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Der Engländer Dan Yack ist in St. Petersburg ein berühmter Millionär und Lebemann. Als ihn seine Geliebte zu seinem großen Kummer verlässt, kommt ihm die nicht unerhebliche Erbschaft einer Reederei in Liverpool gerade recht. Der frischgebackene Besitzer von Walfangkonzessionen »irgendwo zwischen der Ferse Neuseelands und der Antarktis« beschließt, der Welt den Rücken zu kehren.Als Begleitung hat er drei Künstler in einer Schenke aufgegabelt, einen Dichter, einen Bildhauer und einen Musiker, die sich von der Einsamkeit Inspiration versprechen. Die Kunst wird an ihre Grenzen getrieben, Dan Yack baut am Südpol eine Industrie und einen Kindergarten auf, und im Strudel der Abenteuer, der ihn schließlich um die ganze Welt trägt, verfolgt ihn die eine Frage: Ist es möglich, sein Leben zu ändern?Blaise Cendrars lässt die Utopien und Fehlschläge eines durch den Ersten Weltkrieg erschütterten Jahrhunderts Revue passieren und entflammt in seinen Protagonisten das Feuer der Moderne. Nach zwölf Jahren Schreiben hatte er 1929 zunächst zwei gegensätzliche Bücher veröffentlicht, die er 1946 unter dem Titel Dan Yack zu einem Roman zusammenführte – der heute vielfach als sein bedeutendster bezeichnet wird.
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Seitenzahl: 384
Veröffentlichungsjahr: 2025
Blaise Cendrars
Roman
Aus dem Französischen von Jürgen Schroeder
Atlantis
Nec sine te nec tecum vivere possum.
Rayomme gewidmet
B.C.
MCMXVII
Eine blökende Grammophonmelodie.
Bewegt von den Ventilatoren unter der Decke, zog der Schallplattenapparat die stolpernden, taumelnden Paare an, warf sie wieder zurück. Stimmengewirr und Lieder aus allen Ländern der Welt. Die Bogenlampen blendeten in den Spiegeln, die Frauen drehten sich wie surrende Kreisel.
An allen Tischen knallten die Champagnerkorken.
Das Wirrwarr der flatternden Tücher und das fahle Zwinkern der Glühlämpchengirlanden überragend, richteten sich die vier kupfernen Schalltrichter der Musikmaschine auf, blank poliert, drohend, begehrlich.
Mit einem einzigen Schwung und in laut aufplatzendem Gelächter rutschte Dan Yack auf dem Rücken quer über das gebohnerte Parkett. Es gab ein herrliches Gerempel; dann führten die livrierten Diener ihn ab und schlossen die blinkenden Saaltüren hinter ihm.
Dan Yack klemmte sich das Monokel vors Auge. Er griff mit beiden Händen nach dem Geländer und stieg auf den Hacken die große Klubtreppe hinunter.
Die vergoldeten Stangen, die den roten Läufer hielten, stachen wie schmerzhafte Spieße in sein Gehirn, und jede einzelne Stufe entzog sich seinem Fuß wie ein einbrechendes Sprungbrett. Es kam ihm vor, als führte er einen gefährlichen Seilakt aus, zwischen Himmel und Erde, inmitten der Luftgesichter und der Scheinwerfer, die in Ferne verschwimmen; ihm war heiß, und er kam am Fuß der Treppe an wie aus einem Nebel, vor den Augen lauter buntes Konfetti, mit trommelnden Schläfen, das Festgetöse in den Lungen, nass geschwitzt.
Er zitterte.
Chasseurs in schwarz betressten Uniformen und mit einer Pfauenfeder an den Lammfellmützen umringten ihn.
Der eine reichte ihm seinen Stock, der andere den Hut, ein Dritter die Handschuhe. Er dankte ihnen, wie ein Idiot, überschwänglich, und dann applaudierte er unter vielen kleinen Verbeugungen lautlos mit den Fingerkuppen. Die Männer grinsten, zwinkerten sich zu, boxten ihm freundschaftlich in die Seiten, drängten ihn zum Ausgang. Dan Yack, mit leerem Blick, mit fahrigen Gesten und mit weichen Knien, tat so, als ob er Widerstand leistete. Er legte sich in die ihn stützenden Arme zurück, und mit ganz leiser Kopfstimme sang er:
… et benedictus fructus ventris tui …
A-a-a-men.
Auf einmal riss er sich los.
Er stürzte zur Tür.
Eine Arekapalme schoss aus der Grünpflanzendekoration in die Höhe, wie ein Reiher auf einem Bein. Dan Yack zerfetzte sie mit Stockschlägen und war draußen, hutlos, einen Palmenzweig in der Hand. Im Vorbeigehen zog er ihn dem Schweizer durchs Gesicht, der vor Schreck seinen Stab fallen ließ, dessen Knopf beim Aufprall zerplatzte wie ein Blasrohr. Ein Kutschpferd galoppierte davon, und das Gelächter des aufgewiegelten Dienerpacks zerriss schändlich den unberührten Schleier des Morgens.
Nun saß Dan Yack mitten auf der Straße, kläglich, unter den düsteren hohen Mauern des Arsenals. Er badete in Pferdepisse, und mit den Händen ließ er dampfende Rossäpfel kugeln.
Die Newa floss in Augenhöhe.
Schräg, bedrohlich glitten die Holzflöße mit großer Geschwindigkeit den Strom hinab, zerschlugen die harten Wellen, die von der steifen Morgenbrise gegen den Strich hochgekämmt wieder aufstanden. Dann sträubte der Fluss unter einem plötzlichen Schauer den nassen Pelz, dehnte sich und machte einen Buckel. Norwegische Steamer miauten laut, die Zahnstangenrachen der Drehbrücken öffneten sich geräuschlos, und die Dampfboote flüchteten, durcheinanderhüpfend wie von Panik erfasste Delfine, wenn der Hai kommt.
Auf einmal blähte der Himmel sich wie ein Segel.
Alles neigte sich zur Seite, geriet ins Schlingern, wuchs heran, kam näher, lavierte, drehte bei, stand bebend auf der Stelle und ging wieder vor den Wind, entfernte sich, Wasserladungen an Bord. Alles verfinstert sich, duckt sich unter der Bö. Dicke taumelnde Bojen tanzen vorbei, und die Stadt schaukelt in der Gischt.
Fünf Minuten später ist der Fluss ein großer Leib mit Gänsehaut, auf die Nase gefallen, mit dem Kopf nach unten, die Beine in der Luft, die Schenkel gespreizt. Zu Hilfe kommt eine Insel, die sich darüberneigt und sich in ihren langen Dunstschleiern bewegt. Der Fluss wird von Krämpfen erfasst, blinkende Zangen greifen in das Wasser, das sich blutig färbt; dann kommt die Sonne zur Welt, gesund und rotgesichtig. Die Wolken eilen herzu, nehmen sich ihrer an, tauchen sie in einen Eimer Stärke, und als sie aus ihrer Umarmung wieder hervorkommt, steht sie unversehens viel höher und ist wie gebleicht.
Dan Yack springt auf.
Ihm ist, als hätte er einem Wunder beigewohnt. Er ist ganz überwältigt. Er legt seinen Palmenzweig an, zielt, und die Nebel, hinterrücks abgeschossen, fallen.
Noch einmal verändert sich das Bild und prägt sich für immer in sein Gedächtnis ein. In einem grellen Licht. Der leere Kai. Die arme Wäsche, die auf dem Deck der kaiserlichen Jacht trocknet. Drei Matrosen, die in ihren Booten singen.
Dan Yack bricht in Gelächter aus und schreit Schmähworte zu ihnen hinüber.
Dann läuft er weg.
… et benedictus fructus ventris tui …
singt er auf eine Grammophonmelodie, die ihm einfällt.
Mit seinem Palmenzweig schlägt er fahrig den Takt.
Die nächtlichen Fiaker kommen von den Inseln zurück. Auf der Schiffsbrücke vor der Börse wird das Trommeln der 50000 Pantinen laut, und die Wimpel auf den Schiffen knattern wie Kastagnetten. Ein seltenes Automobil kommt vorbei.
Dan Yack durchquert hüpfend diesen ganzen Lärm. Ihm ist, als tanzte er im Rhythmus der aufwachenden Stadt. Alles in seinen Augen ist Freude; Farben, Licht, Leben: die erschöpften Saufbrüder in ihren Fiakern, die berühmte Kokotte, flankiert von zwei schlanken Gardeoffizieren, das prachtvolle Gefährt, die lächelnde Limousine.
… A-a-a-men!
brüllt er, als er diesen Strom von Wagen durchquert, der ihn zum Newski-Prospekt hin mitzureißen droht, wo die erste Tram durch den Morgen rumpelt.
Dan Yack kommt hinter dem Winterpalais heraus, und auf einmal verstummt er. Bange dreht er sich um. Seine Knie versagen. Die Müdigkeit fällt ihn an. Eine endlose Traurigkeit überschwemmt ihn, höhlt ihn aus, tränkt ihn, macht ihn schwer. Er erreicht schwankend die Seufzerbrücke. Er macht es sich genau auf der Mitte der Brückenwölbung bequem, ohne sich um die Equipagen, die ihn streifen, zu kümmern. Ein Wachmann stürzt herbei, dann erkennt er den berühmten Lebemann, den ganz Sankt Petersburg beneidet, und zieht sich diskret zurück.
Dan Yack hat das Gefühl, in die Luft aufzusteigen wie ein Wetterballon. Etwas hält ihn schmerzhaft fest, etwas, das in seinem Mark verankert ist. Ein Gewicht. Eine Dampfwinde kreischt. Seine Nerven spannen sich zum Zerreißen. Seine Fersen verlassen den Boden, stoßen wieder zurück und heben sich von Neuem, ganz sanft. Nach und nach verschärft sich der Vorgang. Die Wadenmuskulatur macht mit, dann die Kniekehlen, die Knie, schließlich die Schenkel. Da trippelt Dan Yack auf der Stelle, rudert mit den Armen. Auch sein Kopf wackelt hin und her, scheint sich abzulösen und anzuschwellen.
Wieder bricht er in Gelächter aus.
Und das ganze Lärmen der Stadt überfällt ihn noch einmal. Größer und wach geworden, schlägt es auf. Aus jeder Straße kommt es, um jede Ecke, immerzu. Eine Equipage als Luftzug, ein sausender Wagen, ein gleitendes Getriebe, ein wirbelndes Rad. Über den Dächern der Wind wie aus einer Turbine.
Auf dem Grund von alledem hallt der Lärm eines Dampfhammers. Sein Herz. Seine Unruhe. Dan Yack weiß plötzlich, warum er da ist, warum er wartet und was ihn erwartet. Eins – zwei, eins – zwei. Er erkennt den ausgreifenden Trab seiner Stute Iskra. Und abrupt dreht er sich um.
In genau diesem Augenblick fährt der Wagen an ihm vorbei. Ein Gummireifen zerquetscht die Spitzen seiner Lackschuhe. Pferdegeifer fliegt ihm ins Auge. Das Coupé stürzt auf die Abfahrt der Brücke zu. Eine zierliche und schwer beringte Hand hat eine goldene Zigarettenspitze herausfallen lassen. Als Dan Yack den Gegenstand aufhebt, ist der Wagen schon weg.
Was für ein schönes Tier, diese Iskra, sagt Dan Yack zu sich selbst. Er dreht das zerbrechliche Schmuckstück in der Hand.
Und während er aus dem Bernsteinröhrchen ein dünnes zusammengerolltes Papier herauszieht, denkt er an diese Stute, die nun nicht mehr sein ist. 25000 Rubel. Das scharfe Auge des letzten Besitzers. Die Einrichtung der Mahagonibox. Samuel O’Dorne, der Stallmeister. Es lebe Schottland! Das Sulky. Der Orchideenstrauß und die Farben, Grün und Silber, der Jockeybluse. Der Grand Prix der Traber. Die Passion Hedwigas. Der schöne Stock, den sie ihm geschenkt hat.
Ach! Ich hab meinen Stock im Klub vergessen, ich muss anrufen, sagt Dan Yack, der nun zum dritten Mal den kleinen zerknitterten Brief liest.
Dann, einen Augenblick später, immer noch lesend, denkt er: So ein Luder, Hedwiga, sie hat sich nicht mal gezeigt, um mir Auf Wiedersehn zu sagen. Sie hätte sich wenigstens ein bisschen herauslehnen können …
Und während er zum hundertsten Mal Hedwigas Brief überliest, denkt er nur an sein Rennpferd, an seine schöne Stute Iskra, die er niemals wieder zu sehen bekommen wird. Denn er muss abreisen. Jetzt weiß er’s sicher. Er erinnert sich, den Entschluss gefasst zu haben. Er hat alles vorbereitet, zu zweit zu reisen. Noch heute muss er abreisen. An seinem Programm wird nichts geändert.
Er wird allein reisen.
Umso schlimmer.
Er erinnert sich auch, ein Telegramm aufgegeben zu haben, mit dem er seine Ankunft ankündigt, die Antwort auf das Telegramm des Notars, der ihm den Tod seines alten Onkels Carlos von der Firma William & William, Reeder, Liverpool, meldet.
Mein lieber Dany
Liebling
Der Prinz weiß alles. Ich habe ihm alles erzählt. Er nimmt mich heute auf seine Ländereien mit. Wir heiraten in drei Monaten. Ich habe über alles nachgedacht. Ich bin sicher, dass das Kind, das ich unter dem Herzen trage, von ihm ist. Vergiss nicht, dass ich Dich sehr geliebt habe. Du hast mich zu tausend Dummheiten verführt. Im Übrigen, das sagen alle, und Deine Freunde auch, bist Du ein bisschen zu verrückt. Ich verzeihe Dir alles. Ehrlicherweise könnte ich nicht mit Dir wegfahren heute. Ich hätte nicht das Recht dazu. Ich hätte nicht das Recht, den Prinzen, der ein guter Mensch ist und, ohne Forderungen zu stellen, schon so lange auf mich wartet, leiden zu lassen. Wenigstens kann man Vertrauen zu ihm haben. Ich höre, Du hast wieder im Spiel verloren. Ein Vermögen. Glaub mir, und hör auf den Rat einer Freundin, die Dich immer noch zärtlich liebt und Dich immer und überall verteidigt hat und nicht aufhören wird, es zu tun, gegen jeden und alle: Spiel nicht mehr, Du wirst Dich ruinieren. Du musst endlich vernünftig werden. Er ist vernünftig, der Prinz. Er sagt sogar, Du bist ein feiner Kerl. Ach, nur zu gut weiß ich das! Ich flehe Dich an, mach nicht Deine traurigen, enttäuschten Kinderaugen, sag jetzt nicht, ich mache Dich untröstlich. Ich könnte dem Verlangen nicht widerstehen, zu Dir zu kommen und Dich zu umarmen. Ich verlasse mich darauf, dass Du niemals versuchen wirst, mich wiederzusehen.
Hedwiga
PS: Ich übertrage unsere ganze Liebe auf Deine Stute. Wie nett von Dir, mir Iskra zum Geschenk zu machen. Ich reise heute mit ihr ab. Der Prinz findet nichts dabei. Eine solche Verrücktheit konnte wieder einmal nur von Dir sein. Ach, mein Liebster!
Deine Dwidwi
EDINBURGH M O 28892SEPT04II A M DANYACKWILLIAMESQBRITISHEMBASSYPETERSBURGMELDENMITSCHMERZLICHERTRAUERDENTODIHRESONKELSCARLOSYACKWILLIAMVONDERFIRMAWILLIAMANDWILLIAMREEDERSTOPBEISETZUNGFREITAGSTOPIHREANWESENHEITUNERLÄSSLICHSINDALLEINERBE
STRAITH, BEVOLLMÄCHTIGTER
»Guten Morgen. Was machen Sie da?«
»Kann ich mal hereinkommen, telefonieren?«
»Aber bitte, kommen Sie herein. Vorsicht, Stufe.«
Die Tür des ›Chien Errant‹ öffnet sich. Pronin tritt zurück, um Dan Yack vorbeizulassen. Im Kabarett ist nicht mehr viel Betrieb. Ein Haufen Pelze auf einem Tisch und eine Flotte Galoschen. Frauen in den Fauteuils. Wenig Männer, alle auf den Fußboden gesackt. Der Schwaden, der im Raum steht, schlägt einen mit Astigmatismus. Alles trüb und verschwommen. Die Gestalten auf der Bühne bewegen sich in weiter Ferne und sind plötzlich ganz nah, wirken verzerrt, wie in einem Aquarium. Seltsame Tropenfische steigen aus der Tiefe nach oben, gleiten die Wände entlang und glitzern auf unter der verglasten Deckenrampe. Es sind die Leuchtbilder von Jakowljew, Sudajkin, Grigorjew. Die Hitze rinnt wie Schminke herunter, und ein kleines Glühbirnchen schwimmt unten in jedem Glas auf einer Zitronenboje. Wie die indianischen Perlentaucher vom Titicacasee atmen die Gäste mithilfe zweier Strohhalme. Sie hocken alle in einem Sumpf aus violettrotem Velours und weißem Bärenfell. Kleine Äther- und Sodaperlen prickeln ihnen gegen die Backen. Die Augen zwinkern. Alle Gesichter sind krustig, rissig und schrumpeln wie der Opiumtropfen an der Nadelspitze. Es sind Frauen da aus Schlagsahne, und ihr Mund, wenn es der Mund ist, was man sieht, ist wie eine eingedickte Frucht, violett; andere moussieren wie Champagner. Ihr Lachen macht einem Bauchschmerzen, und da es bis über den Schenkel geht, hat man es wie mit einer Seekrankheit zu tun. Schlingern und Übelkeit. Die schöne Oletschka und diese widerliche kleine Kiki fallen gekitzelt um. Die Servierplatten machen die Runde, kommen immer noch mit Gläsern über Gläsern und gewellten Flaschen. Die Serviererinnen, die sich wie lautlose Algen bewegen, haben knappe, hautenge Höschen aus groß gerippter grüner Seide an. Jede trägt eine veronesergrüne Perücke. Nur Pronin trägt eine papageienblaue. Gerade ist Teffi auf der Bühne. Was ihre schwarze Robe mit langer Schleppe nicht bedeckt, ihre Brüste, ihre Halsknorpel, ihr Ohrfeigengesicht, ihre faltige, dreckige Schnauze, ihre geschwärzten Augen, gleicht einem Bündel Knoblauch. Sie singt das Couplet der Saison: Polire! Lustrare!
Quando fummo sulle scale, piccol’ moll’,
La mi prese il cazzo in mano, piccol’ moll’
La mi disse, Capitano,
Sali! Sali!
Sali, sali, sali, sali, sali, sul sofà piccol’ moll’.[1]
Ihr Erfolg, das ist ihre nackte Stimme, die das sakrosankte Fluidum Neapels verströmt.
Dan Yack, der mit zugehaltener Nase durch das Lokal ging, als ob er einen unter der Mittagssonne verlassenen Fischmarkt durchquerte, eine Markthalle voller Abfall, Kehricht, Fliegenschwärme, Käsegeruch, aufgeschlitzter Fische, verfaulter Melonen, Chlorlachen, hat sich in die Telefonzelle geflüchtet, nicht ohne in seiner Hast auf irgendeiner schmutzigen Fruchtschale ausgerutscht und fast der Länge nach hingeschlagen zu sein über den hässlichen Kadaver einer nächtlichen Schweinerei, das Tier mit den zwei Rücken, den Lichtkegeln von drei Scheinwerfern ausgesetzt, aufgedunsen wie Aas und die vier Hufe in der Luft. Sein eiliger Rückzug hat schallendes Gelächter ausgelöst, und Flaschen und Gläser fliegen zu Scherben. Durch die gepolsterte Tür der Telefonkabine hört er den Saal im Delirium seinen Namen grölen, auf die Melodie von
Anglitschane maladiètze …
Er ist umso wütender, da Hedwiga, die er sprechen will, sich nicht meldet.
Er verzweifelt, er verliert die Nerven, er schreit, er weint, fleht. Vergebens. Keine Antwort, außer am anderen Ende der Leitung ein schwaches, eiliges Läuten, das versiegt.
Er fällt auf die Knie. Er klammert sich an den Hörer.
»Hedwiga! Hedwiga!«
Er ist sehr unglücklich. Alles dreht sich. Er merkt, wie ihn die Trunkenheit wieder packt. Er verliert jeden Begriff. Alles dreht sich. Er hat nur noch eine einzige Empfindung: unglücklich zu sein.
Seine Augen irren über die obszönen Aquarelle Elena Petrownas, mit denen die Wände der Kabine tapeziert sind. Diese zwischen vier heruntergebogenen Bananenstauden ausgespannte Frau, jedes Glied an einem Stamm fest verschnürt, der ein wütender Elefant mit dem Rüssel Gewalt antut. Die nackten Herren, die, Monokel im Auge und alle mit derselben Tätowierung an der rechten Brust, auf dem Perlmutterstrand eines Atolls eine Kette bilden. Ein Jüngling, ohnmächtig geworden unter dem Saugrüssel eines Seesterns, in einer Korallenlandschaft. Die drei taufrischen jungen Mädchen, die dem Meer entsteigen und die von einer endlosen blinden Schlange durchdrungen, umschlungen, vereinigt, verbunden werden, indem sie sich durch alle ihre natürlichen Öffnungen schlängelt, und die Mädchen biegen sich, schneiden Grimassen, lachen vor Pein. Diese Fische, diese sexuellen Vögel; diese bösen, eindeutigen, tragischen, menschlichen Tiere; diese gefräßigen Pflanzen, diese Sündenstempel und Pusteln tragenden Blumen; diese zwittrige, kokainschnupfende Antilope und diese Giraffen, die in aller Unschuld Morphiumampullen knabbern; dieser Affe, der einen Phallus zwischen zwei Steinen zerklopft, um die Eichel zu fressen, während seine Äffin, die den Hintern zugenäht hat, versucht, das aufzutrennen, um sich mit der Banane zu amüsieren, die sie in einer Hand hält.
»Dwidwi«, ruft Dan Yack wimmernd.
Er kann nicht mehr. Er geht raus. Als er schwankend in der Telefontür erscheint, verstört, elend, jämmerlich, dazu besoffen, stumpfsinnig, geistesabwesend, wird ihm eine allgemeine Ovation bereitet. Das Kabarett applaudiert seinem Auftritt. Man fordert ihn heraus, pfeift ihn aus, ermutigt ihn. Und da er keinen Schritt vorwärts macht, nimmt diese Schlampe Kiki ihn bei den Schultern und schleppt ihn im Walzer mit. Teffi, die auf einer Tischkante sitzt, intoniert (und alle singen den Refrain):
Il se fait taper dans les baguettes
Tous les soirs au fond d’un corridor …[2]
Es ist ein Höllenlärm, den Dan Yack mit aller Kraft überschreit, um vom Patron gehört zu werden:
»Pronin! He, Pronin! Mach Glühwein … ja, Glühwein, für alle. Nimm Salatschüsseln, oder nimm Töpfe, Terrinen, einen Waschkessel Glühwein. So groß wie möglich! Mach einen ganzen Kübel voll. Alles auf meine Rechnung. Ich zahle nicht fürs Trinken, sondern fürs Kotzen!«
Und er lacht, dann sinkt er völlig erschöpft an einen Tisch. Dann schläft er ein.
Und rollt auf den Boden.
»Wer ist denn dieser Kerl, der hier unterm Tisch liegt?«
»Der? Das ist Dan Yack.«
»Der Millionär?«
»Dieser berühmte Lebemann?«
»Der Liebhaber von der schönen Hedwiga?«
»Der ist ja in einem netten Zustand!«
»So ein Schwein!«
»Ich hab gehört, die schöne Hedwiga will ihn verlassen.«
»Ja, ich hab auch davon gehört, diese Nacht. Angeblich heiratet sie Ephraim Michailowitsch, das ist der jüngste Sohn vom alten Prinzen Dobroliubow, der mit dem Rennstall.«
»Schweine, alle diese Reichen«, sagt Goischman.
Die Orgie ist vorbei. Alle sind gegangen. In dem Kabarett, übersät mit zerschmissenen Gläsern, schmutzigen Servietten, großen Haufen Zigaretten und Asche, unzähligen leeren Flaschen, plaudert der unermüdliche Pronin mit drei jungen Leuten, die gerade hereingekommen sind. Sie sitzen hinter einem Wandschirm um einen runden Tisch und trinken den Morgenwodka.
Die drei jungen Leute sind Arkadij Goischman, ein jüdischer Dichter, Iwan Sabakow, ein stämmiger Bauer aus der Gegend von Tambow, Schüler der Akademie der schönen Künste, und André Lamont, Musiker, ein schmächtiger Petersburger französischer Abkunft. Nachdem sie, Unzertrennliche und Schwärmer, die ganze Nacht auf den Inseln gewesen sind, diese langen weißen Nächte, wo die Sonne nicht untergeht, wo ganz Petersburg auf den Beinen ist und schwatzt, trinkt, sich herumtreibt, Fieber hat, und nachdem sie die ganze Nacht Kunst, Ästhetik, Philosophie, Bücher, Bilder aus Frankreich, Deutschland, Asien, Italien, England, Amerika diskutiert haben, sind sie auf die Gewohnheit verfallen, alle drei am Morgen mit Pronin ihre Monopolka zu trinken, und dieser gute Riese Pronin nimmt sie gern auf, gibt ihnen eine erste Flasche aus, dann eine große Platte Zakuskis, dann unzählige kleine Schnäpse, denn Pronin weiß, dass sie arm sind, und ist sehr stolz, Künstlern gefällig zu sein.
»Und wenn man bedenkt, dass wir für diese Schweine da arbeiten!«, sagt Goischman, der Dichter.
»Aber nie im Leben!«, protestiert Iwan Sabakow. »Ich … ich arbeite für die Kunst. Ich …«
»Unsinn!«, unterbricht ihn Goischman heftig. »Sag mir doch nur, ob es die Kunst ist, Iwan, die KUNST, die Akademie, Phidias, die dir zu fressen geben, oder vielmehr der alte General Nikolas Linden, der den Grabstein für seine Frau bei dir bestellt hat? Hier, frag mal André, für wen er wohl arbeitet.«
»Ich?«, antwortet Lamont kalt, »ich arbeite für meine kleine Freundin.«
»Lulu die Näherin, bravo!«, schreit Goischman triumphierend.
»Warum denn nicht?«, sagt André Lamont. »Ich mache ihr Angst, und dann gibt sie mir zu fressen.«
»Was sagst du da?«, fragt Sabakow aufgeregt.
André Lamont kippt ein Glas Wodka, dann erklärt er, ohne mit der Wimper zu zucken:
»Lulu ist ein bisschen nervös, in Deutschland würde man sagen: eine Hysterikerin. Also, wenn ich Geld brauche, dann besuche ich sie in ihrem schönen Laden mit den reichen Kundinnen, die alle genauso verrückt sind wie sie, und spiele ihnen eins von meinen berühmten Nocturnes vor, mit Mondschein, Glockenläuten, Gespenstern, und dann fürchten sie sich. Ihr wisst, dass Lulu in ihrem Anprobesalon einen wunderbaren Steinway aufgestellt hat.«
»Also, du lässt dich aushalten?«, schlägt Goischman vor.
»Gelegentlich.«
»Von Lulu?«
»Von Lulu und ihren Kundinnen. Und einigen ihrer Arbeiterinnen«, vervollständigt Lamont entgegenkommend.
»André!«, schreit Iwan Sabakow einfältig. »Sag, dass es nicht wahr ist, sag, dass du lügst! Ich weiß, dass es keinen reineren und uneigennützigeren Menschen gibt als dich!«
»So was Naives! Diese Bildhauer …«, lacht Goischman.
»Du lieber Gott«, sagt André Lamont zynisch, »unser größter russischer Komponist lebt da mit einer großen Pariser Schneiderin, warum sollte ich ihm nicht nacheifern?«
»Eben! Sie wird ein Genie aus dir machen«, sagt Goischman.
»Was das betrifft«, antwortet Lamont, »sind wir noch größere Schweine als die Reichen. Die Kunst hat einen doppelten Boden, vor allem die Musik.«
»Arkadij! André!«, protestiert Sabakow. »Jetzt hört auf! Das ist ja entsetzlich. Wenn ich euch nicht so gut kennen würde, ich …«
»Aber du kennst uns überhaupt nicht, Junge«, unterbricht Goischman, der Dichter, ihn wieder. »Übrigens, dein Freund Alexander, dein Gott, ja, Alexander Korolenko, mit dem du einem dauernd in den Ohren liegst, der Erfinder der Linie, des Kubus, der Kugel, der Erneuerer der modernen Skulptur, dieser Apostel der reinen Skulptur, der Überskulptur, er hat immer schöne Frauen gehabt. Welch ein Makel! Ich frage mich, nebenbei, wie kann ein Künstler, ein großer Künstler, mit einer schönen Frau leben und zugleich produktiv sein. Also genügt ihm wohl die Kunst nicht? Mein Lieber, ich bin deinem Korolenko, der in Paris mit der schönsten Frau Frankreichs lebte, letztens in New York begegnet, er hat eine Deutsche geheiratet (vermutlich die schönste Frau Europas), und er arbeitet überhaupt nur noch für den Dollar. Über seine beiden Maitressen, seine Frau und seine Skulptur, hat er jetzt noch einen Maitre gesetzt: den Dollar. Ein Genie!«
»Aber du selbst, Arkadij, für wen schreibst du?«, fragt Iwan leidenschaftlich. »All die schönen Liebesgedichte und diese wunderbaren Seiten über das Elend in den großen Städten?«
»Ich?«, sagt Goischman. »Ich schreibe fürs Geld, man will ja leben.«
»Und haben Sie schon viel eingenommen, Herr?«, erkundigt sich Pronin, den diese Diskussion zwischen den drei Freunden sehr amüsiert.
»Keinen Pfifferling«, gibt der Dichter kleinlaut zu. »Das ist es ja, was mich ärgert. Nicht mal genug, um mir eine Packung Zigaretten zu kaufen! Pronin, gib mir eine von deinen Zigarren. Danke. Ich bin derartig abgebrannt, dass ich bald ein Luxustier werde, ich brauche nur noch Havannas, und wenn das so weitergeht, werde ich mein Elend nicht mehr entbehren können, es wird für mich wie ein Opium sein, ein Stimulans. Beim bloßen Gedanken an ein Beefsteak wird mir gleich übel. Ich weiß schon nicht mehr, wie ich die schönen Gedichte schreiben sollte, von denen du sprichst, mein lieber Iwan, wenn ich nicht einen leeren Magen hätte. Pronin, gib mir zu trinken.«
»Ich wusst es doch, ich wusst es doch!«, ruft Iwan, freudestrahlend.
»Wart mal ab, Freundchen«, sagt Goischman bitter. »Wart nur, bis sich mal die Gelegenheit bietet, du wirst schon sehen, ob ich es nicht zu Geld bringe.«
»Du kannst dich immer noch prostituieren«, schlägt jetzt André Lamont vor.
»Das tu ich auch, André, das tu ich auch!«, brüllt der Dichter.
»Und was werden Sie machen mit Ihrem Geld?«, fragt Pronin.
»Herr«, antwortet Arkadij Goischman, »wenn ein Dichter wie ich so viel Geld hätte wie Sie oder wie dieser dreckige Lümmel hier unterm Tisch, ich würde nur noch für die Madonna von Cimabue schreiben, vor ihrem Bild in Siena würde ich meine Gedichte verbrennen.«
»Ein schmutziger Jude sagt das«, flüstert Lamont, zu Pronin hinübergebeugt.
»Arkadij, Arkadij!«, schreit Sabakow begeistert. »Wie schön das ist, was du da gesagt hast! Sag es noch einmal! Du hast recht, wir werden alle für die Madonna arbeiten. Ich arbeite nur noch für den heiligen Basilius vom Berge Athos. Wie mein Vater, der in seinem Heimatdorf Ikonen malte und der es von seinem Vater gelernt hat. Ich arbeite nur noch in der Tradition der Alten.«
»Aber in Russland hat es nie Bildhauer gegeben!«, lacht André Lamont.
»Vielleicht nicht in Petersburg«, antwortet Iwan Sabakow, »in diesem Land der Moore und Sümpfe. Aber in meinem Dorf, da gibt es einen alten Stein, der vor Zeiten aufgestellt worden ist. Er ist ganz abgeschliffen, er sieht aus wie eine prähistorische Venus mit einem dicken Bauch und drei Brüsten. In der Johannisnacht tanzen die Bauern um ihn herum. Im Übrigen ist bei uns jeder ein Bildhauer. Ein jeder arbeitet in Holz, und ich werde von nun an auch in Holz arbeiten, in Eiche, in schönstem Kernholz! Oh, Duba, Dubina, oh, ihr guten Leute aus meinem Dorf, im Walde sollt ihr mich arbeiten sehen, ich will euch einen heiligen Basilius machen, der höher ist als der Turm der Klosterkirche! Und du, Arkadij, du musst mir Modell stehen, du hast die Stirn dieses großen Heiligen, seine überlegene Hoheit und sein mitleidiges Herz für die Notleidenden!«
»Ich?«, protestiert Arkadij, der Dichter. »Ich kann nicht Modell stehen. Ich könnte nicht stillhalten.«
»Warum nicht?«
»Ich habe nie ein Zuhause gehabt. Ich kann nicht still sitzen.«
»Genau wie ich«, sagt Lamont. »Ich komponiere beim Spazierengehen auf der Straße, und dann schreibe ich’s in einer Kneipe oder einem Teehaus auf.«
»Ich hab auch kein Atelier«, sagt Iwan. »Ich arbeite unter freiem Himmel, auf dem Friedhof. Aber jetzt hab ich einen verlassenen Tennisplatz gemietet; ich lasse einen alten Balken hintransportieren, und dann kommst du mir doch Modell stehen, nicht, Arkadij?«
»Hundeleben! Ich sage euch, ein Hundeleben ist das!«, behauptet Goischman und schlägt die Faust auf den Tisch.
»Ein Hurenleben«, sagt André süßsauer.
»Die Newa fließt ganz in der Nähe meines Geländes«, sagt Iwan träumerisch. »Gehen wir hin. Ich mache mich sofort an die Arbeit. Streng steht der Heilige. Sein Kopf ist zehnmal so groß wie sein Bauch. Mein Vater malte nach dieser Regel, er kümmerte sich nicht um Proportionen.«
»Das behauptet schon der Autor der Imitation«, sagt Goischman und zieht an seiner Zigarre. »Die Erde ist nicht größer als ein Stecknadelkopf.«
»Wann werde ich einmal nach Hause gehen können?«, seufzt André Lamont. Er dachte an ein schön abgeschlossenes Zimmer, an ein Spinett, einen Gänsekiel, einen Stapel weißes Papier.
»Ich würde so viel arbeiten!«
»Ich auch«, sagte Arkadij Goischman. »Machen wir Schluss, kommt. Einen Elfenbeinturm kann sich nur das dreckige Bürgerpack noch leisten.«
»Bleiben Sie, meine Freunde, bleiben Sie«, widersprach Pronin. »Warten Sie, ich hole eine neue Flasche.«
Eine ganze Weile schon war Dan Yack wach unterm Tisch. Die Gespräche, die genau über seinem Kopf stattfanden, hatte er nur in Fetzen mitbekommen, die durch die dicke Tischplatte wie durch ein Sieb auf ihn herunterrieselten, sodass sein Aufwachen wie überpudert war von einem Schnee aus Worten ohne Anfang und Ende, aber was ihn vor allem interessierte und ihm die Augen verdrehte, das waren die vier Paar Schuhe, die ganz nah vor seinem Gesicht standen. Er nahm sein Monokel und untersuchte sie genauer. Da war ein Paar hirschlederner Halbstiefel, die jedes Mal anfingen zu strampeln, wenn eine Fistelstimme laut wurde, zu der Dan Yack sich ein fahles Gesicht voll Pickel und Fieberflecken vorstellte. Da waren dicke, nicht zusammengehörende Wildlederstiefel, schief getreten, aber unbewegt und ausdruckslos, wenn auch schmutzig. Da waren zwei verwahrloste, aufgeplatzte Lackschuhe ohne Schnürbänder, das Oberleder zerrissen, aus denen hautfarbene Seidensocken heraussahen, zwei Schuhe, die einer auf den andern gestellt waren, die aufeinander herumtraten, wenn eine leidenschaftliche Stimme das Lokal erfüllte, und deren linker Absatz jedes Mal die Spitze des rechten Fußes zerquetschte, wenn ein Fausthieb auf den Tisch knallte. Schließlich waren gleich neben seinem Kopf, dicht am Ohr, die beiden weichen Stiefel aus rotem marokkanischen Leder mit blauen Ornamenten, die Dan Yack als die Pronins erkannte. Er sah diese zwei Stiefel eine Minute lang verschwinden und geräuschlos, übergroß, drohend wieder in sein Blickfeld treten.
Da machte er eine Anstrengung und rief:
»Pronin, mein Freund, gib mir deine Hand, bitte. Ich bin ganz steif geworden … Also, da wären wir.«
Dan Yack kam unter dem Tisch hervor.
Er ließ sich bequem in einem Sessel nieder, klemmte sich das Monokel ins Auge, dann, nachdem er die drei Künstler ungeniert angestarrt hatte, sagte er:
»Komisch, ich kenne Sie nicht wieder. Ich hatte Sie mir ganz anders vorgestellt, als ich mir Ihre Schuhe ansah. Verzeihen Sie, meine Herren, dass ich mich in Ihre Unterhaltung einmische, ich war da unten, ich lag unterm Tisch, ich kann gar nichts dazu, wirklich nicht, dass ich Ihr Gespräch zum Teil anhören konnte. Ich will nicht behaupten, es vollkommen und in seiner ganzen Tragweite verstanden zu haben, aber soviel ich heraushören konnte, beklagen Sie sich alle drei, obdachlos zu sein. Komisch, gerade seit heute bin ich selbst in derselben Lage, das heißt, wenn Sie ein Obdach suchen: Ich will keins mehr. Sie sind Künstler, nicht wahr? Erlauben Sie, dass ich mich vorstelle, Sie haben vielleicht schon von mir gehört, ich bin Dan Yack, der englische Millionär, mit dem sich ganz Petersburg beschäftigt. Na schön, dieses Leben ist jetzt zu Ende, hören Sie?«
Dan Yack, der aufgestanden war, setzte sich wieder. Er hatte ein Scheckbuch aus der Tasche gezogen und sagte:
»Hier, ich könnte jedem von Ihnen eine Million Rubel vermachen.«
Dann wendete er sich an den verdutzten Pronin:
»Bring mir was zum Schreiben, und hol uns eine Flasche Champagner rauf aus meinem Stock. Ein trockener Roederer, »grande cuvée«, mein persönlicher Vorrat«, erklärte er, indem er sich wieder den drei jungen Leuten zuwandte. »Das Beste, was man sich antun kann morgens, auf nüchternen Magen. Sie kennen Frankreich? Welch ein Land!«
Während der ganzen Zeit, die Pronin abwesend war, sprach Dan Yack nicht ein Wort. Er hatte das Scheckbuch aufgeschlagen vor sich auf den Tisch gelegt. Er spielte mit seinem Monokel.
Plötzlich fing er an zu lachen, sang den Refrain, den er immer noch im Kopf hatte:
et benedictus fructus ventris tui …
tauchte unter den Tisch, kam wieder hoch:
… Amen!,
unterdrückte sein Lachen, zog eine furchtbare Grimasse und sagte:
»Wollte nachsehen, ob sie noch da sind, Ihre Schuhe!«
Pronin kam strahlend mit einer Magnumflasche zurück. Dann ging er etwas zum Schreiben holen.
Dan Yack klemmte das Monokel fest, setzte seine Unterschrift auf drei Schecks, trank sein Glas in einem Zug leer und sagte:
»So, ich habe die Summe offengelassen. Sie können den Scheck nach Belieben ausfüllen. Meine Unterschrift ist gut. Ich verfüge persönlich über fünf bis sieben Millionen Pfund Sterling und bin seit gestern Abend Alleininhaber der Firma William and William, Reeder, Liverpool, Kapital 25 Millionen Pfund, wir haben die Fischfangplätze der arktischen und antarktischen Ozeane vertrustet, es gibt keinen Bankschalter auf der Welt, der Ihnen diese Zettel nicht einlöst, vorausgesetzt, dass er geöffnet ist und dass Sie pünktlich da sind. Sie können sie natürlich auch zerreißen.«
Dan Yack gähnte.
Es folgte ein langes Schweigen.
Dan Yack putzte sein Monokel, setzte es wieder vor das linke Auge, zog die Brauen zusammen, lächelte dumm, gähnte wieder und sagte:
»Ich bitte um Verzeihung, ich bin müde. Aber bevor ich ins Bad gehe, habe ich Ihnen noch einen sehr wichtigen Vorschlag zu machen. Pronin, willst du so nett sein, Billy, meinen Kammerdiener, zu benachrichtigen, ich komme nicht nach Hause. Sag ihm, er soll mir meine Sachen ins Bad vom Turkestanischen Klub bringen, außerdem den Koffer Nr. 3 mit dem perlgrauen Flanellanzug. Sag ihm, er soll mit einem gut gefederten Wagen kommen, um mich vom Bad aus direkt zum Bahnhof zu bringen. Vorher soll er zum Kleinen Adelsklub auf dem Englischen Kai gehen und meinen Stock mit dem Bernsteinknauf holen, den ich diese Nacht da stehen lassen habe, und er soll sich beeilen, der Dummkopf, ich habe nicht vor, heute den Zug zu versäumen.«
Und als Pronin schon in der Tür war und eine große kaukasische Mütze auf seine blaue Perücke setzte, rief er ihm nach:
»Du weißt, wo ich wohne? Moïka 7, erste Etage links. Jetzt zu Ihnen, meine Herren«, wandte sich Dan Yack wieder an die drei jungen Leute, »wir müssen uns ein bisschen beeilen, damit ich noch zum Kraulen komme. Sie haben das Leben satt, das Sie führen? Ich auch. Gut. Jetzt hören Sie, was ich Ihnen vorschlage. Wir haben heute den 3. September. Am 17. November, also in gut zwei Monaten, gibt es einen Dampfschoner von 192 Tonnen, die ›Old William‹, die in Liverpool zwischen 5 und 7 Uhr morgens die Anker lichtet. Ich werde an Bord sein. Kommen Sie mit. Die ›Old William‹ versorgt unsere Walfangflotten im südlichen Pazifik. »Da unten, im tiefsten Süden, wohin nie ein Schiff kommt, irgendwo zwischen der Ferse Neuseelands und dem Südpol«, wie neulich, ich weiß nicht, welcher Esel in der Times schrieb. Gut: Ich … ich bringe Sie hin. Einverstanden? Ich biete Ihnen eine Reise um die Welt und einen Aufenthalt, sagen wir, von einem Jahr, auf einer Insel, die wir zu viert ganz für uns haben. Unterbringung, Verpflegung etc. auf meine Rechnung. Keine Bedingungen, außer der Verpflichtung jedes Einzelnen, die andern innerhalb der Grenzen unserer Insel nach ihrem Geschmack leben zu lassen. Einverstanden? Sagen Sie jetzt noch nichts, Sie haben Zeit genug, sich zu entscheiden. Aber, mein Wort, ich rechne fest mit Ihnen am 17. November. Beladen Sie sich nicht mit Gepäck, an Bord der ›Old William‹ wird alles bestens eingerichtet sein, um Sie zu empfangen und Ihnen eine angenehme Überfahrt zu bereiten, und ich, ich stehe von 5 bis 7 am Laufsteg, um Sie willkommen zu heißen. Bringen Sie nichts mit als Ihr Handwerkszeug. Ein Wort noch zur Sache, dann muss ich los, der Nordexpress geht um zwölf Uhr eins und wartet nicht. Sie sind Künstler, und ich sage es Ihnen gleich: Ich bin weder Sammler noch Liebhaber, noch Mäzen. Ich verstehe nichts von Kunst, und ich habe die Passion meiner Tante Regula für Bilder und alte Möbel immer lächerlich gefunden. Ich habe nie ein Buch gelesen und habe nie die Existenzberechtigung der Statuen begriffen, die in den Hauptstraßen der großen Städte den Verkehr aufhalten. Musik ödet mich an. Ich liebe nur das näselnde Schnurren der Phonographen und den Krach der Grammophone. Das garantiere ich Ihnen allerdings, ich werde mir eine ganze Ladung Walzen und Platten mitnehmen und ein halbes Dutzend neuester Apparate. Ich nehme auch Bari mit, meinen Bernhardiner, und selbstverständlich die größte Flasche vom letzten Parfum à la mode. Damit auf Wiedersehn, meine Freunde, auf bald!«
Und Dan Yack rannte aus dem Lokal.
Auf der Straße begann er zu singen.
Er sang noch im Schwimmbad, bei einem tadellosen Over-arm-stroke.
Und als ein paar Stunden später der Nordexpress Sankt Petersburg verließ, sang in seinem Schlafwagenabteil Dan Yack:
et benedictus fructus ventris tui …
… A-a-a-men!
Drei Gesichter klebten hinter der Scheibe des Ausschanks und sahen dem Zug nach.
Am 4. März 1905 verließ die ›Green-Star‹, vormals ›Old William‹, die Dan Yack umgetauft hatte, Hobart Town und fuhr den Derwent River hinunter.
Es war gegen fünf Uhr abends.
Der Lotse, der sie ins offene Meer hinaussteuerte, war ein Koloss, der eines Tages die Idee gehabt hatte, sich mit einem Revolver zu töten. Die Kugel war abgeprallt, die Explosion hatte ihm den Unterkiefer weggerissen und eine entsetzliche Narbe gegraben, die das enorme Gesicht entstellte, dessen Grinsen einem Angst machte.
Die Strömung trug den Schoner rasch auf die Insel Bruni zu, vom gewaltigen Stamm eines abgestorbenen Baums rechts angezeigt, ungefähr in Höhe der Kanincheninsel mit ihrem Leuchtfeuer, das alle neunundfünfzig Sekunden aufblinkt.
Hat man diese Inselchen hinter sich gelassen, erreicht man die Storm-Bay, die Sturmbucht, und da die ›Green-Star‹ nun anfing zu stampfen, ließ sie dicke schwarze Rauchwolken ab, die der Südostwind aus Bosheit in die Buchten und Berge der tasmanischen Küste hinunterdrückte, als wollte er ihre Konturen verwischen.
Die Passage ist schwierig und verlangt einen guten Lotsen.
Zwischen der Insel Bruni und der Tasman-Halbinsel dehnt sich die Wetterbucht aus, rivalisierende Nachbarin der Storm-Bay. Man fährt dicht an der Pinguininsel vorbei, dann zwischen Kap Fluted und Kap Frederic-Henry durch, und wenn man am Kap Raoul vorbei ist – die Entrecasteaux-Meerenge lässt man rechts liegen –, Kap Raoul mit seinen wunderlichen, wie Säulengänge erodierten Basaltmassiven, die aus der Ferne wie ein griechischer Tempel ohne Mauern und Dach aussehen, wie der Poseidontempel auf Kap Sunion zum Beispiel, dann verlässt der Lotse das Schiff, und man erreicht das offene Meer, verliert Pedra Bianca, Nossa Senhora do Pilar und die Felsen von Eldystone, die letzte Küstenwache vom Van Diemensland, aus dem Blick.
Die untergehende Sonne war bleich. Es war kalt. Die Antarktis schickte eine eisige Brise. Das Thermometer war auf zwei Grad unter Null gefallen.
Am nächsten Tag gleiche Kälte, gleiche Dünung von Süden her, dicker Nebel ohne Aufklaren, keine Mittagssonne und entsprechend keine Position.
Am 6., 7., 8., 9., 10., 11. und 12. Sturm. Folgten dreizehn Tage Navigation im üblichen Nebel, schwarze, trostlose Kälte und gewaltiger Seegang, denn in diesen gottverlassenen Breiten geht der Pazifik mit Wellen von zweitausend Meilen Weite, nämlich von der Halbinsel Banks bis zur chilenischen Küste, ohne dass eine Insel, ein Inselchen, eine Klippe seine Oberfläche bricht.
Der Winter kündigte sich an.
Unter dem fahlen Licht der schaukelnden Lampen in der großen Kajüte saßen Kapitän Deene, der Kommandant des Schoners, Dan Yack, Arkadij Goischman, André Lamont und Iwan Sabakow um den Tisch.
Der Gebieter des Schiffes, Deene, ein kleiner, ziemlich magerer, braun gebrannter Mann mit leerem, unauffälligem, traurigem Gesichtsausdruck, nahm den Ehrenplatz ein. Ihm gegenüber, am andern Ende des Tisches, bereitete Dan Yack den Punsch. Seine Bewegungen waren theatralisch. Er trug einen Anzug aus schwerem blauen Ratiné, die Jacke mit großen Revers, vorn mit zwei Reihen vergoldeter Knöpfe verziert. Wenn er den Kopf drehte, blitzte sein Monokel unter dem gestickten Schirm einer ausladenden Seemannsmütze. Ein großer Bernhardiner ruhte zu seinen Füßen. Auf der Bank rechts an der Bordwand lag Iwan Sabakow ausgestreckt, er hatte sich die Kleidung der Matrosen zugelegt, das rote Leinenhemd der Walfänger, Hosen aus »Teufelshaut« und lange Gummistiefel, die ihm bis zu den Hüften gingen. Er kraulte den Hund unterm Tisch, dann stützte er sich mit den Ellbogen auf, das Gesicht voll im Lampenschein, schüttelte das lange kastanienbraune Haar zurück. Links, rittlings auf einem Stuhl, die Hände gefaltet, die Augen geschlossen, das Kinn auf die Lehne gestützt, saß Arkadij Goischman und sog an einer winzigen Sumatra-Zigarre. Sein bleiches, nacktes Gesicht mit der von beginnender Kahlheit vergrößerten Stirn und dem bitteren Mund schien wie ein Gipsabguss. Sei es aus Verachtung, sei es aus Stolz, trug er immer noch die schmutzigen, viel zu großen, verwahrlosten Kleider, die er schon in Petersburg anhatte, und zeigte dieselben aufgeplatzten Lackschuhe und dieselben hautfarbenen Seidenstrümpfe, die er nicht ablegen und nicht wechseln wollte und in denen er jetzt schon die halbe Weltreise hinter sich gebracht hatte. Im Hintergrund der Kajüte stand André Lamont, arrogant und vor Kälte klappernd, und wärmte sich an dem Ofen. Er war von auserlesener Eleganz. Er hatte sich einen weißleinenen Reiseanzug machen lassen, tailliertes Jackett und eine Art Deck-Knickerbocker. Er war stolz auf seine schönen in Bombay gekauften Golfschuhe und auf die krokodilledernen Strümpfe, die er in einer Boutique in Colombo aufgestöbert hatte. Dazu trug er eine gelb, rot und grün getüpfelte Krawatte zur Schau. Er rauchte eine Zigarette nach der andern, hustete viel und spuckte in ein Seidentuch, das er aus einer seiner zahlreichen Taschen zog. Ein Tropenhelm saß auf seinem Schädel.
Ein an der Decke aufgehängter Globus pendelte zwischen den Lampen.
Draußen regnete es in Strömen.
Dan Yack sprach.
»Ich glaube«, sagte er, indem er eine Seekarte zwischen den Gläsern und Rumkrügen, die den ganzen Tisch füllten, ausbreitete, »ich glaube, es ist an der Zeit, unseren Kommandanten von unseren Absichten in Kenntnis zu setzen und ihn um seinen Rat zu fragen, da ihm hier alles untersteht. Nur, bevor wir die Meinung Kapitän Deenes anhören und seinem guten, von der Erfahrung diktierten Ratschlag folgen, möchte ich, um bis zum Schluss bei der Logik unseres Abstechers zu bleiben, es dem Schicksal überlassen, den genauen Ort unseres Aufenthalts zu bestimmen. Spielen wir unsere Insel aus, auf gut Glück, auf Geschicklichkeit oder Ungeschicklichkeit. Sie haben Ihrerseits keine Wahl getroffen? Ich auch nicht. Deshalb habe ich diesen Globus aufhängen lassen, genau zwischen den Lampen. Er hängt am Äquatorgürtel. Seine am hellsten angeleuchtete Seite, die zur Tür hin zeigt, ist die südliche Hemisphäre. Kommen Sie, hierher, auf die Türschwelle. Ausgezeichnet. Sehen Sie, auf drei Schritte Abstand erkennt man nur noch einen großen weißen Fleck in der Mitte: Das ist der Südpol. Die blauen Backen sind die Ozeane. Oben, die gelbe Zunge, die sich da herausstreckt, das ist Kap Horn, das wir im nächsten Sommer passieren werden, auf der Rückreise. Ein bisschen tiefer, rechts, dieser braune Fleck, das ist das Kap der Guten Hoffnung, an dem wir vor drei Monaten vorbeigekommen sind. Noch etwas tiefer, das Grün, das aus dem Halbschatten auftaucht: Australien, das wir eben erst verlassen haben. Kehren wir jetzt zur Mitte zurück. Sie sehen rings um den Pol und inmitten des weißen Packeisflecks eine kleine Landkrone. Außerdem, rechts und etwas höher, im Blau des Ozeans, ein paar Pünktchen, das sind Inseln. Hier meine Browning. Und jetzt gibt jeder von uns der Reihe nach einen Schuss ab, dann wird Mr. Deene uns sagen, ob das getroffene Land bewohnt oder bewohnbar ist, und nach seinem Rat werden wir uns richten und uns das beste aussuchen. Es handelt sich also darum, vornehmlich die australischen Gebiete anzuvisieren oder die paar im Atlantik oder im Indischen Ozean verlorenen Inseln und nicht den Pol, der Pol ist für später – falls unsere Verbindung hält und falls Sie Lust haben. Meine Herren: Wie finden Sie meine Idee? Sie sehen, dass alle bekannten Länder, einschließlich Europa, sich auf der anderen Seite befinden, im Schatten, es besteht also keine Gefahr, sie zu treffen. Wer beginnt? Ich schlage vor, der schlechteste Schütze soll das Feuer eröffnen.«
»Ich!«, sagte Goischman. »Geben Sie mir das Dings, ich habe noch nie eine Schusswaffe in der Hand gehabt, keine Ahnung, wie das funktioniert. Lässt mich außerdem alles vollkommen kalt, ganz egal wo ich sie treffe, die ERDE, wenn ich sie nur kaputt schieße!«
Und Goischman drückte den Abzug mit geschlossenen Augen.
»Zu tief, zu tief!«, sagte Kapitän Deene, der die Treffer beurteilte. »Sie haben viel zu tief geschossen, Herr. Hier, sehen Sie. Hier sitzt der Einschuss. Mitten in den Antipodeninseln! Wir haben sie auf hoher See passiert, vor noch nicht zehn Tagen. Und hier, sehen Sie, auf der anderen Seite, fühlen Sie mit dem Finger. Sie haben Paris in die Luft gesprengt. Spüren Sie den Krater? Hier, da ist ein Stück Lack abgesprungen, man liest noch …ris. Das ist alles, was von Paris übrig geblieben ist.«
»Donnerwetter!«, sagte Goischman. »Ich habe Paris in die Luft gesprengt, das ist nicht schlecht! Komisches Spiel, Dan Yack. Was meinst du, André, wie findest du die Montmärtyrer mit meiner Kugel im Kopf?«
»Einen Dreck«, sagte André. »Gib her, den Knallfrosch.«
»Verzeihung«, sagte Dan Yack. »Ich glaube, der Schuss zählt nicht, diese Inseln sind bewohnt, nicht wahr, Mr. Deene?«
»Ja«, antwortete der Kapitän. »Ein halbes Dutzend Beamte, die …«
»Gut«, sagte André, »ich schieße den Vogel ab, ich bin Champion.«
»André«, sagte Iwan Sabakow, »lass mich zuerst schießen, ich habe mir eine Insel im Ozean ausgesucht.«
»Ihr Spiel ist vollkommen idiotisch«, sagte André Lamont zu Dan Yack und reichte Iwan den Revolver.
Sabakow zielte lange. Er war Linkshänder. Sein Schuss ging los und streifte die Weltkugel.
»Daneben!«, konstatierte der Kapitän. »Zu weit rechts. Sie müssen besser zielen. Welche Insel wollten Sie treffen? Ich nehme an, es war Tristan da Cunha? Sie ist ebenfalls bewohnt. Ein Geistlicher und 180 Iren. Ich habe da einmal festgemacht, als …«
»Idiotisch«, sagte André Lamont zwischen den Zähnen.
Er nahm die Waffe und drückte ab.
Die Erdkugel polterte auf den Tisch, und der Bernhardiner flüchtete entsetzt.
André Lamont lachte Tränen. Er hatte den Faden getroffen, an dem der Globus aufgehängt war.
»Das haben Sie extra gemacht!«, protestierte Dan Yack.
»Klar hab ich das extra gemacht, ich hab doch gesagt, ich will den Vogel abschießen!«
Und Lamont goss sich ein großes Glas Punsch ein.
Dan Yack war beleidigt, und um nicht auf Lamont noch mehr böse zu werden, weil er gemogelt hatte, pfiff er seinem Hund und ging auf Deck.
»Dummkopf!«, sagte André wütend.
Und steckte sich eine Zigarette an.
Draußen regnete es.
»Goddam!«, fluchte Dan Yack, dem es nicht gelang, seine Pfeife anzustecken.
Also entschloss er sich, seinem Hund nachzugehen, der sich schon wieder in seine Hütte verkrochen hatte, hinter der Wachstube.
Dan Yack hatte nicht einmal Platz, auf Deck des kleinen Schiffes spazieren zu gehen. Am Fuße jedes Mastes erhob sich ein Berg Kohlen bis zu den Rahen. Das Deck war mit Kisten und Fässern vollgestellt, es gab überhaupt keinen freien Durchgang mehr, denn die großen Bauteile eines zusammensetzbaren Hauses, die man nicht in den Kielraum hinunterversenken konnte, waren übereinander und durcheinander, nach ihren Formen und Ausmaßen, auf Deck vertäut. Das alles, ein Gewirr von Stricken, Ketten, Trossen, spannte sich kreuz und quer, verknotet, verknäuelt, war überall im Weg und bildete ein unüberwindbares Hindernis. Mit knapper Not gelang es Dan Yack, sich hindurchzuarbeiten, da warf der Seegang ihn um und rollte ihn gegen das große Beiboot, das fast das ganze Achterdeck versperrte, dann ließ ihn das schlingernde Schiff mit dem Kopf voran gegen den Mannschaftsverschlag taumeln. Schließlich erreichte er die Hundehütte und setzte sich rittlings auf das Dach.
Die Nacht war tief und kalt. Die ›Green-Star‹ stampfte schwer in der Finsternis. Selbst das Topplicht auf dem Großmast schien verklebt unter seinen Nebelwimpern. Eine große Dünung, wie eine unsichtbare Schlange, von der Dan Yack nur in Abständen die weißlichen Schuppen sah, hielt das Schiff tückisch umschlungen. Backbord und steuerbord schrien unablässig die Klagerufe der Pinguine. Andere Vögel schluchzten im Wind. Die Maschine klopfte dumpf, stöhnte, röchelte, unermüdlich. Das nasse Segelwerk klatschte.
Dan Yack war wütend, dass sein Spiel nicht angekommen war. Er hatte überhaupt keinen Erfolg gehabt. Er fühlte sich von jedem Einzelnen um den Spaß betrogen. Er war so stolz auf seine Idee gewesen. Der Gedanke war ihm in London gekommen, im Büro seiner Firma, als er alle nötigen Vorbereitungen für eine längere Abwesenheit traf. Sofort war er aufgesprungen, hatte seinen Bevollmächtigten allein gelassen und war gegangen. Eine Viertelstunde später war er in den Army and Navy Stores und kaufte einen großen Globus. Hunderte von Globen gab es in dem Geschäft. Er hätte nie gedacht, dass es so viele gäbe.