Dämonen im Vatikan - Stefan Lahr - E-Book

Dämonen im Vatikan E-Book

Stefan Lahr

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  • Herausgeber: C. H. Beck
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Mitunter ist man im Vatikan der himmlischen Ruhe näher, als einem lieb ist. Diese Erfahrung macht auch das Ermittlerduo Commissario Bariello und Weihbischof Montebello in seinem dritten Fall: Als die Archäologie geheiligte Glaubensgrundsätze zu erschüttern droht, ruft sie Verteidiger auf den Plan, die vor nichts zurückschrecken. In einem Nebel aus Lügen, Intrigen und rätselhaften Todesfällen scheint ein unseliges Machtkartell auf dem Weg zum ewigen Heil sehr irdische Interessen zu verfolgen. Hinter den Mauern des Vatikans ist bald schon niemand mehr sicher. Selbst Rom kann sehr kalt sein. Trotzdem ist Commissario Bariello überrascht, als er im Hochsommer zu einem Toten gerufen wird, der offenbar erfroren ist. Das Rätsel um den Verstorbenen wird noch dunkler, als sich herausstellt, dass er Priester, Redakteur beim Osservatore Romano und in den Wochen vor seinem Tod der festen Überzeugung war, in der Vatikanstadt einen Dämon gesehen zu haben. Vor einem Rätsel ganz anderer Art steht Sua Eccellenza Montebello, der Weihbischof von Neapel. Zum Geburtstag hat er ein kostbares Geschenk bekommen: eine einzigartige Ausgabe der Legenda Aurea – einst das meistgelesene Buch des Mittelalters mit vielen Heiligenlegenden. Doch sein Exemplar birgt zudem vier außergewöhnliche Zeichnungen, die ein kirchenpolitisches Erdbeben im Vatikan auslösen könnten. Kaum, dass er und seine Leute sich nach Rom begeben, um zu untersuchen, was es damit auf sich hat, ereignen sich weitere mysteriöse Todesfälle. Montebello und Bariello stören offenbar gleichermaßen die Interessen von Kirchenfürsten, Wirtschaftspotentaten und Mafiagrößen. Diese sorgen seit Langem dafür, dass sie beim Segnen nicht zu kurz kommen. Der Weihbischof und der Kommissar müssen erkennen: Wer auch immer diesen Kreisen in die Quere kommt, dem leuchtet bald das ewige Licht.

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Stefan von der Lahr

Dämonen im Vatikan

Kriminalroman

C.H.Beck

Zum Buch

Selbst Rom kann sehr kalt sein. Trotzdem ist Commissario Bariello überrascht, als er im Hochsommer zu einem Toten gerufen wird, der offenbar erfroren ist. Das Rätsel um den Verstorbenen wird noch dunkler, als sich herausstellt, dass er Priester, Redakteur beim Osservatore Romano und in den Wochen vor seinem Tod der festen Überzeugung war, in der Vatikanstadt einen Dämon gesehen zu haben.

Vor einem Rätsel ganz anderer Art steht Sua Eccellenza Montebello, der Weihbischof von Neapel. Zum Geburtstag hat er ein kostbares Geschenk bekommen: eine einzigartige Ausgabe der Legenda Aurea – einst das meistgelesene Buch des Mittelalters mit vielen Heiligenlegenden. Doch sein Exemplar birgt zudem vier außergewöhnliche Zeichnungen, die ein kirchenpolitisches Erdbeben im Vatikan auslösen könnten. Kaum, dass er und seine Leute sich nach Rom begeben, um zu untersuchen, was es damit auf sich hat, ereignen sich weitere mysteriöse Todesfälle. Montebello und Bariello stören offenbar gleichermaßen die Interessen von Kirchenfürsten, Wirtschaftspotentaten und Mafiagrößen. Diese sorgen seit langem dafür, dass sie beim Segnen nicht zu kurz kommen. Der Weihbischof und der Kommissar müssen erkennen: Wer auch immer diesen Kreisen in die Quere kommt, dem leuchtet bald das ewige Licht.

Über den Autor

Stefan von der Lahr ist promovierter Altertumswissenschaftler und arbeitet seit dreißig Jahren im Verlag C.H.Beck. Von ihm – und mit Bariello und Montebello – sind lieferbar: «Hochamt in Neapel» (2022), «Das Grab der Jungfrau» (2020).

Inhalt

Prolog – Das Paradies

Peking, Residenz des Prinzen Gong

Drei Jahre später

Kapitel 1 – Der Anruf

Rom, 31. Juli/1. August, Mitternacht

Kapitel 2 – Das Geschenk

Neapel, 1. August, ein Uhr morgens

Neapel, 1. August, acht Uhr morgens

Kapitel 3 – Papageno

Rom, 1. August, vormittags

Rom, 1. August, früher Nachmittag

Kapitel 4 – Die Audienz

Vatikanstadt, Gästehaus des Vatikans, 1. August, später Nachmittag

Vatikanstadt, Apostolischer Palast, 1. August, neun Uhr abends

Kapitel 5 – Die Beichte

Vatikanstadt, Petersdom, 2. August, morgens

Rom, 2. August, vormittags

Rom, 2. August, mittags

Vatikanstadt, 2. August, nachmittags

Kapitel 6 – Das Grab des Apostels

Vatikanstadt, 2. August, früher Abend

Rom, Via Luigi Bellotti Bon, 2. August, spätabends

Kapitel 7 – Das Abendmahl

Vatikanstadt, 3. August, morgens

Rom, Questura, Via di San Vitale, 3. August, mittags

Rom, 3. August, früher Nachmittag

In den Gärten des Vatikans, 3. August, nachmittags

In den Gärten des Vatikans, 3. August, abends

Kapitel 8 – Der Weinhändler

Rom, Gemelli-Klinik, 4. August, morgens

Vatikanstadt, Kurienverwaltung, 4. August, vormittags

Vatikanstadt, Gendarmeriekaserne, 4. August, früher Nachmittag

Gästehaus des Vatikans, 4. August, nachmittags

Rom, TrattoriaMANGIA E ZITTO!, 4. August, spätabends

Kapitel 9 – Die Besucher

Vatikanstadt, Gendarmeriekaserne, 5. August, morgens

Rom, Deutsches Archäologisches Institut, Via Sicilia, 5. August, vormittags

Vatikanstadt, Gendarmeriekaserne, 5. August, früher Nachmittag

Vatikanische Bibliothek, Handschriftenabteilung, 5. August, nachmittags

Vatikanstadt, Päpstlicher Palast, 5. August, später Nachmittag

Vatikanstadt, Päpstliche Kurienverwaltung, 5. August, zur selben Zeit

Rom, Deutsches Archäologisches Institut, Via Sicilia, 5. August, abends

Kapitel 10 – Der Circus

Gästehaus des Vatikans, 6. August, morgens

Rom, Questura, Via di San Vitale, 6. August, vormittags

Rom, Ristorante Oliva verde, 6. August, mittags

Vatikanstadt, Päpstlicher Palast, 6. August, früher Nachmittag

Rom, Questura, Via di San Vitale, 6. August, nachmittags

Rom, Catacombe di San Sebastiano, 6. August, später Nachmittag

Gästehaus des Vatikans, 6. August, früher Abend

Rom, Via Luigi Bellotti Bon, 6. August, später Abend

Kapitel 11 – Ehrenmänner

Rom, Questura, Via di San Vitale, 7. August, morgens

Gästehaus des Vatikans, 7. August, vormittags

Zur selben Zeit im Gästehaus des Vatikans

Rom, Via Luigi Bellotti Bon, 7. August, mittags

Rom, Ristorante Oliva verde, 7. August, früher Nachmittag

Rom, Questura, Via di San Vitale, 7. August, nachmittags

Gästehaus des Vatikans, 7. August, früher Abend

Vatikanstadt, Kloster Mater Ecclesiae, 7. August, eine halbe Stunde später

Kapitel 12 – Geschäftsleute

Vatikanstadt, Petersdom, 8. August, morgens

Vatikanstadt, Päpstlicher Palast, 8. August, vormittags

Rom, Ristorante Oliva verde, 8. August, mittags

Gästehaus des Vatikans, 8. August, nachmittags

Frascati, Monastero dei Pii Fratelli della Fede,8. August, später Nachmittag

Rom, Gemelli-Klinik, 8. August, früher Abend

Rom, Questura, Via di San Vitale, 8. August, abends

Kapitel 13 – Dämonen

Rom, Tiberufer, 9. August, morgens

Rom, Questura, Via di San Vitale, 9. August, vormittags

Gästehaus des Vatikans, 9. August, mittags

Rom, Questura, Via di San Vitale, 9. August, mittags zur selben Zeit

Vatikanstadt, Päpstliche Privatbibliothek, 9. August, früher Nachmittag

Vatikanstadt, U-Bahn-Baustelle, 9. August, zur selben Zeit

Gästehaus des Vatikans, 9. August, nachmittags

U-Bahn-Baustellen Baldo degli Ubaldi, Vatikanstadt, Spagna, 9. August, später Nachmittag

Rom, Hotel Hassler, 9. August, früher Abend

Vatikanstadt, Petersplatz, 9. August, abends

Rom, Questura, Via di San Vitale, 9. August, nachts

Kapitel 14 – Der Tag des Märtyrers

Bari, 10. August, morgens

Vatikanstadt, Sakristei des Petersdoms, 10. August, morgens

Vatikanstadt, 10. August, vormittags

Vatikanstadt, Päpstlicher Palast, 8./9. August, Mitternacht

Vatikanstadt, Petersdom, 10. August, vormittags

Rom, Via Luigi Bellotti Bon, 6. August, später Abend

Vatikanstadt, U-Bahn-Baustelle, 10. August, vormittags

Vatikanstadt, Petersdom, 10. August, vormittags, Papstmesse

Zur gleichen Zeit, U-Bahn-Baustelle Vatikanstadt

Zur gleichen Zeit, Vatikanstadt, Petersdom, Papstmesse

Rom, Flughafen Ciampino, militärischer Teil, 10. August, mittags

Rom, Flughafen Ciampino, Reparto Genio Aeronautica Militare, 10. August, früher Nachmittag

Vatikanstadt, Päpstlicher Palast, 10. August, früher Abend

Fünf Monate später

Kapitel 15 – Das Grab

Vatikanstadt, Päpstlicher Palast, Vorzimmer von Sua Eminenza Montebello

Rom, Catacombe di San Sebastiano

Epilog

Vatikanstadt, Päpstlicher Palast, Vorzimmer von Sua Eminenza Montebello

Anhang

Begriffserklärungen und Übersetzungen

Recherchen und Materialien

Handelnde Personen

Persönlichkeiten aus der Ereignis-, Kunst-, Mythen- und Religionsgeschichte

Dank

Für Emmanuel 1972 – 2002 unvergessen

Ein Hinweis für Leserinnen und Leser: Im Anhang werden in Auswahl fremdsprachige Begriffe und Formulierungen sowie Fachbegriffe erläutert. Dort finden sich auch Hinweise auf einige Lektüren, Pläne und weitere Materialien, die für den Autor während der Entstehung dieses Kriminalromans hilfreich waren, sowie ein Verzeichnis der handelnden Personen und historischer Persönlichkeiten.

Wer im Schutz des Höchsten wohnt und ruht im Schatten des Allmächtigen, (der muss sich weder fürchten) vor dem Schrecken der Nacht noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag.

PSALM 91,1.5–6

Prolog – Das Paradies

Peking, Residenz des Prinzen Gong

Genosse Zhao Ling lehnte sich im Fond des Hongqi E zurück – der Staatskarosse, die man ihm ins Hotel geschickt hatte, um ihn durch Peking zur Verbotenen Stadt zu chauffieren. Das Büro von Zhao tongzhi aber lag zweitausend Kilometer entfernt, im südlichen Technologiezentrum des Riesenreiches in Shenzen, wo er in der zweiundvierzigsten Etage eines Geschäftsgebäudes residierte, das jedermann den Zhao-Tower nannte. So konnte er selbst an Tagen, an denen die meisten seiner Genossen zweihundertfünfzig Meter tiefer trotz Mundschutz im Smog zu ersticken drohten, auf die Dachterrasse treten, einigermaßen frei durchatmen und manchmal sogar die Sonne sehen.

Zhao Ling wusste sich am Ziel seiner Träume, als ihm am Tag zuvor dort oben ein schlichtes weißes Kuvert überreicht worden war. Trug es doch jenes Emblem, unter dem alle Macht Chinas vereint war: umrahmt von einem goldenen Ährenkranz, der in einem Zahnrad auslief, prangten in Gold auf rotem Grund fünf Sterne und darunter das Tor des Himmlischen Friedens. Der Überbringer war kein Geringerer als der Stellvertretende Minister für Wissenschaft und Technologie. Fast eine Stunde hatten sie bereits geplaudert, als der Gast den Brief aus einer Schreibmappe zog, die in rotes Saffianleder gebunden war. In gut unterrichteten Kreisen hatte es schon länger geheißen, dass Genosse Zhao ins Politbüro der Kommunistischen Partei Chinas aufrücken werde. Dem Zentralkomitee der KP gehörte er bereits seit einigen Jahren an. Nun wollte man auch im innersten Zirkel der Macht nicht länger auf einen Mann mit seiner Kompetenz verzichten.

Begonnen hatte Zhao Ling seine Karriere als Bauingenieur. Heute leitete er einen global operierenden Mischkonzern. Die Baubranche, die Agroindustrie und ganz besonders die boomende IT-Sparte erwirtschafteten Gewinne, die andere Zukunftstechnologien querfinanzierten, solange deren Entwicklung noch auf Subventionen angewiesen war. Besonders interessant waren dabei jene Resultate, die während der letzten Jahre in Zhaos Gentechnik-Labors erzielt worden waren; was nun endlich Patentreife erreicht hatte, konnte zur Verheißung für sein Land werden. Die Zeit der Ernte schien gekommen, in der sich die Milliarden auszahlen würden, die er investiert hatte, um das Forschungskonglomerat Zhao Future Unlimited aufzubauen.

Zhao hatte erwartet, dass der Wagen ihn in den Regierungsbezirk bringen würde. Er war überrascht, als er sah, dass der Chauffeur im Viertel Shichahai hielt, unmittelbar bei der Residenz des Prinzen Gong, deren Anfänge ins 18. Jahrhundert in die Zeit der Qing-Dynastie zurückreichten. Der Gast fühlte sich geschmeichelt, denn diese Residenz galt in der Hauptstadt als das Paradies der menschlichen Welt. Ein Offizier der Volksarmee in Paradeuniform öffnete den Schlag und geleitete mit drei weiteren Militärs Zhao Ling die Stufen hinauf, wo er von einer anderen Ordonnanz in Empfang genommen und durch den Park geführt wurde, der aus Teichen und Pavillons bestand – und an diesem Tag menschenleer war. In einem alten Götterschrein mitten im Grünen saß ein Mann in dunklem Anzug. Als er die Schritte hörte, wandte er den Blick von den kleinen Fontänen jenseits des Bambusgeländers und nickte lächelnd seinem Besucher zu.

«Zhao tongzhi, seien Sie willkommen!»

Der Industrielle blieb stehen und verneigte sich – sein Gastgeber war Generalsekretär Chen persönlich, das Haupt der allmächtigen KP Chinas.

«Chen zongshuji, ich danke Ihnen für die Ehre, mich zu empfangen!»

«Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen!»

Ihr Weg führte durch einen Laubengang, den blühende Clematis umrankte, vorbei an paarweise aufgestellten Löwen; die rechte Pranke des einen ruhte auf einem Ball, der andere führte ein Junges. Sie gingen über eine Holzbrücke, deren rote und schwarze Lackarbeiten mit einem grünen Phönix und einem goldenen Glücksdrachen verziert waren, und gelangten zu einem Teehaus, das inmitten einer Wasserfläche lag, auf der Teichrosen blühten. Das ferne Brausen des Verkehrs war kaum noch zu vernehmen, gelegentlich hörte man sogar den knisternden Flügelschlag der Libellen, die bunt schillernd über das Grün schossen. Der Generalsekretär griff in eine kleine Schale, die auf einer Bank stand, und warf ein paar Kügelchen Fischfutter ins Wasser. Bald darauf schoben sich Kois aus der dunklen Tiefe und schluckten die Leckereien mit weit offenen Mäulern.

«Man muss die Bäuche füllen und die Herzen leer machen. Diese Weisheit, Zhao tongzhi, gilt heute wie vor über zweitausend Jahren. Damals bestimmten die Legalisten die Staatsraison; sie brachten Ruhe in das unter Qin Shihuangdi geeinte China – Ruhe, die das Land nach den blutigen Jahrhunderten der Streitenden Reiche dringend brauchte. Heute würde so etwas niemand in der Partei laut sagen, obwohl wir alle danach handeln. Wir haben ein gesellschaftliches Gleichgewicht erreicht, dürfen uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, wie labil es immer noch ist. Die elementare Versorgung unserer Landsleute und der Wohlstand für eine wachsende Mittelschicht helfen uns, alle Krisensymptome unter Kontrolle zu halten. Notfalls könnten wir sie eine Zeit lang unterdrücken. Aber irgendwann würde es zu Volksaufständen kommen, die uns gefährlich werden könnten. In dieser Lage ist es für uns essentiell, dass nichts unsere Stellung am Weltmarkt gefährdet, die uns allein die Mittel verschafft, die Menschen ruhig zu halten. Stimmen Sie mir zu, Zhao tongzhi?»

«Selbstverständlich, Chen zongshuji.»

«Dann lassen Sie uns offen miteinander sprechen. Was mir Sorgen bereitet, ist, wie Sie sich vorstellen können, die Entwicklung in Afrika.»

Zhao nickte. Niedrige Löhne, niedrige Sicherheitsstandards und kaum durchsetzbare Umweltschutzrichtlinien hatten afrikanische Länder zu einer Goldgrube für chinesische Investoren gemacht. Dabei waren lokale afrikanische Industrien, etwa auf dem Textilsektor, untergegangen. Fast immer hatten die Firmen aus China ihre eigenen Arbeitskräfte mitgebracht, so dass auch keine neuen Arbeitsplätze für Afrikaner entstanden, sondern die Not vor Ort nur noch größer wurde. An einigen Förderstätten für Rohstoffe, die chinesische Unternehmer übernommen hatten, war der Arbeitsschutz in einem Maße vernachlässigt worden, dass es zu Katastrophen gekommen war, bei denen über fünfzig Menschen starben. Zudem hatte der Kauf von fruchtbaren Ackerflächen, auf denen inzwischen Getreide und Früchte für den Export nach China angebaut wurden, in manchen Regionen die ohnehin prekäre Lage für die einheimische Bevölkerung drastisch verschlechtert; dort waren Familien vom Land ihrer Väter vertrieben worden, was man offiziell als «Umsiedlung» bezeichnet hatte. Außerdem sorgten elende Löhne für Spannungen zwischen einheimischen Landarbeitern und den fremden Eigentümern.

So waren verschiedentlich Aufstände ausgebrochen, wobei chinesische Werksbetreiber sogar auf afrikanische Arbeiter hatten schießen lassen. Regierungen in Afrika sahen sich jedoch angesichts ihrer Verschuldung gegenüber China kaum in der Lage, wirksam die Interessen der eigenen Bevölkerung zu vertreten. Die Korruption trug das Ihrige dazu bei, dass lokale Verwaltungen Klagen ihrer Bürger gegen die wahren Machthaber zurückwiesen oder deren Bearbeitung verschleppten.

Generalsekretär Chen, der eine Weile schweigend die Fische im Teich betrachtet hatte, wandte sich um.

«Es ist unangenehmer geworden, als das Politbüro vorausgesehen hat. Die jüngsten Meldungen besagen, dass uns eine regelrechte Boykottwelle droht. An allen Börsen der Welt geben unsere Aktienkurse nach. Wir hatten gedacht, dass wir die Proteste überstehen könnten und der Sturm, der sich zusammenbraute, bald in sich zusammenfallen würde. Die Europäer würden sich eine Weile aufregen und dann – wie immer in Menschenrechtsfragen – aus Angst vor unserer Wirtschaftsmacht einknicken und wieder zur Tagesordnung übergehen.

Aber diesmal haben wir uns geirrt. Die Stimmung kehrt sich mehr und mehr gegen uns – angetrieben von diesem Papst aus Afrika! Laurentius ist der Mann, mit dem wir nicht gerechnet haben. Und erst recht nicht damit, welchen Einfluss er gewinnen würde. Sie wissen, wie seine Vorwürfe lauten – Neokolonialismus, Menschenrechtsverletzungen und Ausbeutung seines Heimatkontinents. Wir würden keine Entwicklungshilfe leisten, sondern seien mitverantwortlich für Hunger und Armut in den Ländern, in denen wir investieren. – Andere Länder, andere Instanzen könnten wir in die Knie zwingen. Aber den Vatikan …»

«Was werden Sie tun?»

«Über eine Milliarde Katholiken weltweit sind nicht zu unterschätzen. Laurentius ist es nicht nur gelungen, mit anderen christlichen Konfessionen, sondern auch mit muslimischen, hinduistischen und jüdischen Religionsführern in dieser Frage eine Allianz zu schmieden. Jetzt werden von Algier bis Kapstadt unsere Botschafter einbestellt und mit Ultimaten konfrontiert. Wir sind völlig davon überrascht worden, dass dem Papst eine solche Mobilisierung gelungen ist. Wenn das so weitergeht, ist in Afrika unser ungehinderter Zugang zu Erdöl, Erdgas, Kupfer, Eisen, Uran und selbst zum Coltan bedroht. Aber auch der Nachschub an Getreide und Früchten von dort für unsere Bevölkerung ist in Frage gestellt. Das ist die rote Linie, Zhao tongzhi.

Unter dem Einfluss der Vatikanpropaganda schließen sich multinationale Konsortien mit staatlichen Beteiligungen gegen uns zusammen. Sie bieten afrikanischen Staaten die Möglichkeit, Kredite, die sie bei uns aufgenommen haben, auf einen Schlag abzulösen. Wir werden sogar aus dem afrikanischen Baugeschäft gedrängt – unser mächtigster Sektor.»

Aus dem Gesicht des Staatschefs war das Lächeln verschwunden. Das war nicht mehr der unangefochtene Staatsmann, der ein Riesenreich führte, dessen Bevölkerung ihm zujubelte und seine Lehrsätze wie ein Glaubensbekenntnis nachbetete. Zhao war ihm im Laufe der vergangenen Jahre immer wieder bei offiziellen Anlässen begegnet – Treffen mit internationalen Wirtschaftsdelegationen, Neueröffnungen von Industriekomplexen, Jahrestagen der Revolution. Aber dies war das erste Mal, dass Chen alt und ratlos auf ihn wirkte.

«Jeder von uns ist ersetzbar – auch ich. Ich wäre nicht der erste ranghohe Politiker in diesem Land, der Selbstkritik üben muss, bevor er ins Lager geht. Unsere Neue Seidenstraße hat ein Investitionsvolumen von dreitausend Milliarden Dollar. China kann es sich nicht leisten, dass dieses größte Projekt seiner Geschichte in Gefahr gerät oder sich auch nur zeitlich verzögert. Sagen Sie mir, welchen Weg wir gehen sollen, um das zu verhindern! Diese Frage im Politbüro zu stellen, würde mein Ende bedeuten … Das ist der Grund, weshalb ich Sie habe kommen lassen. Der Mann in Rom ist ein Stein in meinem Schuh, Zhao tongzhi.»

Ein warmer Windhauch kräuselte die Oberfläche des Wassers. Im Bambus hatte ein Sonnenvogel zu singen begonnen. Zwischen Schilfblättern streckte eine Schlange ihren Kopf hervor und glitt in sanften Bewegungen auf die Fische zu. Die Kois aber verschwanden träge unter Teichrosenblättern und Lotusblüten in der Tiefe. Zhao nickte bedächtig. Hinter dem Generalsekretär sah er den Glücksdrachen und den Phönix.

«Ein Sprichwort sagt: Wenn du einen Gegner nicht besiegen kannst – umarme ihn …»

Drei Jahre später

Kapitel 1 – Der Anruf

Rom, 31. Juli/1. August, Mitternacht

Vincenzo Bariello klopfte an die Tür der Trattoria MANGIA E ZITTO!. Die Jalousien waren bereits heruntergelassen, aber dahinter schimmerte noch Licht. Als sich nichts tat, klopfte er noch einmal. Von drinnen hörte er eine energische Frauenstimme.

«Schon geschlossen!»

«Deshalb komme ich.»

«Verschwinden Sie!»

«Polizia!»

Er hörte Schritte. Jemand zog heftig das Rouleau auseinander. Ein verärgertes Frauengesicht erschien in dem Spalt – und hellte sich im nächsten Moment auf.

«Wenn ich dir noch was gebe, riskiere ich meine Lizenz. Komm rein!»

Eine dunkelhaarige Frau von Anfang vierzig öffnete ihm. Chiara Donato war schon vor Jahren aus dem Mezzogiorno nach Rom gezogen. Sie war es leid gewesen, ihre Kochkünste in einem Restaurant am Campolongo wie Perlen vor die Säue zu werfen. Dort hatte die Kundschaft meist aus mit Goldketten behängten Zuhältern und den betrunkenen Freiern jener Mädchen bestanden, die ohne Papiere aus Afrika gekommen waren und an dem nicht enden wollenden Strand zwischen Salerno und Paestum in ein paar elenden Hütten zur Prostitution gezwungen wurden.

So hatte Chiara zusammengekratzt, was sie besaß, und war in die Metropole am Tiber gezogen. Alles würde besser sein, als länger in ihrer alten Heimat festzuhängen. Während ihrer ersten beiden Jahre in Rom hatte sie an der Piazza di San Egidio in der Hilfsgemeinschaft des gleichnamigen Heiligen für Arme und Obdachlose gekocht, die dort Zuflucht suchten. Ein paar ihrer Gäste aus dieser Zeit hatten ihr die Treue gehalten, als sie in der Via degli Scipioni unweit des Tiber eine neue Wirkungsstätte fand. Das Ehepaar, das dort die Trattoria jahrzehntelang selbst geführt hatte, war alt geworden und froh gewesen, das Lokal jemandem übergeben zu können, der wie sie selbst aus Kampanien kam und auf die gleichen Traditionen in der Küche hielt. Jetzt lebten sie im ersten Stock, während Chiara ihre Wohnung im zweiten hatte und dafür sorgte, dass es ihnen an nichts fehlte.

«Schon Feierabend?»

Während sie einen spöttischen Blick zur alten Standuhr schickte, die gerade zwölf schlug, deutete sie auf einen Tisch, an dem sie die Stühle noch nicht hochgestellt hatte.

«Nun setz dich schon, sbirro!»

Sie ging zur Bar und zog eine Flasche ohne Etikett aus dem Kühlschrank, in der eine blassgrüne Flüssigkeit träge hin- und herschwappte. Davon goss sie einen Fingerbreit in zwei Gläser und zog dann einen Prosecco aus der Kühlung, von dem sie die doppelte Menge einschenkte. Während sie aus dem Eisfach eine Schüssel Zitronengranita angelte und in jedes Glas davon einen Suppenlöffel schaufelte, schaute sie zu ihrem späten Gast hinüber.

«Gesprächig bist du heute nicht.»

«Ich habe bis vor einer halben Stunde einen vollgekoksten Touristen verhört, der seinen Mitbewohner im Hotel aus dem Fenster gestoßen hat. Der eine liegt jetzt mit gebrochenen Beinen im Krankenhaus, und unser Typ hat mich in einem fort zugequatscht … und das bei dieser Hitze. So was schlägt aufs Gemüt.»

Vom Tiber zog schwüle Luft in Schwaden durch die Stadt, und auch der Ventilator in der Trattoria, dessen Flügel sich langsam drehten, brachte keine große Erleichterung.

«Damit krieg ich dich munter. Den Limoncello hab ich selbst gemacht mit Zitronen von der Amalfiküste; und die Schalen hab ich in die Granita reingerieben. Wenn dir das nicht schmeckt, schmeiß ich dich raus.»

Sie ging in die Küche und kam mit zwei Strohhalmen und ein paar Blättern Zitronenmelisse zurück, die sie in die Gläser warf.

«Cin cin!»

«Salute! … Aah! … Das ist das Beste, was mir heute passiert ist.»

Chiara legte den Kopf in den Nacken und drehte ihn langsam hin und her.

«Erzähl mir nichts! Ich war schon um sechs Uhr heute Morgen im Großmarkt und wollte jetzt zusperren. Da kommst du und machst mir Arbeit. Hier, tu was dafür. Ich spüre meine Füße kaum noch.»

Sie streifte die Schuhe ab und legte ihre Beine auf seine Oberschenkel. Folgsam stellte Commissario capo Vincenzo Bariello sein Glas auf den Tisch und begann, die schlanken Füße seiner Gastgeberin zu massieren. Vor Jahren hatte seine Frau sich von ihm scheiden lassen, weil sie die Angst nicht mehr ausgehalten hatte, es könne ihm bei seiner Arbeit etwas zustoßen. Auf ihre Forderung, er solle sich zum Innendienst versetzen lassen, war er nicht eingegangen. Zunächst war es für beide die große Liebe gewesen, als er sie bei Ermittlungen zu einem Raubüberfall auf einen Juwelierladen kennengelernt hatte, bei dem sie angestellt war. Vielleicht wäre alles anders gekommen, wenn sie Kinder bekommen hätten; aber dieser Wunsch war nicht in Erfüllung gegangen. Als ihre Ängste übermächtig wurden und der Streit wegen seines Berufs nicht mehr enden wollte, war sie gegangen. Er war allein geblieben. So genoss er an Abenden wie heute die Besuche bei Chiara. Einer seiner Inspektoren, Salvatore Graziano, hatte ihn im vergangenen Jahr einmal hierhergeführt. Graziano liebte gutes und reichliches Essen – und in beiderlei Hinsicht kam man bei dieser Wirtin nicht zu kurz. Aber wehe dem Gast, der es wagte, irgendetwas zu kritisieren … Die Trattoria trug ihren Namen nicht von ungefähr.

Bariello mochte Chiara, die immer unmissverständlich sagte, was ihr passte und was nicht und was sie wollte. Sie hatte nie den Eindruck aufkommen lassen, als empfände sie vor den Polizisten größeren Respekt als vor ihren anderen Gästen – also gar keinen. Aber wer sie beobachtete, sah, dass sie die Liebenswürdigkeit in Person war, wenn es darum ging, dass sich die Leute in ihrer Trattoria wohlfühlten: Wenn es durch ein Fenster zog, stopfte sie eine Serviette in die Ritze, wenn jemandem die Hände zitterten, schnitt sie ihm das Fleisch und legte ihm einen Löffel zum Besteck, und wenn sie merkte, dass einer heimlich das Geld zählte, ob es für die Bestellung reichte, stand hinterher immer noch ein caffè vor ihm:

«Geht aufs Haus.»

Sie hatte ein Gespür für Menschen – und das war es, was ihr auch an Bariello gefiel, den Verbrechen und Gewalt nicht hatten abstumpfen lassen. So hatten sich seine Besuche im MANGIA E ZITTO! gehäuft, wobei er jene Stunden bevorzugte, in denen dort wenig los war. Das brachte ihm ein paar spitze Bemerkungen seiner Kollegen ein – ob er seine Essenszeiten nach dem Mondkalender wähle? Doch Graziano hatte bald sowohl Ispettore Gaspare Bertani als auch Sovrintendente Gennaro Di Lauro bedeutet, sie sollten ihren Chef nicht allzu sehr damit aufziehen. Er habe das Gefühl, dass Bariello wieder auf dem Weg sei, ein Privatleben zu entwickeln.

Heute aber musste sich Bariello deswegen sowieso keine Sorgen machen: Seine beiden Ispettori waren zu einer Interpol-Tagung nach Mailand gefahren. Immer mehr hochwertiges Kokain gelangte nach Mitteleuropa, ohne dass man die Wege kannte, auf denen der Stoff hereinkam und verbreitet wurde. In der Szene hatte man läuten hören, dass Rom die Drehscheibe für den Vertrieb sei. Jedenfalls würden Bertani und Graziano erst in ein paar Tagen wieder zurück sein, und allein riskierte der junge Di Lauro keine so kesse Lippe.

Der Commissario und der Sovrintendente hatten die letzten Tage ganz gut überstanden, denn abgesehen von dem Verrückten heute Abend hatten sich die Touristen freundlicherweise darauf beschränkt, in der Fontana di Trevi zu baden oder sich vor der besten römischen Eisdiele auf der Piazza Navona zu prügeln. Wenn es dabei etwas heftiger zuging, so war das die Art von Fällen, die Bariello exklusiv Ispettore Achille Rossi übertrug. Der war mit Sicherheit der schönste Polizist Roms, aber mit ebenso großer Sicherheit nicht die hellste Kerze auf der Torte. Lange hatte Bariello gerätselt, wie dieser Mann es hatte beruflich so weit bringen können; dann war er dahintergekommen: Die Frau des Innenministers Santini fand seit vielen Jahren Wohlgefallen an Rossi. Ihre über mütterliche Zuneigung hinausgehende Zärtlichkeit hatte Bariello beizeiten dokumentiert. Dabei beabsichtigte er gar nicht, den beiden damit Probleme zu bereiten. Sprach doch in seinen Augen dieses Steckenpferd sehr für Signora Santini: Ihr Ehemann war früher einer der Krakeeler einer faschistischen Splitterpartei gewesen, und auch in der Zeit seines politischen Aufstiegs war er seiner unappetitlichen Persönlichkeitsentwicklung treu geblieben. Die Ehe war für beide Seiten opportun – aber mehr auch nicht. Dennoch genoss Santini die seltenen Gelegenheiten, wenn seine Frau ihm ihre Gunst bewies; dabei nutzte sie die traute Zweisamkeit, um ihren jungen Freund zu protegieren. Und Bariello passte auf, dass Rossi im Übrigen entsprechend seinen überschaubaren Fähigkeiten eingesetzt wurde – während der Commissario sich selbst mit seinen gelegentlich unkonventionellen Ermittlungsmethoden dank der Dokumentation der Liaison ein wenig sicherer gegenüber dem Innenministerium wusste.

Chiara hatte die Augen geschlossen, während Bariello hingebungsvoll ihre Zehen bearbeitete, deren Nägel rot lackiert waren. In diesem Moment klingelte sein cellulare.

«Mach das aus!»

«Tut mir leid – die Questura!»

Bariello schaute auf das Display, und seine Stirn legte sich in tiefe Falten. Er drückte auf den grünen Knopf.

«Gennaro, wenn du jetzt keinen verdammt guten Grund hast, arbeitest du ab morgen für die Carabinieri!»

«Commissario, bitte entschuldigen Sie, aber wir haben einen Toten an dem Viale Vaticano, kurz vor der Einmündung der Via Nicolò V.»

«Ja, und? Hast du in den letzten Jahren nichts bei mir gelernt? Polizeiarzt, Erkennungsdienst, Spurensicherung.»

«Doch, Commissario, natürlich. Aber als die Meldung eintraf, war der ranghöchste Beamte im Präsidium Ispettore Rossi …»

«Merda! Cazzo!»

«Er will die Leiche freigeben, weil sie keine äußeren Verletzungen zeigt.»

«Ah – und warum machst du dann so einen Aufstand?»

«Der Mann ist erfroren, wenn Sie mich fragen!»

«Was ist der?! Was hast du denn geraucht heute Abend? Wir haben immer noch dreißig Grad!»

«Das ist genau der Grund, weshalb ich Sie anrufe! Hier stimmt überhaupt nichts!»

Bariello fluchte vor sich hin.

«Gib mir Rossi!»

Es dauerte ein paar Sekunden.

«Commissario capo Bariello? Hier Ispettore Rossi, die Sache ist ganz klar …»

«Ispettore – klar ist nur eines: Sie warten mit allen Anordnungen, bis ich am Fundort der Leiche bin. Wehe, es wird in der Zwischenzeit auch nur ein Grashalm verbogen! Ich bin in einer Viertelstunde da. Rufen Sie sofort den Polizeiarzt und …»

«… der hat Urlaub …»

«Dann rufen Sie Dottor Gentile an. Er soll seine ganze Ausrüstung mitbringen.»

«Aber, Commissario capo, es ist nach Mitternacht, und Dottor Gentile ist über sechzig …»

«Dann hilft ihm auch kein Schönheitsschlaf mehr. Rufen Sie ihn sofort an und sagen Sie ihm, dass ich ihn hinzugebeten habe! Nun machen Sie schon!»

Chiara schaute missmutig auf Bariello.

«Was ist?»

«Ich muss los. Man hat einen Toten gefunden.»

«Wirst du jedes Mal gerufen, wenn sie einen finden?»

«Nur wenn er im Juli erfroren ist. Tut mir leid, Chiara, aber …»

«Ich ruf dir ein Taxi.»

*

Die Straßen waren frei, und zwanzig Minuten später traf Bariello am Fundort ein, den die Carabinieri mit Plastikplanen abgehängt hatten. Der Commissario schob sie zur Seite und sah den Toten. Er lag auf dem verdorrten Gras unter einer der Schirmakazien, die dort vor den Mauern der Vatikanstadt wuchsen. Die Fotografen hatten ihre Aufnahmen gemacht und waren dabei, ihre Ausrüstung zusammenzupacken, aber immer noch wurde die Szene von den Jupiterlampen grell ausgeleuchtet. Der Commissario trat an die Leiche heran; das Erste, was ihm auffiel, waren die verzerrten Gesichtszüge, die im Tod erstarrt waren.

«Habt ihr sein Gesicht in Nahaufnahme?»

«Sicher, Commissario – so was sieht man nicht alle Tage.»

Bariello kniete sich neben den Toten. Er trug Arbeitskleidung – doch zu der schienen seine Hände nicht zu passen. Der Polizist streifte sich Latexhandschuhe über. Durch die dünne Schicht spürte er die unheimliche Kälte, die von der Leiche ausging. Er betrachtete ihre Finger genauer – dieser Mann hatte nie körperlich hart gearbeitet. Bariello ließ seinen Blick über Gesicht und Haare wandern. Nichts davon entsprach der Montur, in der der Tote steckte und die an einen Bauarbeiter erinnerte. Als er dessen Hemdkragen zurückschlug, wurde eine Kette sichtbar. Er zog behutsam daran, und ein breites, flaches Kreuz aus Silber kam zum Vorschein, auf dem im Relief die Sterbeszene Jesu auf Golgatha eingearbeitet war: der Erlöser in der Mitte, rechts und links Maria und sein Lieblingsjünger Johannes. Es war ein Kunstwerk, ein Kreuz, wie es … Geistliche trugen, aber nie und nimmer ein Handwerker.

In diesem Moment fuhr Dottor Massimo Gentile vor, der das Labor der Gerichtsmedizin leitete. Er hockte sich neben Bariello, untersuchte den Toten und schüttelte den Kopf.

«Dreißig Jahre mache ich das jetzt schon, aber das hier … Die oberen Hautschichten geben zwar bereits wieder nach, aber der Mann ist steif gefroren. Sovrintendente! Wann kam der Anruf, dass man die Leiche gefunden hat?»

«Vor etwa einer Stunde, Dottore.»

Gentile kramte in seinem Koffer.

«Wir dürfen keine Zeit verlieren. Commissario, helfen Sie mir mal! Wir müssen ihm die Hose ausziehen.»

Bariello fasste mit an und sah, wie der andere eine Weile mit einer Sonde hantierte, bis er sie dort hatte, wo er sie brauchte. Nach zwei Minuten zog er sie aus dem Körper des Toten.

«Das gibt’s nicht.»

«Was meinen Sie?»

Dottor Gentile stemmte sich mit einem kleinen Seufzer hoch, packte seine Instrumente weg und klopfte sich die Knie ab. Dann schaute er den Commissario an.

«Er hat eine Kerntemperatur von minus achtunddreißig Grad. Bringen wir ihn in mein Labor!»

Kapitel 2 – Das Geschenk

Neapel, 1. August, ein Uhr morgens

Sua Eccellenza Reverendissima war glücklich. Soweit der Weihbischof einer der schwierigsten Diözesen Italiens glücklich sein konnte, war der Vescovo ausiliare Gian Carlo Montebello heute glücklich. Während er die Nöte seiner Heimatstadt Neapel sonst nicht zu verdrängen vermochte, hatte sich der Hirte an diesem Tag – diesem einen Tag, der nun zu Ende ging – Urlaub zugestanden von den Sorgen seiner Herde.

In den letzten vierzig Jahren hatten fast dreihunderttausend Menschen der einstigen Millionenstadt den Rücken gekehrt, weil die Metropole Kampaniens kaum jemandem eine erfreuliche Lebensperspektive verhieß. Die angerauchte Schönheit der inneren Stadtbezirke Neapels – der Glanz der Bürgerpaläste, der Regierungsgebäude, Kathedralen und Klöster – verströmte den Charme des Verfalls und ließ die imperiale Grandezza besserer Zeiten noch erahnen. Mochten auch Jahrhunderte seit den großen Tagen der Staufer und Angeviner oder seit der napoleonischen Herrschaft vergangen sein, so konnte dieser Zauber immer noch einem empfänglichen Gemüt für ein paar Urlaubstage ein pittoreskes Bild liebenswerter Dekadenz vorgaukeln. Aber wer jahrein, jahraus hier lebte, der fühlte, wie seine Kraft aufgezehrt und wie er ausgemergelt wurde vom Verkehrslärm eines Molochs, vom Müll, an dessen Beseitigung die städtische Verwaltung scheiterte, von der Korruption und der wuchernden Kriminalität, welche die einen mit verzweifelter Hoffnung, die anderen mit hoffnungsloser Verzweiflung erfüllte – und die dennoch nicht nachließen in ihrem Ringen um ein Leben in Würde und Anstand im ersten Kreis des Infernos.

Heute aber hatte Montebello seinen fünfzigsten Geburtstag in vollen Zügen genossen. Sein Privatsekretär, der spanische Dominikanermönch Padre Luis, hatte ihm gesagt, dass er sich an diesem Tag nichts vornehmen dürfe, und daran hatte er sich auch brav gehalten. Doch als er dann aus der Frühmesse, die er wie stets in der Kapelle des Stadtheiligen San Gennaro gehalten hatte, zu seinen Amtsräumen am Largo Donna Regina gegangen war – gleich um die Ecke des Doms der Santa Maria Assunta –, hatte er nicht schlecht gestaunt, wer ihn dort alles erwartete: Die einzige Frau in dem Kreis der Gratulanten war Dr. Jacqueline Napoletano, seine Bistumsarchivarin. Er hatte sie vor Jahren noch in Rom kennengelernt, wo er als Kirchenhistoriker in der Vatikanischen Bibliothek gearbeitet hatte. Die ebenso kluge wie draufgängerische Dottoressa war damals auf der Suche nach einem Papyrus, der Aufschluss über das Grab der Heiligen Jungfrau[1] verhieß – eine Suche, die sie beinahe das Leben gekostet und die katholische Kirche um Haaresbreite in einen Skandal mit unabsehbaren Folgen hineingerissen hätte. Letzteres hatte er, Montebello, zu verhindern gewusst, doch dass Jackey damals überlebt hatte, verdankte sie einzig ihrem Mann, Savio Napoletano. Zu dieser Zeit hatte er noch für einen Mafiaclan in Rom gearbeitet, sich aber nicht damit abfinden wollen, dass die Amerikanerin ihre wissenschaftliche Neugier mit dem Leben bezahlen sollte. Als die Geschichte überstanden und Montebello zum neuen Weihbischof von Neapel erhoben worden war, hatte er die eine als Archivarin an seine neue Wirkungsstätte mitgenommen, den anderen als seinen Fahrer.

Der Dritte im Bunde war Padre Luis. Ihn persönlich traf damals zwar keine Schuld an dem Skandal um das Grab der Jungfrau, doch sein einstiger Vorgesetzter und Präfekt der Vatikanischen Bibliothek war so tief in die Affäre verstrickt, dass nur die Hilfe Montebellos es verhinderte, dass Padre Luis für den Rest seiner Tage isoliert im Vatikan zurückbleiben musste. Auf diese Weise hatte der neue Weihbischof von Neapel einen menschlich zwar nicht ganz einfachen, doch stets loyalen und, wie sich zeigen sollte, humorvollen und mutigen Privatsekretär gewonnen.

Während Montebello am Morgen seines dies natalis mit diesen dreien wohl gerechnet hatte, war es eine große Überraschung, dass aus Rom der Privatsekretär Seiner Heiligkeit Laurentius, des ersten Papstes aus Afrika seit eintausendfünfhundert Jahren, gekommen war: Monsignor Yoris Lisimba. Der hoch aufgeschossene dunkelhäutige Priester, der die Amtsgeschäfte des Heiligen Vaters koordinierte und mit diplomatischem Geschick dessen Entscheidungen der Weltöffentlichkeit erläuterte, war eine elegante Erscheinung; hinter der Brille mit Goldrand funkelten seine Augen vor Witz und Intellekt. Ihn kannte der Weihbischof ebenso lange wie den römischen Commissario capo Vincenzo Bariello – mehr als fünf Jahre. Bariello hatte als Einziger Montebello nur telefonisch zum Geburtstag gratulieren können, weil er als Chef vom Dienst in der Questura unabkömmlich war. Er hatte ihm damals bei der Aufklärung jener Verbrechen geholfen, die während der Suche nach dem Grab ans Tageslicht gekommen waren. Aber kaum ein Jahr später sollte der frischgebackene Weihbischof von Neapel Bariellos Hilfe neuerlich benötigen, als er und seine Leute an ihrer neuen Wirkungsstätte auf ein Umweltverbrechen größten Ausmaßes aufmerksam geworden waren.[2] Eigentlich waren Montebello, Jackey und Padre Luis damals einer archäologischen Sensation auf der Spur – der Wiederentdeckung der Gebeine Alexanders des Großen –, als sie der Mafia einen Strich durch die Rechnung machten und im Zuge dessen auch noch ein Waffenschmuggel ruchbar wurde, der den Nahen Osten an den Rand einer nuklearen Katastrophe geführt hatte. Die konnte nur durch das Zusammenwirken von Montebello, Bariello und Yoris Lisimba verhindert werden. Wie groß die Wertschätzung war, die Montebello seit diesen Tagen bei Papst Laurentius genoss, ließ heute der Geburtstagsbesuch seines Privatsekretärs erahnen.

Den Kreis der Gratulanten vervollständigten Monsignor Eugenio Silvestri, der kettenrauchende Generalvikar der Diözese Neapel, und der Archäologe Luca Berliner, der für diese Feier eigens aus Deutschland angereist war. Auch sie hatten bei der Suche nach den sterblichen Überresten Alexanders des Großen, die sich für alle Beteiligten lebensgefährlich gestalten sollte, und der Aufklärung des Umweltverbrechens geholfen.

Nun war der Jubeltag zu Ende gegangen, und es war Nacht geworden. In Montebello klangen noch das Lachen und die Glück- und Segenswünsche seiner Besucher nach. Sie hatten ihn heute an die nahe Amalfiküste entführt, deren landschaftliche Schönheit sie ebenso begeistert hatte wie ihr kultureller Reichtum. Die letzten Gäste waren vor ein paar Minuten gegangen; es war bald zwei Uhr morgens.

Während Montebello im Wohnzimmer die leeren Gläser auf ein Tablett stellte, fiel sein Blick auf das Geburtstagsgeschenk, das er bekommen hatte – eine wunderbar restaurierte lateinische Ausgabe der mittelalterlichen Legenda Aurea des Jacobus de Voragine. Padre Luis hatte über das ganze Gesicht gestrahlt, als Montebello ihm auf den Kopf zusagte, dass hinter diesem Geschenk nur er, sein eigener Privatsekretär, stecken könne – war doch der Verfasser des Werkes ebenso wie Padre Luis Dominikaner, auch wenn jener sein Opus bereits im dreizehnten Jahrhundert geschrieben hatte. Die Gäste des Weihbischofs, die sich alle an dem Donativ beteiligt hatten, stimmten mit Padre Luis darin überein, dass die in der Legenda Aurea zusammengetragenen Helden-, Lebens- und Leidensgeschichten der Heiligen ein würdiges Geschenk für einen Kirchenmann seien.

Wäre nicht schon die Gabe für sich genommen wertvoll genug gewesen, so wies sie darüber hinaus noch eine Besonderheit auf: Das Kapitel De sancto Petro apostolo enthielt vier Blätter, die offenbar deutlich älter waren als die gedruckte Ausgabe selbst. Ein unbekannter Buchbinder hatte der Lebensgeschichte des heiligen Apostels Petrus vier Zeichnungen beigebunden. Irgendwann musste einem späteren Besitzer des Bandes dieser Umstand aufgefallen sein, und er hatte auf dem Vorsatzpapier, das in den hinteren Buchdeckel eingeklebt war, mit spitzem Bleistift gut leserlich auf Deutsch notiert: Der Vita des heiligen Petrus wurden in dieser Ausgabe vier Vorzeichnungen mittelalterlicher Buchmalereien von geringer Qualität beigefügt. Sie zeigen Tiere und Architekturelemente. Der Illustrator ist nicht bekannt. Ebenso unklar ist die Bedeutung der einzelnen Buchstaben an den Rändern der kuriosen Blätter – B/L/I/F. Die Reihung der Seiten folgt keiner erkennbaren Ordnung.

Montebello trug die Gläser hinaus, wusch sich die Hände und nahm das Geschenk noch einmal zur Hand, um die seltsamen Seiten zu betrachten. Sie reizten den Bibliothekar in ihm. Hatte er sich doch während der zehn Jahre, die er in der Biblioteca Apostolica Vaticana gearbeitet hatte, oft mit Handschriftenfragen auseinandersetzen müssen. Aber bereits am Nachmittag war er im Gespräch mit Padre Luis zu dem Ergebnis gelangt, dass Sinn und Zweck dieser Zeichnungen wohl tatsächlich nicht mehr zu ergründen sein würden. Auch der Padre verstand viel von diesen Dingen, denn vor seiner Zeit in der Vaticana hatte er in dem spanischen Dominikanerkonvent San Pablo y San Gregorio in Valladolid ebenfalls einige Jahre in einer Bibliothek gearbeitet. Dennoch blätterte Montebello nun in der Stille der Nacht noch einmal mit Neugier und Wohlgefallen die ungewöhnlichen Seiten auf.

Alle Bilder waren als Strichzeichnungen ausgeführt. Auf einem war eine Mauer zu sehen, die mit einem Rötelstift schraffiert worden zu sein schien. Vor der Mauer befand sich etwas, das ein wenig an ein Tempelchen erinnerte – die Römer hatten so etwas «Aedicula» genannt. Links davon konnte Montebello einen Vogel, wohl eine Taube, erkennen; ihr Gesicht wirkte verschattet. Unterhalb von ihr, fast schon am Rand des Blattes, wies ein kleiner Pfeil nach unten ins Leere. An der Oberkante der Seite stand ein B.

Das zweite Blatt zierte ein Hahn im Profil, dessen Krallen sich um das stumpfe Ende eines Pfeils schlossen, der ebenfalls nach unten zeigte, während links davon wiederum eine Taube zu sehen war. Diesmal war die Seite mit dem Buchstaben L bekrönt.

Die nächste Zeichnung zeigte einen skizzenhaft angedeuteten Felsen. Auch auf diesem Bild war eine Taube zu sehen, doch diesmal befand sie sich nicht neben dem anderen Motiv, sondern darunter. Auch schien sie in einem Gewölbe zu stehen und hatte die Augen geschlossen. Auf diesem Blatt fehlte der Pfeil, aber wieder gab es am oberen Rand einen Buchstaben, und zwar ein I.

Die vierte und letzte Bildseite in dem Buch zeigte einen Fisch, links neben ihm auch diesmal eine Taube und darunter abermals ein kleiner Pfeil. Der Buchstabe am oberen Blattrand war ein F.

Montebello lehnte sich zurück und schloss die Augen. In einer Geschichte des heiligen Petrus war ein Hahn kein überraschendes Motiv. Den brachte man mit Petrus in Verbindung, weil alle vier Evangelisten überlieferten, dass jener geleugnet habe, zu Jesus zu gehören, als man den Erlöser festgenommen und zum Verhör vor den Hohepriester geführt hatte. Unmittelbar nach dieser Lüge hatte der Hahn gekräht, so wie Jesus es dem Petrus geweissagt hatte. Daher bildete der Hahn zu allen Zeiten einen festen Bestandteil der Bildsymbolik für Petrus. Doch was hatte der Zeichner wohl mit dem Tempelchen und der Taube gemeint?

Ebenso eindeutig wie der Hahn war die Bedeutung des Felsens auf dem anderen Blatt, denn als solchen hatte Jesus, wie der Evangelist Matthäus überlieferte, Petrus bezeichnet: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen, und die Pforten der Unterwelt sollen sie nicht überwältigen.

Der Fisch wiederum war ein bedeutendes Bildsymbol der frühen Christenheit. Es konnte für Jesus selbst stehen – war doch das griechische Wort für Fisch Ichthys: Als die Christen in den ersten Jahrhunderten nach Jesu Tod – einer Zeit immer wiederkehrender Verfolgungen – häufig gezwungen waren, sich zu verbergen, hatten sie kryptische Zeichen entwickelt, die nur Glaubensbrüder verstanden und an denen sie einander erkennen konnten. Der Ichthys eignete sich dafür besonders gut. Er war schon fast so etwas wie ein bildliches Glaubensbekenntnis, weil man seine einzelnen Buchstaben als Akronym lesen konnte – dann ergaben sie, alsAbkürzungen betrachtet, einen ganz besonderen Sinn: I stand für Iesus/Ch (Chi) für Christos/TH (Theta) für Theou/das behauchte Y für Hyios/S für Soter. Was nacheinander gelesen so viel bedeutete wie: Jesus Christus Gottes Sohn Retter. Aber im Zusammenhang der Petrus-Geschichte, in die der Fisch hier eingebunden war, konnte er auch nur mit Blick auf den Apostel gedeutet werden – war doch Petrus, bevor er sich Jesus anschloss, Fischer in Galiläa gewesen. Damals hieß er noch Simon, und die Evangelisten Lukas und Johannes erzählten Geschichten von seinen Fischzügen. In Verbindung mit den anderen Bildern, die in Montebellos Geschenk erhalten geblieben waren, galt diese Fischzeichnung also ganz sicher Petrus, dem Jünger Jesu, und nicht dem HERRN selbst.

Die seltsame Taube, die auf allen vier Blättern zu sehen war, hätte Montebello gar zu gern als Symbol des Heiligen Geistes gedeutet, wie er sich bei der Taufe Jesu im Jordan gezeigt hatte. Aber dann hätte die Taube bestimmt nicht zusammen mit dem Hahn abgebildet werden dürfen, der für den Verrat des Petrus an Jesus stand – und damit ganz sicher keine Eingebung des Heiligen Geistes war. So blieb das Taubenmotiv ein Rätsel, und nicht anders verhielt es sich mit den Pfeilen, die auf dreien der vier Bilder zu sehen waren, und auch mit den Buchstaben an den Oberkanten aller vier Seiten.

Montebello gähnte. Er hatte ein wunderbares Geschenk erhalten, doch falls er jemals hinter die volle Bedeutung der mittelalterlichen Zeichnungen und ihres möglicherweise bestehenden Zusammenhangs kommen sollte, dann ganz sicher nicht mehr in dieser Nacht.

Als er wenig später die Nachttischlampe ausknipste, vermischten sich Bilder und Buchstaben in einem sanften Strudel, der ihn langsam auf die Seite des Schlafes hinüberzog: Tempelchen und Taube, Fisch und Pfeile, Hahn und Fels und F und L und B und I … oder F und I und B und L … oder? Wie war die Reihenfolge? Das konnte bis morgen warten … oder?! Irgendetwas rief in seinem Kopf ein Echo hervor, wenn er an diese Buchstaben am Rand der Bildseiten dachte. Die Sache ließ ihm keine Ruhe. Mit einem leisen Seufzer schwang er sich noch einmal aus dem Bett, tappte barfuß ins Wohnzimmer, trug das Buch zu seinem Schreibtisch und drehte die helle Arbeitsleuchte an, um die Buchstaben auf den alten Seiten genauer zu betrachten. B, L, I, F. Aber – war das da wirklich ein I? Er zog eine Lupe aus der Schublade und betrachtete den Buchstaben in der Vergrößerung. Nein! Der Eintrag auf dem Vorsatzpapier seiner Ausgabe war falsch! Jetzt – im hellen Licht der Lampe und mit der Lupe – erkannte er auf der Bildseite mit dem Felsen kein I mehr. Die untere waagerechte Haste war dafür viel zu lang! Das war … Er blätterte noch einmal zurück zu dem Bild mit dem Hahn und dem Buchstaben L. Nun war er sich sicher: Auch auf dem Bild mit dem Felsen war der Buchstabe ein L, dessen aufsteigende rechte Haste im Laufe der Jahrhunderte ausgebrochen und bis zur Unkenntlichkeit verblasst war. Also L und L und F und B. Und wenn man die Reihenfolge vertauschte? … Dann ging auch … FLBL … Irgendwoher kannte Montebello diese Buchstabenfolge … er hatte sie schon mal gesehen … sie war nicht trivial – da war er sich ganz sicher. Es war lange her – vielleicht in einem der alten Buchkataloge in der Vatikanischen Bibliothek? … FLBL … FLBL … FLBL …

«FLAVIUS BLONDUS!»

Er hatte diesen Namen so laut ausgerufen, dass er selbst zusammenfuhr. Das Fenster seines Arbeitszimmers stand in dieser warmen Julinacht offen; wahrscheinlich hatte die halbe Straße ihn gehört. Hoffentlich hatte er niemanden im Haus geweckt? Er lauschte in die Nacht, aber nichts rührte sich. Sicherheitshalber schloss er trotzdem das Fenster.

Nun war er hellwach. Wenn das stimmte! Dann waren diese mittelalterlichen Zeichnungen wirklich etwas ganz und gar Besonderes: Flavius Blondus war eine der herausragenden Gestalten der spätmittelalterlichen Kirchen- und Geistesgeschichte. Er hatte es in der ersten Hälfte des fünfzehnten Jahrhunderts unter Papst Eugen IV. bis zum Kanzleisekretär gebracht und in dieser Funktion bis zu seinem Tod 1463 auch noch dessen Nachfolgern gedient. Mit seinen Arbeiten auf dem Gebiet der archäologischen Erforschung Italiens und insbesondere Roms hatte er Maßstäbe gesetzt. Zwar wäre er als Mann des Wortes und der Schrift nie auf die Idee gekommen, selbst den Spaten anzusetzen, um etwas auszugraben. Aber sein profundes literarisches Wissen um die Monumente des Altertums und seine Kenntnisse, die er auf ausgiebigen Reisen durch die achtzehn Provinzen Italiens erworben hatte, hatten Eingang gefunden in seine großen Darstellungen Roma instaurata und Italia illustrata. Dabei handelt es sich um Werke, die für die damalige Zeit bahnbrechend waren. Flavius Blondus war unbestreitbar die Autorität seiner Epoche für archäologische Stätten des römischen Altertums.

Ein Mann wie Flavius Blondus hätte niemals solche Zeichnungen nur zum Zeitvertreib angefertigt und verrätselt. Sie mussten einen tieferen Sinn haben. Und auf jeden Fall standen diese vier Blätter in einem Zusammenhang, sonst hätte Flavius Blondus sie nicht durch seine Initialen gekennzeichnet, deren einzelne Buchstaben in ihrer Gesamtheit das kleine Konvolut wie ein geistiges Siegel zusammenhielten. Mit den Pfeilen dürften die Buchstaben die Reihenfolge ergeben, in denen die Blätter zu betrachten waren.

Es musste eine Ordnung geben … Die einzige Zeichnung, die keinen Pfeil zeigte und somit auf kein weiteres Bild verwies, war jene mit dem Felsen und darunter der Taube im Gewölbe. Dieses Blatt trug den Buchstaben L. In der Abfolge der Initialen – FLBL – konnte diese Zeichnung daher nur als vierte und letzte stehen. Das F von Flavius musste hingegen ganz am Anfang stehen: Es fand sich auf dem Bild mit Fisch und Taube. Nun das andere L – es erschien in Verbindung mit Hahn und Taube. Der letzte Buchstabe, der jetzt noch fehlte, war der dritte … das noch verbliebene B über der rötlich gezeichneten Mauer, der Aedicula und der Taube.

Fisch – Hahn – Aedicula – Felsen. Welche Geschichte verbarg sich dahinter? Auch wenn er ihren Sinn heute Nacht nicht mehr ergründen würde, war Montebello doch sehr zufrieden mit sich! Die anderen würden staunen, wenn er ihnen morgen beim Frühstück erzählen könnte, was er über ihr Geschenk herausgefunden hatte. Mit einem Lächeln strich Montebello sacht über die kleine Kostbarkeit – so wie früher manches Mal, als er noch als Bibliothekar der Vaticana einen ihrer zahllosen Bücherschätze in Händen gehalten hatte. Dann fielen ihm die Augen zu, und er schlief am Schreibtisch ein.

Neapel, 1. August, acht Uhr morgens

Die ganze Geburtstagsgesellschaft vom Vortag hatte sich zum Frühstück in der Caffetteria Cardinale in der Via Duomo gleich neben der Kathedrale verabredet. Der Inhaber war Sizilianer und servierte nicht nur einen exzellenten caffè, sondern auch wunderbare Cannoli – je nach Gusto mit Ricotta- oder Vanillefüllung, aber auch in einer herben Variante mit Kakao und Schokoladenstückchen, die Sua Eccellenza Reverendissima ganz besonders liebte. Montebello gestand sich normalerweise bei seinen Besuchen dort nur noch ein Röllchen zu; in Rom hatte er geradezu asketisch gelebt – umso deutlicher erkannte er beim Blick in den Spiegel, dass er nach der Rückkehr in seine alte Heimat selbst erste Züge des neapolitanischen Barock angenommen hatte. Aber heute Vormittag wollte er es sich ebenso wie alle seine Gäste noch einmal richtig gut gehen lassen.

Die anderen staunten nicht wenig, als der Weihbischof, nachdem er sich gründlich die Hände abgewischt hatte, auf einmal sein Geburtstagsgeschenk aus einer Aktentasche zog. Mit ein paar Sätzen erklärte er ihnen, was er noch spät in der vergangenen Nacht herausgefunden hatte. Er hatte sogar die Lupe mitgebracht, damit sich alle von der Richtigkeit seiner Beobachtung überzeugen konnten. Sie freuten sich, dass das Buch mit einem Mal zu einer kleinen kulturgeschichtlichen Kostbarkeit avanciert war und sie somit ihrem Weihbischof wirklich etwas ganz Außergewöhnliches verehrt hatten. Etwas, dessen Besonderheit allen seinen Vorbesitzern einschließlich des Antiquars entgangen war, bei dem Padre Luis es erstanden hatte.

Der Archäologe Luca Berliner hatte sich in die Bildseite mit dem Tempelchen vor der Mauer vertieft.

«Wissen Sie, woran mich das hier erinnert? Im Rahmen meines Studiums habe ich mich ein paar Semester auch mit Christlicher Archäologie befasst, und … irgendwie sieht diese Zeichnung aus wie die berühmte rote Mauer mit dem Grabmal des Petrus davor.»

«WAS?!»

Montebello zog das Buch zu sich herüber. Er war während seiner Jahre in Rom ein-, zweimal in die Nekropole unter dem Petersdom hinabgestiegen und hatte an dieser Stelle gestanden. In Gedanken verglich er die Strichzeichnung mit dem, was er einst gesehen hatte … Konnte das tatsächlich sein …?

«Vielleicht … Die Pläne und Aufrisse müssten auf der betreffenden Website des Vatikans zu finden sein … Hat jemand …?»

Berliner zog sein Smartphone heraus, und eine Minute später starrten alle auf die Bilder, die er eines nach dem andern über das kleine Display zog. Montebellos Mund war trocken, als er wieder sprach.

«Ein bisschen sieht es tatsächlich so aus, aber … natürlich ist die Zeichnung von Flavius Blondus nur eine ganz grobe Skizze … Ich finde, das geht nun doch etwas zu weit …»

«Bitte, Eccellenza, geben Sie mir noch einmal die Lupe!»

Jackey hatte sich über die Seite gebeugt, auf der die Taube mit dem verschatteten Gesicht neben der Aedicula zu sehen war.

«Sie weint.»

«Wie bitte?»

«Die Taube – sie weint! Jetzt mit der Lupe kann man erkennen, dass ihr Gesicht nicht einfach nur dunkler ist als auf den anderen Bildern. Wenn man genau hinschaut, erkennt man, dass sich das ganze Grau aus zahllosen winzig kleinen Tränentröpfchen zusammensetzt.»

Jackey reichte die Lupe an Padre Luis weiter, der eingehend das Bild studierte. Kurz darauf schob er Buch und Vergrößerungsglas zu Yoris Lisimba hinüber.

«Dottoressa Jackey hat recht. Die Taube weint. Ihr Gesicht ist sozusagen von Tränen überströmt.»

Der Privatsekretär Seiner Heiligkeit nickte.

«Weint also die Taube am Grab des Petrus?»

Savio Napoletano hatte dem Gesprächsgegenstand eher mäßiges Interesse entgegengebracht, sich das aber in diesem hochgestimmten Kreis nicht anmerken lassen.

«Also, wenn ich das richtig verstehe, dann stehen der Fisch, der Hahn und der Fels alle für den Apostel Petrus. Wofür steht denn dann die Taube, Jackey?»

Die Archivarin strahlte ihren Mann an. Das war die schönste Steilvorlage, die er ihr hatte geben können. Jackey war gleichfalls Altertumswissenschaftlerin und hatte, bevor sie nach Europa gekommen war, als Papyrologin in Berkeley gearbeitet.

«Eine gute Frage, Savio! Die ältesten Darstellungen von Tauben stammen aus dem Mittleren Osten, und zwar bereits aus der Zeit des vierten Jahrtausends vor Christus. Tauben wurden damals in Verbindung mit der altorientalischen Liebesgöttin Ischtar gebracht, später dann mit der griechischen Liebesgöttin Aphrodite. Im Alten Testament wiederum lässt Noah von der Arche aus eine Taube fliegen, die nach drei Tagen mit dem Ölzweig zurückkehrt, der bedeutet, dass es irgendwo wieder trockenes Land geben muss, nachdem Gott die Sintflut geschickt hatte, um die Menschheit zu vernichten; in dem Fall ist die Taube also eine Friedensbotin zwischen Gott und den Menschen. Bei der Taufe Jesu im Jordan kommt eine Taube aus dem Himmel herab, die wiederum die Nähe Gottes zu seinem Sohn und den Menschen zum Ausdruck bringt. Bei den Römern steht sie oft symbolisch für Liebe und Treue zwischen Eheleuten, aber auch für die Trauer.»

Savio hatte aufmerksam zugehört.

«Na, dann ist doch alles klar. Auf dem einen Bild weint also in Wirklichkeit nicht die Taube, sondern die Ehefrau um ihren toten Petrus an dessen Grab, und da auf dem anderen Bild, unter dem Felsen, wo sie die Augen zuhat und in dem Gewölbe steckt, ist sie selbst offenbar ebenfalls tot und begraben.»

Schweigen. Niemand sagte ein Wort.

«Hab ich was Dummes …?»

Der Archäologe Luca Berliner schüttelte den Kopf.

«Nein, Savio. Du hast ganz konsequent und logisch deine Schlüsse gezogen. Aber die Konsequenzen deiner Schlüsse … Wenn das Gewölbe mit der toten Taube unter dem Felsen dargestellt ist – und wenn das hier mehr ist als reine Kritzelei, und ganz so sieht es aus –, dann heißt das, dass mit Flavius Blondus einer der größten Gelehrten seiner Zeit angenommen hat, dass die Frau des Petrus unter dem Grab des Apostelfürsten beigesetzt wurde.»

In der nächsten Sekunde redeten alle wild durcheinander. Der Besitzer der Caffetteria kam an den Tisch und fragte besorgt, ob irgendetwas mit den Cannoli nicht in Ordnung gewesen sei.

«Bitte, Ruhe, bitte! BITTE!»

Dass der so distinguierte Monsignor Yoris Lisimba nicht nur die Hände, sondern sogar die Stimme erhoben hatte, verfehlte nicht seine Wirkung.

«Danke! Das sind bis jetzt alles nur Spekulationen. Wir sollten … wir müssen über dies hier Stillschweigen bewahren! Wir haben ein paar seltsame Zeichnungen – mehr nicht! Und wir wissen nicht, was sie bedeuten … noch nicht. Sind wir uns so weit einig? – Gut! Was wir gerade besprechen, bleibt in diesem Kreis! Kein Wort zu Außenstehenden!»

Alle nickten, nur auf Savios Gesicht malte sich Unverständnis.

«Warum so geheimnisvoll? Sie scheinen alle zu verstehen, was das zu bedeuten hat. Aber mir ist nicht klar, wo das Problem liegt.»

Montebello beugte sich vor und senkte die Stimme.

«Savio, wenn an dem, was Sie gefolgert haben, etwas dran ist, dann wäre die Folge ein Erdbeben im Vatikan. Wenn der Zeichner dieser Bilder die Realität skizziert hat, wenn er das, was er festgehalten, gar selbst gesehen hat, dann … Es würde heißen, dass Simon Petrus – das erste Oberhaupt unserer Kirche – mit seiner Frau nach Rom gekommen ist und dass sie bis zum Tod an seiner Seite war. Und wenn sie tatsächlich dort unten bestattet worden ist, noch dazu unter seinem Grab, dann bilden eben nicht länger nur die Gebeine des Apostelfürsten die Fundamente des Petersdoms – und, wenn Sie so wollen: die Fundamente unserer ganzen Kirche –, sondern eben auch die seiner Frau. Wenn das aber stimmt, dann gerät die kirchliche Dogmatik im Hinblick auf die Stellung der Frauen in der Kirche vollends ins Wanken: Bis jetzt heißt es immer, das Priesteramt sei unvereinbar mit der Ehe. Aber was wir hier sehen, bedeutet, dass der erste Papst und oberste Priester der Christen als verheirateter Mann in Rom gelebt hat; er starb zugleich als Ehemann und als Stellvertreter Christi und hinterließ eine Witwe! Damit wäre der Zölibat erwiesenermaßen nur eine … Bizarrheit der Kirchengeschichte bis in unsere Tage und würde sofort Makulatur.»

Yoris Lisimba nickte.

«Aber auch die fortgesetzte Weigerung, Frauen zum Priesteramt zuzulassen, die demnach in Gestalt der Frau des Petrus das tiefste Fundament unseres Doms bilden – und dementsprechend auch unserer Kirche –, würde mit diesem Befund einen schweren Schlag erhalten. Wenn das stimmen sollte und der Vatikan trotzdem weiterhin auf seiner Position beharrte, würde er wahrscheinlich auch noch die letzten Frauen aus der katholischen Kirche treiben. Sie verstehen: Allein schon die Symbolik dieses Grabes unter dem Petersdom würde unvorstellbare Zentrifugalkräfte in der Kirche freisetzen.»

Savio stieß einen leisen Pfiff aus. Padre Luis legte die Hände ineinander.

«Monsignore, Eccellenza – ich, äh … ich denke, wir sollten Stillschweigen bewahren … unbedingt … aber, ja nun, … wir sollten auch nachsehen.»

Lisimba massierte seine Stirn. Was würde Seine Heiligkeit zu alldem sagen? Der Papst hatte ihn nach Neapel entsandt, damit er dem Mann, der die Kirche zweimal aus schwersten Turbulenzen herausgehalten hatte, seinen brüderlichen Segen überbrachte. Sollte derselbe Mann schlimmste Gefahren nur deshalb überstanden und abgewendet haben, um in naher Zukunft die Kirche vielleicht in ihre schwerste Zerreißprobe zu stürzen? Was könnte dagegen helfen? Ein Schweigegebot? Montebello, Padre Luis und Eugenio Silvestri, den Generalvikar, könnte man wohl durch solch eine kirchenrechtliche Maßnahme dazu verpflichten, sich über dieses Thema nicht zu äußern. Er war sicher, sie würden sich daran halten. Aber die anderen hier am Tisch …? Und – war das Anliegen, das im Raum stand, nicht auch völlig berechtigt? Hatten nicht über zweitausend Jahre Machtinteressen, Unduldsamkeit und Engstirnigkeit die Entwicklung der Kirche behindert – und taten das reaktionäre Kreise der Kurie nicht bis auf den heutigen Tag? Lisimba spürte, dass alle auf ein Wort von ihm warteten. Er schaute Montebello an.

«Mein lieber Bruder, halten Sie im Moment unaufschiebbare Verpflichtungen in Neapel fest, oder könnten Sie sich für ein paar Tage hier freimachen?»

Generalvikar Eugenio Silvestri räusperte sich. Er hatte durchschaut, worauf die Frage des Privatsekretärs von Papst Laurentius zielte.

«Monsignore, wenn ich auf Ihre Frage antworten darf: Im Augenblick ist es ziemlich ruhig in der Verwaltung unserer Diözese. So könnte ich ohne weiteres für ein, zwei Wochen Sua Eccellenza vertreten, wenn Sie ihn in Rom brauchen sollten.»

Lisimba atmete tief durch.

«Wenn das so ist, schlage ich vor, dass Sie, Eccellenza, zusammen mit Padre Luis, Dottoressa Napoletano und Ihnen, Signor Napoletano, mit mir nach Rom kommen. Selbstverständlich sind auch Sie, Dottor Berliner, Gast des Vatikans. Sie alle können im Vatikanischen Gästehaus unterkommen – die Domus Sanctae Marthae ist seit Anfang des Jahres von Grund auf renoviert worden; ein seltener Zufall, dass da etwas frei ist. Es riecht noch nach Mörtel und frischer Wandfarbe; daher wurden die Räume bis jetzt noch nicht wieder vergeben. Sie sind Gäste Seiner Heiligkeit. Aber – das müssen Sie verstehen – nur Seine Heiligkeit kann in dieser Sache befinden, und Sie alle müssen mir versprechen, dass Sie sein Wort als letztverbindliche Entscheidung akzeptieren! Bis dahin gilt auf jeden Fall: absolutes Stillschweigen gegenüber Dritten! Kann ich mich darauf verlassen?»

Montebello war zu dem gemeinsamen Frühstück gekommen, um die anderen mit einer kleinen kulturgeschichtlichen Überraschung zu erfreuen. Jetzt fühlte er sich von den Konsequenzen seiner Entdeckung überwältigt, die ihm bis heute Morgen doch nur als ein wundersamer Zufall der Überlieferung von Interesse erschienen war. Er schaute ein wenig eingeschüchtert von einem zum anderen.

«Ja, wenn Sie meinen, Monsignore … dann … natürlich.»

Lisimba hatte sich wieder gefangen.

«Gut! Signor Napoletano, Sie sind der Fahrer von Sua Eccellenza. Ich schlage vor, Sie besorgen ein entsprechendes Fahrzeug, und wir alle treffen uns um zwölf Uhr vor dem Generalvikariat.»

Fußnoten

1 Nachzulesen in: Das Grab der Jungfrau (2020)

2 Nachzulesen in: Hochamt in Neapel (2022)

Kapitel 3 – Papageno

Rom, 1. August, vormittags

Die Ergebnisse der feingeweblichen Pathologie standen noch aus. Aber die Untersuchung des Toten im Labor von Dottor Gentile hatte, was die Todesursache betraf, keine neuen Erkenntnisse gebracht: Der Mann war erfroren und zeigte im Körperinnern eine Temperatur, die man eher bei einer Leiche aus der Permafrostzone erwartet hätte, aber ganz gewiss nicht an einem Hochsommertag in Rom. Da Bariello sicher war, dass der Tote nie und nimmer ein Arbeiter war, und weil man ihn gleich hinter den Mauern des Vatikans gefunden hatte, rief er beim Corpo della Gendarmeria dello Stato della Città del Vaticano an, der Vatikanischen Polizei, um zu erfahren, ob jemand auf dem Territorium des Vatikans vermisst gemeldet war. Tatsächlich hatte sich das Redaktionssekretariat des Osservatore Romano, des offiziellen Presseorgans des Vatikanstaats, gestern bei den Behörden gemeldet und angezeigt, dass der stellvertretende Chefredakteur Monsignor Paolo Veneziano seit zwei Tagen nicht zum Dienst erschienen und auch nicht zu Hause zu erreichen sei. Ob er wohl einen Unfall gehabt habe? Die Gendarmeria wusste nichts davon und teilte auch die Beunruhigung nicht; sie wollte vor dem heutigen Abend auch nicht an die Öffentlichkeit gehen, um keine Gerüchte aufkommen zu lassen. Nachdem man ergebnislos die Krankenhäuser Roms abtelefoniert hatte, entschied der Vice Ispettore Generale Giulio Santoro, es könne – auch wenn es ganz unwahrscheinlich sei, dass dabei etwas herauskäme – nichts schaden, wenn man mal einen Blick auf die Leiche werfen würde, die die Kollegen in der letzten Nacht gefunden hatten.

So erschien er um elf Uhr in Begleitung des Leiters der Druckerei des Osservatore, der den Toten identifizierte. Trotz der verzerrten Gesichtszüge, die vermuten ließen, der Mann habe entweder schreckliche Schmerzen gehabt oder im Moment des Todes etwas Furchtbares gesehen, hatte der Kollege ihn sofort erkannt. Allerdings waren ihre Kontakte ganz auf geschäftliche Angelegenheiten beschränkt geblieben. So konnte er im Übrigen keinerlei Angaben zu dessen Privatleben machen oder sonst irgendeine Information liefern, die Aufschluss über das Schicksal Monsignor Venezianos geboten hätte. Immerhin empfahl er, sich mit dem Chefredakteur der Zeitung Dottor Alessio Spaziani in Verbindung zu setzen. Eine Stunde später saßen der Vice Ispettore der Gendarmerie und Bariello im Büro von Signor Spaziani, der sichtlich erschüttert war über das Schicksal seines engsten Mitarbeiters.

«Sie sehen mich fassungslos. Vor drei Tagen noch habe ich mit Paolo – mit Monsignor Veneziano – über die Weiterentwicklung des Osservatore gesprochen. Er war munter und optimistisch wie eh und je. Wir hatten uns überlegt, ob wir einzelne Artikel kommender Nummern über eine App im Voraus zugänglich machen sollten, um neue Leser für unsere Zeitung zu interessieren … Aber bitte verzeihen Sie! Das ist völlig uninteressant für Sie. Ich weiß einfach nicht, wie ich Ihnen helfen kann … ich verstehe das alles nicht.»

Bariello beugte sich vor.

«Dottor Spaziani, wir haben Ihren Mitarbeiter vor den Mauern des Vatikans gefunden. Er ist, nach allem, was wir wissen, erfroren.»

«ERFROREN?! IM JULI?»