du dich vorher umbringen willst, musst du das mit der Machete tun. Du kannst dich hineinstürzen, dir den Hals aufschneiden – und dann sind innerhalb von dreißig Sekunden die Sanitäter hier und retten dich. Sterben wirst du nicht. Aber zum Krüppel werden schon. Also besser gar nicht erst dran denken.«
»Wie kommst du darauf, dass ich Familie habe?«
»Ehering am rechten Ringfinger. Und du bist im entsprechenden Alter. Habe ich recht?«
Tredeborg schwieg. Nick redete weiter: »Du bist also überzeugt, dass der Verhandlungsspezialist recht hat, und legst die Waffe nieder. Wir gehen raus – und alles wird sich klären. Die andere Möglichkeit ist weniger entspannt. Ich gehe raus – und meine Kollegen kommen rein und holen dich. Das wird weh tun. Option drei: Die schießen auf dich. Auch das wird dich nicht töten, nur stoppen – und ebenfalls verkrüppeln.«
»Werden sie nicht. Ich habe eine Geisel. Dich.«
»Eine Geisel ist jemand, der gefangen gehalten wird, um Forderungen durchzusetzen. Hast du Forderungen?«
»Alle sollen sich sofort verpissen, weil ich dich sonst in Stücke hacke!«
»Die werden nicht gehen.«
»Dann wirst du gleich gevierteilt, Mann!«
»Damit kommen wir zum nächsten Problem. Ich bin auch deswegen keine Geisel, weil ich den Notöffner drücken und jederzeit herausspazieren kann.«
»Ohne Beine geht das wohl kaum.«
»Ja, mag sein, dass du mich verletzt. Trotzdem komme ich hier raus. Und das ist der Kern deines Problems. Du hast es bei mir nicht mit jemandem zu tun, der an einem Restauranttisch sitzt und sich wehrlos von dir den Schädel spalten lässt. Wenn du noch einmal mit der Machete auf mich einschlägst, gibt es zwei Szenarien. Erstens: Ich wehre den Schlag mit dem Feuerlöscher ab, und weil ich in Nahkampftechniken ausgebildet bin, verpasse ich dir einen Tritt. Einen, der dir die Luft nimmt und ein paar Rippen bricht. Der Schock wird dich für einen Moment bewegungsunfähig machen, und in diesem Augenblick werde ich dir eine mit dem Feuerlöscher verpassen, was dir im schlechtesten Fall ein paar Knochen im Gesicht bricht. Dann ist dein Arm an der Reihe, den ich ebenfalls brechen werde, um dich zu entwaffnen.« Nick wusste sehr gut, dass es auch anders ausgehen könnte. Dass der Hieb mit der Machete Nick zum Beispiel mitten ins Gesicht treffen würde oder am Oberschenkel, wo er die Hauptarterie durchtrennte. Aber das durfte er Tredeborg nicht spüren lassen.
»Zweites Szenario«, erklärte Nick. »Du hebst die Machete zum Schlag – und wirst eine Sekunde später von einem Haufen Kugeln perforiert. Wie gesagt: Sie werden dich wahrscheinlich nicht umlegen. Es wird viel schlimmer. Sie werden durch die Fenster auf deine Beine schießen und haben gerade einen ganz guten Winkel dafür. Bei fünf bis zehn Treffern werden deine Beine zerfetzt, und du sitzt den Rest deines Lebens im Rollstuhl. Mit etwas Pech erwischt eine Kugel deine Blase und den Darm. Das ist schlecht bis gar nicht zu reparieren.«
Aber auch das, wusste Nick, konnte anders ausgehen, bevor die Kugeln Tredeborg stoppten.
Tredeborg sagte nichts. Er hörte zu. Kam etwas zur Ruhe. Ausgezeichnet, dachte Nick, der sich zwang, nicht an die Bilder der Menschen zu denken, die Tredeborg vor wenigen Minuten schwer verletzt, verstümmelt oder sogar getötet hatte.
Nick ergänzte: »Ich würde an deiner Stelle den ganzen Scheiß mit der Verhandlungsgruppe abkürzen, die Machete hinlegen und mit mir nach draußen gehen, um dann in aller Ruhe zu erklären, was überhaupt los war und wer oder was dich so sauer gemacht hat.«
Aus den Augenwinkeln nahm Nick wahr, dass sich die zwei MEK-Gruppen etwas zur Seite bewegten. Er ahnte, warum. Sie gaben die Schussbahn frei, denn irgendwo hatten sich Scharfschützen postiert.
»Niemand kann mir etwas anhaben«, sagte Tredeborg, aber es klang nicht mehr so selbstbewusst wie zuvor.
»Denk mal nach«, erwiderte Nick, »du mit einer Machete gegen mindestens zwanzig Polizisten mit automatischen Waffen?«
Tredeborg schwieg.
»Ich habe einen Vorschlag«, sagte Nick. »Ich werde den Feuerlöscher aus der Hand legen. Dann ziehe ich mein Handy aus der Hintertasche meiner Jeans. Ich habe eine Verbindung zur Einsatzleitung. Die hören schon die ganze Zeit zu. Ich werde denen sagen, dass du die Machete ablegst und wir dann rauskommen und sich alle entspannen können.«
»Scheiß drauf«, sagte Tredeborg.
»Ist die beste Lösung, glaub mir. Du hast keine Chance. Echt nicht.«
Schließlich nickte Tredeborg langsam.
Nick legte den Feuerlöscher auf den Boden und behielt sein Gegenüber im Blick. Er zog das Handy aus der Hosentasche, führte es ans Ohr.
»Seid ihr noch da?«, fragte er.
»Alles klar bei dir, Nick?«
»Sieht gut aus hier. Urs Tredeborg und ich werden gleich rauskommen. Gebt das weiter.«
»Okay, sehr gut.«
»Urs legt die Machete hin. Ich werde die Tür öffnen. Dann verlassen wir den Waggon.«
Tredeborg regte sich nicht.
»Alles klar Nick, sehr gut«, sagte die Stimme.
Nick steckte das Handy wieder ein.
»Ich will nicht ins Gefängnis«, sagte Tredeborg.
»Schon klar. Aber du musst deine Situation jetzt realistisch einschätzen. Auch wenn du dich vielleicht wie Superman fühlst: Du bist es nicht.«
Tredeborg schluchzte. Er zitterte. Tränen schossen aus seinen Augen und zeichneten nasse Bahnen in sein weiß gepudertes Gesicht.
»Ich gehe nicht ins Gefängnis!«, schrie er.
»Vielleicht musst du gar nicht ins Gefängnis. Erst mal müssen wir reden«, log Nick.
Ein Ruck ging durch Tredeborg.
»Okay, komm«, sagte Nick. »Wir machen jetzt den Sack zu. Lass die Waffe fallen, okay? Und dann erklärst du mir, was eigentlich los ist und was dich so sauer auf die ganzen Mistkerle gemacht hat.«
»Okay. Ich werde sie wegwerfen …«
»Nein!«
»… so dass jeder es sieht …«
»Nicht! Einfach fallen …«
Tredeborg machte eine schnelle Bewegung mit der Machete, um sie von sich zu schleudern.
Zeitgleich zerplatzten eine Glasscheibe und sein Kopf. Die eine Hälfte seines Gesichts klappte zur Seite, als eine Kugel seinen Schädel seitlich traf und eine Mischung aus Gehirn, Fleisch, Blut und Knochensplittern durch die Luft flog. In der nächsten Sekunde sackte sein Körper leblos zusammen. Die Machete fiel scheppernd zu Boden.
Nick inhalierte tief und flüsterte: »Scheiße!« Die Scharfschützen hatten die rasche Bewegung als Angriff interpretiert. Dabei hatte Tredeborg die Machete wegwerfen wollen, und Nick hatte ihn davor gewarnt.
Trotzdem: Nick hatte der Einsatzleitung vorher unmissverständlich klar gemacht, dass Tredeborg aufgeben wollte und sie rauskommen würden. Hatte keinen gekümmert. Wozu dann all die Mühe?
»Shit!«
Nick kickte gegen den Feuerlöscher und schlug mit der Hand auf den Knopf zur Notöffnung. Die Türen gingen mit einem Zischen auf. Sofort drangen die Kollegen vom MEK ins Innere ein, um den Waggon zu sichern und Tredeborgs Tod zu verifizieren. Alles war hektisch bis chaotisch. Auch draußen, wo gefühlte fünfhundert Funkgeräte auf einmal krächzten und Einsatzkräfte sowie Sanitäter und Notärzte hin und her liefen.
Zwei MEK-Kollegen, die Nick unter der Panzerung nicht erkannte, kamen zu ihm und fragten, ob er okay sei. Er nickte nur kurz, nahm sich eine Zigarette aus der Schachtel, die in der Brusttasche seines Hemdes steckte, und klemmte sie in den Mundwinkel, tastete sich nach einem Feuerzeug ab und fand es schließlich in der vorderen Jeanstasche. Er steckte die Zigarette mit zitternden Fingern an.
Jemand kam zu ihm, uniformiert – offensichtlich jemand, der hier vor Ort die Einsatzleitung hatte. Er hatte eine Glatze, trug eine randlose Brille und außerdem eine Schutzweste. Der Name »B. Jonathan« stand darauf. Über seine Schulter hinweg sah Nick, wie zwei Scharfschützen ihre Gewehre verstauten. Sie hatten sich auf den nach oben führenden Treppen postiert, um von dort aus einen besseren Schusswinkel zu haben. Sie schienen plötzlich aufzumerken, erhielten vermutlich irgendeinen Funkspruch – beschleunigten ihre Arbeit erheblich und liefen die Stufen hinauf.
»Alles klar bei Ihnen, Beck?«, fragte Jonathan.
Nick zog an der Zigarette und schwieg.
»Gut, dass Sie zur Stelle waren. Glück im Unglück. Der Kerl hat in einem Geschäftshaus bei einer Unternehmensberatung und in einem Supermarkt mit der Machete um sich geschlagen, bevor er auf die Leute im Café losging. Wir laufen dem seit fast einer Stunde von Ort zu Ort hinterher.«
»Davon habe ich nichts mitbekommen. Bis er plötzlich auf dem Platz auftauchte. Ich habe Mittagspause gemacht.«
»In einem Büro hat er begonnen, zog dann durch die Stadt. Es gibt sehr viele Verletzte und einige Tote. Angeblich sechs bislang. Geht alles noch ziemlich drunter und drüber.«
»Urs Tredeborg ist der Name.«
»Hat die Zentrale mitbekommen, wie ich hörte. Zeugen nannten den Namen ebenfalls.«
»Er wollte aufgeben.«
Jonathan nickte. »Die Scharfschützen haben dennoch nur auf den richtigen Moment gewartet.«
»Die hätten nicht schießen müssen. Es war alles unter Kontrolle. Die sind normalerweise nicht so nervös.« Aber wie Nick wusste, war im Hamburger Polizeigesetz der finale Rettungsschuss von der Weisungspflicht ausgenommen. Das heißt, es bedurfte keines besonderen Befehls dazu. Wenn jemand aus der Situation heraus entschied, dass nur ein tödlicher Schuss eine unmittelbar bevorstehende Lebensgefahr abwehren konnte, dann war es okay abzudrücken.
Nick sagte: »Die haben die Bewegung fehlinterpretiert, als er die Waffe wegwerfen wollte. Das war ein beschissener Fehler. Ich habe angenommen, dass völlig klar war, dass die Lage unter Kontrolle ist, meine Fresse!«
Jonathan blickte Nick an und erklärte: »Die hätten geschossen, wenn der sich nur die Nase geputzt oder mit der Wimper gezuckt hätte.«
»Wir wollten rauskommen. Der wollte aufgeben. Eher hätte der sich selbst umgebracht als …«
»Beck. Die hatten einen Schießbefehl. Eine Anweisung. Nix mit Ermessen.«
Nick zog an seiner Zigarette und blickte Jonathan an. »Wie jetzt?«, fragte er. »Von wem?«
»Nicht von uns. Ein paar Etagen drüber. Wegen der Terrorlage. Ich habe keine Ahnung. Wir hören: Beck kommt raus, der Typ gibt auf. Alle sagen: Zum Glück. Dann zuckt der Typ – und die schießen. Ich frage: Was soll das? Und höre: Wir hatten Anweisung zu schießen. Ich sage: Aber die Lage hatte sich entspannt. Die wollten rauskommen. Die sagen: Kam von oben, Schussbefehl wurde nicht aufgehoben, sondern beibehalten.«
»Wer ist ein paar Etagen drüber oder ganz oben?«
»Beck. Ich mache hier nur den Scheiß vor Ort, okay? Ich habe im Moment keine Ahnung. Ich bin froh, dass das vorbei ist. Regen Sie sich nicht auf, Mann. Machen Sie drei Kreuze, dass Sie heil da rausgekommen sind.«
»Das war keine Terrorlage. Der Typ hatte irgendwas genommen. Der war durchgedreht, aber kam wieder runter. Der wollte gerade die Machete wegwerfen. Das war ein Mann in einer Ausnahmesituation.«
»Wussten wir anfangs nicht. Es hieß Terroralarm. Einzeltäter mit Machete. Sollte eigentlich auf Amoksituation angepasst werden, als wir kapiert hatten, was da los war. Wurde es aber nicht. Es hieß, wir bleiben dabei: Terrorlage.«
»Hat wer gesagt?«
»Keine Ahnung. Ging plötzlich drunter und drüber. War mir aber auch egal. Der Typ hat eine Menge Leute auf dem Gewissen. Hätten Sie eine Waffe gehabt, hätten Sie den vorher schon ausgeschaltet, oder nicht? Also.«
Und ob, dachte Nick. Er hätte nicht lange gezögert. Keine Sekunde lang. Allerdings hätte er ihm nicht den Kopf von den Schultern geschossen, sondern nur die beiden Kniescheiben pulverisiert, um ihn zu stoppen, und möglicherweise auch die Ellenbogen, damit er nicht mehr mit der Machete herumfuchteln kann. Aber die Sache hatte sich anders entwickelt, und das, nachdem Nick den Typen unter Lebensgefahr und unbewaffnet zum Aufgeben bewegt hatte. Ausgerechnet im Augenblick der geringsten Gefahr. Nick hatte die Sache im Griff gehabt. Scheiße, er war sauer, aufgekratzt und spürte, dass er noch randvoll mit Adrenalin war. Außerdem begriff er das mit dem Schießbefehl nicht. Der Mann hatte sich sprichwörtlich ergeben, Nick hatte alles klargemacht – und die knallten ihn trotzdem ab.
Nick sagte: »Wir haben alles richtig gemacht, okay? Wir haben den Täter lokalisiert, in seine Richtung agiert, haben ihn isoliert und handlungsunfähig gemacht, wir …«
»Wir brauchen den Scheiß nicht zu diskutieren, Beck. Das kam nicht von uns.«
»Und ich frage noch mal: Wer hat die Scharfschützen angewiesen?«
»Weiß ich nicht. Frag die Scharfschützengruppe.«
»Die sind gerade mit fliegenden Fahnen abgerauscht, die konnten gar nicht schnell genug wegkommen …«
Jonathan verharrte und hob die Hand, um Nick zu bedeuten, dass er einen Moment den Mund halten sollte. Er presste den Zeigefinger gegen den Knopf im Ohr und hörte einer Durchsage zu.
Nick spürte einen Klaps auf der Schulter. Er drehte sich um und blickte in zwei Gesichter, die er häufiger zu sehen bekam, seitdem er sich vor etwa einem halben Jahr entschieden hatte, auf das Angebot einzugehen, zum LKA zurückzukehren. Es hatte eine Reihe von Gesprächen, bürokratischen Overkill und jede Menge Papierkram gegeben, um vom Job als Bezirksbeamter in die Mordkommission zu wechseln. Aber das kannte Nick bereits – denn das war andersherum beim Wechsel vom LKA in den Bezirksdienst genauso gewesen.
Nick hatte die Entscheidung damals getroffen, nachdem seine Partnerin Betty Duschkow bei der Verfolgung des »Elbripper« genannten Serienmörders getötet worden war. Nick hatte sich dafür verantwortlich gemacht, sich nach Nordbek und in die Käffer rund um Duvenstedt im Hamburger Norden in den Streifendienst zurückgezogen und mit dem professionellen Trinken begonnen. Das Trinken hatte er inzwischen wieder aufgegeben. Ebenso die Idee, vor sich selbst weglaufen zu können. Und seit letztem Winter, in dem der Elbripper schließlich gestellt worden war, fehlte ihm ein neues Ziel, eine Aufgabe.
Deswegen hatte er schließlich ja zum LKA-Angebot gesagt, weil er sich wieder sicher im Sattel fühlte und außerdem die Nase voll davon hatte, von allen Seiten bedrängt zu werden, endlich wieder zum LKA zurückzukehren und – Originalton von KHK Cleo Torner – sich »nicht weiter hängen zu lassen und wie ein selbstmitleidiger Waschlappen nach Aufmerksamkeit und Mitgefühl zu heischen«. Cleo und Nick hatten den Elbripper-Fall gemeinsam gelöst. Mittlerweile befand sich Cleo in Elternzeit, aber wohl nicht für sehr lange.
Schultz und Janson trugen Schutzwesten über der zivilen Kleidung und ihre Dienstwaffen am Gürtel. Schultz nahm seine Baseballcap ab und wischte sich mit der Hand über den kahlen Schädel. Janson dagegen hingen die Haare bis auf die Schultern. Nick hatte sie bis vor einem Jahr ebenso lang getragen. Jetzt nicht mehr. Das galt auch für den Bart, der im Gegensatz zu dem Hipsterbart von Janson sehr kurz rasiert war. Nick spürte Jansons massierenden Daumen im Nacken und entzog sich mit einer Bewegung.
»Kaum isser bei der kämpfenden Truppe«, sagte Janson, »macht er wieder den Helden. Respekt, mein Freund.«
»Hat nur nicht viel genutzt«, sagte Nick. »Die haben ihn umgepustet, obwohl ich ihn so weit hatte.«
»Tja«, Janson zuckte mit den Schultern, »weisste – so spielt das Leben. Manchmal frisst du den Bären, und manchmal, da frisst der Bär eben dich, wie es in The Big Lebowski heißt.«
Nick schwieg. Schultz ebenfalls. Er sagte selten viel. Jetzt schob er sich einen Kaugummistreifen in den Mund und musterte den Einsatzleiter, der mit zwei Kollegen tuschelte. Plötzlich geriet alles wieder in Bewegung.
Janson sagte: »Wir waren gerade unterwegs zu einer Zeugenbefragung, als wir von dem Irrsinn hier hörten, und dachten, wir könnten uns nützlich machen. Aber du hast uns ja schon alles abgenommen, Beck.«
»Wer weiß«, sagte Schultz, kaute und setzte sich die Cap wieder auf. »Irgendwas stimmt hier nicht.«
Das spürte auch Nick. Er drehte sich zu Jonathan und den Kollegen, mit denen der sich gerade unterhielt. Das MEK setzte sich plötzlich in Bewegung. Jonathan nahm Nicks Blick auf, erklärte den anderen Uniformierten noch etwas und kam wieder rüber, den Finger immer noch auf den Knopf im Ohr gepresst.
Dann sah er Nick mit einem Blick an, als hätte ihm gerade jemand geflüstert, dass soeben die Aliens auf dem Jungfernstieg gelandet waren. Im nächsten Moment verstand Nick, warum die Scharfschützen es plötzlich so eilig gehabt hatten und alle anderen hektisch wurden wie ein aufgescheuchter Wespenschwarm.
»Keine Ahnung, was hier los ist«, sagte Jonathan leise. »Aber wir haben einen weiteren Amokläufer.«
Das Autohaus in Altona war von der Polizei eingekreist und weiträumig abgesperrt. Blaulicht überall. Rettungsfahrzeuge. Feuerwehr.
Das SEK war vor Ort, die Scharfschützen gingen gerade in Position. Mitten in dem Glasbau voller Ferraris, Lamborghinis, Ford Mustangs und ähnlicher Luxuskarossen stand Joris de Vries und führte sich wie der jüngere Zwillingsbruder von Urs Tredeborg auf.
Es gab zwei Unterschiede. Der Inhaber von De Vries Cars, mit zwei Niederlassungen in Hamburg einer der Hofausstatter der gehobenen Kiez-Klientel, hatte keine Machete bei sich, sondern ein langes Küchenmesser, und er agierte im Vergleich zu Tredeborg nur wie ein Halbirrer. De Vries war zunächst vor den Augen der Familie in seiner Villa ausgeflippt und hatte gesagt, er werde jetzt mit allen Arschgeigen aufräumen und sei »untouchable«. Dann war er mit seinem Morgan in eine Bankfiliale gefahren, hatte dort einige Menschen mit dem Messer verletzt und war anschließend ins Autohaus geflohen. In seinem Geschäft war er dann auf die Angestellten losgegangen, von denen drei entkommen konnten.
Mit zwei leicht verletzten Frauen – einer Sekretärin und einer Verkäuferin – hatte er sich nun verbarrikadiert und war allem Anschein nach im Begriff, die ganze Hütte mitsamt den Autos in Brand zu setzen. Zumindest lief er gerade mit einem Benzinkanister im Showroom herum und kippte die Flüssigkeit auf die Fliesen. Die beiden Geiseln saßen in einem knallroten Chevrolet Camaro SS, der durch die vollständig verglaste Front des Verkaufsgebäudes gut zu erkennen war. Mit anderen Worten: De Vries hatte jeglichen Bezug zur Realität verloren – wie Tredeborg zuvor. Und er schien ebenfalls auf einem persönlichen Rachefeldzug zu sein.
Nick glaubte nicht daran, dass das ein Zufall war: zwei solche Ereignisse an einem Tag, fast zeitgleich. Nein, das war kein Zufall. Vermutlich glaubte das auch keiner der Kollegen, und falls die Scharfschützen auch hier ausdrückliche Anweisung zum Schießen hatten, wäre das Spektakel so oder so innerhalb weniger Minuten beendet. Trotzdem sah hier nichts nach einem politisch motivierten Anschlag aus, obwohl nach wie vor die Terrorlage ausgerufen war. Der Begriff »Terror« gab den Behörden deutlich mehr Spielraum als bei einer Amoklage. Wahrscheinlich ging es darum. Und darum, dass man am Anfang nicht genau gewusst hatte, womit man es zu tun hatte, und deswegen lieber vorsichtig war.
Janson und Schultz hatten Nick mitgenommen. Er hatte sich eine Schutzweste organisiert und angezogen. Jetzt stand er mit den beiden neben einem gepanzerten Polizeiwagen und rauchte. Nick blickte zu den Scharfschützen, die mit ihren Gewehren in ein gegenüberliegendes Wohnhaus gingen, um vermutlich in einer der oberen Etagen auf den Balkonen Position zu beziehen. Links und rechts vom Autohaus stellten sich zwei SEK-Teams in voller Kampfmontur auf.
Wenige Meter vor Nick sprach Jonathan mit einem Kollegen in Zivil. Zwei Laptops standen auf der Kühlerhaube eines Einsatzfahrzeuges. Sie zeigten die Livebilder der Überwachungskameras aus dem Showroom des Geschäftes, die auf die mobilen Computer geschaltet worden waren – Spezialisten mussten sich in das System gehackt haben. Der Polizist in Zivil war Roderick Palmer, den Nick als Verhandlungsführer kannte. Er war spezialisiert darauf, mit Geiselnehmern oder potenziellen Selbstmördern zu verhandeln. Außer einer Schutzweste trug er ein Headset und eine verspiegelte Pilotensonnenbrille, die in der Sonne blitzte, als er nach oben sah, wo am Himmel gerade ein Hubschrauber auftauchte.
Nick zog an der Zigarette und stieß den Rauch langsam wieder aus. Schultz setzte sich seine Sonnenbrille auf und zog die Cap etwas tiefer ins Gesicht. Der Himmel war mit einem Mal wolkenlos, die Sonne brannte auf sie herab.
Schultz kaute auf seinem Kaugummi. »Schicke Autos«, sagte er. »Wäre schade drum, wenn er die alle abfackelt.«
»Total«, bestätigte Janson. »Schau dir mal an, was da steht, Nick – wäre das nichts für dich? Tausch deinen Mercedes gegen so einen Ford Mustang ein. Sechziger-Jahre-Modell oder so.«
Nick hätte nichts gegen einen Mustang einzuwenden. Aber er bevorzugte sein schwarzes 280 SE Coupé von Mercedes Benz, Baujahr 1971, mit leicht angedeuteten Heckflossen. Der Wagen war ein Erbstück, weswegen Nick eine besondere Beziehung zu dem Wagen hegte. Manche hielten ihn für verrückt oder exzentrisch, einen solchen kostbaren Oldtimer als Alltagswagen zu nutzen. Aber der Mercedes war höchstens die Hälfte von einem der Autos aus de Vries’ Fuhrpark wert, allenfalls so viel wie ein Jahreswagen von Mercedes oder BMW.
Nick beobachtete einen nachtblauen Audi, der durch die Polizeiabsperrungen gelotst wurde. Ein Typ in hellgrauem Anzug stieg aus, orientierte sich und folgte dann einer Geste der Einsatzleitung, ging zur SEK-Führung und blickte zu dem Haus, in dem die Scharfschützen verschwunden waren.
Schultz sagte: »Hier braucht uns keiner. Rumstehen können wir auch woanders. Verschwinden wir.«
»Weisste doch gar nicht«, erwiderte Janson.
»Das ist nicht unsere Baustelle.«
»Ich verschwinde erst, wenn ich sicher bin, dass der die Autos nicht abfackelt.«
»Oder die Frauen.«
»Die natürlich auch.«
»Denen tut er nichts«, sagte Nick.
»Sicher?«, fragte Janson.