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Aus der Traum - kaum hat Anna sich in Prinz Philipp von Sabien verliebt, als dieser aus politischen Gründen Prinzessin Aurora von Glanda heiraten muss. Um seine zukünftige Verlobte besser kennenzulernen, reist Prinz Philipp nach Glanda - und mit ihm Anna, die als Dolmetscherin tätig sein soll. In Glanda angekommen, ist Annas Liebeskummer jedoch das kleinste Problem. Der König von Glanda scheint seit Neustem über eine mysteriöse Macht zu verfügen. Er schreckt vor keinen Maßnahmen zurück, um die Zentauren und Faune aus Glanda zu vertreiben. Doch diese versammeln sich im Verwunschenen Wald und bündeln ihre magischen Kräfte, um zurückzuschlagen.
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Seitenzahl: 689
Veröffentlichungsjahr: 2023
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PROLOG
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
AURORA
ANNA
CONSTANTIN
AURORA
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
AURORA
ANNA
AURORA
ANNA
CONSTANTIN
AURORA
CONSTANTIN
ANNA
CONSTANTIN
AURORA
ANNA
AURORA
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
AURORA
CONSTANTIN
ANNA
AURORA
CONSTANTIN
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
CONSTANTIN
AURORA
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
AURORA
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
AURORA
CONSTANTIN
AURORA
ANNA
AURORA
ANNA
AURORA
CONSTANTIN
ANNA
AURORA
CONSTANTIN
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
CONSTANTIN
ANNA
AURORA
CONSTANTIN
ANNA
Aurora saß vor ihrem Frisiertisch und blickte gedankenverloren in den Spiegel. Während die Zofe ihre kunstvolle Zopffrisur löste, ließ Aurora in ihren Gedanken die feierliche Verkündigung ihres Vaters beim Abendessen Revue passieren. Heute war es König Stefan endlich gelungen, dem Krieg zwischen Kaspien und Loringen ein Ende zu bereiten. Doch nicht nur das: Neu gehörten Kaspien und Loringen zu Glanda, dem Königreich ihres Vaters. Ein stolzes Lächeln erhellte Auroras Gesicht. Sie hatte den besten Vater der Welt.
Allerdings hatte er sie nach dem Abendessen nochmals daran erinnert, dass sie bald würde heiraten müssen. Sie wusste, dass ihre Mutter ihm damit schon seit Wochen in den Ohren lag. Jahrelang hatten weder ihr Vater noch ihre Mutter Druck ausgeübt, doch seit Auroras zwanzigstem Geburtstag schien die größte Sorge ihrer Eltern zu sein, Aurora möglichst rasch unter die Haube zu bringen.
Das Problem war nicht, dass Aurora nicht gern geheiratet hätte. Aber sie glaubte an die Liebe auf den ersten Blick, und bisher war ihr dieses Glück nicht zuteilgeworden.
Ein schmerzhaftes Zupfen an ihren Haaren riss sie aus ihren Gedanken.
„Aua! Pass auf, Helmina.“ Ihre Zofe murmelte eine Entschuldigung, bevor sie mit besonderer Vorsicht fortfuhr, Auroras braunes Haar zu bürsten. „Was glaubst du, finde ich bald einen Mann, der mir gefällt?“, fragte Aurora, wobei sie ihre Stirn in Falten legte.
Helmina schaute ihr durch den Spiegel in die Augen, bevor sie nickte. „In ein paar Wochen findet doch der große Ball statt. Wegen Glandas dreihundertjährigem Bestehen. Da reisen Adlige aus dem ganzen Land und sogar aus den Nachbarländern an. Da findet Ihr bestimmt einen jungen Mann, der Euch gefällt.“
„Umgekehrt muss ich ihm aber auch gefallen“, murmelte Aurora.
Helmina schnaubte dezent. „Meine Prinzessin, welcher Mann könnte euren Reizen nicht erliegen? Ihr seid die schönste Frau im ganzen Land.“
Aurora wusste, dass Helmina das nicht bloß sagte, um sich bei ihr einzuschmeicheln. Aurora war es sich gewöhnt, dass alle Blicke sich auf sie richteten, sobald sie einen Raum betrat. Plötzlich konnte sie den Tag des Balls, an dem die Gründung Glandas gefeiert wurde, kaum mehr erwarten. Zurzeit bedeckte allerdings eine zwanzig Zentimeter dicke Schneeschicht das Land; bis zum Ball würden noch Wochen vergehen. Aurora seufzte, doch dann lächelte sie zuversichtlich.
„Du hast Recht, Helmina. Spätestens am Ball werde ich meinen zukünftigen Gatten kennenlernen.“ Und dann begann sie sich auszumalen, wie ihr Traummann sein würde.
„Könntest du mir bitte das Brot reichen, Anna?“
Anna hielt ihrem Vater das Körbchen hin, in dem noch zwei Scheiben Ruchbrot lagen, wobei sie darauf Acht gab, mit dem Ärmel ihres Kleides den Kerzen auf dem Tisch nicht zu nahe zu kommen. Draußen war es bereits stockdunkel. Anna sehnte die Sommermonate mit ihren langen, milden Abenden herbei.
„Danke“, sagte ihr Vater. „Wie kommst du mit deiner Arbeit am Buch voran?“
„Einigermaßen“, antwortete Anna, sobald sie die Kürbissuppe in ihrem Mund runtergeschluckt hatte. „Ich bin mit dem Ende noch nicht ganz zufrieden. Aber bis Ende dieser Woche sollte die erste Fassung fertig sein.“ Heute war Ertag, der erste Tag der Woche.
„So schnell?“, fragte ihr Vater erstaunt. Dann lächelte er. „Deine Fähigkeiten überraschen mich immer wieder. Dabei sollte ich es doch mittlerweile besser wissen.“
Anna errötete und senkte den Blick. „Mit der Übung wird man schneller. Wie geht deine Arbeit voran? Wann wirst du Zeit haben, deinen neuen Pflug zu bauen?“ Annas Vater war Wagner und stellte landwirtschaftliche Geräte, Wagen und Räder aus Holz her. Doch weil er gleichzeitig Politiker in der Unterkammer Sabiens war, blieb ihm für sein Handwerk nicht mehr so viel Zeit wie früher.
„Das kann ich noch nicht sagen.“ Ihr Vater zuckte die Schultern. „Aber so schnell wie möglich. Wenn wir im Frühling erste Versuche mit dem Pflug machen, können im Herbst vielleicht schon ein paar Bauern den neuen Pflug verwenden. Das würde ihre Arbeit erleichtern.“
Mittlerweile hatte Anna ihre Suppe aufgegessen. Ihr Vater war wie immer langsamer.
„Was läuft gerade in der Politik?“, wollte Anna wissen. Lisbeth, die gerade Annas leeren Teller abräumte, schnaubte missbilligend. Sie hielt es für unangemessen, dass Herbert mit seiner Tochter über Politik sprach.
„So einiges“, sagte Herbert, wobei er Lisbeth geflissentlich ignorierte. „Für am meisten Aufsehen hat eine Nachricht aus Glanda gesorgt. König Stefan soll den Krieg zwischen Kaspien und Loringen beendet haben.“
„Das ist doch eigentlich eine gute Nachricht“, sagte Anna, die sich über den besorgten Gesichtsausdruck ihres Vaters wunderte. „Oder ist König Stefan dabei zu brutal vorgegangen?“
Herbert schüttelte den Kopf. „Im Gegenteil. Es ist erstaunlich, mit wie wenig Gewalt König Stefan die beiden Länder dazu gebracht hat, den Krieg zu beenden und sich Glanda anzuschließen.“
„Glanda anschließen?“, wiederholte Anna ungläubig.
„Ja. Kaspien und Loringen unterstehen jetzt Glanda. König Stefans Begründung lautet, dass er den Friedensprozess überwachen möchte. Er will sicherstellen, dass nicht sofort wieder Krieg ausbricht.“
„Glaubst du, seine Absichten sind tatsächlich edel? Oder will er seine Macht ausweiten?“
Ihr Vater seufzte. „Das ist schwer zu sagen. Ich kenne ihn kaum. Aber auf jeden Fall müssen wir das Geschehen im Auge behalten.“
Als auch ihr Vater fertig gegessen hatte, räumte Lisbeth den ganzen Tisch ab und verschwand in die Küche für den Abwasch. Die alte Witwe diente ihnen schon seit über zehn Jahren und wohnte in einer kleinen Kammer neben der Küche. Sowohl Herbert als auch Anna zogen sich in ihre Zimmer zurück, die beide im Obergeschoss lagen. Als Anna die Treppe nach oben stieg, bildete sich trotz ihrer warmen Kleidung eine Gänsehaut auf ihren Oberarmen. Während das Esszimmer durch den Kachelofen etwas geheizt wurde, war die Luft im Rest des Hauses kalt. Sobald Anna die Öllampe in ihrem Zimmer mit einem Streichholz entzündet hatte, schlüpfte sie ins Bett, um unter der warmen Decke zu lesen. Ihr Vater hatte ihr ein neues Buch mitgebracht. Es war das nächste Werk, dass sie gegen Bezahlung von Glandisch auf Sabisch übersetzen sollte. Der Verleger, der ihrem Vater die Bücher zuschickte, glaubte, dass Herbert die Bücher selbst übersetzte. Herbert ließ ihn in dem Glauben – nicht, weil er anstelle seiner Tochter die Lorbeeren einheimsen wollte, sondern weil diese Arbeit für Frauen als unschicklich galt. Literarisch traute man den Frauen bestenfalls zu, eigens für sie verfasste Groschenromane zu lesen.
Anna hatte Glandisch vor Jahren im Unterricht gelernt. Der sanfte, fließende Klang der Sprache hatte ihr von Anfang an gefallen. Als sie vor etwas über zwei Jahren zunächst aus Spaß damit begonnen hatte, das erste Buch zu übersetzen, hatte sie anfangs trotzdem Mühe gehabt. Bei fast jedem Satz hatte sie hin und her überlegt, welche Satzstrukturen und Formulierungen am besten geeignet wären, um dem Original gerecht zu werden und zugleich in der Übersetzung ansprechend zu klingen. Außerdem waren hin und wieder Redewendungen vorkommen, die sie hatte nachschlagen müssen. Doch Übung macht den Meister: Für ihr drittes Buch, das sie bis Ende dieser Woche übersetzt haben wollte, hatte Anna nur noch halb so lange benötigt wie für das Buch davor.
Morgens arbeitete Anna als Weberin – einem der wenigen Berufe, der für Frauen ohne Weiteres zugänglich war – nachmittags widmete sie sich der Übersetzung. Sie hatte riesiges Glück, dass ihr Vater ihr als Kind einen Privatlehrer finanziert hatte. Die Schulpflicht für alle Kinder war in Sabien erst vor zwei Jahren eingeführt worden. Davor waren Kinder aus ärmeren Gesellschaftsklassen sowie praktisch alle Mädchen vom Unterricht ausgeschlossen gewesen.
Später stand Anna nochmals auf, um sich bettfertig zu machen. Als sie sich wieder hinlegte, starrte sie gedankenverloren ins Licht der Öllampe. Wie immer würde sie es in der Nacht brennen lassen. Sie mochte die Dunkelheit nicht.
Ihre Gedanken kreisten um das Buch, an dem sie morgen Nachmittag weiterarbeiten wollte. Wenn sie sich beeilte, würde sie vielleicht sogar noch früher fertig werden, als sie ihrem Vater angekündigt hatte. Bei dem Gedanken an sein überraschtes und stolzes Lächeln schlief sie behaglich ein.
Am nächsten Tag stürmte Herbert am frühen Nachmittag in Annas Zimmer, wo diese gerade an ihrer Übersetzung arbeitete.
„Hallo, Vater“, rief sie überrascht. „Warum hast du es so eilig?“
„Du musst mit ins Schloss kommen.“ Keuchend hielt er sich die Seite. Wahrscheinlich war er den ganzen Weg von Schloss Rabenhorst, in dem er an einer politischen Sitzung teilgenommen hatte, bis hierher gerannt.
„Warum?“
„Das erkläre ich dir auf dem Weg dorthin.“
Ohne ein weiteres Wort zu verlieren holte Anna ihren dicken Wollmantel, ihre graue Mütze und ihre dicken Fäustlinge, um gegen den eisigen Wind gewappnet zu sein. Sobald sie nach draußen in die schmale Gasse trat, traf sie eine heftige Böe, die ihr beinahe den Atem raubte. Ihre Nase und ihre Wangen wurden fast taub vor Kälte, doch die Winterkleidung erfüllte ihren Zweck und hielt die Kälte größtenteils von ihr fern. Sie eilte ihrem Vater hinterher, der die Gasse entlang zur Hauptstraße lief, um dieser dann Richtung Schloss zu folgen. Ausnahmsweise war Anna froh, dass es schneite; so lag eine frische Schneeschicht auf dem Boden, der sonst eisig und rutschig gewesen wäre. Sie hatte Mühe, ihrem Vater zu folgen, der dank seiner sportlichen Statur schnell war.
„Der Prinz muss das Bett hüten und kann momentan nichts sehen. Irgendeine schwere Augenentzündung“, erklärte Herbert, sobald Anna zu ihm aufgeschlossen hatte. Er musste beinahe schreien, damit Anna ihn trotz Wind und Mütze verstehen konnte. Mittlerweile hatten sie die Hundsbrücke erreicht, die über einen schmalen Fluss zum kleinen Hügel führte, auf dem Schloss Rabenhorst thronte. „Dem Prinz ist verständlicherweise langweilig. Deswegen sucht der König jemanden, der seinem Sohn vorliest. Ich habe dich vorgeschlagen.“
Mitten auf der Brücke blieb Anna abrupt stehen. Ihr Vater bemerkte es erst nach ein paar Schritten. Fragend drehte er sich zu ihr um.
„Wieso müssen wir so rennen?“, fragte sie verständnislos.
Ihr Vater schwieg für einen Moment, während er keuchend Luft holte.
„Eine gute Frage“, meinte er schließlich gedehnt. „Der König meinte, ich solle dich rasch holen, und da hatte ich irgendwie das Gefühl… es fühlte sich dringend an… Aber du hast natürlich Recht. Auf die paar Minuten kommt es nicht an.“ Gemäßigten Schrittes führten sie ihren Weg fort.
„Warum soll ich dem Prinzen vorlesen? Es gibt doch sicher andere Leute, die das besser können.“
„Anscheinend ist es gar nicht so einfach, jemanden zu finden. Die, die gut vorlesen können, haben entweder Wichtigeres zu tun, als dem Prinzen vorzulesen, oder sie sind erkältet und heiser.“ Er warf ihr einen Seitenblick zu. „Und ehrlich gesagt, ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendjemand im ganzen Schloss besser vorlesen kann als du.“
Anna las ihrem Vater und Lisbeth regelmäßig abends etwas vor und hatte daher viel Übung. Sie hätte sich vom letzten Satz ihres Vaters geschmeichelt fühlen können, doch seine Worte „Wichtigeres zu tun“ hallten in ihrem Kopf wider. Sie wusste, dass sich diese Aussage auf die gebildeten Männer bezog, die im Schloss wohnten oder dort ein und aus gingen. Wenn sie ein Mann gewesen wäre, hätte sie nicht in einer Weberei arbeiten und es als Ehre ansehen müssen, dem kleinen Prinzen vorlesen zu dürfen. Auch hätte sie nicht klammheimlich Arbeiten ausführen müssen, für die offiziell nur Männer klug und geschickt genug waren.
„Du sagst ja gar nichts“, sagte ihr Vater besorgt. „Es tut mir leid, dass ich dich nicht zuerst gefragt habe. Aber als der König es erwähnte… da kam mir die spontane Idee, dass du perfekt dafür geeignet wärst. Und du müsstest vorübergehend nicht mehr in der Weberei arbeiten. Der König wird dich entlohnen.“
Schlagartig hob sich Annas Laune. Die Arbeit in der Weberei war sterbenslangweilig, und sie führte sie tatsächlich nur aus, um ab und zu aus dem Haus zu kommen und um die Haushaltskasse aufzustocken. Ihre Übersetzungen waren eher ein Hobby als ein richtiger Beruf, und je mehr ihr Vater sich der Politik statt Kutschen und Wagen widmete, desto mehr schrumpfte ihr Einkommen. Sie waren weit davon entfernt, zu verarmen, doch wenn sie Lisbeth weiterhin behalten wollten, musste Anna arbeiten.
„Es ist in Ordnung“, sagte sie ruhig. Es gab bei Weitem schlimmere Aufgaben, als einem Kind vorzulesen. Zumal der kleine Prinz wie seine zwei älteren Geschwister sehr wohlerzogen zu sein schien, wenn sie den Erzählungen ihres Vaters glaubte.
Endlich erreichten sie das Hauptportal aus schwarzem Holz, das zu beiden Seiten von je zwei Säulen flankiert wurde. Zwischen den Säulen befanden sich Nischen, in denen weiße Statuen standen. Die Säulen waren durch einen Steinbogen verbunden, auf dessen Spitze noch eine Statue stand. Anna hätte den schönen Eingang gern noch länger bewundert, doch die beiden Wachen, die am Tor standen, winkten sie bereits durch.
Es war Annas erster Besuch auf Schloss Rabenhorst und sie drehte ständig den Kopf, um möglichst viel aufnehmen zu können. Das Schloss war sehr symmetrisch aufgebaut. Vier Türme, die durch Flügel verbunden wurden, bildeten die Ecken eines Quadrats. Besonders gefiel Anna, dass das ganze Schloss aus rotem Sandstein erbaut worden war. Herbert führte Anna zielstrebig zum südöstlichen Turm, wo sie die Treppe nahmen. Anna wäre gern stehen geblieben, um die vielen Gemälde länger zu mustern, die an den Wänden hingen. Bei einigen handelte es sich um Porträts, bei anderen um Landschaften, auf denen manchmal auch das Schloss zu sehen war. Schließlich erreichten sie das oberste Geschoß. Dort stand ein junger Mann vor der Tür und wartete anscheinend auf sie. Er war kaum größer als Anna, hatte wässrig blaue Augen und blondes Haar, das sich an den Schläfen bereits lichtete.
„Hallo, Christoph.“ Herbert und der junge Mann schüttelten sich kurz die Hände. „Das ist meine Tochter Anna.“ Anna machte einen Knicks, während Christoph ihr kurz zunickte.
„Ich bin Christoph von Grüningen. Ich bin wie dein Vater in der Politik tätig, allerdings in der Oberkammer.“ Also war er adelig, wie Anna auch unschwer an seiner vornehmen Kleidung und seiner Aussprache hatte erkennen können. „Ich werde dich zum Prinzen bringen. Wenn er zufrieden mit dir ist, kannst du natürlich bleiben. Falls nicht, werde ich dich zurück in die Stadt bringen.“
Bisher war Anna der Gedanke noch gar nicht gekommen, dass ihre Leistungen nicht zufriedenstellend sein könnten. So schwierig sollte es doch nicht sein, einem Kind vorzulesen. Doch vielleicht war der kleine Prinz besonders anspruchsvoll. Christophs Worte hatten zur Folge, dass zu Annas Aufregung, zum ersten Mal im Schloss zu sein, Nervosität vor der bevorstehenden Aufgabe hinzukam.
„Dann gehe ich mal. Du machst das bestimmt tadellos.“ Herbert drückte kurz Annas Schulter, bevor er die Treppe hinabstieg.
„Dann wollen wir mal.“ Christoph öffnete leise die Tür und führte Anna hinein. Das Zimmer war sehr geräumig, mindestens drei Mal so groß wie Annas eigenes Schlafzimmer. Die Vorhänge vor allen Fenstern waren fast komplett zugezogen; nur ein dünner Streifen Licht drang von einem der Südfenster zwischen den dicken Vorhängen hindurch in den Raum. Das Licht reichte aus, damit Anna die Dimensionen des Zimmers sehen und erahnen konnte, wo welche Möbel standen. Neben einem mächtigen Schreibtisch und einem Schrank befanden sich mehrere Regale, Kommoden und Truhen im Raum. Zu Annas Linken stand ein Bett, in dem höchstwahrscheinlich der kleine Prinz lag. Christoph entzündete mit einem Streichholz eine Fackel, die neben der Tür an der Wand hing.
„Es ist hier so dunkel, weil Licht den Augen des Prinzen Schmerzen bereitet“, flüsterte er ihr zu. „Aber etwas Licht brauchen wir schon, damit du ihm vorlesen kannst.“ Lauter, offensichtlich an den Prinzen gerichtet, sagte er: „Ich bin es, Christoph. Wie versprochen habe ich dir eine junge Dame mitgebracht, die dir vorliest.“
„Ich habe mir schon gedacht, dass du es bist, als ich die Tür habe aufgehen hören“, antwortete der Prinz.
Anna wich erschrocken einen Schritt zurück, als die Stimme an ihr Ohr drang. Es war nicht die Stimme eines Kindes, sondern jene eines erwachsenen Mannes. Rasch begriff sie, dass sie wohl nicht dem kleinen Prinz Edmund, sondern seinem viel älteren Bruder Philipp vorlesen sollte.
Christoph holte einen Stuhl aus einer Zimmerecke und stellte ihn vor Philipps Bett. Dann bedeutete er Anna sich zu setzen. Gehorsam nahm sie auf dem Stuhl Platz, wobei sie Prinz Philipp neugierig musterte. Bisher hatte sie ihn nur von Weitem bei Festlichkeiten in der Stadt gesehen. Er hatte ein schön geschnittenes Gesicht, doch als er seine großen Augen für einen kurzen Moment öffnete, sah Anna, dass sie hässlich gerötet waren. Blind schauten sie an ihr vorbei.
Prinz Philipp seufzte. „Ich kann immer noch gar nichts sehen.“
„Das kommt schon“, meinte Christoph. „Halte die Augen einfach geschlossen, wie die Ärztin es gesagt hat.“ Dann drückte er Anna auffordernd ein Buch in die Hand. „Du kannst anfangen.“
Anna strich mit den Fingern vorsichtig über den Einband und versuchte, den Buchtitel zu lesen. Es gelang ihr nicht. „Es ist zu dunkel“, sagte sie beinahe entschuldigend. Die Fackel neben der Tür war zu weit entfernt, um genügend Licht zu spenden.
„Aber ich kann hier kein Licht machen, sonst schmerzen die Augen des Prinzen“, wiederholte Christoph etwas ratlos. Anna fühlte mit dem Prinzen mit. Das war wirklich eine lästige Krankheit, wenn das Licht ihn sogar mit geschlossenen Lidern schmerzte.
„Es ist in Ordnung“, meldete sich Philipp zu Wort. „Du kannst die Öllampe auf meinem Nachttischchen anzünden, Christoph. Du musst mir nur zuerst einen Schal bringen, mit dem ich meine Augen bedecken kann. Es hat mehrere Schäle in der Kommode rechts neben der Tür.“
Sobald der Prinz seine Augen mit dem Schal verhüllt und Christoph die Lampe neben dem Bett entzündet hatte, betrachtete Anna das Buch in ihren Händen. Es war wunderschön, mit vergoldeten Seitenrändern und verschnörkelter Schrift auf dem Einband. Es war ein Theaterstück von Davin Ragge mit dem Titel „Der zerbrochene Teller“. Anna hatte schon davon gehört, kannte das Stück jedoch nicht.
Sie atmete einmal tief durch, um sich zu beruhigen, bevor sie das Buch aufschlug und zu lesen begann. Am Anfang zitterte ihre Stimme kaum wahrnehmbar, doch schon bald wurde sie gelassener und ging ganz im Vorlesen auf. Es machte ihr Spaß, den verschiedenen Charakteren Eigenheiten beim Sprechen zu verleihen. Nach ein paar Minuten, als gerade eine Szene zu Ende ging, blickte sie Christoph fragend an.
„Prinz Philipp? Bist du zufrieden? Möchtest du, dass die junge Dame dir auch morgen vorliest?“
„Nein“, sagte Philipp. Anna hatte das Gefühl, ihr Herz bliebe stehen. „Ich möchte, dass sie mir nicht nur morgen, sondern auch übermorgen und den Tag danach vorliest. So lange, bis ich endlich wieder sehen kann.“ Er lächelte. „Natürlich nur, wenn sie einverstanden ist?“
„Natürlich.“ Anna lächelte erfreut. „Vielen Dank, Eure Hoheit.“
„Dann lasse ich euch mal alleine.“ Christoph erhob sich und verließ den Raum. Sobald die Tür ins Schloss gefallen war, fragte Philipp: „Wie ist dein Name? Damit ich dich nicht immer ‚junge Dame‘ nennen muss?“
„Anna.“
„Du hast eine schöne Stimme. Würdest du mir bitte weitervorlesen, Anna?“
Natürlich tat Anna ihm den Gefallen. Nach etwa einer halben Stunde merkte sie, wie ihr Hals immer trockener wurde. Irgendwann hielt sie es nicht mehr aus und fragte schüchtern, ob sie etwas Wasser haben könnte.
„Sicher. Entschuldige bitte.“ Philipp tastete mit seiner rechten Hand nach einer Kordel, die über dem Bett hing, und zog daran. Gedämpft nahm Anna das Läuten einer Glocke war. „Manchmal hört es keiner der Bediensteten, dann muss ich ein paar Minuten später nochmals läuten“, erklärte Philipp. Obwohl keine Verbitterung aus seiner Stimme herauszuhören war, hatte Anna Mitleid mit ihm. Es war bestimmt nicht leicht, ständig auf die Hilfe von anderen angewiesen zu sein. Andererseits konnte er als Prinz davon ausgehen, dass er diese Hilfe immer erhalten würde. Anna hätte Philipp gern gefragt, seit wann er nichts mehr sehen konnte, doch sie traute sich nicht. Schließlich brach Philipp das unbehagliche Schweigen.
„Wo hast du so gut vorlesen gelernt?“, erkundigte er sich mit höflichem Interesse.
„Ich hatte einen Privatlehrer“, antwortete Anna.
„Dann bist du adelig?“, fragte Philipp überrascht. „Wir kennen uns aber nicht, oder?“
„Ich bin nicht adelig“, sagte Anna. „Ich bin die Tochter von Herbert Wagner.“
„Ach so! Herbert kenne ich natürlich.“ Seinem Lächeln nach zu urteilen, hielt er viel von ihrem Vater. Anna wusste, dass Philipp ihren Vater ziemlich gut kannte, weil beide dem Kleinen Rat angehörten. Dieses Gremium bestand aus je vier Mitgliedern der Ober- und der Unterkammer. Ihr Vater war als Nichtadliger ein Vertreter der Unterkammer.
Es klopfte kurz an die Tür, bevor ein Diener eintrat und sich nach Philipps Wünschen erkundigte. Nachdem Philipp einen Becher Wasser für Anna bestellt hatte, eilte der Diener davon und kam bald darauf mit dem Gewünschten zurück. Dankbar leerte Anna den Becher in wenigen Zügen. Sie fuhr mit dem Vorlesen fort, doch nach etwa einer Viertelstunde wurden sie durch ein erneutes Klopfen an der Tür gestört. Nach Philipps Aufforderung trat eine Zentaurin ein, die eine große Tasche bei sich trug. Wie alle Zentauren sah auch sie einem Menschen sehr ähnlich, bis auf die dichte Behaarung am ganzen Körper sowie die Füße, die eher Hufen ähnelten. Ihr Körper war von weißem Fell mit braunen Punkten bedeckt, das jedoch größtenteils durch eine dunkle Hose und eine blaue Jacke verdeckt wurde. Nur an den Händen, dem Hals und natürlich im Gesicht war das Fell sichtbar. Aus dem oberen Teil des Kopfes wuchs statt des borstigen Fells dunkles, langes, menschenähnliches Haar, das zu den dunkelbraunen Augen passte.
„Ich bin es, Delia“, sagte sie mit tiefer Stimme. „Es wird Zeit, dass ich nach Euren Augen schaue.“ Manche Zentauren konnten ihre Magie zu Heilzwecken verwenden. Wenn diese Zentauren sich zusätzlich medizinisch ausbilden ließen, waren sie gefragte Ärzte im ganzen Land.
„In Ordnung“, sagte Philipp mit wenig Begeisterung. „Anna, du kannst nach Hause gehen. Könntest du morgen um zwei Uhr wiederkommen?“
„Natürlich.“ Anna erhob sich, während Delia bereits ein Fläschchen aus ihrer Tasche packte. „Darf ich das Buch zum Üben mitnehmen?“, fragte sie schüchtern.
„Ja, mach nur“, sagte Philipp. Vorsorglich verstaute Anna das Buch unter ihrem Mantel, damit es im Schneesturm nicht nass werden konnte, bevor sie das Zimmer verließ. Es fühlte sich seltsam an, ganz allein durch das Schloss und über den Hof zu gehen. Da sie jetzt nicht mehr in Eile war, nahm Anna sich Zeit, die Leute etwas genauer anzuschauen, denen sie begegnete. Wohl wegen des kalten Wetters hielten sich draußen nur wenige, dick eingemummelte Gestalten auf. Eine Frau in einem schwarzen, eleganten Mantel schritt würdevoll zu einem der Türme. Ansonsten sah Anna vor allem Männer in grober, grauer Kleidung, die Waren von einem Wagen entluden, und vereinzelt Soldaten. Jene, die das Tor bewachten, rührten sich nicht, als Anna an ihnen vorbeischritt. Als sie zuhause ankam, hatte bereits die Dämmerung eingesetzt.
Später beim Abendessen wollte Herbert natürlich wissen, wie es Anna ergangen war. Während Anna erzählte, kam Lisbeth auffällig oft nachschauen, ob sie bereits etwas abräumen konnte. Es störte Anna nicht, dass Lisbeth neugierig war, doch sie wollte ungern zum Tratschobjekt der halben Stadt werden. Also redete sie Lisbeth ins Gewissen, bevor sie zu Bett ging, und nahm ihr das Versprechen ab, niemandem von ihrer neuen Aufgabe zu erzählen. Mürrisch stimmte Lisbeth zu.
Anna nahm Philipps Buch mit ins Bett, um den Text zu üben. Sie wurde allerdings rasch müde und schaffte es gerade noch, das Buch zur Seite zu legen, bevor sie einschlief.
Constantin saß hinter seinem Schreibtisch und starrte trübsinnig aus dem Fenster. Draußen schneite es. Die Leute hasteten wegen der Kälte dick eingepackt zu ihren Zielen. Das Wasser des Brunnens, der in der Mitte des Platzes stand, war schon seit Wochen gefroren. Hier in Constantins Büro war es dank eines Kaminfeuers heimelig und warm.
Es war bereits Mittag, doch noch hatte sich niemand in seiner Kanzlei blicken lassen. Eigentlich hätte Constantin einen Termin um zehn Uhr gehabt, doch sein Klient war nicht erschienen. Besonders überrascht war Constantin nicht gewesen; letzte Woche waren sieben Termine ins Wasser gefallen, und in drei Fällen hatten die Klienten es nicht für nötig befunden, sich abzumelden. Trotzdem hatte es Constantin auch heute einen Stich versetzt. Aus Langeweile hatte er sein Büro aufgeräumt. Da sich der Raum bereits in einem fast tadellosen Zustand befunden hatte, war das allerdings eine kurze Angelegenheit gewesen.
Natürlich wusste Constantin, woran es lag, dass plötzlich kein Kunde mehr zu ihm kam, obwohl er als einer der besten Anwälte des Landes galt. Seufzend rieb er mit der Hand über die kahle Stelle zwischen seinen Hörnern, die seinen Hinterkopf seit ein paar Jahren zierte. Kleine, gebogene Hörner sowie ein kurzer, haariger Stummelschwanz, der allerdings meist von der Kleidung verborgen wurde, waren die auffälligsten äußerlichen Unterschiede zwischen Faunen und Menschen. Wie sehr Constantin sich momentan wünschte, diese Merkmale verschwinden lassen zu können!
Als er die Türglocke hörte, riss Constantin überrascht den Kopf herum. Für einen kurzen Moment hoffte er, dass sein Kunde doch noch aufgetaucht war. Stattdessen trat der Händler Franziskus Damedi ein, einer seiner ältesten Kunden. Constantin mochte ihn. Wie immer trug der ältere Herr einen eleganten Umhang, heute in einem Grau, das fast dieselbe Farbe wie seine Augen hatte. Constantin warf einen kurzen Blick in seinen Kalender, der ihm bestätigte, dass er keinen Termin mit Damedi eingetragen hatte.
„Guten Tag, Herr Damedi!“ Constantin trat hinter dem Schreibtisch hervor. Er und der Händler schüttelten sich die Hände. Selbst diese kleine Geste löste in Constantin Erleichterung, ja sogar Dankbarkeit aus; letzte Woche hatte sich mehr als ein Mensch geweigert, ihm die Hand zu reichen.
„Guten Tag, Herr Kramer“, grüßte Herr Damedi zurück, wie immer die Ruhe selbst. Sein Lächeln war ernst.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, wollte Constantin wissen. Zurzeit hatte er keinen Auftrag von Herrn Damedi.
„Wie läuft es bei Ihnen?“, fragte Herr Damedi, statt auf die Frage zu antworten.
„Nun… es könnte besser laufen“, sagte Constantin zögernd.
„Das Schild vor Ihrem Büro ist nicht gerade hilfreich, oder?“ Constantin glaubte, Mitgefühl in den Augen des älteren Herrn zu erkennen.
„Nein“, pflichtete er ihm vorsichtig bei.
Obwohl niemand sonst im Büro war, senkte Herr Damedi unwillkürlich die Stimme. „Ich finde die neuen Gesetze, die der König erlassen hat, sehr bedenklich.“
Constantin wagte kaum zu atmen. Es war das erste Mal, dass einer seiner menschlichen Kunden die Gesetze direkt ansprach – und sich dann auch noch negativ darüber äußerte. Die anderen Kunden hatten entweder unter fadenscheinigen Begründungen ihre Aufträge bei ihm zurückgezogen oder ihm rundheraus gesagt, dass sie in diesen Zeiten keinen Kontakt mit Faunen haben wollten.
Constantin wusste nicht, was er sagen sollte. War das womöglich gar eine Falle? Sollten Spitzel dafür sorgen, dass Faune und Zentauren sich negativ über den König äußerten, so dass dieser sie verhaften konnte?
„Keine Sorge. Ich spreche die Wahrheit“, versicherte Herr Damedi, der das Misstrauen in Constantins Miene sah. „Werden Sie in Glanda bleiben? Oder haben Sie vor, das Land zu verlassen?“
„Verlassen?“, fragte Constantin etwas perplex. Der Gedanke war ihm bisher gar nicht gekommen. „Wo sollen wir denn hin?“ Er hatte hart dafür gearbeitet, um seine Kanzlei eröffnen zu können. Alles hier zurückzulassen schien ihm undenkbar.
„Das ist eine gute Frage.“ Herr Damedi legte den Kopf schräg. „Sabien käme am ehesten in Frage. Dort werden Faune und Zentauren seit dem Pakt von Rabenhorst nicht mehr diskriminiert.“
„Ich weiß“, antwortete Constantin. „Aber vergessen Sie nicht, dass dort vor dem Pakt Krieg zwischen den Magischen und den Menschen herrschte.“ Faune und Zentauren wurden gemeinhin als die Magischen bezeichnet. Zwar gab es noch mehr magische Geschöpfe, diese lebten jedoch im Verwunschen Wald, fern ab der menschlichen Zivilisation. „Fast alle Magischen, die hier leben, sind während des Krieges aus Sabien nach Glanda geflohen. Meine Eltern auch … schon vor vierzig Jahren. Sie dachten, in Glanda wäre es friedlich“, sagte Constantin in bitterem Tonfall. „Doch sie haben sich getäuscht. In Glanda haben die Menschen nicht darauf gewartet, dass scharenweise Fremde auftauchen. Noch dazu solche, die anders sind.“ Er seufzte. „Eigentlich habe ich gedacht, dass es in den letzten Jahren besser geworden ist. Aber nun scheint der Hass gegen uns wieder zuzunehmen.“
Schlag auf Schlag hatte König Stefan in den letzten Tagen Gesetze erlassen, die die Magischen in ihren Rechten einschränkten. Seit Neustem musste jeder Faun und jeder Zentaur, der ein Geschäft besaß, ein Schild an seine Tür hängen, auf dem ein gehörnter Kopf zu sehen war – obwohl eigentlich nur Faune Hörner besaßen.
„Das tut mir leid.“ Franziskus Damedi räusperte sich. „Nun, wenn Sie hierbleiben, hätte ich einen Auftrag für Sie. Es geht um Verträge, die ich mit einem Stoffproduzenten abschließen möchte.“
„Selbstverständlich.“ Constantin versuchte, nicht allzu eifrig zu wirken, als er hinter seinen Schreibtisch zurückkehrte. Eine Welle der Dankbarkeit überschwemmte ihn. Während Herr Damedi ihm die Details schilderte, machte Constantin sich eifrig Notizen.
„Wieviel wird das etwa kosten?“, fragte Herr Damedi, als er fertig war.
Constantin überlegte kurz. „Etwa einen Gulden und vierzig Kreuzer“, antwortete er.
„Bestens. Dann gebe ich Ihnen einen Gulden schon mal als Vorauszahlung.“ Herr Damedi zog mit seiner feingliederigen Hand einen ledernen Geldbeutel aus der Innenseite seines Umhangs hervor.
„Normalerweise verlange ich nur zehn Prozent.“ Constantin fühlte sich gemüßigt, Herrn Damedi darauf aufmerksam zu machen. Dabei könnte er das Geld momentan wirklich gut gebrauchen. Besonders lange würde sein Erspartes nicht reichen, wenn das Geschäft weiterhin so schlecht lief. Und Constantin hatte eine Familie zu versorgen. Bei dem Gedanken an seine Frau und seine beiden Töchter durchfuhr ihn ein besorgter Stich. Er wollte nicht, dass sie Armut kennen lernen mussten, so wie er in seiner frühen Kindheit.
„Ich weiß“, sagte Herr Damedi mit einem feinen Lächeln. „Aber jetzt ist nicht ‚normalerweise‘.“ Er fischte einen Gulden aus seinem Geldbeutel und streckte ihn Constantin hin.
„Danke“, sagte Constantin, als die goldene Münze auf seine offene Handfläche fiel. Sie reichten sich zum Abschied die Hand. Als Herr Damedi schon in der Tür stand, rief Constantin nochmals seinen Namen. Herr Damedi drehte sich fragend um.
„Sie sind ein … wirklich guter Mensch“, sagte Constantin langsam.
„Mein lieber Herr Kramer“, sagte Herr Damedi mit einem traurigen Lächeln, „Es ist die Schlechtheit der anderen, die mich gut erscheinen lässt.“ Mit diesen Worten verließ er Constantins Büro.
Auch am nächsten Tag lief beim Vorlesen alles wie am Schnürchen. Dieses Mal standen bereits ein Becher Wasser und eine Karaffe bereit. Das Buch war ein echter Klassiker; eine mitreißende Handlung, verpackt in eine geschliffene Sprache. Als sie Philipps Zimmer am Nachmittag wieder verließ, merkte Anna aber, dass ihr Hals anfing zu schmerzen. Nach der Wanduhr in Philipps Zimmer hatte sie mehr als zwei Stunden vorgelesen.
Sie hatte sich an diesem Morgen bei der Weberei für mindestens eine Woche abgemeldet. Sie verdiente mit ihren Vorlesestunden mehr als doppelt so viel wie in der Weberei, und Anna wollte die restliche Zeit für die Übersetzung ihres Buches verwenden. Da momentan nicht besonders viel Arbeit anstand, hatte Theodor, der die Weberei leitete, keinerlei Einwände erhoben. Nun fragte Anna sich, ob ihre Entscheidung, vorübergehend nicht in der Weberei zu arbeiten, verfrüht gewesen war. Was, wenn sie schon morgen nicht mehr vorlesen konnte, weil ihre Stimme die Strapazen nicht gewohnt war? Schlimmstenfalls könnte sie sich den ganzen Tag statt nur morgens den Übersetzungen widmen, doch momentan warf diese Arbeit weit weniger Geld ab als das Weben oder Vorlesen.
Als sie am Fetag, dem dritten Tag der Woche, wieder bei Prinz Philipp erschien, musste sie sich von Anfang an mehrmals beim Vorlesen räuspern. Obwohl sie viel Wasser trank, blieb ihr Hals rau, und ihre Stimme wurde immer heiserer.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte Philipp, als sie gerade einen Schluck Wasser nahm. „Hast du dich erkältet?“
Wie die Male zuvor lag er im Bett, einen Schal als Schutz vor dem Licht um seine Augen gebunden. Obwohl er körperlich schwach und krank wirkte, war sein Geist hellwach. Wie furchtbar er sich langweilen musste, wenn ihm nicht gerade jemand vorlas, schoss es Anna durch den Kopf.
Sie zögerte. „Ich glaube nicht. Aber ich habe Euch gestern so lange vorgelesen. Das bin ich mich nicht gewöhnt.“
„Oh.“ Prinz Philipp klang überrascht. „Das tut mir leid. Dir zuzuhören ist so angenehm, dass ich gar nicht daran gedacht habe, wie anstrengend das Vorlesen für dich sein muss. Vielleicht sollten wir die Vorlesezeit auf eine Stunde begrenzen?“
Erleichterung durchströmte Anna. „Das wäre sehr rücksichtsvoll von Euch“, sagte sie.
„Natürlich wirst du dasselbe Gehalt bekommen“, fügte Philipp hinzu.
„Nein, das …“
„Doch“, unterbrach Philipp sie. „Ich bestehe darauf. Die Arbeit ist anstrengend. Und du machst sie sehr gut. Da hast du dir den Lohn verdient.“
„Nun… wenn Ihr meint“, sagte Anna. „Danke.“ Prinz Philipp war wirklich nett. Ganz anders, als Anna ihn sich vorgestellt hatte. Die meisten Adligen, denen sie in ihrem Leben begegnet war, hatten sie nicht unhöflich, aber mit einem gewissen Hauch von Herablassung behandelt. Philipp gab ihr das Gefühl, ihm gleichgestellt zu sein.
„Heute solltest du aber gar nicht mehr vorlesen, wie mir scheint“, sagte Philipp besorgt.
„Ich bin aber erst eine halbe Stunde hier“, sagte Anna mit schlechtem Gewissen.
„Das macht nichts. Du kannst schon früher gehen. Oder… willst du dich noch ein bisschen unterhalten? Das ist wahrscheinlich nicht so anstrengend wie Vorlesen, oder?“
„Ja. Zumindest, wenn Ihr auch zur Unterhaltung beitragt“, antwortete Anna mit einem leisen Lächeln, das Philipp natürlich nicht sehen konnte.
„Dann fange ich mal an, zur Abwechslung dir etwas zu erzählen. Ich habe zwei kleine Geschwister, Edmund und Marianna. Edmund ist sieben Jahre alt, Marianna siebzehn. Ich bin der Älteste, deshalb werde ich auch später die Regierungsgeschäfte meines Vaters übernehmen.“
Natürlich wusste Anna das alles bereits. Die Königsfamilie genoss beim Volk großes Ansehen und wurde von manchen Menschen beinahe verehrt. Es wurden sogar Wetten darauf abgeschlossen, wann Prinz Philipp sich vermählen, welche Adlige die glückliche Braut sein und wie der Name seines ersten Sprösslings lauten würde. „Wenn ich nicht gerade arbeiten muss, bin ich am liebsten auf meinem Pferd. Oder ich kümmere mich um meinen Raben.“
„Ihr habt einen Raben?“, fragte Anna. Das war ihr allerdings neu. „Ich wusste gar nicht, dass man Raben als Haustiere halten kann.“
„Es war eigentlich nicht geplant, dass er mein Haustier wird“, erklärte Philipp. „Ich habe ihn gefunden, als er noch sehr klein war. Jetzt ist es nicht mehr möglich, ihn auszuwildern.“
„Ach so. Dann ist er jetzt sozusagen das Maskottchen des Schlosses.“
„Weil das Schloss Rabenhorst heißt?“ Prinz Philipp lachte. „Ja, das ist wirklich ein lustiger Zufall.“
„Und wie heißen Eure Tiere?“, wollte Anna wissen.
„Das Pferd heißt Radscho, der Rabe Abraham. Radscho habe ich schon, seit ich ein Kind bin. Hast du auch Haustiere?“
„Leider nicht“, sagte Anna.
„Gibt es dafür einen Grund?“
„Es käme wohl nur eine Katze in Frage, und Lisbeth, unsere Haushälterin, hat eine Katzenallergie“, erklärte Anna. Sie fand es merkwürdig, dass der Prinz sich dafür zu interessieren schien. „Wollt Ihr mir mehr über Eure Tiere erzählen?“
„Ich könnte stundenlang über meine Tiere erzählen, aber das würde dich nur langweilen“, antwortete der Prinz lächelnd.
„Bestimmt nicht“, versicherte Anna. Und selbst wenn es langweilig wurde, konnte sie so wenigstens ihre Stimme schonen, schoss es ihr durch den Kopf.
„Mit Radscho gehe ich täglich reiten, wenn es geht. Seit ich nichts mehr sehe, ist das aber zu gefährlich.“ Der Prinz klang bekümmert. „Hin und wieder führt Christoph mich in den Stall, damit ich Radscho wenigstens besuchen kann.“
„Das Wetter ist im Moment sowieso nicht so geeignet, um zu reiten“, meinte Anna, wobei sie an den schneidenden, kalten Wind dachte, der auf dem Weg zum Schloss durch ihre dicke Kleidung gedrungen war.
„Es ist schon angenehmer, wenn es warm ist“, gab der Prinz zu. „Aber dann ist es das Beste auf der Welt! Kannst du reiten?“
„Nein“, antwortete Anna. Sie hatte nie die Gelegenheit dazu gehabt und sie wusste auch nicht, ob sie wirklich reiten lernen wollte. Sie fand Pferde zwar schön, doch auch groß und irgendwie furchteinflößend. „Und was ist mit Eurem Raben? Wo ist er untergebracht?“, fragte sie.
„Meistens ist er hier in meinem Zimmer. Aber im Moment ist er draußen.“
„Er ist nicht in einen Käfig eingesperrt?“, fragte Anna.
„Manchmal, aber nicht immer. Das wäre doch recht grausam. Dann könnte er ja gar nicht herumfliegen.“
„Habt Ihr nicht Angst, dass er verschwindet?“
Prinz Philipp schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein. Abraham kehrt immer zu mir zurück.“
„Ich wusste nicht, dass Raben so treu sind.“
„So treu wie ein Hund“, bestätigte Philipp. „Und gescheit sind sie auch.“
Anna wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Soweit sie wusste, waren Vögel ziemlich dumm, aber das würde sie dem Prinzen natürlich nicht sagen.
„Ich kann dir ein anderes Mal zeigen, was er alles kann. Oder hast du Angst vor Vögeln?“
Anna verneinte.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Anna drehte sich erschrocken um und sah, wie ein kleiner Junge hereinstürmte. Anna erkannte auf den ersten Blick, dass es Edmund war, Philipps jüngerer Bruder. Er war schlank, hatte braune Haare und ebenso braune, spitzbübisch funkelnde Augen. Vermutlich hatte Philipp genauso ausgesehen, als er in Edmunds Alter war, ging es Anna durch den Kopf.
„Wer ist das?“, fragte Philipp erschrocken, doch bevor Anna antworten konnte, war Edmund schon zu Philipps Bett gerannt und erklärte seinem Bruder mit Leidensmiene: „Sie wollen mich baden! Dabei habe ich doch gerade erst gebadet.“
„Ach, du bist es! Mein kleiner, nerviger Bruder“, seufzte Philipp. „Gerade erst gebadet, ja?“ Der ironische Tonfall war nicht zu überhören.
„Ja!“, versicherte Edmund. „Es ist erst fünf Tage her. Ich muss mich verstecken. Bitte, bitte, bitte!“
„Na gut“, seufzte Philipp. „Verstecke dich unter dem Bett.“
„Danke!“, juchzte Edmund, bevor er wieselflink unter das Bett kroch. Es dauerte keine Minute, bis jemand an die Tür klopfte.
„Herein!“, rief Philipp, woraufhin zwei Frauen eintraten, eine junge und eine ältere. Die ältere Frau stemmte die Hände in die fülligen Hüften und fragte: „Ist er hier, gnädiger Herr?“
Die junge Frau stand derweilen schüchtern hinter ihr und schaute zu Boden.
„Hallo Rosa“, sagte Philipp. „Ist wer hier? Meinst du meinen Bruder?“
„Ja. Der kleine Taugeni… der kleine Prinz will nicht baden, gnädiger Herr. Deshalb ist er uns wieder einmal entwischt.“
„Das sieht ihm ähnlich“, seufzte Philipp. „Leider kann ich euch nicht helfen. Hier ist er nicht. Vielleicht hat er sich wieder in den Stallungen versteckt?“
„Er ist in diesen Turm gerannt“, sagte die junge Frau so leise, dass man sie kaum verstehen konnte.
„Aber er kann natürlich vom Turm aus irgendwo anders hingerannt sein. Zum Beispiel in den Süd- oder Osttrakt“, wandte Rosa ein. „Der Kleine ist schnell wie eine Katze! Na was soll's, dann suchen wir noch eine Weile weiter. Komm, Gertrude.“
Sobald die beiden verschwunden waren, kam Edmund aus seinem Versteck hervor. Er stand auf und klopfte sich den Staub von den Hosen.
„Danke, Philipp“, sagte er mit einem frechen, doch zugleich niedlichen Grinsen. „Wer bist du eigentlich?“, fragte er dann Anna.
„Ich bin Anna.“ Sie überlegte, ob sie den kleinen Prinzen förmlich behandeln sollte, doch das kam ihr dann doch übertrieben vor. „Ich lese deinem Bruder vor“, erklärte sie.
„Warum hast du dann das Buch nicht in der Hand?“, fragte Edmund. Der Kleine war ein ausgezeichneter Beobachter.
„Weil ich …“, setzte Anna an, doch Philipp unterbrach sie.
„Das geht dich nichts an, Edmund“, wies er seinen Bruder zurecht. „Und jetzt mach, dass du fortkommst.“
„Aber dann finden mich vielleicht Gertrude und Rosa!“, jammerte Edmund. „Hier schauen sie bestimmt nicht mehr nach! Kann ich bitte hierbleiben? Nur noch ein bisschen?“
„Na schön“, sagte Philipp. „Wir haben gerade über Abraham gesprochen, bevor du gekommen bist. Hilfst du mir mal ans Fenster zu gehen? Vielleicht ist er in der Nähe und hört mich, wenn ich nach ihm pfeife.“
Anna wandte rasch den Blick ab, als Philipp die Decke zur Seite schob und sie sah, dass er nur seine Unterkleidung trug. Edmund fasste seinen großen Bruder am Arm und führte ihn zum Fenster. Anna war gerührt, wie umsichtig der Kleine dabei vorging.
Im Gegensatz zu den Fenstern in Annas Haus, die mit Leinenstoffen bespannt waren, war dieses aus kostbarem Glas gefertigt. Zum Schutz vor der Kälte hatte jemand zusätzlich die Fensterläden geschlossen. Nachdem Edmund das Fenster und die Läden geöffnet hatte, stützte Philipp sich mit den Händen am unteren Rahmen ab und streckte vorsichtig den Kopf etwas nach vorn. Er stieß zweimal hintereinander einen durchdringenden Pfiff aus. Während sie warteten, drang die kalte Winterluft immer weiter ins Zimmer vor, bis sie auch Anna erreichte. Rasch schlüpfte sie wieder in ihren warmen Mantel, den sie hinter sich über den Stuhl gehängt hatte.
„Ich glaube, er hat mich nicht gehört“, sagte Philipp schließlich enttäuscht. Doch gerade als Edmund das Fenster wieder schließen wollte, flog etwas Schwarzes durch das Fenster herein. Vor Schreck stieß Anna einen leisen Schrei aus. Der Vogel segelte schwungvoll durch den Raum, bis er schließlich auf einer Stange landete, die neben dem Kleiderschrank in die Wand eingelassen war. Die Stange war Anna bisher gar nicht aufgefallen.
„Komm her, Abraham“, rief Philipp und streckte den Arm aus. Sofort erhob sich der Rabe von seinem Platz und flog auf Philipps Schulter. Annas Herz begann bei dem Flattern schneller zu schlagen. Offensichtlich hatte sie doch ein bisschen Angst vor Vögeln, zumindest wenn sie sich im selben Raum aufhielten.
„Auf die Schulter? Na, das geht auch“, murmelte Philipp und streichelte den Vogel zärtlich. „Edmund? Bring doch mal den Käfig und den Haken, den ich für Abraham gemacht habe. Ich will Anna zeigen, was Abraham kann.“
„Willst angeben, wie?“, feixte Edmund, ging aber, nachdem er das Fenster geschlossen hatte, brav zu einer Truhe, holte das Gewünschte heraus und stellte es auf den Schreibtisch. Der Käfig war aus dünnen Holzstäben gefertigt, sah aber trotzdem stabil aus. Daneben lag ein etwa zwanzig Zentimeter langer Stock, an dessen Ende ein kleiner Haken befestigt war. Anna erwartete, dass Philipp oder Edmund nun den Raben in den kleinen Käfig sperren würden, doch stattdessen holte Edmund aus der Schublade einer Kommode ein paar geschälte Walnüsse hervor. Hierzu musste Philipp ihm keine Anweisungen geben; offensichtlich wusste Edmund genau, wie das Kunststück funktionierte. Er legte die Nüsse in den Käfig, verschloss diesen und stellte sich dann mit verschränkten Armen neben den Tisch. Abraham flog von Philipps Schulter auf den Schreibtisch und hüpfte ein paar Mal aufgeregt von einem Bein auf das andere. Dann nahm er den Stock, den Edmund neben den Käfig gelegt hatte, in den Schnabel und versuchte, mit dem Haken die Nüsse aus dem Käfig zu fischen. Dabei zog er den Haken am Käfigboden entlang, so dass die Nüsse zum Käfigrand geschoben wurden. Sobald die Nüsse nahe genug waren, pickte er sie aus dem Käfig.
„Das ist ja unglaublich!“ Während Anna dem Vogel zugeschaut hatte, war ihre anfängliche Angst Interesse gewichen. „Wie habt Ihr ihm das beigebracht?“
„Das musste ich gar nicht“, sagte Philipp, wobei er stolz lächelte. „Ich habe doch gesagt, dass Raben klug sind.“
Und nun glaubte Anna es auch. Edmund führte seinen großen Bruder zurück ins Bett, während Abraham zurück zu seiner Stange flog.
„Wie lange liest du Philipp schon vor?“, wollte Edmund wissen, als er sich auf die Bettkante setzte. Anna fragte sich, ob sein forsches Auftreten seiner Herkunft, seiner Jugend oder seinem Charakter geschuldet war. Vermutlich einer Mischung aus allem.
„Das ist erst der dritte Tag“, antwortete Anna.
„Und was machst du sonst so? Bist du Lehrerin?“
Unbehaglich rutschte Anna auf ihrem Stuhl herum. „Nein. Ich arbeite manchmal in einer Weberei“, antwortete sie ausweichend. Sie schämte sich, vor Philipp zuzugeben, dass sie eine Arbeit verrichtete, die als niedrig angesehen wurde. Zwar gehörte sie nicht zum Adel, aber immerhin zum oberen Mittelstand.
„Machst du das gern?“, fragte Edmund, doch bevor Anna sich genötigt sah zu antworten, klopfte es an der Tür. Augenblicklich kroch Edmund unter das Bett.
Es war jedoch nicht Gertrude, die eintrat, sondern Delia. Wieder kam die Zentaurin mit ihrer Arzttasche. Ihre schwarze Kleidung bildete einen starken Kontrast zu ihrem weißen Fell mit den braunen Punkten.
„Tut mir leid, dass ich heute etwas früher bin“, entschuldigte sich die Zentaurin. „Aber ich muss danach zu einer Patientin, die auf dem Land wohnt, und ich möchte von da zurück sein, bevor es völlig dunkel ist.“
„Kein Problem“, sagte Philipp.
„Ich gehe dann wohl besser“, meinte Anna und erhob sich. Bisher war die Ankunft der Ärztin immer ihr Stichwort gewesen, zu gehen.
„Nein, du kannst ruhig bleiben. Es dauert nicht lange“, sagte Philipp zu ihrer Überraschung. Langsam ließ sich Anna auf den Stuhl zurücksinken.
„Wie stark sind die Schmerzen?“, wollte Delia wissen, während sie vorsichtig den Schal von Philipps Gesicht löste und ihm etwas in die Augen tröpfelte.
„Etwas besser als gestern.“
Delia schnaubte zufrieden. „Und wie steht es mit dem Sehvermögen? Könnt Ihr die Schemen bereits deutlicher wahrnehmen?“
„Nein“, sagte Philipp.
„Habe ich eigentlich auch nicht erwartet“, sagte Delia. „Nächste Woche sollte es etwas besser werden.“
„Aber dann bist du gar nicht da, oder?“, fragte Philipp die Zentaurin.
Delia zögerte. „Das steht noch nicht fest.“
„Ach? Ich dachte, du wolltest nach Glanda reisen. Zur Hochzeit deines Bruders?“
„Eigentlich schon“, sagte Delia.
„Heiratet er jetzt doch nicht? Hat er die Verlobung gelöst?“, wollte Philipp wissen. Anna fand die Frage reichlich neugierig, aber er war es sich wahrscheinlich gewöhnt, dass die Leute ihm immer Auskunft gaben, selbst wenn sie eigentlich nicht darüber reden wollten.
„Für uns Zentauren ist es im Moment nicht einfach in Glanda. So eine Hochzeit ist teuer, und das Geschäft meines Bruders ist völlig eingebrochen in den letzten Tagen.“
„Warum denn?“, fragte Philipp. Anna musste an Edmund denken, der unter dem Bett auf dem kalten Boden ausharrte und darauf wartete, dass die Ärztin endlich verschwand.
„König Stefan hat veranlasst, dass alle Zentauren und Faune ein Schild vor ihr Geschäft hängen müssen, auf dem eine Ziege zu sehen ist“, erklärte Delia, wobei sie das Gesicht verzog. „Außerdem müssen wir Magischen neu fünfzig Prozent mehr Steuer zahlen als die Menschen.“
„Wie bitte?“ Philipp war über diese Nachricht genauso geschockt wie Anna. „Seit ich nicht mehr an den Ratssitzungen teilnehmen kann, bin ich so schlecht informiert“, klagte er. „Ich will wieder daran teilnehmen, selbst wenn ich nichts sehen kann.“
„Ihr seid aber immer noch von der Krankheit geschwächt“, gab Delia zu bedenken.
„Du bist die Ärztin“, sagte Philipp. „Denkst du wirklich, es wäre zu viel für mich, an den Ratssitzungen teilzunehmen? Es geht mir doch schon viel besser als letzte Woche.“
Eine gespannte Stille trat ein, während Delia mit ihren dunklen Augen Philipp aufmerksam musterte. „Wenn Ihr Euch ansonsten schont und ausruht, wäre es wahrscheinlich zumutbar“, sagte Delia langsam. „Die Augen müssen aber natürlich weiterhin bedeckt sein.“
„Sehr gut.“ Philipp klang zufrieden. „Dann kann auch Vater nichts dagegen einwenden.“
Nachdem Delia gegangen war, kroch Edmund unter dem Bett hervor.
„Endlich ist sie weg!“, sagte er.
„Wie spät ist es eigentlich?“, fragte Philipp. „Hast du nicht bald Unterricht?“
Anna warf einen Blick auf die Wanduhr. „Es ist drei Uhr“, sagte sie gleichzeitig, als Edmund behauptete: „Halb drei.“
Philipp schwieg einen Moment. „Also schon drei. Du solltest seit einer halben Stunde bei Herrn Knaus sein. Los, marsch!“
„Wenn ich gebadet worden wäre, wäre ich auch zu spät gekommen“, maulte Edmund. „Außerdem habe ich keine Lust zu gehen.“
„Das ist egal. Man muss zur Schule gehen, auch wenn man keine Lust hat.“
„Aber warum? Du wirst doch regieren, wenn Papa stirbt. Dann kann ich doch machen, was ich will.“
Philipp schien für einen Moment sprachlos. „Und was, wenn ich irgendwann auch sterbe?“, meinte er schließlich. „Dann wirst du regieren müssen.“
„Ich will aber nicht regieren.“ Edmund verzog schmollend den Mund.
„Was willst du denn werden, wenn du groß bist?“, fragte Anna, die sich ein Lächeln verkneifen musste.
Edmund zuckte die Schultern. „Nichts.“
„Nichts?“, fragte Anna gespielt ungläubig. „Findest du das nicht langweilig?“
Wieder zuckte Edmund die Schultern.
„Anna hat völlig Recht. Das ist sehr langweilig“, pflichtete Philipp ihr bei. „Und ich will doch keinen langweiligen Bruder haben.“
„Vielleicht etwas mit Rechnen“, räumte Edmund ein.
„Dann kannst du ja zum Beispiel Buchhalter werden“, sagte Philipp.
Edmund runzelte die Stirn. „Wieso? Ich will doch keine Bücher halten. Was hat das mit Rechnen zu tun?“
„Egal“, murmelte Philipp. „Das erkläre ich dir in ein paar Jahren.“
„Im Rechnen bin ich viel besser als Marianna“, prahlte Edmund. „Herr Knaus sagt, das ist, weil ich ein Junge bin. Mädchen sind immer nicht so gut im Rechnen.“
„Lenk nicht vom Thema ab. Du gehst jetzt sofort in den Unterricht, hast du verstanden?“ Philipps Stimme klang auf einmal scharf.
„Ja“, brummte Edmund missgelaunt.
„Wenn ich erfahre, dass du es nicht gemacht hast, hat das Konsequenzen“, warnte Philipp.
„Ja doch“, sagte Edmund sichtlich genervt.
Sobald Edmund gegangen war, seufzte Philipp auf. „Mein Bruder ist wirklich ein Lausbub.“
„Ich dachte immer, er sei sehr brav“, sagte Anna.
Philipp lachte. „Warum das denn? Weil er ein Prinz ist?“
„Nein. Mein Vater hat immer nur Gutes von ihm erzählt.“
„Ja, deinem Vater gegenüber weiß Edmund sich zu benehmen. Dann ist er der reinste Unschuldsengel. Hast du auch Geschwister?“, fragte er.
„Nein“, sagte Anna. „Meine Mutter starb, als ich noch klein war.“
„Ach ja, stimmt. Das habe ich vergessen.“ Sie hörte seinem Tonfall an, dass er deswegen zerknirscht war.
„Schon gut. Ich erinnere mich kaum an sie“, wiegelte Anna ab. „Ich habe dieses Armband von ihr geerbt.“ Sie deutete auf ein filigranes, goldenes Armband, das ihr rechtes Handgelenk zierte. „Oh, Entschuldigung, Ihr könnt es ja gar nicht sehen. Na, auf jeden Fall, immer, wenn ich es anschaue, denke ich an sie. Aber ich bin dann nicht traurig. Ich bin dankbar, dass meine wenigen Erinnerungen an sie voller Liebe sind.“
Daraufhin schwiegen sie eine Weile.
„Wisst Ihr, warum König Stefan die Zentauren und Faune so behandelt?“, fragte Anna, um auf ein anderes Thema zu kommen. Sobald sie die Frage ausgesprochen hatte, bereute sie sie bereits. Eine Frau hatte sich nicht für Politik zu interessieren.
Doch Philipp schien nichts an der Frage auszusetzen zu haben. „Leider nein. Seit einiger Zeit wirkt es so, als würde König Stefan die Magischen gern aus Glanda vertreiben. Er soll an seinem Hof sogar wieder angefangen haben, Fleisch zu essen.“
„Nein!“, rief Anna entsetzt. Es war ein ungeschriebenes Gebot, dass die Menschen aus Achtung vor den Zentauren und Faunen, die Tiere als ihre Verwandten ansahen, kein Fleisch aßen. Dies war einer der Gründe, weswegen Menschen, Faune und Zentauren nun seit geraumer Zeit friedlich zusammenleben konnten.
„Gerüchten zufolge schon“, sagte Philipp. „Zum Glück herrscht in unserem Königreich Frieden. Das war ja nicht immer so.“
Vor etwa vierzig Jahren hatte es Aufstände gegen den damaligen König gegeben – Philipps Großvater. Damals hatte der König über die absolute Macht verfügt. König Martin war zwar kein Tyrann gewesen, hatte aber die hohen Steuergelder vorwiegend für sich selbst und die Adligen ausgegeben. Außerdem hatte er sich vor den Zentauren und Faunen gefürchtet. Er hatte ein Verbot gegen die Ausübung von Magie erlassen, woraufhin viele Zentauren und Faune ausgewandert waren.
„Mein Lehrer hat immer gesagt, dass es an ein Wunder grenzt, dass damals …“ Anna wusste nicht, wie sie den Satz vollenden sollte.
„Dass mein Großvater damals nicht geköpft wurde?“, fragte Philipp gelassen.
„Dass es so friedlich ausgegangen ist“, sagte Anna lahm, obwohl Philipps Formulierung den Nagel auf den Kopf traf.
„Zum Glück hat mein Großvater eingesehen, dass er Zugeständnisse machen musste. Und zum Glück ließ ihn das Volk diese Zugeständnisse machen. Also ja, wahrscheinlich grenzt es an ein Wunder. Du hast also einen Privatlehrer? Stimmt, ich glaube, das hast du schon einmal erwähnt.“
„Hatte“, antwortete Anna. Erst in diesem Moment wurde ihr klar, dass Philipp offensichtlich keine Ahnung hatte, wie alt sie war.
„Wie alt bist du denn?“, wollte Philipp wissen, dem wahrscheinlich gerade dasselbe durch den Kopf ging.
„Älter als Ihr“, sagte Anna ausweichend.
„Woher weißt du, wie alt ich bin?“, fragte Philipp überrascht.
„Ihr seid der Prinz.“
„Und?“
„Jeder weiß, wie alt Ihr seid.“
„Oh.“ Philipp wirkte amüsiert. „Was weißt du sonst noch über mich?“
Beim Gedanken an ein paar Gerüchte, die sie über den Prinzen gehört hatte, errötete Anna. Zum Glück konnte Philipp es nicht sehen.
„Dass Ihr Euer Amt sehr ernst nehmt. Und dass Ihr ein ausgezeichneter Reiter und Bogenschütze seid.“ Und dass du mit zwei, drei jungen adligen Damen ein Techtelmechtel gehabt haben sollst, aber keine von ihnen geheiratet hast, fügte Anna in ihren Gedanken hinzu.
„Na, wahrscheinlich war nicht alles, was du über mich gehört hast, so löblich“, sagte Philipp mit einem Hauch von Belustigung. „Aber keine Angst, ich werde dich nicht zwingen, mir das andere zu erzählen.“
„Ist es wahr, dass man mit einem Langbogen sogar einen Panzer durchschlagen kann?“, fragte Anna, um vom Thema abzulenken.
„Ja. Aber nur, wenn man Glück hat“, sagte Philipp. „Bis jetzt war es für mich zum Glück noch nie nötig, das zu tun.“
Dass Prinz Philipp nicht wie andere junge Männer danach lechzte, in einem Krieg zum Helden zu werden, machte ihn Anna noch sympathischer. Überhaupt war er umgänglicher als alle jungen Männer, die Anna kannte – obwohl das zugegebenermaßen nicht viele waren. Sie redeten noch lange weiter, bis Anna plötzlich mit Schrecken feststellte, dass es schon Zeit fürs Abendbrot war.
„Ich muss los“, sagte sie. „Sonst komme ich zu spät zum Essen.“
„Schon so spät? Die Zeit ist ja wie im Flug vergangen.“ Er lächelte. „Dann bis morgen. Ich freue mich schon.“
Annas Herz begann schneller zu schlagen. „Ich mich auch“, sagte sie. Als sie nach Hause lief, schneite es heftig, doch sie nahm die Kälte fast nicht wahr. Als sie über die Schwelle ihres Hauses trat, hörte sie ihren Vater rufen: „Anna? Bist du es?“
„Ja“, rief sie zurück.
„Ich habe schon angefangen, mir Sorgen zu machen. Beeil dich, das Abendessen ist bereits auf dem Tisch.“
Anna zog ihren Mantel und die Schuhe aus, bevor sie in das Speisezimmer ging. Drinnen roch es köstlich nach Kürbissuppe und frisch gebackenem Brot.
„Tut mir leid, dass ich so spät bin“, entschuldigte sie sich.
„Macht nichts“, sagte ihr Vater, während er ihr schöpfte. „Warst du noch bei Salba?“
Salba war eine gute Freundin von Anna, die auch in der Weberei arbeitete.
„Ja“, antwortete Anna und bereute es sofort. Warum log sie ihren Vater an? Es war ja nichts Schlimmes, dass sie länger bei Philipp geblieben war. Doch aus irgendeinem Grund wollte sie nicht, dass ihr Vater davon erfuhr.
Als Anna abends in ihrem Bett lag und im Schein der Öllampe in einem Buch las, schweiften ihre Gedanken immer wieder zu Prinz Philipp ab. Seine angenehme Stimme, sein herzliches Lachen, sein nettes Wesen. Bald legte sie das Buch seufzend beiseite und versuchte zu schlafen. Obwohl sie immer wieder versuchte, ihre Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, kehrten sie unaufhörlich zu Prinz Philipp zurück, bis sie endlich einschlief.
In den nächsten Tagen stellte sich bei Anna eine neue Routine ein: Morgens arbeitete sie an ihrer Übersetzung, nachmittags ging sie zum Schloss, um Prinz Philipp vorzulesen. Selbst am Wochenende wünschte der Prinz sie zu sehen, was ihr nicht das Geringste ausmachte. Nur wenn am Nachmittag eine Ratssitzung stattfand, an der Philipp dabei sein wollte, ging Anna schon am Vormittag ins Schloss. Mittlerweile schien es Philipps Augen etwas besser zu gehen; er musste sich nicht mehr jedes Mal einen Schal um die Augen binden, wenn Anna Licht machte.
Obwohl Anna wie ausgemacht nur noch eine Stunde vorlas, wurden ihre Aufenthalte zunehmend länger, weil sie sich nach dem Vorlesen immer unterhielten. Ein paar Mal war Anna wieder zu spät zum Abendessen nachhause gekommen, was ihr jedes Mal einen mürrischen Blick von Elsbeth beschert hatte. Der Prinz und sie sprachen über alles Mögliche, von Büchern über Musik bis hin zu Politik. Anna schätzte es besonders, dass Philipp das letzte Thema nicht aussparte. Zwar sprach ihr Vater mit Anna auch gern über Politik, doch sie wusste, dass das sehr unüblich war.
Als Anna wieder einmal das Turmzimmer betrat, das ihr mittlerweile so vertraut war, stand Philipps Schwester Marianna vor seinem Bett. Sie war einen halben Kopf kleiner als Anna und etwas fülliger. Wie ihre Brüder hatte sie braune Haare und Augen. Das Haar fiel ihr in langen Locken über die Schultern.
„Soll ich später wieder kommen?“, fragte Anna.
„Nein, schon gut“, sagte Philipp. „Du kannst dich schon mal setzen.“
Anna tat wie geheißen und hörte den beiden zu. Sie merkte rasch, dass die Prinzessin gekommen war, um ihren Bruder um Hilfe bei einer schwierigen Rechenaufgabe zu bitten. Allerdings schien die Aufgabe auch Prinz Philipp Kopfzerbrechen zu bereiten. Dass er nichts sehen konnte, war auch nicht gerade förderlich dabei, seiner Schwester zu helfen.
„Ich fürchte, das bringt nichts“, seufzte er schließlich. „Du musst jemand anderen fragen. Vielleicht kann Christoph dir helfen?“
„Soll ich es mal versuchen?“, bot Anna zögerlich an.
„Du?“, fragte Philipp überrascht. Auch Marianna warf ihr einen erstaunten Blick zu. „Ja, sicher“, sagte Philipp. „Die Frage ist aber wirklich knifflig.“
Marinna hatte ihrem Bruder die Frage bereits oft genug vorgelesen, so dass Anna wusste, worum es ging. Anna hatte ihre Hilfe nur angeboten, weil sie wusste, wie man die Aufgabe lösen musste. Während sie Marianna das Vorgehen erklärte, schrieb sie den Rechenweg langsam mit dem Füllfederhalter auf das Papier, dass Marianna mitgebracht hatte.
„Ich muss es mir später nochmals in Ruhe anschauen“, sagte Marianna, während sie stirnrunzelnd auf das Blatt Papier blickte, das nun mit Annas Notizen übersät war. „Aber ich glaube, ich habe den Ansatz verstanden. Vielen Dank für deine Hilfe!“ Sie hatte dasselbe Lächeln wie ihr Bruder, was sie Anna auf Anhieb sympathisch machte.
Als die Tür hinter Marianna ins Schloss fiel, sagte Philipp: „Respekt. Mir war bis jetzt nicht bewusst, wie klug du bist.“ In seiner Stimme schwang Bewunderung mit. „Nicht, dass ich dich für dumm gehalten hätte …“, fügte er sofort eilig hinzu.
„Schon gut. Danke für das Kompliment“, sagte Anna und meinte es auch so. Es passte nicht zum Zeitgeist, dass Frauen ebenso klug waren wie Männer. Philipp hätte auch anders reagieren können, zum Beispiel, indem er ihre Leistung herabgewürdigt hätte. „Soll ich Euch jetzt vorlesen?“
Philipp schwieg einen Augenblick. „Wie wäre es, wenn du mich auch duzen würdest?“, schlug er vor.
Für einen Moment verschlug es Anna die Sprache. „Aber wenn uns jemand hört …“
„Du kannst mich auch nur duzen, wenn wir zu zweit sind“, schlug Philipp vor.
„Na gut, wenn es für Euch … für dich in Ordnung ist.“
„Sonst hätte ich es nicht vorgeschlagen“, sagte Philipp trocken. „Möchtest du mir jetzt vorlesen? Wo waren wir gestern stehen geblieben?“
„Bei der Szene mit dem Bären“, erinnerte Anna ihn.
„Ach ja.“
Und Anna begann zu lesen. Doch schon nachdem sie ein Kapitel zu Ende gelesen hatte, schien Philipp der Sinn mehr nach Reden zu stehen.
„Gefällt dir eigentlich die Arbeit in der Weberei?“, wollte er wissen.
„Es ist langweilig“, gab Anna zu. „Aber die anderen Frauen sind nett. Wir plaudern während der Arbeit miteinander. Und im Moment muss ich ja nicht mehr dort arbeiten.“
„Weil du hier bist?“, vergewisserte sich Philipp.
„Ja.“
„Was machst du denn immer vormittags? Lesen? Oder musizieren?“
Anna rang mit sich. „Nein“, sagte sie leise.
„Was dann?“ Als Anna nicht antwortete, fragte Philipp: „Ist es ein Geheimnis?“
„Ja.“
„Kannst du nur noch mit Ja und Nein antworten?“, fragte Philipp.
„Nein“, sagte Anna, wobei sie lachen musste.
„Schon besser“, meinte Philipp. „Jetzt klingst du nicht mehr ganz so ernst.“
Danach wandten sie sich unverfänglicheren Themen zu. Doch als die Zeit zu gehen gekommen war, kam Philipp nochmals auf das Thema zurück.
„Falls du mir dein Geheimnis einmal erzählen möchtest – ich werde es nicht weitersagen. Das verspreche ich“, sagte er ernst.
„Ich werde darüber nachdenken.“
Als Anna an diesem Tag das Zimmer verließ, war sie sich über ihre Gefühle vollends im Klaren. Sie hatte schon seit einer Weile für Philipp geschwärmt, doch spätestens heute hatte sie sich wirklich in ihn verliebt. Es tat Anna weh, sich das einzugestehen, denn sie wusste, dass Philipp für sie unerreichbar war. Sie war keine Adlige. Außerdem, warum sollte Philipp sich überhaupt für sie interessieren? Bestimmt war er zu allen Menschen nett. Und leider besaß sie auch keine atemberaubende Schönheit, die Philipp den Atem verschlagen würde, sobald er wieder sehen konnte. Doch obwohl es hoffnungslos war, konnte sie die Vorstellung nicht abschütteln, Prinz Philipp zu küssen.