Hochamt in Neapel - Stefan Lahr - E-Book

Hochamt in Neapel E-Book

Stefan Lahr

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  • Herausgeber: C. H. Beck
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Während in den Armenvierteln von Neapel ein stiller Tod seine unschuldigen Opfer sucht, geschehen in Rom brutale Morde. Der römische Comissario Bariello muss feststellen, dass er gegen die Verantwortlichen und ihre Netzwerke kaum ankommt. Erst als er dem neapolitanischen Weihbischof Montebello begegnet, der einer archäologischen Sensation und einem kirchengeschichtlichen Skandal auf der Spur ist, lichtet sich der Nebel. Doch je klarer sie beide sehen, umso apokalyptischer erscheint das Ausmaß der Bedrohung.

Ein tödlicher Verkehrsunfall in Rom ruft Commissario Bariello auf den Plan, und ein geheimnisvoller Brief im Bistumsarchiv von Neapel lässt Weihbischof Montebello eine archäologische Sensation und einen kirchlichen Skandal erahnen. Die Spuren, die sie verfolgen, führen sie auf die dunkelsten Seiten Italiens. Sie müssen erkennen, dass sie die Interessen ebenso mächtiger wie skrupelloser Kreise gewaltig stören.
Als sich ihre Wege kreuzen und sie zusammenarbeiten, stoßen sie auf eine Verschwörung aus Camorra, Kirche und Kapital. Die meisten Opfer finden sich in den Armenvierteln Neapels, wo in unmittelbarer Nähe zu Kunst, Schönheit und tiefer Frömmigkeit brutale Verbrechen geschehen. Doch dann erkennen Bariello und Montebello, dass die wahre Apokalypse erst noch bevorsteht. So beginnt, noch ehe die Neapolitaner das Blutwunder ihres Stadtheiligen San Gennaro erflehen können, das Blut ganz anderer zu fließen.

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Stefan von der Lahr

Hochamt in Neapel

Kriminalroman

C.H.Beck

Über das Buch

In Rom stirbt ein kleiner Zollbeamter bei einem mysteriösen Autounfall. Die Ermittlungen von Commissario Bariello führen nach Neapel. Dort ist ein seit Jahrhunderten verschollener Brief aufgetaucht, der Weihbischof Montebello auf die Spur einer archäologischen Sensation bringt. Als sich die Wege der beiden Männer kreuzen und sie beginnen, gemeinsam zu ermitteln, erkennen sie, dass ihre Untersuchungen eine unheilige Allianz aus Kirche, Camorra und Kapital gewaltig stören.

Sie stoßen auf ein Umweltverbrechen, das am Golf von Neapel immer mehr Todesopfer fordert. Dahinter steckt der russische Oligarch Wladimir Pudanitschow, der wegen moralischer Verfehlungen seine Heimat hat verlassen müssen und gemeinsam mit Geheimdiensten, neapolitanischen Kirchenmännern und dem organisierten Verbrechen ein ebenso florierendes wie mörderisches Geschäft mit medizintechnischem Schrott und radioaktivem Müll betreibt. Aber Pudanitschow will mehr: Er wird, um eine ehrenvolle Rückkehr nach Russland zu bewirken, zur Hauptfigur eines internationalen Komplotts. Und mit einem Mal stehen Bariello und Montebello vor einer apokalyptischen Bedrohung, die weit über die Grenzen Neapels hinausreicht. So beginnt, noch bevor die Gläubigen das Blutwunder ihres Stadtheiligen San Gennaro erflehen, das Blut ganz anderer zu fließen.

Über den Autor

Stefan von der Lahr, geboren 1958, ist promovierter Althistoriker und arbeitet seit über einem Vierteljahrhundert als Lektor für Altertumswissenschaften im Verlag C.H.Beck. 2015 erschien sein Kriminalroman «Das Grab der Jungfrau».

Inhalt

Prolog

Neapel, 1. August, morgens

Kapitel 1 – Der Unfall

Rom, 3. September, Mitternacht

Rom, 4. September, vormittags

Rom, 4. September, mittags

Kapitel 2 – Das Archiv

Neapel, 4. September, mittags

Kapitel 3 – Der Tunnel

Rom, 4. September, früher Nachmittag

Rom, 4. September, nachmittags

Rom, 4. September, früher Abend

Kapitel 4 – Der Brief

Rom, 5. September, vormittags

Rom, 5. September, früher Nachmittag

Neapel, 5. September, nachmittags

Neapel, 5. September, abends

Kapitel 5 – Der Dom

Rom, 6. September, vormittags

Neapel, 6. September, nachmittags

Neapel, 6. September, spätabends

Kapitel 6 – Das Passwort

Rom, 7. September, vormittags

Rom, 7. September, nachmittags

Kapitel 7 – Die Diadochen

Neapel, 7. September, abends

Kapitel 8 – Der Raucher

Rom, 8. September, vormittags

Neapel, 8. September, vormittags

Kapitel 9 – Die Spezialisten

Balyktschy, 9. September, früh am Morgen

Rom, 9. September, mittags

Kapitel 10 – Der Kinderfreund

Neapel, 9. September, früher Abend

Neapel, 9. September, abends

Kapitel 11 – Die Brunnen

Neapel, 10. September, morgens

Rom, 10. September, nachmittags

Kapitel 12 – Der Nachtwächter

Neapel, 11. September, morgens

Rom, 11. September, morgens

Rom, 11. September, mittags

Kapitel 13 – Der Archäologe

Neapel, 11. September, nachmittags

Neapel, 11. September, nachmittags

Kapitel 14 – Die Besucher

Rom, 12. September, vormittags

Kapitel 15 – Die Partner

Besmer, 12. September, nachmittags

Neapel, 12. September, nachmittags

Neapel, 12. September, abends

Kapitel 16 – Die Katakomben

Rom, 13. September, morgens

Neapel, 13. September, abends

Kapitel 17 – Die Visite

Rom, 14. September, vormittags

Neapel, 14. September, abends

Neapel, 15. September, morgens

Kapitel 18 – Die Hölle

Rom, 15. September, mittags

Neapel, 15. September, Mitternacht

Kapitel 19 – Das Video

Tarvisio, 16. September, morgens

Rom, 16. September, abends

Neapel, 16. September, abends

Kapitel 20 – Die Durchsuchung

Rom, 17. September, kurz nach Mitternacht

Rom, 17. September, früher Morgen

Kapitel 21 – Das Hochamt

Neapel, 19. September, morgens

Neapel, 18. September, morgens

Neapel, 19. September, vormittags

Neapel, 18. September, mittags

Neapel, 19. September, vormittags

Rom, 18. September, vormittags

Neapel, 19. September, vormittags

Kapitel 22 – Die Krypta

Neapel, 19. September, abends

Kapitel 23 – Der Verlierer

An Bord der Anna Pawlowna, 20. September, vormittags

Udine, 20. September, vormittags

Rom, 20. September, früher Nachmittag

An Bord der Anna Pawlowna, 20. September, abends

Neapel, 20. September, abends

Kapitel 24 – Das Boot

Neapel, 21. September, früher Morgen

Rom, 21. September, morgens

An Bord der Anna Pawlowna, 26. September, früher Morgen

Kapitel 25 – Die Narben

Neapel, 3. Oktober, vormittags

Rom, 3. Oktober, abends

Epilog

Neapel, 10. Oktober, nachts

Neapel, 11. Oktober, vormittags

Anhang

Übersetzungen und Begriffserklärungen

Alphabetisches Personenverzeichnis

Lektüren

Der Dom und andere Plätze in Neapel

Das ausgebliebene Blutwunder im Dom zu Neapel

Kardinal Albani

Francesco Arcangeli

Verstrickung der Kirche in Mafia-Angelegenheiten

Pino Puglisi und Peppino Diana: zwei von der Mafia ermordete Priester

Problematik radioaktiver Abfälle und ihrer Lagerung

Russland und der Issyk Kul in Kirgisien

Lage der Wehrpflichtigen in Kirgisien

Militärisches Abkommen zwischen Bulgarien und den USA, den Luftwaffenstützpunkt Besmer betreffend

Auf die Technik, Schrift auf verbranntem Papier lesbar zu machen, wäre ich selbst schwerlich gekommen; so entnehme ich eine entsprechende Anregung dankbar dem Werk von Tobias Fischer, Veyron Swift und der Orden der Medusa, Serial Teil 5, 2014, auf das ich gleichfalls bei einer Internetrecherche gestoßen bin:

Vatikan und CIA

Fakten und Fiktionen

Zur Widmung

Danksagung

Fußnoten

Für Eike, Klaus und Raimund

Die meisten fremdsprachigen Formulierungen und Spezialbegriffe sind im Anhang übersetzt beziehungsweise erklärt. Ebenso finden sich dort Erläuterungen zu einigen historischen Persönlichkeiten und Ereignissen.

Prolog

The vices of mankind are active and able ministers of depopulation.

THOMAS ROBERT MALTHUSESSAY ON THE PRINCIPLE OF POPULATION (1798)

Neapel, 1. August, morgens

Die Glut eines endlosen Sommers lastete auf den Dächern Neapels. Wenn abends ein Windhauch vom Meer zum Vesuv zog, schien er das Gewirr der Gassen in der Altstadt zu scheuen. So hatte nicht einmal die Nacht den Menschen in den Armenvierteln Erleichterung gebracht, als sich am Morgen des 1. August die Sonne über den Capodimonte schob. Zu dieser Stunde liefen entlang der Via Posillipo bereits die Rasensprenger und sorgten dafür, dass das Grün in den Parks der besseren Gesellschaft nicht verdorrte.

In einer der Villen mit ungestörtem Zugang zum Meer residierte Wladimir Ignatjewitsch Pudanitschow. Der Oligarch war der jüngste Spross einer Diplomatenfamilie der alten Nomenklatura. Seine Karriere hatte er noch als Ingenieur eines staatlichen Ölkonzerns in der zerfallenden Sowjetunion begonnen. Er erkannte bald, dass sich das System nie mehr erholen würde. Also streifte er den Werkstattmantel des Sowjetmenschen ab, schlüpfte in den Anzug des Kapitalisten und erfreute sich als einer der ersten Privatunternehmer beachtlicher Erfolge im Geschäft mit der Petrochemie. Die Segnungen der russischen Schattenwirtschaft und ein sicheres Gespür für aussichtsreiche Investitionen in Rüstungsgüter und Immobilien ließen ihn in den folgenden Jahren zum milliardenschweren Tycoon aufsteigen.

Er war stets darauf bedacht, weder der politischen Führung noch den vaterländischen Geheimdiensten ins Gehege zu kommen, sondern ihnen im Gegenteil, wo immer möglich, gefällig zu sein. Doch zu Beginn des letzten Jahrzehnts war es zu ein paar heiklen Situationen in seinem Privatleben gekommen. Man hatte ihm daraufhin unmissverständlich nahegelegt, sich einen neuen Lebensmittelpunkt außerhalb Russlands zu suchen und nur noch in gebotener Diskretion zu unabweislichen Geschäftsterminen zurückzukehren. Diese Form der Verabschiedung hatte Wladimir Ignatjewitsch verletzt. Aber er hatte sich gefügt und war an den Golf von Neapel gezogen. Dort genoss er die Liberalität der alten Metropole, die in den Jahrtausenden ihres Bestehens genug Unaussprechliches erlebt hatte, so dass ihm dort niemand Unannehmlichkeiten bereitete, wenn er seinen kleinen Freuden nachhing.

Eine umfassende Bildung, die man ihm auf den Eliteschulen der Führungskader hatte angedeihen lassen, Gewandtheit im Umgang und eine nachgerade sprichwörtliche Großzügigkeit öffneten ihm in Neapel die Türen zu den besten Kreisen. Man nahm den charmanten Russen, dessen Italienisch in so köstlichem Kontrast zu seinem Petersburger Akzent stand, mit offenen Armen auf – gerade so, wie man seit dem späten achtzehnten Jahrhundert russische Adlige auf ihrer Grand Tour in Kampanien willkommen geheißen hatte.

Tagsüber vermisste Wladimir Ignatjewitsch die alte Heimat kaum. Aber wenn die langen Nächte zu Ende gingen, die er gern mit Freunden auf seiner Einhundertzwanzig-Meter-Yacht Anna Pawlowna verbrachte, die er auf den Namen der unvergessenen Primaballerina getauft hatte, weinte er manchmal. Dann dachte er an den Newski-Prospekt, und es stiegen Bilder vor ihm auf, wie er einst mit den Gefährten seiner Jugendzeit den Sonnenaufgang erwartet hatte. Während der neue Tag heraufzog und ihre lachenden Gesichter vom Frost und vom Wodka gerötet waren, hatte sich ihr Atem in kleine Dampfwolken verwandelt. Doch egal, wie kalt es war – niemals waren sie ins Lenin-Internat zurückgekehrt, bevor nicht das Eis auf der Newa im ersten Licht zu glitzern begann.

An diesem Augustmorgen spürte Wladimir Ignatjewitsch die ihn umgebende Wärme kaum. In seinem Innern war es kalt geblieben, nachdem er die Chiesa Andrea Apostolo verlassen hatte. Er konnte sich noch gut erinnern, wie das im Volksmund Santa Maria del Ben Morire genannte Gotteshaus mit Billigung des Papstes an die Russisch-Orthodoxe Kirche des Patriarchats von Moskau übertragen worden war. Aber er hatte auch nicht vergessen, dass es die Orthodoxen waren, die ihn mit allerhöchster politischer Unterstützung aus der Heimat vertrieben hatten. Glaube und Religion spielten für ihn keine Rolle. Doch zog es ihn immer wieder in die ein wenig abseits gelegene Kirche, wo er wenigstens die Sprache der Kindheit hören und sie im Wechselgesang mit dem Popen auch sprechen konnte. So ging er gedankenverloren die Via Antonio Tari hinunter, bis er zu einer kleinen Bar gelangte, wo er, wie so oft, frühstücken wollte.

Er blätterte in einer Zeitung, als ein Schatten auf die Seiten fiel, der eine seltsame Form hatte – fast wie ein … Er fuhr herum, und ein groß gewachsener, schlanker Mann lächelte ihn an.

«Mogu li ya k Vam prisoyedinit’sya, tovarischtsch Pudanitsov?»

«Sie sind kein Russe.»

«Stimmt – aber ich kann problemlos nach Russland reisen. Das kann nicht jeder von sich sagen.»

Pudanitschow musterte den Fremden, dessen dreiste Anspielung ihn wütend machte.

«Ich lege keinen Wert auf Ihre Gesellschaft. Guten Tag!»

«Zu schade. So entgeht dem Geschäftsmann Pudanitschow ein Angebot, das ihn in die alte Heimat hätte zurückbringen können. Guten Tag!»

Der Fremde wandte sich zum Gehen.

«Was für Geschäfte treiben Sie?»

«Export.»

«Und womit handeln Sie?»

«Freiheit und Demokratie.»

Pudanitschow machte eine wegwerfende Handbewegung.

«Dabei springt nicht viel raus.»

Der andere lachte.

«Sagen Sie das nicht!»

«Was wollen Sie?»

«Man hat Sie schlecht behandelt, obwohl Sie Mütterchen Russland immer ein guter Sohn waren.»

«Das weiß niemand besser als ich. Setzen Sie sich!»

«Und doch hat Ihr Präsident Ihnen den Stuhl vor die Tür gestellt. Immerhin durften Sie in die Sonne ausreisen. Bei anderen hat man solche Situationen genutzt, um sie in die Uranbergwerke zu schicken.»

«Was wollen Sie?!»

«Wissen Sie eigentlich, dass das damals eine ganz knappe Entscheidung gegen Sie war? Sie hatten mächtige Fürsprecher im Kreml. Hätte nicht der Präsident Angst vor einem Skandal so kurz vor den Wahlen gehabt, dann hätten Sie sehr wahrscheinlich bleiben können. Aber nun hat er sich festgelegt – als guter Sohn der Kirche, oder sagen wir: als einer, dem es wichtig ist, dass die Öffentlichkeit ihn in Harmonie mit der Kirche sieht. Einer, der sich sogar bekreuzigt, wenn er kalt badet. Also müssen Sie draußen bleiben. Wenn er weg wäre …»

«Sie reden dummes Zeug! Sie wissen so gut wie ich, dass er ein System gefunden hat, wie er noch zwanzig Jahre Präsident bleiben kann. Immer im Wechsel mit dem Ministerpräsidenten.»

«Ein Ministerpräsident, der in der entscheidenden Sitzung auf Ihrer Seite gestanden hat. Wenn er Präsident würde …»

«… würde er sich trotzdem nie gegen …»

«Da haben Sie recht! Er würde sich nie gegen den wahren Machthaber stellen – solange der lebt.»

«Mein Herr, ich weiß nicht, woher Sie all diese Informationen haben. Es interessiert mich auch nicht. Sie haben jedenfalls keine Ahnung, wovon Sie sprechen. Es gibt keinen Menschen auf dem ganzen Planeten, der besser geschützt wäre als …»

«Aber Towarischtsch Pudanitschow – Sie sind doch sonst ein risikofreudiger Mann! Wir beobachten Sie schon seit zwei Jahren. Doch machen Sie sich keine Sorgen! Wir wollen Ihre Geschäfte nicht stören. Ganz im Gegenteil: Sie sind genau der Richtige für uns. Aber Sie sollen auch für uns einmal das Richtige an die richtige Stelle transportieren.»

«Wer sind Sie?»

«Ein Feind Ihres Feindes.»

Pudanitschow legte die Zeitung beiseite.

«Den Feind glaube ich Ihnen sofort. Freunde hat jemand wie Sie nicht.»

«Wir haben keine Freunde. Wir haben Interessen.»

«Dann erzählen Sie mal von Ihren Interessen!»

Kapitel 1 – Der Unfall

Rom, 3. September, Mitternacht

Alle Römer, die es irgendwie einrichten konnten, hatten die Stadt verlassen und verbrachten mit ihren Familien den Urlaub am Meer. So war um diese Zeit der Verkehr auf den Straßen einigermaßen erträglich. Salvatore Graziano schlenderte grinsend zum Wagen, an dessen Steuer sein Kollege saß. Er wusste, was ihn erwartete. Herzhaft biss er noch einmal in den Burger und schlenkerte kokett die Papiertüte, in die man ihm bei McDonald’s an der Piazza Annibaliano sein spätes Abendessen eingepackt hatte.

Sovrintendente Gennaro di Lauro war Vegetarier und ein Verfechter der Slow-Food-Bewegung. Er ließ keine Gelegenheit aus, den älteren Ispettore wegen dessen barbarischer Ernährungsgewohnheiten zu verhöhnen. Graziano genoss ihre Kabbeleien – und selbst wenn sein Hunger gar nicht so groß gewesen wäre, hätte er schon allein aus diesem Grund di Lauro auf dem Heimweg vom Präsidium zu seiner Wohnung gebeten, noch einmal bei dem Fast-Food-Schuppen zu halten. Di Lauro sah ihn im Rückspiegel kommen und zog die Augenbrauen hoch. Er hatte am Mittelstreifen der Viale Eritrea unter einem der halb verdursteten Bäume geparkt, die sich zur Parodie einer Allee aufreihten. Graziano hatte die Tür des Alfa noch nicht richtig geöffnet, als der Sovrintendente loslegte.

«Wie geht’s denn deinem Cholesterin?»

«Hmmm – göttlich!»

«Und was hast du für die Pampe da bezahlt?»

«Ooh – und erst diese Mayonnaise! Guck mal, sogar mit Gürkchen – für die Veganer! Hier, halt doch mal …!»

Er drückte di Lauro den Burger in die Hand. Der ließ diese Zumutung über sich ergehen, während Graziano aus seiner Papiertüte eine Cola angelte. Nachdem er ein paar Schlucke genommen hatte, reichte er sie seinem Kollegen.

«Trink! Ist eiskalt! Einfach köstlich … Na? Dann eben nicht.»

«Gib her!»

Di Lauro setzte die Cola an und leerte sie in einem Zug, ehe er mit unbewegter Miene dem verdutzten Graziano den leeren Becher zurückgab.

«Aber wieso … du sagst doch immer, Cola sei …»

Graziano schaute erst in den leeren Becher und dann in das Gesicht seines Kollegen, dessen Mundwinkel zuckten. Ein paar Sekunden später begannen beide zu lachen, und sie lachten, bis das Auto wackelte und ihnen die Tränen über die Wangen liefen.

«Schau dir mal diesen Idioten da vorn an!»

Graziano war mit einem Mal ernst geworden, während di Lauro noch nach Atem rang.

«Was macht der denn? Der ist doch viel zu schnell. – Und da ist einer auf dem Zebrastreifen!»

Der dumpfe Aufschlag war selbst in dem Polizeiwagen noch zu hören. Doch der Lieferwagen, der sein Opfer weit durch die Luft geschleudert hatte, bremste nicht, sondern beschleunigte und zog leicht hinüber zum Mittelstreifen, so dass er mit dem linken Reifen das Opfer überrollte und die Polizisten das Geräusch brechender Knochen vernahmen.

Mit quietschenden Reifen jagte di Lauro aus der Parkbucht.

«Du kümmerst dich um den Verletzten! Ich bleib an dem Schwein dran.»

Zwei Sekunden später stoppte er neben dem verdrehten, blutüberströmten Körper. Graziano sprang aus dem Wagen, während di Lauro das Gaspedal durchtrat, das Blaulicht aufs Dach klemmte und die Zentrale alarmierte.

«Fahrerflucht auf der Viale Eritrea zwischen der Piazza Annibaliano und der Via Sirte. Ein Schwerverletzter. Ein Kollege ist bei ihm. Schickt einen Rettungswagen! Unfallverursacher mit hoher Geschwindigkeit unterwegs in Richtung Viale Libia. Ein grauer Lieferwagen, ein … FIAT DUCATO MAXI120XL, römisches Kennzeichen, genaue Nummer folgt.»

Während di Lauro den Fahrer über Lautsprecher aufforderte, sofort anzuhalten, sah er, wie der Abstand zwischen ihm und dem Lieferwagen immer größer wurde. Inzwischen hatte der FIAT längst die Viale Libia erreicht und raste auf die Brücke zu, die die Tangenziale Est überquerte. Mit halsbrecherischen Manövern überholte er Busse und Autos. Bremsen quietschten, Passanten sprangen zur Seite. Eine Vespafahrerin, die an der Piazza Gimma um eine Verkehrsinsel kurven wollte, rettete sich im letzten Moment, indem sie in einen Busch auf der kleinen Grünfläche fuhr, die sonst nur Hunde aus der Nachbarschaft aufsuchten. Keine rote Ampel und keine Kreuzung ließen den Amokfahrer langsamer werden. Es war ihm offensichtlich nicht nur gleichgültig, ob er andere umbrachte, sondern auch, ob er selbst überlebte. Für di Lauro war es schwer, sich nicht abhängen zu lassen, ohne noch mehr Menschen in Gefahr zu bringen. Dann meldete die Zentrale, dass Verstärkung unterwegs sei. Wenn der FIAT weiter Richtung Norden fuhr und auf die Via delle Valli zuhielt, würden ihn vier Streifenwagen der Carabinieri mit einer Straßensperre an der Kreuzung Via Conca d’Oro erwarten. Bei dieser Geschwindigkeit konnte der FIAT sowieso nicht abbiegen. Alle Straßen mündeten in rechten Winkeln ein, so dass jeder Versuch, die Fahrtrichtung zu ändern, damit enden musste, dass sich der Wagen überschlug. Di Lauro warnte die Kollegen, dass der Fahrer möglicherweise irgendetwas Verrücktes unternehmen würde und sie deshalb nicht bei den Fahrzeugen bleiben sollten, mit denen sie die Straße blockiert hatten. Ihm sei alles zuzutrauen. Die Via delle Valli war kilometerlang und schnurgerade; jetzt wurde sie zur Rennstrecke. Was ging in diesem Mann vor, der mit Hundertfünfzig durch die Stadt jagte? Glaubte er, sie würden ihn einfach davonkommen lassen, wenn nur seine Geschwindigkeit hoch genug wäre? Dann sah di Lauro in der Ferne blau-weiße Lichtblitze. Das musste die Straßensperre sein. Der andere hatte sie ebenfalls gesehen. Für eine Sekunde ging er vom Gas. Nochmals die Lautsprecherdurchsage, sofort anzuhalten. Dann beschleunigte der FIAT wieder, und der Fahrer zog den Wagen so weit nach links wie nur möglich – gerade noch, ohne den hochbetonierten Mittelstreifen zu berühren. Als di Lauro das sah, begriff er, worauf der andere spekulierte, aber ein Blick auf den Tacho sagte ihm, dass dieser Plan scheitern musste: Kurz vor der Kreuzung kam eine ESSO-Tankstelle; er würde versuchen, in einem weiten Bogen nach rechts zu ziehen, schräg über deren Hof zu rasen, um so die Straßensperre zu umgehen und in die Via Conca d’Oro zu entkommen.

«Hier spricht die Polizei! Fahren Sie rechts ran! Hier spricht die Polizei!»

Keine Reaktion. Di Lauro hoffte, dass keine Kundschaft mehr auf dem Hof der Tankstelle sein würde, als der FIAT das Manöver begann. Der Fahrer hatte einen möglichst stumpfen Winkel gewählt, und es gelang ihm tatsächlich, dem letzten Baum vor der Tankstelleneinfahrt zu entgehen. Aber mit dem rechten Vorderreifen erwischte er den Randstein. Der war gar nicht besonders hoch, doch bei diesem Tempo wirkte er wie eine Startrampe. Der Transporter hob ab, flog durch die Luft, drehte sich um seine Längsachse und krachte in die große Säule mit der Leuchtreklame. Sie erlosch von einer Sekunde auf die andere. Dann zerbarst der ganze Aufbau unter der Wucht des Aufpralls. Betonstützen, Metallstreben und Plastiksplitter flogen durch die Luft. Der FIAT überschlug sich noch einmal und noch einmal. Seine Scheiben platzten, und schließlich blieb das Wrack in der Ausfahrt der Tankstelle auf seinen vier zerfetzten Reifen stehen. Die Hupe musste sich verklemmt haben und plärrte erbarmungslos in die Nacht. Kurz darauf stand di Lauro neben dem Wagen und beugte sich durch die Reste des Fensters auf der Fahrerseite. Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff, dass die unförmige Masse, auf die er schaute, einmal ein Gesicht gewesen sein musste. Aus dem seltsam verzerrten kahlen Schädel, der auf dem Lenker lag und die Hupe in Gang hielt, starrte ihn ein Paar leere, blutige Augenhöhlen an.

Rom, 4. September, vormittags

Commissario Capo Vincenzo Bariello las die Berichte der vorangegangenen Nacht. Er griff zum Telefon und ließ Graziano und di Lauro zu sich kommen. Ein paar Minuten später saßen seine übernächtigten Kollegen auf ein paar alten Bürostühlen vor ihm.

«Was war da draußen los auf der Viale Eritrea? Ihr seid ja nah genug dran gewesen.»

Graziano zuckte mit den Schultern.

«Genaues wissen wir noch nicht. Zuerst sah es so aus, als ob einer im Suff einen Fußgänger über den Haufen fährt. Dann hat er ihn aber noch mal gezielt überfahren. So was habe ich noch nie gesehen. Gennaro ist an dem Typen drangeblieben, und ich hab mich um den Verletzten gekümmert. Nichts mehr zu machen. Zwei Minuten später war der Notarzt da. Der hat nicht mal mehr versucht, den Mann zu reanimieren.»

«Und du bist hinter ihm hergefahren?»

«Das reinste Harakiri, was der veranstaltet hat! Ein Wunder, dass er sonst niemanden erwischt hat.»

«Wisst ihr, wer die beiden Toten sind?»

Der Ispettore deutete auf eine Plastikhülle, die er auf den Schreibtisch von Commissario Bariello gelegt hatte und in der ein Ausweis steckte.

«Das Opfer heißt Agostino Foresta. Er wohnt keine zweihundert Meter vom Unfallort entfernt. ‹Tatort› trifft die Sache wohl besser. Er war in der Nähe in einer Trattoria. Da geht er öfter abends hin. Die Leute wissen aber nicht viel über ihn – war kein geselliger Mann: alleinstehend, kleiner Zollbeamter. Seine Vermieter, die im selben Haus wohnen, sagen, dass er nie Besuch bekam.»

«Irgendein Hinweis darauf, dass ihn jemand umbringen wollte?»

«Bis jetzt nicht. Heute Nacht war es zu spät für eine Untersuchung. Hab nur seine Wohnung versiegelt. Aber jetzt habe ich den Schlüssel. Kommst du mit?»

«Denke schon. Und bei dir? Wer ist der Fahrer?»

«Fehlanzeige. Keine Papiere. So wie der aussieht, hilft auch kein Fahndungsfoto. Er liegt in der Gerichtsmedizin. Die ziehen alle Register, um rauszufinden, wer das ist. – Zähne, DNA … das volle Programm.»

«Das Auto …?»

«FIAT DUCATO MAXI. Die Spurensicherung hat die Fahrgestellnummer und schickt sie durch den Computer. Genauso das Kennzeichen. Die Motorizzazione Civile sagt uns gleich, wem der gehört.»

«Gut. Dann schauen wir uns mal die Wohnung an.»

Rom, 4. September, mittags

Als die Polizisten eine halbe Stunde später die Siegel von der Wohnungstür in der Viale Eritrea abrissen und aufsperrten, wussten sie, dass sie zu spät gekommen waren. Schon im Flur herrschte ein Chaos aus umgeworfenen Regalen. Der Rest der Wohnung war regelrecht zerlegt worden. Schubladen lagen auf dem Boden, die Matratze war aufgeschlitzt, die Füllung aus allen Kissen herausgerissen, die Lampenschalen zerschlagen, Bilder und Spiegel zertrümmert.

«So ganz ohne Bekannte scheint Foresta doch nicht gewesen zu sein. Irgendetwas hat er jedenfalls gehabt, wofür sich jemand interessiert hat.»

«Verdammt! Ich hätte gleich in die Wohnung gehen müssen.»

«Salvatore! Dein Siegel war unversehrt. Die waren schon wieder weg, als du vor der Tür standest. Wie sieht denn das Schloss aus?»

Die drei Polizisten musterten den Schließzylinder im Licht einer kleinen LED-Lampe, die Bariello am Schlüsselbund trug.

«Da ist nicht mal ein Kratzer dran. Die hat ein Profi aufgemacht. Fragt sich nur, ob er gefunden hat, wonach er suchte.»

«Jedenfalls hat er ganze Arbeit geleistet. Das muss doch jemand gehört haben.»

«Schick Gaspare und die Indagini Forensi hier durch, Salvatore! Ich glaub’s zwar nicht, aber vielleicht findet sich noch irgendeine Spur.»

Kurz darauf klingelten sie bei Forestas Nachbarn. Sie wollten schon wieder gehen, als di Lauro das Ohr an die Tür legte.

«Da ist doch jemand drin. Hallo! Polizia di Stato! Aufmachen! Hallo!»

Er klopfte energisch. Es verging eine halbe Minute, bis ein alter Mann öffnete.

«Oh, Polizia!»

Der Alte schaute eher neugierig als verstört auf di Lauros Ausweis.

«Hatten Sie schon mal geläutet? Ich bin schwerhörig … und mit dem Hörgerät …»

Er machte eine resignierte Handbewegung.

«Bitte verzeihen Sie, Signor …?»

«Bocconcello, Ugo Bocconcello.»

Bariello sprach nun lauter, während der Mann ihm den Kopf entgegenstreckte.

«Ich bin Commissario Bariello. Meine Kollegen. Haben Sie gehört, was gestern Nacht mit Signor Foresta geschehen ist?»

«Sicher, sicher – der Ärmste! Signora Tedesca aus dem kleinen Alimentari bringt mir immer meine Sachen und hat’s mir erzählt. Schrecklich – wird hier vor dem Haus überfahren.»

«Kannten Sie ihn?»

«Wie bitte?»

«Ob Sie ihn kannten – Signor Foresta!»

«Nein. War nicht sehr gesprächig. Wir haben uns gegrüßt; mehr nicht. Aber einmal …» Signor Bocconcello kniff ein Auge zu und deutete auf eine Klappe über ihnen, die sie bis jetzt nicht bemerkt hatten. «Hier oben! Wissen Sie, was er hier oben hat? Da kommen Sie nicht drauf.»

«Sicher nicht, Signor Bocconcello. Sagen Sie es uns!»

«Eine Eisenbahn! Einmal hab ich ihn hier vor der Tür getroffen. Er kam gerade mit einer großen Tüte aus dem Modellbauladen nebenan. Ist ganz rot geworden. Ich hab ihm gesagt, das ist doch nicht schlimm. Aber ihm war’s peinlich. Hat mir erzählt, er hat den Speicher für seine Eisenbahn gemietet. Mich hat das nicht gestört. Ich hör sowieso nicht, wenn da oben einer rumläuft.»

«Haben Sie gestern Nacht irgendetwas Ungewöhnliches bemerkt?»

«Ob ich was bemerkt habe?»

«Einen Fremden? Gestern Abend.»

«Nein, ich geh um acht ins Bett; dann bekomm ich nichts mehr mit bis morgens.»

«Danke, Signor Bocconcello! Sie haben uns sehr geholfen.»

In der Wohnung des Toten brauchten die Polizisten nicht lange zu suchen. An der Garderobe hing ein Stock mit Haken für die Speicherklappe. Bariello trat vor die Tür und angelte damit nach der kleinen Öse am Plafond, und gleich darauf kam ihm eine wacklige Ausziehleiter entgegen. Er war kaum mit den Schultern im Halbdunkel der Luke verschwunden, als die beiden anderen einen Pfiff hörten.

«Das müsst ihr euch ansehen!»

Als Graziano und di Lauro auf dem Dachboden standen, flammte das Deckenlicht auf, und vor ihnen breitete sich die größte Modelleisenbahn aus, die sie jemals gesehen hatten: Bahnhöfe, Lokschuppen, Drehscheiben, Dampfmaschinen, kleine Dörfer mit Kirchen und Bauernhäusern, Viehweiden, Bäume, Hügel, Tunnels, Straßen, Gleise, Schranken, Signalanlagen und Züge – manche mit Dampflokomotiven, andere mit Dieselloks, aber auch ultramoderne Schnellzüge vom Typ ETR 1000 Frecciarossa. Neben der ganzen Pracht, die das Dachgeschoss ausfüllte, stand ein großes Schaltpult mit Trafos, Hebeln, Leuchtdioden und einer eindrucksvollen Signalklingel aus einem alten Schrankenwärterhaus. An der Wand hing ein gewaltiger Gleisplan, und davor stand ein moderner Bürosessel, auf dem das Kursbuch mit sämtlichen Verbindungen der Ferrovie dello Stato Italiane und zuoberst die Mütze eines Bahnhofsvorstehers mit der Aufschrift Vesuvio-Bayard 1839 lagen.

So würde sich vielleicht ein Kind das Spielzimmer des Babbo Natale vorstellen. Die Männer brachten vor Staunen eine ganze Weile kein Wort heraus. Schließlich brach Graziano das Schweigen.

«Das muss mein Paolo sehen.»

Bariello schaute den Ispettore fragend an.

«Vincenzo, ich möchte, dass mein Kleiner einmal hier rauf darf, ehe wir das alles auseinandernehmen. Wir stehen dauernd vor dem Geschäft mit den Eisenbahnen. Er ist gar nicht mehr von da wegzubringen. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht eine neue Lok, einen neuen Wagen oder wenigstens ein neues Häuschen für seine Eisenbahn will. Du weißt ja, wie teuer so was ist …»

Bariello nickte.

«Klar. Aber du hast recht. Das ist ein teures Hobby. Was hier steht, das hat … keine Ahnung … Tausende gekostet. Was war dieser Foresta noch mal? Zollbeamter? Was verdient man so beim Zoll? Gennaro, bring doch mal den Inhaber von diesem Modellbauladen her! Der soll mal überschlagen, was das hier ungefähr wert ist. Und du, Salvatore, hol deinen Paolo! Ich bleibe so lange hier.»

Kapitel 2 – Das Archiv

Neapel, 4. September, mittags

Ein Jahr war vergangen, seit Papst Laurentius Monsignor Gian Carlo Montebello, bis dato Bibliothekar der Vaticana, in den Rang eines Vescovo Ausiliare in Neapel erhoben hatte. Der Dienstsitz des neuen Weihbischofs befand sich in der Nähe des Doms in den Räumen des Generalvikariats am Largo Donnaregina. Ein klassizistischer Bau, der noch viele andere Einrichtungen des Bistums beherbergte – so auch das Archivio Storico Diocesano …

«Buongiorno, Padre Luis. Ist Sua Eccellenza Montebello in seinem Büro?»

Dottoressa Jacqueline Napoletano – von Hause aus amerikanische Altertumswissenschaftlerin – war im Laufe des vergangenen Jahres an ihrer neuen Arbeitsstelle im Diözesanarchiv heimisch geworden. Sie hatte Montebello kennengelernt, als er noch Monsignore gewesen war und ebenso wie Padre Luis in der Vatikanischen Bibliothek in Rom gearbeitet hatte. Die Archivarin und der spanische Dominikanerpater, der zum Privatsekretär des Weihbischofs avanciert war, verdankten beide ihre neuen Posten Montebello. Doch das hatte den Spanier und die Amerikanerin einander nicht unbedingt nähergebracht.

«Hmhm!»

Ohne den Blick zu heben, doch mit unüberhörbarer Missbilligung quittierte Padre Luis, dass die Archivarin nicht den vollständigen Titel seines Chefs gebrauchte.

«Buongiorno, Dottoressa Napoletano. Gewiss, Sua Eccellenza Reverendissima ist zugegen. Aber er arbeitet und wünscht, nicht gestört zu werden. Die Predigt am Sonntag …»

Dabei ließ es der Dominikaner bewenden und blätterte zur nächsten Seite des Osservatore Romano, der auch in Neapel immer noch seine Lieblingslektüre bildete. So entging ihm ein zorniges Funkeln in den Augen der Archivarin.

«Ich verstehe, Padre Luis. Aber ich soll nun mal die Geschichte des Bistums schreiben – eine Arbeit, an deren Fortgang Sua Eccellenza lebhaft Anteil nimmt. Jetzt bin ich auf ein Problem gestoßen und komme nicht weiter. Vielleicht könnte er mir aufgrund seiner Erfahrung an der Vaticana einen Rat geben. Es dauert nicht lange. Vielleicht sind Sie so freundlich und fragen ihn, ob ich ihn kurz sprechen darf.»

Padre Luis blätterte weiter in seiner Lektüre und ließ seinen Blick auf den Fotos ruhen, die anlässlich des Besuchs eines philippinischen Diplomaten beim Heiligen Vater entstanden waren.

«Sonntag ist in drei Tagen, aber die Geschichte des Bistums soll in drei Jahren erscheinen. Da können wir doch vielleicht noch warten, bis Sua Eccellenza Reverendissima herauskommt. Oder noch besser: Sie haben doch ein … Smartphone, und wir haben Ihre Nummer. So kann ich Ihnen Bescheid geben, wenn Sua Eccellenza Reverendissima einen Termin frei hat.»

Es war sicher zweckmäßig, dass Jackey die kurze amerikanische Sentenz für sich behielt, die ihr in diesem Moment durch den Kopf schoss. Sie musterte den Geistlichen, dessen Schreibtisch quer zu jener doppelflügligen Tür stand, durch die man zu Montebello gelangte. So bewachte er wie ein kleiner Zerberus den Zugang zu Sua Eccellenza. Es war in der Tat nicht ganz einfach, an ihm vorbeizukommen.

«Tja, wenn Sie meinen, Padre Luis …»

Padre Luis hatte den resignierten Ton in ihrer Stimme vernommen. Er blickte auf und schenkte ihr ein sehr förmliches Lächeln. Da legte die Archivarin mit einem Mal den Kopf schief und blickte irritiert nach unten. Das Lächeln im Gesicht des Geistlichen verschwand.

«Was steht denn hier vorn auf Ihrem Schreibtisch?»

Sie trat einen Schritt zurück. Falten traten auf ihre Stirn.

«Da hat jemand ein Herz draufgemalt und … WAS steht da?»

Padre Luis fuhr von seinem Sitz empor. Röte flammte auf seinen Wangen.

«WAS? Hat da jemand etwas hingeschmiert?»

Mit ein paar langen Sätzen kam er hinter seiner Barrikade hervor.

«Na, dort – schauen Sie mal, da unten!»

Der Geistliche bückte sich und suchte die Rückseite seines Schreibtischs ab. Im selben Moment machte die Dottoressa ein paar Schritte um das Hindernis herum, klopfte und trat, kaum, dass sie das «Pronto» gehört hatte, auch schon in das Büro des Weihbischofs.

«Buongiorno, Eccellenza!»

«Ah, Jackey! Kommen Sie herein!»

Der Weihbischof drehte sich schwungvoll mit seinem Stuhl von dem modernen Computertisch weg und hinter seinen mächtigen barocken Schreibtisch. In dem Moment erscholl von draußen die Stimme von Padre Luis.

«Dottoressa Napoletano, ich muss doch sehr bitten! Das ist nicht hinnehmbar!»

In der Tür erschien das zornrote Gesicht von Padre Luis.

«Ich weiß gar nicht, was Sie meinen, lieber Padre Luis. Ich scheine Sua Eccellenza gar nicht zu stören. Einer der seltenen Fälle, in dem die Empirie dem Glauben überlegen ist, wie mein Anklopfen bewiesen hat.»

«Sie verstehen sehr genau, Dottoressa, was ich meine!»

«Bitte, bitte – Padre Luis, Jackey! Was soll diese Aufregung bedeuten? Könnte mir bitte jemand erklären, was vorgefallen ist?»

Padre Luis atmete schwer und seine Lippen zitterten.

«Ich hatte der Dottoressa gesagt, dass Sie an Ihrer Predigt arbeiten und nicht gestört werden wollen. Sie hat mich daraufhin mit einem hässlichen Trick hinter meinem Schreibtisch hervorgelockt und einfach geklopft. Das ist völlig inakzeptabel.»

Montebello kannte aus seinen Tagen in Rom Temperament und Listenreichtum der Dottoressa – und er kannte zur Genüge die Ehrpusseligkeit seines Privatsekretärs.

«Padre Luis, ich sehe, alles war mein Fehler! Wenn ich Ihnen rechtzeitig gesagt hätte, dass ich mit meiner Predigt … weitgehend fertig bin, dann wäre diese Situation gar nicht eingetreten. Aber wir beide sind uns als Kirchenmänner natürlich stets des Herrenwortes bewusst: Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht das Himmelreich erlangen. Halten wir es also wie unser Herr Jesus und lassen die Kindlein zu uns kommen. Ich bin sicher, dass Dottoressa Jackey Sie nicht hat kränken wollen!»

Montebello vermied es wohlweislich, sich dies von seiner Besucherin bestätigen zu lassen.

«Wenn das so ist, bin ich hier ja nicht länger vonnöten.»

Padre Luis, immer noch sichtlich indigniert, schickte sich an, das Arbeitszimmer des Weihbischofs zu verlassen.

«Im Gegenteil! Ich kann mich nach meiner Arbeit nie besser entspannen, als wenn Sie, lieber Padre Luis, mir einen Espresso zubereiten – niemand kann das so wie Sie. Bitte machen Sie doch gleich eine Kanne und setzen sich dann zu uns!»

Montebello hatte noch nie seinen Privatsekretär aufgefordert, sich zu ihm und einem Besucher zu setzen. Padre Luis straffte sich, zog eine Augenbraue hoch, streifte mit einem hoheitsvollen Blick Signora Napoletano, nickte knapp und verließ das Büro.

«Ich wäre Ihnen sehr verbunden, Jackey, wenn Ihre Besuche bei mir nicht jedes Mal zu einem diplomatischen Drahtseilakt zwischen Ihnen und Padre Luis gerieten. Was führt Sie zu mir?»

«Zurzeit sichte ich im Archiv die Quellen für die Geschichte der Diözese Neapel. Dabei bin ich auf ein Problem aufmerksam geworden, das ich mir nicht erklären kann – und für das ich keine Lösung habe. Sie sind hier in Neapel aufgewachsen: Sagt Ihnen der Name Antonino Sersale etwas? Nachdem er zuvor bereits Erzbischof in Brindisi und Tarent war, wurde er 1754 Erzbischof von Neapel und von Benedikt XIV. in das Kardinalskollegium berufen. Bis er 1775 starb, hat er drei Päpste mitgewählt.»

«Jeder geistliche Würdenträger Neapels sollte den Kardinal kennen. Als in den sechziger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts in ganz Italien eine furchtbare Hungersnot wütete und zahllose Opfer forderte, hat Antonino Sersale täglich Tausende Neapolitaner mit Brot versorgen lassen. Später hat er das Silbergeschirr seiner Residenz zu Geld gemacht, um die Not zu lindern. Wegen seiner Menschlichkeit hat man ihn hier nie vergessen.»

«Während ich alle Unterlagen über Sersale finde, gibt es im Archiv nicht einen einzigen Brief von ihm. Die ganze Korrespondenz – weg! Im Repertorium ist sie verzeichnet, aber sie ist nicht an Ort und Stelle. Und auch in der Umgebung habe ich alles abgesucht. Das verstehe ich nicht. Von keinem anderen Bischof fehlt der Briefwechsel. Auch keiner der Kollegen im Archiv weiß, wo er geblieben ist; er wird wohl schon geraume Zeit vermisst.»

Die Tür öffnete sich, und Padre Luis trat ein. Auf einem Tablett balancierte er Tassen, Zucker, ein paar Cantuccini und die kleine Moka. Montebello erhob sich und zog persönlich einen Stuhl für seinen Privatsekretär an den Schreibtisch heran.

«Was meinen Sie, Padre Luis: Signora Jackey kann im Archiv den Briefwechsel eines unserer Erzbischöfe aus dem achtzehnten Jahrhundert nirgends finden, und zwar den von Kardinal Sersale. Er steht zwar im Findbuch, ist aber verschwunden. Sie hat überall nachgeschaut.»

«Hat sie?»

«Hmhm, Padre Luis, bitte! Wie kann man sich so etwas erklären?»

Sein Privatsekretär setzte sich, wartete, bis die beiden anderen seinen Espresso gekostet und beifällig genickt hatten. Dann nahm er selbst genießerisch einen Schluck.

«Das ist nicht zu erklären, weil es nicht sein kann. In einem solchen Archiv kann mal ein einzelnes Schriftstück verloren gehen oder zerstört werden, aber ein ganzer Briefwechsel? Unmöglich! Ich denke, der Grund für das Verschwinden – wenn der Briefwechsel denn wirklich nicht aufzufinden sein sollte – ist ein ganz anderer. In meiner Zeit im Dominikanerkonvent San Pablo y San Gregorio in Valladolid habe ich einige Jahre in der Bibliothek gearbeitet. Das war auch der Grund, weshalb ich später eine Stelle als Mitarbeiter des Direktors der Biblioteca Apostolica Vaticana in Rom erhalten habe, wie Sie wissen, Eccellenza.»

Montebello nickte, und Padre Luis wartete ein paar Sekunden, damit diese Mitteilung über seine Kompetenz ihre volle Wirkung auf die Zuhörer entfalten konnte.

«Von meinem Vorgesetzten in Valladolid habe ich gelernt, dass jeder Archivar oder Bibliothekar seine Gründe hat, gelegentlich etwas dem Zugriff einer allzu neugierigen Öffentlichkeit zu entziehen. Er hat mir aber auch beigebracht, dass solche Eingriffe in die Bestände stets in einer Weise erfolgen, die es dem Betreffenden selbst oder einem erfahrenen Kollegen erlaubt, das Dokument problemlos wiederzufinden.»

Montebello und Jackey blickten ihn erwartungsvoll an.

«Er legt einen Hinweis im Repertorium.»

«Lieber Padre Luis, auch wenn ich nicht über Ihre Erfahrungen verfüge, so habe ich doch die betreffende Seite im Findbuch sorgfältig studiert. Wenn dort ein Verweis gestanden wäre, hätte ich ihn entdeckt.»

Montebello bemerkte in Jackeys Stimme eine gewisse Schärfe, die ihn beunruhigte.

«Was für ein Glück, Padre Luis, dass wir mit Ihnen einen so bewanderten Kollegen bei uns haben. Bitte lassen Sie uns an Ihrem Wissen teilhaben!»

«Natürlich müsste ich mir den Eintrag für den Briefwechsel im Repertorium selbst ansehen, aber ich vermute, dass der einstige Archivar mit einer verweisenden Unterstreichung gearbeitet hat. Das heißt, er hat unter jene Buchstaben und Ziffern Strichlein gesetzt, die auf die Stelle im Archiv führen, wo er den Briefwechsel des Kardinal Sersale bewusst falsch abgelegt hat.»

Die Wirkung dieses Satzes bildete den vorläufigen beruflichen Höhepunkt im Leben von Padre Luis. Sowohl Sua Eccellenza als auch die Dottoressa schauten ihn sekundenlang mit offenem Mund an.

«Das will ich sehen!»

Jackey hatte sich als Erste gefasst, stellte ihre Tasse hart auf Montebellos Schreibtisch und sprang auf. Sie eilte zur Tür, und Montebello und Padre Luis folgten ihr. Im Eiltempo legten sie den Weg zum Archiv zurück. Die Geistlichen, die auf den Gängen des Generalvikariats dem kleinen Trupp auswichen, schauten ihnen mit einiger Verwunderung nach. Insbesondere, dass die beiden Kirchenmänner – noch dazu einer davon ein Weihbischof – in diesem Tempo einer attraktiven jungen Frau folgten, schien ihnen etwas unziemlich. Im Lesesaal strebten sie sogleich dem Repertorium zu. Jackey schlug gerade die betreffende Seite auf, als Padre Luis an den Katalogtisch trat.

«Darf ich?»

Diesmal war seine Frage frei von aller Gehässigkeit, und Jackey schob ihm das Findbuch hin. Padre Luis brauchte nicht lange, bis er den Eintrag ausgemacht hatte.

«Hier – sehen Sie?»

Padre Luis tippte mit seinem Zeigefinger nacheinander auf ein paar Buchstaben und Ziffern, unter denen sehr feine, aber noch erkennbare Federstriche zu sehen waren.

«Wow!»

Die Amerikanerin ließ ihrer ehrlichen Bewunderung freien Lauf, langte über den Tisch nach den Händen von Padre Luis und drückte sie kräftig. Zu ihrem Erschrecken verzog der Geistliche schmerzlich das Gesicht, und noch ehe er die Hände in den Falten seiner Soutane verschwinden lassen konnte, sah Jackey, dass deren Innenflächen rot und entzündet waren. Sie war einen Moment verwirrt. Montebello hatte nichts bemerkt.

«Also, Padre Luis, wo genau müssen wir jetzt suchen?»

«Ich glaube, die Sache ist ziemlich einfach. Die Buchstaben und Ziffern sollten die Signatur jenes Faszikels ergeben, in dem wir nachschauen müssen. Wahrscheinlich hat bereits der Archivar, der im Amt war, als Kardinal Sersale starb, diese Verweisung angebracht, um den Briefwechsel verschwinden zu lassen. Vermutlich hat er die Briefe einfach in die Korrespondenz eines der früheren Bischöfe gesteckt. Wenn ich die Unterstreichungen nacheinander lese, komme ich auf … GT 58.»

«Wir brauchen eine Übersicht über die früheren Erzbischöfe von Neapel.»

Ein entsprechendes Verzeichnis war rasch zur Hand. Montebello ließ den Finger über die Liste gleiten.

«Hier – das ist er! GT: Giacomo Tebaldi. Er trat im November 1458, nur drei Monate nachdem er in Neapel zum Erzbischof erhoben worden war, schon wieder zurück und wurde dann Camerlengo des Kardinalskollegiums in Rom. 1458! Bei jemandem mit so kurzer Amtszeit konnte der Archivar davon ausgehen, dass sich niemand groß für dessen neapolitanische Korrespondenz interessieren würde. Wenn er darin den Briefwechsel Antonino Sersales verschwinden ließ …»

Jackey fasste sich an die Stirn.

«Einfach, aber wirkungsvoll! Über zweihundert Jahre hat es gedauert, bis wieder jemand auf die Spur seiner …»

«Das werden wir erst sicher wissen, wenn wir den Nachlass Tebaldis vor uns haben!»

Padre Luis eilte mit Jackey und Montebello im Tross in die Magazine des Archivs hinab. Dort türmten sich bis zur Decke jene uralten Dokumente, aus denen sich die Geschichte der Diözese rekonstruieren ließ. Eine mächtige Front aus hölzernen Schubkästen, die sich im Halbdunkel der endlosen Gänge verlor, barg die Akten der Bischöfe Neapels.

«Hier muss es irgendwo sein: … Farnese, Carafa, Carafa, hmhmhm … Giacomo Tebaldi! Das ist er!»

Jackey zog eine Lade aus ihrem Fach, und schon in dem Moment, da die drei ihre Köpfe darüberbeugten, wussten sie, dass Padre Luis recht gehabt hatte. Der Inhalt war viel umfangreicher, als er nach solch einer kurzen Amtszeit hätte sein können. Jackey hob ein in Leinwand eingewickeltes Päckchen heraus und legte es auf einen kleinen Tisch. Die Kordel, die alles zusammenhielt, war gelb und blau – die Farben von Sersales Kardinalswappen. Als Jackey die Umhüllung zur Seite schlug, lag zuoberst ein Brief mit der Unterschrift Antoninus Cardinalis Sersalius Ecclesiae Neapolitanae Archiepiscopus.

Montebello schaute seinen Privatsekretär an.

«Der Briefwechsel des Kardinals. Großartig, Padre Luis!»

Der Dominikaner errötete.

«Das war einfach genial!»

Jackey nickte Padre Luis zu, der immer verlegener wurde.

«Nun ist es genug! Die Luft hier unten ist etwas stickig; ich würde gern wieder nach oben gehen.»

Montebello, der am nächsten beim Ausgang stand, wandte sich als Erster um und machte sich auf den Weg.

«Padre Luis!»

«Bitte, Dottoressa?»

«Kommen Sie doch noch einen Moment zu mir! Ich möchte mich entschuldigen für heute Vormittag … Sie wissen schon. Es tut mir leid!»

Der Dominikaner blickte zu Boden.

«Ich war auch nicht besonders freundlich zu Ihnen.»

«Darf ich Sie etwas fragen?»

Padre Luis schwieg.

«Was ist das mit Ihren Händen?»

«Nichts, gar nichts!»

«Bitte, lassen Sie es mich ansehen!»

«Nein, ich möchte nicht …»

«Bitte …!

Er streckte ihr zögernd seine Hände entgegen. Jackey ergriff sie behutsam und drehte die Innenflächen nach oben. Auch wenn das Licht im Magazin nicht besonders hell war, sah sie doch tiefe Risse in der entzündeten Haut.

«Waren Sie damit schon einmal bei einem Arzt?»

«Schon länger nicht mehr … ich habe immer so ein flüssiges Desinfektionsmittel bei mir, mit dem ich die Hände einreibe, wenn sie entzündet sind.»

«Padre, bitte missverstehen Sie mich nicht – aber dies hier sollte jemand behandeln, der sich damit auskennt.»

Padre Luis nickte.

«Ich denke darüber nach.»

«Versprochen?»

«Versprochen!»

Kapitel 3 – Der Tunnel

Rom, 4. September, früher Nachmittag

Commissario Bariello hatte die Zeit genossen, während er auf Sovrintendente di Lauro, den Besitzer des Modelleisenbahngeschäfts und auf Graziano mit seinem Söhnchen wartete. Nachdem er Ispettore Gaspare Bertani telefonisch aufgetragen hatte, mit den Männern von der Spurensicherung in die Viale Eritrea zu kommen, hatte er sich Einweghandschuhe übergestreift und mit den Trafos am Schaltpult die riesige Anlage in Betrieb genommen. Er war so hingerissen von der Präzision der Abläufe – wie die Beleuchtung allenthalben aufflammte, wie Lokomotiven aus ihren Schuppen hervorkamen, Züge durch Tunnels brausten, an Weichen die Spuren wechselten, vor Signalen abbremsten und schließlich in Bahnhöfen zum Halten kamen –, dass er zusammenfuhr, als jemand an seinem Jackett zupfte. Er konnte gerade noch verhindern, dass er den kleinen Paolo umriss.

«Du hast aber eine tolle Eisenbahn, Zio Vincenzo! Warum hast du mir die noch nie gezeigt?»

«Ah, Paolo, du bist’s, mein Kleiner!»

Er hob den Jungen hoch und gab ihm einen Kuss. Dann stellte er den Knirps mit einem Seufzer wieder auf den Boden. Bariello und seine Frau hatten keine Kinder bekommen, obwohl sie sich so sehr Nachwuchs gewünscht hatten. Nach einigen Jahren hatte seine Frau massive Ängste entwickelt, er könnte im Dienst umkommen und sie allein zurückbleiben. Sie hatte ihn immer heftiger gedrängt, sich einen anderen, ungefährlicheren Posten bei der Polizei zu suchen. Als er sich wieder und wieder weigerte und sie ihre Ängste nicht mehr ertragen konnte, hatte sie sich schließlich von ihm getrennt. Sein Privatleben war eine Ruine.

«Salvatore, ich hab euch gar nicht kommen hören. Ist ziemlich laut hier, wenn ein Dutzend Züge auf einmal fährt.»

«Ich hab auch gleich Gennaro und den Mann aus dem Modellbaugeschäft mitgebracht.»

Ein Fremder schob sich durch die Speicherluke, gefolgt von di Lauro.

«Commissario, das ist Signor Lombardi. Foresta war Kunde bei ihm.»

«Signor Lombardi, vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Sovrintendente di Lauro wird Ihnen erzählt haben, was heute Nacht passiert ist. Signor Foresta ist tot. Aber auch der Mann, der ihn überfahren hat, ist kurz darauf bei einem Unfall umgekommen. Wir ermitteln in alle Richtungen. Signor Foresta hat sehr zurückgezogen gelebt. Wir wissen wenig über ihn. Jede Information ist wichtig für uns. Können Sie uns etwas über ihn sagen?»

«Ich habe ihn kaum gekannt, Commissario. Er war ein treuer Kunde. Jeden Monat hat er bei mir irgendetwas für seine Anlage gekauft. Aber das hier … da muss er anderswo noch ein viel besserer Kunde gewesen sein. Das ist … gigantisch. So etwas habe ich nur selten gesehen, und ich bin seit über dreißig Jahren im Geschäft. Signor Foresta ist … äh, war offenbar ein großer Sammler. Aber er hat nie etwas über sich erzählt – ein paar Belanglosigkeiten über das Wetter. Das war’s.»

«Können Sie uns ungefähr sagen, was das hier mit allem Drum und Dran gekostet hat?»

Der Mann umrundete das ganze Kunstwerk, ließ seinen Blick schweifen, kniete sich schließlich auf den Boden und hob die Decke hoch, die zu allen Seiten der Anlage bis auf die Speicherdielen herabhing. Er musterte den Unterbau und bestaunte die ausgetüftelte Elektronik.

«Legen Sie mich nicht auf ein paar Tausend Euro fest! Aber das alles ist Topqualität. Die technische Ausrüstung ist auf dem neuesten Stand. Was ich sehe – und es sind viele echte Raritäten darunter, wie dahinten der alte Orientexpress –, bekommen Sie nicht unter fünfzigtausend Euro. Vorsichtig geschätzt!»

Die Polizisten staunten nicht schlecht.

«Danke, Signor Lombardi! Wenn Ihnen noch etwas im Zusammenhang mit Signor Foresta einfallen sollte, rufen Sie mich an!»

Bariello gab ihm seine Karte, und di Lauro begleitete den Mann zur Haustür. Dort traf er auf Bertani und die Leute von der Spurensicherung. Allmählich wurde es auf dem Speicher eng. Graziano hob Paolo auf den Arm.

«Sag ciao zu Zio Vincenzo, und dann gehen wir! Die Männer müssen jetzt arbeiten.»

Der Junge hatte die ganze Zeit auf die Züge geschaut, die in einem fort über die Anlage fuhren.

«Papa, ich möchte, dass mal einer durch den Tunnel fährt.»

«Aber die Züge fahren doch alle durch die Tunnel.»

«Nein, durch den Tunnel da!»

«Welchen?»

Paolo beugte sich auf dem Arm seines Vaters vor und deutete mit seiner kleinen Hand auf einen Tunnel mit zwei Ausgängen nebeneinander.

«Schau, da fährt doch schon einer durch.»

«Die fahren immer nur durch den da. Ich will, dass sie durch den anderen fahren.»