Dämonenherz - Anina Gilgen - E-Book

Dämonenherz E-Book

Anina Gilgen

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Beschreibung

Als Ausländerin muss Ophelia in Zürich an einer Losziehung teilnehmen, die festlegt, wer ins Jenseits geschickt wird. Zu ihrem Entsetzen zieht ihr Bruder das vermaledeite Los. Um ihm dieses Schicksal zu ersparen, vertauscht sie heimlich die Lose und geht an seiner Stelle ins Reich der Dämonen. Als in ihrem neuen Zuhause ein Mord geschieht, beschließt sie, den Täter zu finden - nicht zuletzt, weil das Leben eines bestimmten Dämons davon abhängt ...

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Seitenzahl: 408

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhaltsverzeichnis

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

EPILOG

EINS

„Ich mache Spagetti. Willst du auch welche?“, fragte David, während er zum Kühlschrank schlenderte, ihn öffnete und den Inhalt inspizierte. Ophelia saß an dem winzigen Küchentisch und blickte aus dem Fenster. Die kleine Küche lag in der Ecke des Wohnzimmers; auf der einen Seite wurde sie durch eine Wand von ihm getrennt, während die andere Seite zum Wohnbereich hin geöffnet war. Als „Halbraum“ hatte Tanja, eine von Ophelias besten Freundinnen, die Küche einmal bezeichnet. Dieser Ausdruck kam Ophelia seither des Öfteren in den Sinn, wenn sie in der Küche saß. Kein richtiger Raum, kein Zimmer mit vier sicheren Wänden, keine Tür, die man schließen und so andere Menschen aussperren konnte.

Ophelia vermisste die Küche ihrer alten Wohnung. Zwar war diese älter und in deutlich schlechterem Zustand gewesen als die Küche hier: Der Herd hatte Brandflecken gehabt, die sie selbst mit dem besten Putzmittel nicht herausbekommen hatte, der Backofen hatte ein unangenehmes, metallisch kreischendes Geräusch gemacht, sobald man ihn eingeschaltet hatte, und eine Spülmaschine war nie vorhanden gewesen. Doch dafür hatte die alte Küche etwas besessen, das all ihre Mängel wieder wettgemacht hatte: Benjamin. Ben, der morgens Dreieinhalb-Minuten-Eier und Toast zubereitet hatte, wenn sie beide vor den Vorlesungen genügend Zeit für ein üppigeres Frühstück gehabt hatten. Ben, der Kaffee gekocht, PET-Flaschen die Luft herausgedrückt, Pfannen abtrocknet oder einfach nur am großen Eichenholztisch gesessen und sich mit der Hand müde über die Augen gerieben hatte.

David stand noch immer suchend vor dem Kühlschrank. „Wo zum Henker ist das Pesto? Vorhin war es noch da. Ophelia, weißt du, wo …“ Er drehte sich zu ihr um. Sein Blick fiel erst auf den Kaffeelöffel in ihrer rechten Hand, dann auf das Glas mit Pesto, das vor ihr auf dem Tisch stand. „Mann!“ Genervt trat David einen Schritt vor und nahm Ophelia die Sauce weg. „Ich dachte, das wäre ein Jogurt oder so! Wieso isst du Pesto, so ohne nichts?“

„Ohne etwas“, korrigierte Ophelia ihn.

David verdrehte die Augen. „Ist doch egal, du Besserwisserin.“ Er musterte den Inhalt des Glases genauer. „Mann, du hast mehr als die Hälfte weggefuttert! Das reicht jetzt nicht mehr für uns drei.“ Er stellte das Pesto in den Kühlschrank und holte aus dem Schrank daneben eine Packung Risotto hervor. „Dann mache ich eben Safranrisotto.“ Er stellte einen Topf auf den Herd und goss etwas Öl hinein. Dann drehte er sich zu Ophelia um und betrachtete sie eingehend.

„Was ist los mit dir?“, wollte er wissen. „Wieso sagst du nichts? Du sitzt nur so apathisch da und isst Sauce. Pesto! Weißt du, wie viel Öl dadrin ist? Sonst schaust du doch immer, dass du nicht so viele Kalorien isst.“

Ophelia zuckte mit den Schultern. „Jetzt ist es doch egal, was ich esse.“ Wen kümmerte es, wenn sie dick und rund wurde?

David kniff seine braungrünen Augen zusammen, um Ophelias Gesicht besser sehen zu können. „Du bist nicht geschminkt, oder? Und deine Haare sehen schrecklich aus.“

„Danke“, sagte Ophelia trocken. Sie wusste, dass sie schrecklich aussah, doch es war ihr vollkommen gleichgültig.

„Im Ernst, was hast du? Machst du dir Sorgen wegen heute Abend?“, fragte David.

„Ja“, sagte Ophelia halbherzig.

David merkte, dass das höchstens die halbe Wahrheit war. Sein Gesicht verdüsterte sich. „Es ist immer noch dieses Arschloch, stimmt's?“

„Er ist kein Arschloch!“, rief Ophelia, sofort aus ihrer Lethargie gerissen.

„Wieso verteidigst du ihn?“ David schüttete die halbe Packung des Risottoreises in die Pfanne und briet ihn im Öl an.

Weil er einer der bemerkenswertesten Menschen war, die sie kannte? Weil sie ihn liebte? „Ich verteidige ihn nicht. Ich sage nur die Wahrheit.“

David wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment hörten sie, wie die Wohnungstür geöffnet wurde. Beide drehten den Kopf in Richtung des Geräuschs, obwohl die Tür wegen der Wand nicht zu sehen war.

„Hallo zusammen“, ertönte die Stimme des Neuankömmlings. Sie grüßten zurück. Einen Moment später trat ihr Vater in die Küche. „Ihr seid am Kochen? Was gibt es Gutes?“, fragte er.

„Safranrisotto. Du isst mit, oder?“ David goss gerade Gemüsebouillon in die Pfanne.

Ihr Vater fuhr sich verlegen durch die Haare. „Eigentlich habe ich schon gegessen“, meinte er. Er klang ein wenig schuldbewusst.

„Wo denn?“, fragte Ophelia irritiert. „Ich dachte, du warst im Fitnesscenter.“ Natürlich hätte es sein können, dass ihr Vater sich nach dem Sport an einem Take-away etwas gekauft hatte, doch das sah ihm nicht ähnlich. Gewöhnlich legte er großen Wert darauf, dass sie gemeinsam zu Abend aßen. Na ja, zumindest war es früher so gewesen, als Ophelia noch bei ihren Eltern gewohnt hatte, und in den letzten paar Tagen, seit denen sie wieder bei ihrem Vater lebte.

Ihr Vater wusste nicht, was er sagen sollte. Ophelia verstand nicht, wieso er sich so komisch verhielt.

„Willst du es ihr nicht endlich sagen?“ Davids Stimme klang ungewohnt hart. „Wenn du es nicht tust, mache ich es.“ David und sein Vater tauschten einen Blick, der in Ophelia ahnen ließ, dass sie wohl schon mehrmals über dieses Thema diskutiert hatten. Sie kam sich ausgeschlossen, naiv vor. Außerdem merkte sie, dass sie wohl gleich etwas Unerfreuliches hören würde.

„Wovon redet ihr? Was sollst du mir sagen?“ Ophelia schaute ihren Vater auffordernd an, doch der wich ihrem Blick aus und starrte stattdessen auf den Boden. Er brauchte mehrere Anläufe, bis er endlich ein paar Sätze zustande brachte. „Ich war nicht im Fitness, sondern bei Marlies. Sie ist meine Freundin. Ich … ich habe eine Beziehung“, sagte er.

„Okay“, sagte Ophelia nach einer kurzen Pause. Sein Geständnis überraschte sie. „Ich … freue mich für dich.“

Endlich hob ihr Vater wieder den Blick. „Wirklich?“, fragte er zweifelnd. Ophelia überlegte. Als ihre Eltern sich vor zwei Jahre getrennt hatten, weil ihre Mutter ihren Vater für einen anderen Mann verlassen hatte, war ihre Familie auseinandergebrochen. Für Ophelia hatte es sich falsch angefühlt, dass ihre Eltern auf einmal nicht mehr zusammengehören sollten. Dass ihr Vater nun eine neue Beziehung hatte, versetzte ihr einen kleinen Stich und brachte schmerzliche Erinnerungen zurück. Doch das würde sie ihm nicht erzählen. Er hatte unter der Trennung genauso gelitten wie die Kinder.

„Ja“, bekräftige Ophelia ihre Antwort. „Mutter hat ja auch einen anderen Mann. Warum sollst du keine neue Frau haben dürfen? Ich will nicht, dass du dein Leben lang allein bleibst.“

Bei ihren Worten löste sich ein Teil der Anspannung aus dem Gesicht ihres Vaters.

„Seit wann hast du denn eine Beziehung?“, wollte Ophelia wissen.

„Seit Längerem“, wich ihr Vater ihr aus.

„Das heißt?“, hackte Ophelia nach. Zwei Wochen? Drei Wochen?

„Seit einem Jahr.“

„Was?“ Entgeistert blickte Ophelia zwischen ihrem Vater und ihrem Bruder hin und her. „Seit einem ganzen Jahr? Und ihr beide habt mir nichts gesagt?“

„Ich habe ihm ständig gesagt, dass er es dir endlich erzählen soll“, verteidigte sich David.

„Warum hast du es nicht gemacht, wenn er den Mumm nicht dazu hatte?“ Ophelia verstand die beiden einfach nicht.

„Ich finde, es ist nicht meine Sache, dir das zu erzählen.“ David versuchte, überzeugt zu klingen, doch in seiner Stimme schwang etwas Schuldbewusstsein mit. Ophelia warf ihm einen bösen Blick zu. Klar, er hatte Recht, es war die Aufgabe ihres Vaters. Doch dass David es seiner Schwester gegenüber so lange verschwiegen hatte, grenzte an Verrat.

Ophelia wandte sich wieder ihrem Vater zu. „Warum hast du mir nichts gesagt? Glaubst du, ich komme damit nicht klar? Ich bin schon ein großes Mädchen, verdammt nochmal!“

Ihr Vater räusperte sich. „Na ja, ich habe dir noch nicht ganz alles gesagt“, gestand er. „Marlies hat ebenfalls Kinder. Zwei Söhne. Sie sind noch klein, einer ist im Kindergarten, der andere erst zwei Jahre alt.“ Ophelia hatte das Gefühl, der Boden würde ihr unter den Füßen weggerissen.

„Und du … du bist sozusagen ihr neuer Vater?“ Sie gab sich große Mühe, dass ihre Stimme nicht brach. Das Schweigen, das auf ihre Frage folgte, war Antwort genug.

„Oh Gott. Wie alt ist Marlies?“ Ophelia musste fragen, auch wenn sie die Antwort gar nicht wissen wollte.

Ihr Vater errötete bis zu seinem Haaransatz. „Neunundzwanzig.“

Ophelia rechnete schnell nach. Ihr Vater war fünfundfünfzig – was einen Altersunterschied von sechsundzwanzig Jahren bedeutete. Was aber noch schlimmer war, war der Altersunterschied zwischen Marlies und ihr selbst, der nur sechs mickrige Jahre betrug.

Ophelia erhob sich. Sie musste hier raus, weg von ihrem Vater und ihrem Bruder, von denen sie sich verraten fühlte. Ihr Vater wollte sie zurückhalten, doch David legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Lass sie“, sagte er.

Als Ophelia aus der Küche stürmte, überlegte sie, wohin sie gehen sollte, um das Gehörte zu verdauen. In ihr Zimmer? Sie könnte die Tür von innen abschließen. Nein, das war zu nahe; sie brauchte mehr Distanz.

Ophelia schlüpfte in ihre schwarzen Ballerinas. Dann schnappte sie sich ihre Tasche, in der sich Handy, Geldbeutel und Vorlesungsunterlagen befanden. Obwohl der Ordner über Quantenphysik ziemlich schwer war, nahm sie sich nicht die Zeit, die Tasche erst auszuräumen.

Sie verließ die Wohnung und stieg die Treppen hinunter. Die Wohnung ihres Vaters befand sich im dritten Stockwerk eines Hauses, das erst vor wenigen Jahren renoviert worden war. Obwohl die Wohnung nicht groß war, kostete die Miete ein halbes Vermögen, da sie sich im Zentrum Zürichs befand. Sie befand sich beim „Milchbuck“, nur wenige Minuten vom Irchelpark entfernt. Mitten im Irchelpark lagen viele Institute der Universität Zürich, auch das Physikinstitut. Weil Ophelia im Hauptfach Physik studierte, hatte sie die meisten Vorlesungen dort, nur wenige Gehminuten von der Wohnung entfernt. Leider war das politikwissenschaftliche Institut nicht auch dort angesiedelt, sodass sie für Veranstaltungen ihres Nebenfachs nach Oerlikon musste. Mit dem Fahrrad oder der Tram war es allerdings auch in kurzer Zeit erreichbar.

Ophelia beschloss, den kleinen See im Irchelpark aufzusuchen. Obwohl es Sommer und Freitagabend war, hoffte sie, dort nicht zu viele Leute anzutreffen; die Chancen standen insofern gut, als das Wetter zwar mild, aber nicht schön war. Dicke Wolken erstickten das Sonnenlicht und drohten mit baldigem Regen.

Sobald Ophelia den Park betreten hatte, dauerte es nur wenige Augenblicke, bis dieser seine beruhigende Wirkung entfaltete. Eigentlich hielt Ophelia sich für ein Stadtkind; sie hatte immer in der Stadt gewohnt und sich dort auch wohl gefühlt. Doch wenn sie aufgewühlt war, verspürte sie eine fast greifbare Sehnsucht nach der Natur.

Wie Ophelia gehofft hatte, war der Park relativ leer. Sie setzte sich ans Ufer des Sees und riss Gras aus dem gepflegten Rasen. Wie konnte ihr Vater ihr das antun? Ihr Familie war doch schon zerrüttet genug gewesen, bevor er beschlossen hatte, mit dieser Marlies eine neue zu gründen. Ophelia wollte ihren Vater nicht mit zwei Kleinkindern teilen.

Von David war sie fast noch mehr enttäuscht. Sie liebte ihren Bruder über alles. Sollten Geschwister nicht immer zusammenhalten? Dann erinnerte sie sich daran, dass auch sie ihren Bruder im Stich gelassen hatte, als sie gleich nach der Trennung ihrer Eltern mit Ben zusammengezogen war.

Die Melodie von Mozarts Zauberflöte riss sie aus ihren Gedanken. Ihr Handyklingelton. Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass sie bereits eine halbe Stunde hier gesessen und ihren Gedanken nachgehangen hatte. In der Zwischenzeit hatte auch die Dämmerung eingesetzt.

Ophelia öffnete ihre Tasche und grub ihr Handy hervor. Auf dem Display sah sie, dass David anrief. Einen kurzen Moment erwog sie, den Anruf nicht entgegen zu nehmen, doch dann siegte die Vernunft. Schließlich könnte etwas passiert sein. Und falls David nur anrief, um mit ihr über Dinge zu sprechen, über die sie noch nicht bereit war zu reden, konnte sie das Gespräch jederzeit beenden. Moderner Technik sei Dank.

„Ja?“, meldete Ophelia sich.

„Hey“, antwortete ihr Bruder. „Ich ruf nur an, um dich an heute Abend zu erinnern. Es ist schon fast sieben. Ich wollte nicht, dass du es bei der ganzen Scheiße, die du gerade erfahren hast, vergisst.“

Ophelia hatte es nicht vergessen. Sie hatte die letzten Tage deswegen kaum schlafen können. Doch ihr Leben kam ihr im Moment derart trostlos vor, dass ihr sogar die Losziehung heute Abend nicht mehr so wichtig vorkam.

„Ähm, ja“, murmelte sie ins Telefon. Sie brachte es nicht über sich, sich bei David für seine Fürsorge zu bedanken. „Ich komme natürlich. Bin pünktlich um acht da.“

„Ophelia, wegen vorhin: Ich –“ Weiter kam er nicht; mit einem Knopfdruck hatte Ophelia aufgelegt. Als sie aufstand, merkte sie, dass ihre Beine eingeschlafen waren. Sie rieb sich ihre Oberschenkel, dann schaute sie in den Himmel. Es sah aus, als könnte es jeden Moment zu regnen beginnen.

Tatsächlich fielen die ersten Tropfen, als Ophelia zur Tramhaltestelle eilte. Eigentlich hatte sie mehr als genug Zeit, doch sie wusste, dass man zur Losziehung pünktlich erscheinen musste. Auf der Anzeigetafel stand, dass die nächste Tram in zwei Minuten fuhr. Es war eine der Linie 9. Während Ophelia im Schutz der Haltestelle wartete, prasselte der Regen immer heftiger nieder. Die Passanten holten ihre Regenschirme hervor oder zogen sich die Kapuzen tief ins Gesicht.

Die Tram kam pünktlich, Ophelia stieg ein. Es war nicht mehr Stoßzeit, es hatte sogar freie Sitzplätze. Ophelia merkte, dass sie sich bloß eingeredet hatte, dass ihr die Losziehung heute Abend egal war. Mit jeder Minute wurde sie nervöser. Wieso war sie nicht früher losgegangen? Was, wenn es irgendeinen Unfall gab und die Tram nicht weiterfahren konnte? In Zürich kam es manchmal zu derartigen Verzögerungen. Dann würde sie zu spät kommen – und sie durfte nicht zu spät kommen! Ophelia atmete ein paar Mal tief durch, um sich zu beruhigen, doch es half nur wenig.

Als sie am Paradeplatz ausstieg, durchströmte sie sowohl Erleichterung, es rechtzeitig geschafft zu haben, als auch Panik. Ein kurzer Blick auf ihre Armbanduhr sagte ihr, dass sie noch eine halbe Stunde Zeit hatte. Da ihr bisheriges Abendessen lediglich aus Pesto bestanden hatte, ging sie in den Coop, um etwas zu essen und zu trinken zu kaufen. Sie entschied sich für einen Eistee, eine Banane, zwei Dinkelbrötchen und – nach kurzem Zögern – für ein Schokoladencroissant. Immerhin könnte dies zu so etwas wie ihrer Henkersmahlzeit werden.

Sie fand eine freie Sitzbank in der Nähe des Stadthauses, auf der sie das soeben Erworbene verspeiste. Dabei behielt sie die Zeit stetig im Auge.

Als sie schließlich vor dem Eingang des Stadthauses stand, war es vier Minuten vor acht. Trotzdem blieb sie einen kurzen Moment stehen, um tief Luft zu holen.

Sie wusste, dass sie dieses Haus mit großer Wahrscheinlichkeit genauso verlassen würde, wie sie es betreten hatte. Nichts würde sich ändern, sie würde ihr Leben ungestört weiterführen können.

Was ihr Sorgen bereitete, war die ein-, zweiprozentige Chance, dass dies eben nicht geschah. Dass sie das Los ziehen und sich ihr Leben für immer verändern würde.

Doch es half nichts. Wie ein paar Dutzend andere Ausländer war sie zufällig ausgewählt worden, an der Losziehung teilzunehmen. Weigerte sie sich, dabei mitzumachen, würde als Bestrafung automatisch sie anstelle des Losziehers geschickt werden.

Mit leicht zitternden Knien betrat Ophelia das Gebäude und folgte den aufgestellten Schildern, auf denen Pfeile ihr den Weg zum richtigen Raum zeigten. Sie konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal so nervös gewesen zu sein.

Vor einer Tür stand eine schick angezogene Frau, Ophelia den Rücken zugewandt. In der einen Hand hielt sie eine Liste, in der anderen ein Handy, das sie an ihr Ohr presste.

„Ja, die 19“, raunte sie soeben in ihr Telefon, so gedämpft, dass Ophelia sie kaum verstand. „Das müsstest du wirklich wissen!“, fügte sie zischend hinzu. Als die Frau Ophelias Schritte hörte, fuhr sie abrupt herum und beendete das Gespräch. Einen Moment schien sie unschlüssig, dann murmelte sie „Auch egal“, bevor sie Ophelia nach ihrem Namen fragte. Der Blick der Frau flog über die Liste, bis sie die richtige Stelle gefunden hatte. Mit einem Kugelschreiber, den sie aus der Tasche ihres Blazers gezaubert hatte, setzte sie ein Häkchen hinter Ophelias Namen, bevor sie Ophelias Hosentaschen auf ein vorgefertigtes Los hin kontrollierte. Ophelia fand die Kontrolle ziemlich dämlich; hätte sie ein Los verstecken wollen, dann hätte sie dies auch in ihrer Unterwäsche tun können.

„Die Tasche können Sie an der Garderobe abgeben.“ Mit einem leichten Nicken bedeutete sie Ophelia, durch die Tür zu gehen. Nervös schob Ophelia die Tasche höher auf die Schulter und betrat das Gebäude. Unter dem wachsamen Blick der Frau, der wohl verhindern sollte, dass Ophelia ein verstecktes Los aus ihrer Tasche hervorholte, gab Ophelia ihre Tasche an der Garderobe ab.

Die Losziehung wurde in der Gull-Halle durchgeführt. Die Halle reichte bis zur Decke des Stadthauses und wurde von allen Seiten durch Säulengalerien gesäumt. Mitten in der Halle waren mehrere Stuhlreihen aufgestellt worden, die durch einen Durchgang in der Mitte getrennt wurden. Etwa zehn stehende Männer und Frauen flankierten die Stühle; sie würden überwachen, dass bei der Losziehung alles mit rechten Dingen vonstattenging. Fast alle Plätze waren bereits besetzt. Ophelia schätzte, dass sich etwa siebzig, achtzig Leute hier eingefunden hatten. Die wenigen Gespräche, die an Ophelias Ohr drangen, wurden im Flüsterton geführt. So unterschiedlich die Frauen und Männer auch aussahen, hatten sie doch folgende Gemeinsamkeiten: Sie waren jung, sie waren nervös und sie besaßen keinen Schweizer Pass.

Ophelia entdeckte ihren Bruder in der Menge, der ihr zuwinkte. Er saß in der zweiten Reihe auf der rechten Seite und hatte ihr den Platz links neben sich freigehalten. Während sie zu ihm eilte, erhob sich ein Mann aus der ersten Reihe.

„Sind wir vollzählig?“ Augenblicklich verstummten alle und richteten ihre Blicke nach vorne. Seine Frage richtete sich an die Frau mit der Liste, die inzwischen am anderen Ende des Raums stand.

„Noch nicht. Oder ist eine Anna Mestre hier?“

Niemand antwortete. Die Atmosphäre im Raum veränderte sich. Zwar blieb sie angespannt, doch nun lag ein Funken Hoffnung in ihr. Wenn diese Anna Mestre nicht auftauchte, würde sie geschickt werden. Und alle anderen konnten wieder nach Hause und mussten nie wieder herkommen. Laut Gesetz musste man während seines ganzen Lebens an höchstens einer Losziehung teilnehmen.

Die Hoffnung zerbarst wie eine auf den Boden geschleuderte Schneekugel, als eine junge Frau hereingestürmt kam.

„Sorry für die Verspätung“, keuchte sie.

„Sind Sie Frau Mestre?“, fragte die Frau mit der Liste, während sie zu ihr ging und ihre Hosentaschen kontrollierte. Die junge Frau nickte, während sie sich hastig auf den nächstgelegenen Stuhl setzte.

„Gut. Jetzt, wo alle da sind, können wir anfangen“, meinte der Mann, der vorne stand. Ophelia glaubte, sein Gesicht von Wahlplakaten und aus Zeitungen zu kennen. Wahrscheinlich ein Mitglied des Stadtrats; sie war sich nicht sicher, zu welcher Partei er gehörte.

Der Politiker zog eine Stofftasche hervor. Ophelia vermutete, dass sich darin die Lose befanden. Auf einen Schlag wurde ihr schlecht, als hätte ihr jemand in den Magen geboxt. Unwillkürlich griff sie nach der Hand ihres Bruders. David nahm ihre Finger zwischen seine und drückte sie fest.

„Ich erkläre Ihnen jetzt, wie das ablaufen wird. Erst werden Sie Ihre offenen Hände zeigen, damit wir sicher gehen können, dass sich kein anderes, präpariertes Los darin befindet. Dann nehmen Sie sich ein Los aus diesem Sack und ziehen ganz langsam Ihre Hand hinaus, mit einem Los darin, und geben den Sack an die Person neben Ihnen weiter. Anschließend öffnen Sie das Los und zeigen die Nummer, die darauf steht, dem zuständigen Überwacher.“ Der Politiker deutete auf die Personen, die neben den Stuhlreihen Stellung bezogen hatten. „Nur die Überwacher wissen, welche Nummer die richtige ist. Das soll sicherstellen, dass niemand betrügen kann. Trotzdem: Wenn irgendjemand von Ihnen versucht, das gezogene Los verschwinden zu lassen oder gegen ein mitgebrachtes auszutauschen …“ Er ließ seinen Blick grimmig über alle Reihen schweifen, „… wird diese Person sofort geschickt werden. Egal, welche Nummer sein Los hat.“ Die Stille und die Furcht in dem Raum waren fast greifbar. „Am Ende überprüfen wir außerdem noch, ob alle Nummern mit denen auf unserer Liste übereinstimmen und uns kein Fehler unterlaufen ist. Damit das Ganze hier nicht ewig dauert, werden wir die Lose hier auf vier verschiedene Säcke verteilen und in jeder Ecke des Raumes starten; das heißt, zwei Säcke in der ersten, zwei Säcke in der letzten Reihe.“

Damit die Anwesenden sich davon überzeugen konnten, dass alles mit rechten Dingen zuging, schüttelte der Politiker die Lose in seiner Tasche durcheinander, bevor er vor aller Augen immer etwa fünfzehn bis zwanzig Lose aus der Tasche in vier verschiedene Plastikschüsseln schüttete. Vier Überwacher holten sich je eine Schüssel und trugen sie in die vier Ecken des Raumes.

„Die Losziehung kann beginnen“, sagte der Politiker und nickte den Überwachern zu. Ophelia fand die pathetischen Worte höchst unangemessen und schwor sich, diesen Politiker nie auf ihre Wahlliste zu setzen, sollte sie jemals den Schweizer Pass erhalten.

Mit Spannung und Grausen beobachtete Ophelia, wie die Leute in der Reihe vor ihr langsam ein Los aus der Schüssel zogen. Bald wurde die Plastikschüssel nach hinten zu ihrer Reihe gereicht.

„Was passiert, wenn jemand die richtige Nummer zieht? Geben sie es sofort bekannt?“, fragte David seine Schwester.

Ophelia löste ihre schwitzenden Finger aus seiner Hand. „Nein, ich glaube nicht. Sie haben ja gesagt, dass sie am Ende nochmals alles kontrollieren.“ Die Schüssel war in der Zwischenzeit bei ihrem Sitznachbarn angekommen.

„Stimmt.“ Davids Stimme zitterte leicht. Sein Gesicht war ungewöhnlich blass.

Der Mann neben Ophelia zog ein Los, dann streckte er ihr die Schüssel mit einem Gesichtsausdruck hin, als sei diese die Pest. Es lagen vielleicht noch zehn Lose in der Schüssel. Alle waren blau. Ophelia streckte ihre rechte Hand in die Schüssel, nahm das erstbeste Los und zog ihre Hand langsam wieder heraus, bevor sie die Schüssel an David weiterreichte. Gebannt schaute sie zu, wie seine zitternden Hände ebenfalls ein Los herauszogen. Sie flehte im Stillen, dass sein Los nicht dasjenige sei.

„He, du da. Aufmachen“, forderte die Überwacherin Ophelia auf. Ophelia nickte. Langsam riss sie die gehefteten Enden des Loses weg. David neben ihr tat das Gleiche. Ophelia entrollte das blaue Papier und las die Nummer, die darauf stand. Nummer 33. Ophelia versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen. Wenn die Frau am Telefon vorhin tatsächlich von der Losnummer desjenigen gesprochen hat, der geschickt werden sollte, dann war Ophelia aus dem Schneider.

Gerade wollte sie die Nummer der Überwacherin zeigen, als es geschah: Nachdem David das zweite Ende seines Loses abrissen hatte, entglitt das Los seinen schwitzenden, zittrigen Händen, fiel zu Boden und rollte unter den Stuhl vor Ophelia. Starr vor Schreck schaute David auf das Los am Boden. Ohne nachzudenken, bückte Ophelia sich hastig, um das Los aufzuheben.

„Was macht ihr da?“, rief die Überwacherin mit scharfer Stimme. Ophelia konnte nicht anders: Mit ihrem rechten Ring-und Mittelfinger rollte sie das Los am Boden auseinander, um die Nummer sehen zu können. Schlagartig wurde ihr übel. Es war die Nummer 19.

„Komm sofort hoch!“ Die Überwacherin sprach nicht laut, doch in dem stillen Saal konnte ihre Worte jeder hören.

„Schon gut, schon gut.“ Ophelia kam wieder hoch und hielt ihre Hände hoch. „Ihm ist sein Los runtergefallen. Ich habe es bloß aufgehoben“, sagte sie beschwichtigend. Die Menschen aus der ersten und zweiten Reihe hatten ihre Köpfe neugierig zu ihnen gewandt. Ophelia brauchte den Kopf nicht zu drehen, um zu wissen, dass auch der ganze Rest des Saals sie anstarrte. Die Überwacherin schien sich etwas zu beruhigen, als Ophelia David bedacht langsam eines der Lose in die Hand drückte. Trotzdem blieb sie misstrauisch. „Wenn ihr gerade geschummelt habt und bei der Kontrolle etwas nicht stimmt“, drohte sie, „dann sorge ich dafür, dass ihr beide geschickt werdet!“

Ophelia bemühte sich, gefasst zu wirken.

„Und jetzt eure Namen“, verlangte die Überwacherin barsch. Wie die anderen vor ihnen, nannten Ophelia und David ihre Namen und zeigten ihr die gezogenen Nummern. Als sie Ophelias Nummer las, hoben sich die Augenbrauen der Überwacherin, bevor sie die Zahl hinter ihrem Namen notierte.

„Welche Nummer hast du gezogen? Ich habe die 33“, flüsterte David in ihr Ohr, sobald die Überwacherin zwei Reihen weiter war. Ophelia hielt es für unklug, mit David zu reden, wenn sie bereits im Verdacht standen, die Losziehung manipuliert zu haben.

„19“, flüsterte sie deshalb kurz angebunden. David verstand den Hinweis und schwieg danach.

Um zwanzig nach acht hatten alle ein Los gezogen. Die Überwacher kamen zusammen, um die gezogenen Nummern zu überprüfen. Schließlich nickte einer der Überwacher, trat nach vorne zum Politiker und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

„Ich bitte um Ihre Aufmerksamkeit“, rief der Politiker mit dröhnender Stimme. Ophelia schüttelte unwillkürlich den Kopf; im Saal war es ohnehin schon mucksmäuschenstill. „Die Losziehung ist zu Ende. Alles ist mit rechten Dingen zugegangen. Wir wissen nun, wer von Ihnen geschickt wird“, fuhr der Politiker fort.

Vielleicht hatte die Frau an der Tür ja gar nicht von Losnummern gesprochen, als sie „Ja, die 19“ in ihr Telefon geflüstert hatte. Vielleicht hatte sie von einer Hausnummer gesprochen, von einem Schließfach oder vom Ende einer Telefonnummer. Vielleicht war die 19 gar nicht die richtige Zahl und es spielte nicht die geringste Rolle, dass Ophelia ihr eigenes und Davids Los vertauscht hatte.

„Es ist Ophelia Beck. Sie hat die Nummer 19 gezogen.“ Ein kollektives, erleichtertes Aufatmen ging durch den Saal. Einige brachen in einen Redeschwall aus, während andere sich nach der armen Person umschauten, die es erwischt hatte. Ophelia legte David, der sie mit geweiteten Augen anstarrte, die Hand auf den Unterarm, rührte sich ansonsten aber nicht.

„Die anderen können gehen“, wiederholte der Politiker nachdrücklich. Daraufhin erhoben sich mehrere Leute gleichzeitig und verließen hastig den Saal.

„Nein“, hauchte David. Aus den Augenwinkeln glaubte Ophelia, Tränen in seinen Augen zu sehen.

„Schon gut“, murmelte sie, während sie seinen Arm tätschelte. Es hätte schlimmer kommen können. Um ein Haar wäre schließlich David – ihr wunderbarer, glücklicher Bruder! – geschickt worden.

Beide blieben sitzen, während der Rest der Menschen den Saal verließ. Die letzten warfen Ophelia und David mitleidige Blicke zu.

Als der Saal geräumt war, stand Ophelia auf und ging nach vorne zum Politiker. David folgte ihr wie betäubt.

Der Politiker sprach Ophelia sein Beileid aus, wobei er hinzufügte, dass es nun mal immer jemanden treffen müsse. Ophelia musste irgendein Formular unterschreiben; sie hatte nicht die Nerven, es zu lesen. Jetzt war ohnehin alles egal.

Der Politiker teilte ihr mit, dass sie sich morgen Abend auf dem Hönggerberg einzufinden hatte. Dort würde die Zeremonie stattfinden. Auf den Gedanken, in der Zwischenzeit zu fliehen, sollte sie besser nicht kommen; dies habe schlimme Konsequenzen, außerdem würde sie überwacht werden. Ophelia hätte gerne erklärt, dass sie ohnehin keinen Fluchtversuch starten würde. Aus Angst, dass ihre Stimme brechen würde, schwieg sie und nickte.

Auf dem Nachhauseweg schauten die Tramgäste Ophelia und David neugierig und zugleich betroffen an. Davids Körper zog sich in regelmäßigen Abständen krampfhaft zusammen, wenn er aufschluchzte. Auch Ophelia hatte, sobald sie das Gebäude verlassen hatten, zu weinen begonnen. Trotzdem fragte keiner der Mitreisenden, was los sei.

Vor ihrem Wohnblock hielt David sie plötzlich am Arm fest. Die Verzweiflung, die Ophelia in seinen Augen sah, zerriss ihr das Herz.

„Ich lass dich nicht gehen!“ Er umarmte sie; seine Arme hielten sie so fest, dass sie Mühe hatte, zu atmen. Plötzlich wurde sie sich wieder bewusst, dass ihr kleiner Bruder gar nicht mehr so klein war: Er überragte sie um einen halben Kopf, hatte diesen Sommer den Bachelor abgeschlossen. Wieso hatte sie dann immer noch das Gefühl, dass sie für ihn verantwortlich wäre und ihn beschützen müsste? „Du fliehst einfach. Das kann nicht so schwer sein! Ich lasse nicht zu, dass sie dich schicken!“

„Ich kann nicht fliehen. Das weißt du.“ Ophelia versuchte, vernünftig zu klingen, während sie David den Rücken tätschelte. „Es ist schon in Ordnung.“ Bei diesen Worten weinte David nur noch heftiger. Nach ein paar Minuten löste er sich endlich von ihr und sie betraten das Gebäude.

„Ihr seid lange weg gewesen“, rief ihr Vater aus der Küche, als er hörte, dass sie zurückgekehrt waren. „Ich habe mir schon fast Sorgen gemacht. Ich wollte euch noch sagen, dass ich diesen Sonntag nicht in die Kirche kommen kann.“ Er kam zu ihnen – und erstarrte. Sein Blick huschte zwischen David und Ophelia hin und her, als würde er einem Pingpongspiel folgen. Ophelia wusste, was er dachte: Wer? Welches seiner beiden Kinder hatte es getroffen?

Ophelia deutete mit ihrer rechten Hand auf sich selbst. Halb erwartete Ophelia, dass ihr Vater ein bisschen erleichtert sein würde, dass es sie und nicht ihren Bruder getroffen hatte. Doch in seinem Gesicht stand nichts als Entsetzen.

An diesem Abend ging Ophelia früh zu Bett. Ein Teil von ihr wollte die letzten kostbaren Stunden, die ihr mit ihrer Familie blieben, bis aufs Letzte auszukosten. Doch momentan waren alle zu traurig und zu schockiert, um etwas anderes zu tun als zu weinen.

Mitten in der Nacht – Ophelia war noch wach, sie hatte Schwierigkeiten, einzuschlafen – öffnete sich leise die Tür ihres Schlafzimmers. Ihr Bruder kam herein und legte sich zu ihr.

„Bist du noch wach?“, flüsterte er.

„Ja.“

Einen Moment herrschte Schweigen. „Weißt du, ich hab's dir vor zwei Jahren ganz schön übel genommen, als du ausgezogen bist, als sich unsere Eltern getrennt haben“, vertraute David ihr an. Ophelia versteifte sich. Sie hatte das bereits vermutet, als David sich damals von ihr zurückgezogen hatte. Weil sie zuvor wie Pech und Schwefel zusammengehalten hatten, hatte Davids plötzliche Verschlossenheit sie tief verletzt. Nach ein paar Monaten, in denen Ophelia sich besonders um David bemüht hatte – sie hatte jedes seiner Konzerte besucht, ihm ohne besonderen Grund Geschenke gemacht, ihm immer wieder angeboten, bei ihr und Ben zu übernachten, wenn er von Zuhause wegwollte – waren sie einander langsam wieder nähergekommen. Bis heute hatte keiner von ihnen das Thema je angesprochen.

„Es tut mir leid. Ben und ich haben schon lange geplant, zusammenzuziehen. Ich habe nicht damit gerechnet, dass unsere Eltern sich trennen. Als sie es uns dann gesagt haben, war mit der Wohnung schon alles geregelt. Ich hatte sogar schon die ersten Umzugskartons gepackt.“

„Ich weiß “, erklärte David. „Es ist nicht deine Schuld. Das habe ich natürlich schon damals gewusst. Aber – ich weiß nicht, irgendwie hat es mich trotzdem verletzt.“

„Gefühle sind nicht immer rational“, meinte Ophelia. Nach einer kurzen Pause wollte sie wissen: „Wo hast du dich eigentlich früher immer versteckt? Als wir Verstecken spielten und ich dich nie gefunden habe?“

David lachte. „Auf dem Kleiderschrank unserer Eltern.“

Sie klärten weitere Vorfälle, schwelgten in Erinnerungen, vertrauten sich Geheimnisse an. Irgendwann schlummerten sie ein.

Als Ophelia wieder erwachte, war es bereits halb zehn. Zu ihrer Erleichterung wusste sie sofort, was am Vortag geschehen war; in ihren Augen gab es fast nichts Schlimmeres, als am Morgen nach einem schrecklichen Ereignis von der Erinnerung daran nochmals mit derselben Heftigkeit überrascht zu werden, weil die Nacht es wie ein Traum hatte erscheinen lassen. David schlief noch, während sie sich leise ihren Koffer aus dem Kleiderschrank holte. Was sollte sie mitnehmen? Was würde sie brauchen? Neben Kleidern, Büchern und Zahnbürste packte Ophelia auch Pflege- und Kosmetikartikel ein, obwohl diese nach ein paar Wochen sowieso leer sein würden. Was war mit technischen Geräten? Gab es da drüben überhaupt Strom? Unschlüssig schaute Ophelia ihren I-Pod an, bis sie ihn doch einpackte. Als Letztes legte sie ein paar Fotos ihrer Familie obenauf.

Beim gemeinsamen Frühstück versuchten alle, sich möglichst normal zu verhalten. Danach kamen ihre beiden besten Freundinnen – Tanja und Caroline – wie auch ihre Mutter vorbei, um sich von ihr zu verabschieden. Letztere kam glücklicherweise ohne ihren neuen Mann.

Schließlich war es Zeit zu gehen. Obwohl ihre Mutter sie mit dem Auto hatte fahren wollen, nahm Ophelia lieber den Bus. Im Zürcher Verkehrschaos kam man mit dem öffentlichen Verkehr meist rascher ans Ziel. Zu Ophelias Erleichterung bestand ihre ganze Familie darauf, sie zu begleiten. Als sie alle schweigend im Bus saßen, betrachtete Ophelia die drei anderen. Das Gesicht ihrer Mutter: rundlich, schmale Lippen, ausgeprägte Falten zwischen den blauen Augen, die sie so störten, dass sie Botox ernsthaft in Erwägung zog. Ganz anders die Haut des Vaters: keine tiefe Falten, dafür unzählige kleine, wie zerknittertes Papier. Augen- und Haarfarbe hatte er beiden Kindern vererbt, wobei letztere einem hellen Grau gewichen war. David: ovale Gesichtsform, fein geschnittene Züge, eher weit auseinanderstehende, braungrüne Augen. Man sagte, David und sie sähen sich sehr ähnlich. Ophelia konnte nicht beurteilen, ob das stimmte.

Wie lange würde es dauern, bis sie sich nur noch mithilfe der Fotografien an die Gesichter ihrer Familie würde erinnern können?

Bei der Haltestelle „ETH Hönggerberg“ warteten bereits der Zeremonienmeister sowie drei Sicherheitsleute, die sie über den Campus der Hochschule zum nahe gelegenen Wald führten. Der Zeremonienmeister war ein kleiner, hagerer Mann um die fünfzig. In seinem bodenlangen, purpurfarbenen Umhang hätte er Ophelias Meinung nach besser auf eine Theaterbühne gepasst. Da Semesterferien und zudem Samstagabend war, begegneten sie auf dem Weg praktisch keinen Studenten. Am Waldrand hielten sie an. Die Straße, die in den Wald führte, war durch ein rotweißes Plastikband abgesperrt. Die Sicherheitsleute erklärten ihnen, dass Ophelias Familie sie nur bis hierhin begleiten durfte. Obwohl sie sich in den letzten Stunden mental auf den Abschied vorbereitet hatte, war Ophelias Gesicht nach wenigen Sekunden tränenüberströmt, als sie allen der Reihe nach um den Hals fiel. Ihr Bruder, den sie als letzten und am längsten umarmte, flüsterte ihr ins Ohr: „Ich lass dich nicht allein. Ich komme mit dir.“

Ophelia versteifte sich. „Nein“, sagte sie bestimmt. „Du musst hierbleiben.“

„Ich will aber nicht hierbleiben. Nicht, wenn du weg bist.“

Ophelia löste sich aus der Umarmung, um ihm in die Augen sehen zu können. Die Verzweiflung, die sie darin sehen konnte, brach ihr das Herz. „Ich will nicht, dass du mitkommst. Ich will, dass du hierbleibst.“ Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er sein Leben zerstören würde.

Mit diesen Worten drehte sie sich um, packte ihren Koffer und ging zu den Sicherheitsleuten und dem Zeremonienmeister, die taktvoll ein Stück zur Seite getreten waren. Zu fünft gingen sie unter dem Absperrband hindurch und folgten dem Waldweg. Die Rotbuchen, Fichten, Spitz- und Bergahorne, die den Weg säumten, kamen Ophelia wie ihre persönliche Ehrengarde vor, die zwitschernden Vögel wie das Orchester, das ein letztes Mal für sie spielte.

Nach ungefähr zehn Minuten blieben sie stehen. Rechts des Weges befand sich eine kleine Lichtung, in der ein Steinkreis errichtet worden war, dessen Durchmesser knappe zwei Meter betrug. Im Kreis lag eine runde Scheibe aus Ton. Als Ophelia nähertrat, konnte sie erkennen, dass in der Mitte der Scheibe eine hässliche Fratze gemalt worden war. Aus deren Lockenkopf ragten zwei Hörner, böse Schlitzaugen starrten unter buschigen Augenbrauen hervor. Um das Bild herum stand spiralförmig von innen nach außen etwas geschrieben. Ophelia konnte den Text nicht lesen.

Auf ein Räuspern des Zeremonienmeisters hin stellten die Sicherheitsleute sich in respektvollem Abstand um den Kreis herum auf. Der Zeremonienmeister zog einen Stoffbeutel aus einer Tasche seines Umhangs und bat Ophelia, sich in den Steinkreis zu stellen. Ängstlich bezog sie neben der tönernen Scheibe Stellung und stellte den Koffer ab. Während der Zeremonienmeister langsam um den Kreis herum ging und dabei getrocknete Kräuter aus seinem Beutel hinter sich streute, stimmte er einen tiefen Singsang an. Die Worte aus seinem Mund konnte Ophelia nicht verstehen. Sie wusste nur, dass er auf Lateinisch sang.

Schlagartig spürte Ophelia, wie die Luft um einige Grad abkühlte. Sie schlang ihre nackten Arme um den Körper. In ihrer Brust flatterte ihr Herz wie ein panisches, gefangenes Vögelchen.

Der Zeremonienmeister hielt mit seinem Gesang inne und sank mit gefalteten Händen auf die Knie. Plötzlich stand eine Gestalt vor Ophelia. Sie war aus dem Nichts aufgetaucht. Erschrocken wich Ophelia einen Schritt zurück, wobei sie mit dem linken Fuß an den Steinkreis stieß. Das Wesen war etwas größer als sie. Ophelia war verblüfft, wie menschenähnlich es aussah. Seine Kleidung schien einem anderen Jahrhundert zu entstammen: Es trug dunkelblaue Pantalons, dazu eine schwarzgrau gestreifte Weste. Schwarze Locken fielen über die hohe Stirn. Die gerade, schmale Nase wurde von hohen Wangenknochen eingerahmt. Nur die schmalen, eher weit auseinanderstehenden Augen verrieten, dass es sich bei dem Wesen um keinen normalen Mann handelte: Sie waren von gelbbrauner Farbe. Wie Eulenaugen, schoss es Ophelia durch den Kopf.

Zu ihrer Erleichterung ruhten diese seltsamen Augen nur kurz auf ihr. Der Dämon wandte sich dem Zeremonienmeister zu, der noch immer auf dem Waldboden kniete.

„Bitte stehen Sie auf“, sagte der Dämon. Auch seine Stimme, rau und tief, klang wie die eines gewöhnlichen Mannes. Sein Deutsch hatte einen leichten Akzent, den Ophelia nicht einordnen konnte. Der Zeremonienmeister rappelte sich auf und verneigte sich tief.

„Salve dominus in quo mundo. Gaudeo te cognoscere“, stieß er so rasch hervor, dass er sich mehrmals verhaspelte.

Der Dämon verzog kurz das Gesicht. „Finden Sie es nicht unhöflich, eine Sprache zu sprechen, die nicht alle Anwesenden verstehen?“ Sein Blick suchte Ophelia. „Du sprichst doch kein Latein?“, wollte er wissen. Ophelia, starr vor Angst, brachte kein Wort hervor. Der Dämon seufzte.

„Spricht sie überhaupt?“, murmelte er.

„Ich kann kein Latein.“ Ophelia hatte ihre Stimme wieder gefunden, auch wenn sie in ihren Ohren ungewöhnlich hoch klang.

„Doch nicht stumm? Dann bin ich beruhigt.“ Der Dämon musterte sie belustigt. „Na ja, ich habe nichts anderes erwartet. Heute lernt kaum jemand mehr Latein.“ Er wandte sich dem Zeremonienmeister zu. „Aber das tut jetzt nichts zur Sache. Ich habe es eilig. Haben Sie den Vertrag?“, fragte er.

Der Zeremonienmeister zog ein Stück Papier und einen Kugelschreiber aus seinem Umhang hervor. Bei seiner Kleidung hätte Ophelia eher Pergament und Feder erwartet. Er streckte dem Dämon beides entgegen.

„Sehr schön.“ Nachdem der Dämon den Text kurz überflogen hatte, unterschrieb er am Ende des Dokuments. Ophelia fühlte sich, als hätte er gerade ihre Seele gekauft. Ihr wurde schwindlig, als sie begriff, wie nahe dies der Wirklichkeit kam.

„Dann wäre das erledigt.“ Der Dämon nickte dem Zeremonienmeister wie auch den Sicherheitsleuten kurz zu, bevor er seine Hand ausstreckte, um Ophelias Handgelenk zu umfassen. Diese versuchte unwillkürlich, einen weiteren Schritt zurückzuweichen, wobei die Steine ihr aber im Weg waren. Sie taumelte nach hinten und wäre gestürzt, wenn der Dämon sie nicht im letzten Moment an den Armen nach vorne gezogen hätte. Sobald sie das Gleichgewicht wieder erlangt hatte, ließ er sie los.

„Ich hätte dich vorwarnen sollen, da du dich offensichtlich ein wenig fürchtest“, meinte er. „Um dich mitzunehmen, muss ich dich berühren.“ Er nahm Ophelias Koffer in die linke Hand und hielt ihr die rechte hin, die Handfläche nach oben. „Meine Hände werden ziemlich warm werden von der Energie, die ich für die Reise kurz in mir speichern muss. Versuch, trotzdem nicht loszulassen.“

Ophelia hatte keine Wahl. Als sie ihre Augen schloss und ihre linke Hand in diejenige des Dämons legte, dachte sie an ihren Bruder. Besser sie als er.

Wie der Dämon gesagt hatte, wurde seine Hand immer wärmer. Am Anfang hatte es Ophelia kaum bemerkt, doch mit der Zeit wurde die Temperatur unangenehm. Der Dämon schien ihr Unbehagen zu spüren und umklammerte ihre Hand fester, damit sie sie nicht wegziehen konnte. Ophelia biss sich auf die Unterlippe, um nicht zu schreien. Mittlerweile war die Hand des Dämons sicher fünfzig Grad heiß. Gerade als sie glaubte, es nicht mehr auszuhalten, verschwand die Wärme mit einem Schlag. Seine wieder erkalte Haut war wie Balsam.

Ophelia öffnete die Augen. Vor Überraschung stieß sie einen kleinen Schrei aus. Der Mischwald auf dem Hönggerberg, in dem sie noch vor wenigen Sekunden gestanden hatten, war verschwunden. Stattdessen blickte Ophelia auf eine flache, karge Steppe. Eine dicke Wolkenschicht bedeckte den Himmel und raubte der Dämmerung fast den gesamten kümmerlichen Rest, der ihr an Licht geblieben war. Während es vorhin warm genug für ein dünnes T-Shirt und kurze Jeans gewesen war, überzog nun eine Gänsehaut Ophelias nackte Arme und Beine.

Der Dämon räusperte sich. „Du kannst mich jetzt loslassen“, erklärte er. Sofort tat Ophelia wie geheißen und trat zwei Schritte zurück. Sie schaute an sich herab. Zehen, Füße, Beine, Rumpf, Arme – ihr ganzer Körper war noch da. Sie hatte den Wechsel zwischen den Welten unbeschadet überstanden.

„Kommst du?“ Der Dämon setzte sich in Bewegung und steuerte auf etwas zu, das hinter Ophelia lag. Als sie sich umdrehte, erblickte sie ein eindrucksvolles Anwesen. Die drei Gebäude passten so gut zur Landschaft, in die sie eingebettet waren, als seien sie vor Urzeiten aus ihr emporgewachsen. Das Wohnhaus, zwei Stockwerke hoch, lag da wie ein dunkelgrauer Wolf, kaum sichtbar im schwindenden Licht, abgesehen von den glühenden Fensteraugen. Ost- und Westflügel – wie zwei ausgestreckte Pranken – umschlossen einen kleinen Pavillon, der aus demselben Stein gefertigt war. Ein länglicher, großer Holzbau flankierte den Westflügel. Ophelia vermutete, dass es sich dabei um die Stallungen handelte; sie glaubte, die Umrisse eines Pferdes davor zu erahnen.

Ophelia beeilte sich, dem Dämon zu folgen, der am Pavillon vorbei auf den Haupteingang des Wohnhauses zuging. Ihren Koffer trug er noch immer in der linken Hand. Obwohl er nicht mehr Schritte machte als Ophelia, kam er viel zügiger voran. Offenbar war seine Schrittlänge größer.

An der Eingangstür wartete er auf sie und hielt ihr die Tür auf. Wahrscheinlich wollte er nur höflich sein, trotzdem missfiel es Ophelia, das Haus vor ihm zu betreten; so musste sie ihm den Rücken zuwenden.

Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, drang nur noch durch ein kleines Fenster etwas Licht. Ophelia konnte kaum etwas erkennen. Der Dämon holte eine Packung Streichhölzer aus seiner Westentasche hervor, entzündete eines davon und hielt es an eine Fackel, die er von der Wand nahm. Ophelia hoffte, dass das Lampen- und Fackeln-Anzünden nicht in ihren Aufgabenbereich fallen würde; bei ihr brachen die Streichhölzer immer entzwei, wenn sie sie entzünden wollte.

Der Dämon führte sie eine steinerne Treppe hoch, bog dann links in einen breiten Durchgang ab, der nach einem Stück wieder nach links in den Ostflügel abzweigte. Zwischen den Fenster standen auf dem Flur schmale Regale, in denen alte Öllampe, verstaubte Tintenfässer, emaillierte Schatullen und vieles mehr Platz gefunden hatte. Vor der zweitletzten Tür blieb der Dämon stehen.

„Das ist dein Zimmer.“ Wieder hielt er ihr die Tür auf, nachdem er ihren Koffer auf den Teppich des Flurs gestellt hatte. Langsam trat Ophelia über die Schwelle. Jemand hatte bereits zwei brennende Öllampen ins Zimmer gestellt, die den überraschend großen Raum in ein freundliches Licht tauchten. Das rotbezogene Bett, etwa einen Meter zwanzig breit, war ungewohnt hoch. Wie der Kleiderschrank, der bis unter die Decke reichte, bestand es aus massivem Kirschholz. Unter dem einzigen Fenster stand ein Schreibtisch, gleich neben einer Balkontür. An der Wand daneben war ein leeres Bücherregal. Als Ophelia sich umdrehte, sah sie, dass an der Zimmertür ein Spiegel befestigt war, der beinahe bis zum dunklen Holzboden reichte.

Der Dämon hob den Koffer hoch und trat ins Zimmer, um ihn aufs Bett zu stellen. „Ich lasse dich jetzt allein. Abendessen gibt es in einer halben Stunde. Ich hoffe, du hast trotz der späten Stunde noch nicht gegessen?“

Ophelia schüttelte den Kopf. Beim Abschied von ihrer Familie hatte sie andere Gedanken im Kopf gehabt. Aber auch jetzt verspürte sie keinen Hunger.

Mit einem kurzen Kopfnicken verließ der Dämon den Raum. Augenblicklich verlor Ophelia einen Teil ihrer Anspannung. Sie packte den Inhalt ihres Koffers aus. Viel hatte sie nicht mitgenommen: Als sie mit dem Einräumen fertig war, war die eine Hälfte des Kleiderschranks noch leer und im Bücherregal hatten nur vier Bücher eine neue Heimat gefunden: „Homo Faber“, „Eine Studie in Scharlachrot“, „Der Hund von Baskerville“ und die Bibel. Würde letztere ihr an diesem gottlosen Ort helfen können?

Ophelia stellte die Familienfotos neben die Bücher ins Regal. Bei deren Anblick musste sie schon wieder weinen. Schluchzend ließ sie sich auf ihr Bett sinken, unfähig, den Schmerz zurückzudrängen.

Jemand klopfte an die Tür. Da Ophelia nichts sagte, wurde sie einfach aufgerissen.

„Willkommen im Jenseits!“

ZWEI

Als die ältere Frau Ophelias verheultes Gesicht sah, verschwand ihr strahlendes Lächeln schlagartig.

„Merde!“, rief sie. „So schlimm?“ Sie setzte sich neben Ophelia aufs Bett und wollte ihr den Arm über die Schultern legen, hielt jedoch inne, als sie die Angst in Ophelias Augen sah.

„Was hast du?“, fragte sie.

Ophelia überlegte, ob sie die Frage wirklich stellen sollte. Schließlich entschied sie, dass sie die Antwort einfach kennen musste.

„Sind Sie ein Dämon?“, wollte sie wissen.

Die Frau hob überrascht die Augenbrauen, was die Runzeln auf ihrer Stirn vertiefte.

„Nein. Warum?“ Ihre hohe Stimme hatte einen leicht französischen Akzent. Ophelia versuchte, sich ihre Erleichterung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen. Statt zu antworten, fuhr sie gleich fort mit ihren Fragen: „Wie erkenne ich, ob jemand ein Dämon ist? Ich hatte keine Ahnung, dass sie uns so ähnlichsehen! Haben alle Dämonen eine so komische Augenfarbe?“

Die blaugrauen Augen hinter dem grauen, feinen Brillengestell schauten sie an, als käme sie aus einer anderen Welt. Was sie genau genommen ja auch tat.

„Warum ist dir das so wichtig?“ Beim letzten Wort konnte Ophelia den Akzent am deutlichsten hören, das „Ch“ und das „G“ klangen zu weich.

„Ich muss doch wissen, ob ich einen Menschen oder einen Dämon vor mir habe“, erklärte Ophelia. Stellte die Frau sich absichtlich dumm?

Die Frau musterte Ophelia einen Moment, wobei sie nachdenklich ihre Augen zusammenkniff. „Nicht alle Dämonen haben so außergewöhnliche Augen wie unser Herr“, antwortete sie schließlich. „Es gibt auch Dämonen, die blaue oder braune Augen haben. Ich glaube nicht, dass es ein Merkmal gibt, an dem man sie von Menschen unterscheiden kann. Wie du bereits festgestellt hast, sind sie uns sehr ähnlich. Nicht nur äußerlich.“ Den letzten Satz sagte sie mit Nachdruck.

„Es sind Dämonen“, rief Ophelia ungläubig. Wie konnte die Frau glauben, dass Dämonen von ihrem Wesen her den Menschen ähnelten?

„Ja, das sind sie. Und du solltest besser erst ein paar kennenlernen, bevor du sie verurteilst.“

Ophelia erwiderte nichts darauf. Die Frau hatte ihre Meinung, sie hatte ihre eigene. Nie im Leben würde sie sich davon überzeugen lassen, dass Dämonen nichts Schlechtes darstellten. In der Kirche hatte sie gelernt, dass Dämonen deshalb so viele menschliche Angestellte brauchten, weil sie deren Gefühle aufsaugten; nur so blieben sie bei Kräften. Das war auch der Grund, weswegen alle im selben Haushalt wohnten und schliefen: So sollte sichergestellt werden, dass die Dämonen möglichst oft von möglichst vielen Menschen umgeben waren. Sie waren böse, gefühllose, unnatürliche Parasiten.

„Dein Leben muss wirklich schlimm gewesen sein, wenn du hergekommen bist, obwohl du solche Angst vor Dämonen hast“, sagte Cléo. Ihre Stimme klang wärmer als zuvor und ein wenig mitleidig. Im ersten Moment war Ophelia verwirrt, schließlich war sie nicht ins Jenseits gekommen, um einem üblen Leben zu entfliehen, sondern weil sie dazu gezwungen worden war. Dann fiel ihr ein, dass das Gesetz zu den Losziehungen erst vor etwa zwei Jahren angenommen worden war. Vielleicht war dies die erste Losziehung, die seit der Einführung des Gesetzes stattgefunden hatte. Die Angestellten, die schon länger hier lebten, waren folglich allesamt freiwillig ins Jenseits gekommen. Wahrscheinlich dachte Cléo, dass dem immer noch so wäre. „Aber eigentlich bin ich gekommen, um dich zum Essen zu holen“, wechselte Cléo das Thema. „Alle warten auf uns. Sie wollen dich kennenlernen.“

Ophelia holte tief Luft, bevor sie sich erhob.

„Wie heißen Sie eigentlich?“, wollte sie von der Frau wissen.

„Ich dachte schon, du fragst nie“, lachte diese. „Ich bin Cléo. Und du kannst ruhig du zu mir sagen. Wir duzen uns hier alle.“

Bevor sie zum Abendessen gingen, bestand Cléo darauf, dass Ophelia die gerötete Haut um ihre Augen mit Make-up überdeckte. Sie wollte wohl nicht, dass alle am Tisch merkten, dass Ophelia geweint hatte. Nicht, dass das Make-up das hätte vertuschen können.

Cléo führte Ophelia wieder dieselbe Treppe hinab ins Untergeschoß. Die erste Tür östlich des Eingangs führte direkt in einen geräumigen Speisesaal, in dem ein Feuer in einem offenen Kamin brannte. Um eine lange, schlichte Tafel herum hatten bereits etwa zehn Personen Platz genommen, den Dämon eingeschlossen, der am Kopfende des Tisches saß. Es war bereits gedeckt, auf dem Tisch standen mehrere noch zugedeckte Schüsseln. Zwei Stühle, einer neben dem Dämon, der andere ihm direkt gegenüber, waren noch frei. Ophelia zögerte, bevor sie auf den zweiten Platz zuhielt. Wenigstens lag so die größtmögliche Distanz zwischen dem Dämon und ihr, auch wenn sie ihm so direkt gegenübersaß. Sobald Cléo und sie Platz genommen hatten, begann der Dämon zu sprechen.

„Nun, da das neuste Mitglied unseres Haushalts eingetroffen ist, könnten sich alle kurz vorstellen“, schlug er vor. Ein junger Mann mit aschblondem Lockenkopf und modischer Brille, der rechts neben Ophelia saß, stöhnte auf.

„Vor dem Essen?“, hakte er nach. „Dann riskierst du, dass ich verhungere! Und, dass das Essen kalt wird.“ Erschrocken blickte Ophelia zwischen dem Mann und dem Dämon hin und her. Würde der Dämon ihn für seinen Widerspruch bestrafen?

„Dieses Risiko kann ich natürlich nicht eingehen.“ Die Lippen des Dämons verzogen sich zu einem kaum merklichen Lächeln. „Dann schlage ich vor, dass wir uns während des Essens vorstellen. Aber versucht bitte, nicht mit vollem Mund zu sprechen. Ophelia soll euch schließlich verstehen.“