Danowski: Hausbruch - Till Raether - E-Book

Danowski: Hausbruch E-Book

Till Raether

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Beschreibung

Danowski dreht durch: Fast 24 Stunden war Hauptkommissar Adam Danowski in der Gewalt eines entflohenen Straftäters – ein fehlgeschlagener Einsatz, verursacht durch seine Kollegen Meta und Finzi. Nun muss er in einer Klinik kuren. Doch Therapie ist nicht so Danowskis Ding. Er schließt seltsame Bekanntschaften, schwänzt die Wassergymnastik und sitzt in der Beschäftigungstherapie ratlos vor einem Klumpen Ton. Vor allem eine Frau nervt ihn: Mareike Teschner. Sie hat genau die positive Glas-halbvoll-Art, die Danowski nicht ertragen kann. Erst als er bemerkt, dass Mareike von ihrem Mann misshandelt wird, beginnt er ihr zuzuhören. Eines Abends klopft sie bei ihm an und bittet ihn um Hilfe: Mareikes Mann liegt tot in ihrem Zimmer, ermordet...

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Seitenzahl: 318

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Till Raether

Danowski: Hausbruch

Kriminalroman

 

 

 

Über dieses Buch

Auf Abwegen

 

Adam Danowski ist fertig: Er war in der Gewalt eines Geiselnehmers und soll sich davon in der Kurklinik erholen. Mit Stuhlkreis, Tanztherapie und Blick auf die Ostsee. Oder, typisches Danowski-Pech: mit Blick auf den Parkplatz. Traumatisiert hadert er mit der Frage, ob er überhaupt weiter Polizist sein will. Da bittet ihn eine Patientin, nachts in ihr Zimmer zu kommen: Ihr Mann liegt tot im Bett, ermordet. Der Fall scheint klar, aber Adam Danowski trifft eine Entscheidung, die den Rest seines Lebens beeinflussen wird ...

 

«Raether schreibt überdurchschnittlich gut und gönnt nicht allein seinem Ermittler Kontur und Individualität.» FAZ

 

 

 

Über die Adam-Danowski-Reihe:

 

«Danowski ist eine ausgesprochen interessante Type (...) Da merkt man dem Journalisten Raether den trainierten Blick für interessante Leute an.» Der Tagesspiegel

 

«Ein gelungenes Debüt, atmosphärisch packend mit lebendigen Charakteren, gekonnten Spannungsbögen.» Hamburger Abendblatt über «Treibland»

 

«Raether seziert das kleinbürgerliche Leben, ohne das große Ganze aus den Augen zu verlieren. Die Sprache ist klar und reduziert, die Protagonisten sind erfrischend anders.» 3sat Kultur über «Blutapfel»

 

«Spannend, wunderbar dicht geschrieben, mit vielen interessanten Einblicken in die Abgründe der Psyche.» NDR über «Fallwind»

 

«Ein starker Hamburg-Krimi!» Hamburger Abendblatt über «Neunauge»

 

„In knappen, messerscharfen Sätzen erzählt der Autor von einer digitalen Welt des blanken Wahnsinns und konfrontiert uns mit einer beispiellosen Eskalation des Schreckens.» Die Glauser-Jury über «Unter Wasser»

Vita

Till Raether, geboren 1969 in Koblenz, arbeitet als freier Autor in Hamburg, u. a. für Brigitte, Brigitte Woman und das SZ-Magazin. Er wuchs in Berlin auf, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München, studierte Amerikanistik und Geschichte in Berlin und New Orleans und war stellvertretender Chefredakteur von Brigitte. Till Raether ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Seine Romane «Treibland» und «Unter Wasser» wurden 2015 und 2019 für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert, alle Bände um den hypersensiblen Hauptkommissar Danowski begeisterten Presse und Leser. «Blutapfel» wurde vom ZDF mit Milan Peschel in der Hauptrolle verfilmt, Regie führte Markus Imboden.

Für Mizzywave

Hausbruch (…) Es war ein waldreiches Gebiet, in dem es Rehe, Hirsche, Wildschweine, ja sogar Wölfe gegeben haben soll. In dieser Region, so wird gesagt, soll Otto I. von Harburg sich eine Jagdhütte, ein «Haus am Bruch», gebaut haben. Darüber ist viel geschrieben worden, selbst eine Doktorarbeit soll man darüber verfasst haben. Aber alles vergebens. Trotz dieser aufwendigen Mühsal und aller Recherchen, die Heimatforscher betrieben, war es wohl doch der falsche Weg, auf dem man sich befand.

 

Horst Beckershaus: «Die Namen der Hamburger Stadtteile. Woher sie kommen und was sie bedeuten», Hamburg 1998

1.Kapitel

«Ich bring den Alten um», sagte Finzi.

Danowski, geistesabwesend: «Eine Leiche reicht mir.»

«Auch wieder wahr», sagte Finzi. «Können wir mal kurz absetzen?»

Danowski musste zugeben, dass er mit den Füßen das leichtere Ende erwischt hatte. Der Kopf war generell schwer zu greifen, so auch hier, man glitt mit den Fingern am glatten dunklen Plastik der Verpackung ab, an den Schultern auch, und wenn man den Körper unter den Achseln fasste, konnte man nur rückwärts gehen, in unnatürlich gebeugter Haltung. Sie bemühten sich, «der Körper» zu sagen, aber die Versuchung war groß, dieser leblosen Achtzig-Kilo-Masse einen Namen zu geben. Lutz die Leiche, Professor Leblos, Leichy McLeichenface: Ein paar Stunden hatte Finzi sich mit Kalauern überboten, aber je länger sie hier schufteten, desto mehr verging ihm der Spaß an der Sache. Danowski war sich wie immer nicht so sicher, was Spaß war.

«Ich fass es nicht, dass Behling uns diese Scheiße eingebrockt hat», sagte Finzi, inzwischen doch leicht niedergeschlagen. Es übertrug sich doch was Tödliches auf einen, wenn man hier so herumhantierte. Finzi stützte den Kopf des Körpers mit dem Knie ab und lehnte sich gegen einen Laternenpfahl. Danowski sah auf die Uhr.

«Halt dich mal im Schatten der Häuser», sagte er, unfähig, die Verschnaufpause nicht für einen Verbesserungsvorschlag zu nutzen. Im Großen und Ganzen begegnete er den Dingen mit Verwunderung oder Gleichgültigkeit, aber in Kleinigkeiten war er penibel. Wenn sie sich schon die Mühe machten. Und auf die perfekte Nacht gewartet hatten. Dann konnte man das auch richtig machen. Weil, wenn man jetzt improvisierte, dann wurde das alles noch bizarrer und sinnloser und morbider.

Also, dachte Danowski, so wie immer im Leben.

«Was grinst du so dämlich», sagte Finzi.

«Lass mal weitermachen», sagte Danowski und schüttelte den Körper sanft bei den Füßen, damit Finzi sich wieder in Bewegung setzte. Der Rücken tat ihm weh. Also der eigene. Vielleicht bescherte ihm Behling mit dieser Aktion gerade eine kleine Berufsunfähigkeit, das hatte der dann davon. Danowski gruselte sich vor dem Moment, wenn sie die Promenade hinter sich hatten und dann später den Holzweg, und endlich in den Dünensand mussten. Tiefes Geläuf, würde Finzi sagen, mit seiner Vorliebe für alte Fußballplätze und alte Redensarten.

Die Nacht war wolkenlos, der Mond war halb, seine Reflexion ein Zackenband durch die Unruhe der tiefschwarzen Meeresoberfläche, eine Sehstörung mitten im Gesichtsfeld, nächtliche Lichtblitze. Danowski schwitzte vom Körpertragen. Die Luft roch nach Salz, Sand und Asphalt, am Nachthimmel schliefen Möwen.

Ist ja logisch, dass ich in dieser Konstellation wieder hinten gehe, dachte Danowski, während er betrachtete, wie Finzi mit breitem Oberkörper und Bauch, den Blick immer halb über die Schulter, sie und den Körper Richtung Dünen navigierte. Es fühlte sich eigentlich ganz gut für Danowski an. Die Verantwortung abgeben, einfach nur folgen. Das tat er ja meistens, er folgte Leslie, seiner Frau, oder eben Finzi, seinem Kollegen. Von Behling ganz zu schweigen, seinem Chef, dem er sich zwar mit Worten widersetzte und mit Stimmungen, aber am Ende machte er doch, was der Alte sagte, oder er ließ es geschehen. Wie die Sache hier mit dem Körper.

«Warum haben die den nicht verstümmelt», sagte Finzi düster, das Mondlicht glänzte auf seinem nassen Gesicht. Für den Bruchteil eines Augenblicks dachte Danowski, es wären Tränen. «Die hätten ruhig mal an uns denken können. Nur der Torso wär mir lieber gewesen.»

«Wenn das hier vorbei ist», sagte Danowski, «lad ich dich auf einen schönen Backfisch ein.»

«Backfisch zum Frühstück», sagte Finzi, es klang wie ein verworfener Schlager. «Warum eigentlich nicht.»

Danowskis Füße sanken im Sand ein. Von Schritt zu Schritt wurde ihm der Körper schwerer und zugleich vertrauter, seine Arme brannten wie Heidekraut in der Morgenröte. Er wollte nur noch ins Bett. Er wollte, dass das hier aufhörte, und vielleicht alles. Er wollte endlich seine Ruhe.

«Tiefes Geläuf», ächzte Finzi, während der Mond das Wasser zackte, als wäre nichts, oder alles.

2.Kapitel

Jahre später, am Rande von Hamburg, wo die Stadt, das Land und der Fluss miteinander verschwommen: ein Mann und eine Frau in einem Haus.

Eigentlich bestand der Mann nur aus Hobbys. Er hatte im Keller eine Aufhängung mit den Fernbedienungen für seine RC-Cars, benzingetrieben. Die fuhr er in dänischen Mehrzweckhallen gegen andere mit ähnlichen Aufhängungen in anderen Kellern. Er spielte Volleyball, seit er fünfzehn war. Er trainierte die Erste Senioren und nahm das ernster als die Ersten Senioren. Zum Geburtstag schenkten sie ihm einen dunkelblauen Frotteebademantel, auf den sie hinten COACH hatten sticken lassen, vorne über der Brusttasche in einem Halbkreis FRANKIE. Was tat man in so eine Brusttasche. Lernkarten für japanische Katakana-Zeichen, die büffelte er in der Sauna, die er sich eingebaut hatte. Zweimal im Jahr musste er beruflich nach Japan, darum verlangte er von sich selbst, dass er sich mit dem Shinto auskannte und mit dieser speziellen Wertschätzung fürs Unvollkommene und Vergängliche. Hanami, wenn die fallenden Kirschblüten mehr sagten und wertvoller waren als jene, die noch am Baum waren, ihr Rosa wie von Plastiktüten. Wenn er das seiner Frau nicht erklären konnte, ballte sich was in ihm.

Was kann ich dafür?, fragte er sich. Dass sie mich nicht versteht.

3.Kapitel

Danowski ließ den Sand durch die Zehen rieseln. Man grub die ein, dann hob man die Füße, und dann rieselte der Sand durch die Zwischenräume. Der Hammer, dass Leute deshalb an die Ostsee fuhren. Um das wochenlang zu tun. Er verstand die Menschen von Tag zu Tag weniger. Allerdings mochte er seine Füße. Warum war er nicht Fußmodel geworden. War das ein absurderer Beruf als der, den er hatte? Sicher war man da zeitig zu Hause. Und musste nicht zwischendurch in die Psychosomatik. Andererseits, was war schon sicher. Erstaunlich, wie er am Ende jedes Gedankens bei einem Kalenderspruch landete. Warum ließ er das nicht einfach. Mit dem Denken. Und sicher gab es auch Fußmodels, die Antidepressiva schluckten.

«Adam», sagte Meta. Er riss sich von seinen Füßen und seinen hochgekrempelten Jeans und dem rieselfeinen Ostseesand los. Sie wandte den Blick zum Meer, und er konnte sie im Profil betrachten. An Meta sah er, wie die Zeit verging. Weil sie nicht so viel aß und nicht so viel drinnenblieb, hatte sie mit Anfang, Mitte vierzig so ganz feine Falten vor den Ohren und die Mundwinkel hinab oder hinauf, und ihre Haare wurden röter, was ihm recht war, denn so erkannte er sie besser von weitem. Und konnte sich dann, je nach Sachlage, verstecken oder freuen.

«Ja, was», sagte er.

«Lässt du dich darauf ein?»

Er fing wieder an mit den Zehen und dem Sand.

«Lass ich mich darauf ein», sagte er nachdenklich und rieb sich die Stirn, seine Stelle. Da war was eingeschlossen, unter der Haut.

«Die ganze Sache hier», sagte Meta. Er wandte sein Lächeln ab. Irgendwie liebte er sie für ihre Verstocktheit. Warum sagte sie nicht einfach, dass er jetzt endlich in der psychosomatischen Klinik war, weil Finzi und sie einen Einsatz versaut hatten. Und dass er sich deshalb jetzt aber auch darauf einlassen musste. Auf die Klinik und alles. Darauf, dass sie ihm hier helfen wollten. Und dass das nicht wieder an ihm scheitern sollte. Oh, und wie sie die Sache an die Wand gefahren hatten. Vollkaracho, Kindheitswort. Und am Ende, als der Qualm sich verzogen hatte, war da Danowski auf den Knien und hyperventilierte, mit Blut und Knochensplittern übersät, und andere rannten herum, um Hilfe zu holen oder um einfach was zu tun, niemand bewahrte irgendeine Art von Ruhe, es schrillte ihm in den Ohren, und als er sich die Ohren zuhielt, hörte das auf, also schrillte tatsächlich in diesem Moment die ganze Welt, und Finzi kam über den Gang, mit so gestelzten Schritten, als hätte er die Hosen voll, und war weiß im Gesicht wie ein Camembert vom Frischeparadies oder der obere Rand von Metas Maniküre, wie sehr langweilte die sich eigentlich in ihrer Taskforce, und Meta stand da und ließ ihre Arme schlenkern, die Sicherungsweste mit dem POLIZEI-Krepp halb abgerissen, die Murmelaugen aufgerissen wie noch nie. Finzi und sie hatten richtig Mist gebaut, und bauen war gar kein schlechtes Wort, weil es nach Bauplan, Bauleitung klang, diese Scheiße war sorgfältig vorbereitet worden, von seinen zwei ältesten Kollegen und Freunden, und er mittendrin, richtig geknechtet, wie seine jüngere Tochter sagen würde, Martha.

Und jetzt kam Meta ihn hier besuchen in Damp 2000, und wie Danowski diesen Namen liebte, also, den zweiten Teil, das war doch pure Nostalgie. Als die Zukunft noch verheißungsvoll gewesen war. Er liebte die 2000, wie er das schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße liebte, das dabei war, alles an sich zu reißen. Und jetzt kam sie hier nach Damp 2000, besuchte ihn in der Klinik und sagte ihm, er müsste sich jetzt aber auch darauf einlassen.

Auf jeden Mist, dachte Danowski, habe ich mich eingelassen. Und guck mal, wohin es mich gebracht hat. Aber du hast eigentlich recht. Auf einen Mist mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an.

«Erinnerst du dich», sagte er, und Meta richtete sich zwei, drei Grad in der Vertikalen auf; das hörte niemand gern am Strand im September, im Niemandsland zwischen Sommersaison und Herbstferien, die Luft irgendwas zwischen zehn Grad und fünfundzwanzig, nur die Ostsee kalt wie immer.

«Der Sand erinnert mich daran», sagte Danowski, und Meta sah ihn an, ein bisschen ratlos. Das hatte offenbar doch nichts mit ihr zu tun, denn im Sand waren sie zusammen nie gewesen.

«Ist ein paar Jahre her, vor dem Kreuzfahrtschiff», sagte Danowski.

«Da war ich noch nicht in eurem Team», sagte Meta, eifersüchtig und erleichtert zugleich.

«Ja, nee, ich weiß», sagte Danowski, der jetzt gerne weitererzählen wollte. «Wir waren damals an einer richtigen Bettkantengeschichte, also, Frau und ihr Liebhaber …»

«Das Wort gibt’s auch nur noch bei uns», sagte Meta.

«Ja», sagte Danowski. «Jedenfalls haben die ihren Mann umgebracht, das war der Verdacht. Seine Leiche wurde in den Dünen bei Scharbeutz gefunden, und Behling war sich ganz sicher, na ja, wir auch, dass die …»

«Nie gehört», sagte Meta.

«Okay», sagte Danowski. «Also für den Staatsanwalt hing das alles an der Frage, ob die den Leichnam unerkannt von der Ferienwohnung, und Behling sagte immer Fewo, das ging mir wahnsinnig auf die Nerven, also ob die den von da zu den Dünen hätten kriegen können in den etwa dreißig Minuten, in denen ihre Handys nicht mit dem Fewo-WLAN verbunden waren …», jetzt sagte er das selbst, «… und ob sie dabei wirklich keiner hätte sehen müssen, bei Halbmond und klarer Nacht.»

Meta war jetzt doch interessiert, denn jeder amüsierte sich im Nachhinein über die schikanösen Ideen von Behling, der inzwischen, im September 2019, endlich in Rente war, und keiner hatte je wieder von ihm gehört. Seit Behling, längst pensioniert, einen der Verdächtigen in einem Entführungsfall erschossen hatte und entmündigt worden war. Unter amtliche Vormundschaft gestellt, hieß das. Zu verwirrt für einen Strafprozess. So wollte man auch nicht enden.

Meta guckte gespannt, ihre scheinbar so harten Kieselaugen in Wahrheit grau und grün und klar und abwechslungsreich. Meine einzige Freundin, dachte Danowski. Trotzdem konnte er ihr irgendwie nicht verzeihen, dass sie ihn in die Psychosomatik in Damp 2000 gebracht, also besser gesagt: erst mal traumatisiert hatte.

«Und dann mussten Finzi und ich das unter Realbedingungen nachspielen, mit so einer Art Leiche, die Behling immer Der Körper nannte, die hat die KT aus einem Basketball und ein paar Säcken mit Quarzsand auf ungefähr die Gestalt eines Toten und auf achtzig Kilo gebracht, und Finzi und ich haben uns da mitten in der Nacht abgeschleppt, und …» Danowski lachte. Er merkte, dass er die Atmosphäre von Dunkelheit, Erschöpfung und Verwirrung, die ihn und Finzi in jener Nacht umfangen hatte, zwar heraufbeschwören, aber nicht in Worte fassen konnte.

«Lachschwach», sagte er nach einer Weile. «Finzi und ich waren richtig lachschwach am Ende. Und wir haben’s nicht geschafft in der Zeit, die der Staatsanwalt gebraucht hätte. Aber es war irgendwie irre. Zwischendurch war das, als hätten wir echt eine Leiche getragen.»

«Man muss wohl dabei gewesen sein», sagte Meta. Er sah sie von der Seite an. Das Gesicht voller Spätsommersprossen.

Danowski nickte und schaute aufs Meer. Wenn ihm damals, mit Dem Körper in den Händen, jemand gesagt hätte: Das ist jetzt übrigens der Moment, wo die Welt noch in Ordnung ist. Falls du dich das später mal fragst. Wann das war. Das war jetzt. Er verzog das Gesicht, weil es ihm damals nicht so vorgekommen war, er den Moment also verpasst hatte.

«Und wie ist das ausgegangen?», fragte Meta.

«Was?»

«Damals. Dieser Fall.»

Danowski überlegte. So viele Tötungsdelikte gab es ja auch wieder nicht. Aber manchmal stellte er fest, dass er dennoch das eine oder andere davon vergessen konnte. Was er gut fand.

«Ich weiß es nicht mehr», sagte er. «Das hat nicht zur Anklage gereicht, glaube ich. Der Fall liegt sicher noch irgendwo. Eines Tages grabt ihr den wieder aus. Warte mal ab. Sag Bescheid, wenn ihr mich dann braucht. Als Austauschgeisel oder so was.»

«Ich weiß, dass wir Scheiße gebaut haben», sagte Meta. «Aber das kann ich jetzt auch nicht mehr ändern.»

4.Kapitel

Manche bauten also Scheiße, andere bauten Häuser. Zumindest sagte man das so, auch, wenn sie keinen Ziegel und kein Veluxfenster selbst in die Hand genommen hatten: Der Frankie und ich bauen ein Haus.

Von Mareike und Frankie hast du gehört? Die haben ein Haus gebaut.

Das hieß also: Sie hatten die Entscheidung getroffen und das Geld geliehen. Eine Firma beauftragt. Fertighaus, alles aus einer Hand. Da musste man sich nicht mit vielen verschiedenen Gewerken rumschlagen.

Ganz schnell hatte man diese Formulierungen drauf: Gewerke, sich mit denen rumschlagen.

Das Baugrundstück, fertig erschlossen, Rand von Hamburg. Wohneigentum als Kapitalanlage, weißt du, wir wohnen dann im Alter mietfrei. Das ist die beste Altersvorsorge. Von der BfA kommt ja nicht viel. Sie waren eigentlich jung, und sprachen unvermittelt viel übers Alter. Also er. Sie hörte zu. So ging bei ihnen «sprechen über». Walmdach, Carport, Eingangsbereich. Fußbodenheizung, Mörtelbatzen, Teilunterkellerung. Sie hörte zu. Wie friedlich ihn die Wörter machten. Sie merkte etwas wie Vorfreude in sich, oder Vor-Erleichterung, sie machte sich ihre eigenen Wörter.

Vielleicht würde es dann aufhören. Besser werden. So nannte sie das, wenn sie ihrer Mutter davon erzählte oder Freundinnen: Er ist manchmal so gereizt. Aber es wird besser. Es ist ja auch alles superstressig gerade. Er hat ja nicht mal Zeit für seine Hobbys.

So gereizt: ganz schön ruppig.

Ganz schön ruppig: gleich so aggressiv.

Gleich so aggressiv: Ja, wenn du dich mir in den Weg stellst.

Ja, wenn du dich mir in den Weg stellst: beiseitegeschoben.

Beiseitegeschoben: weggeschubst.

Weggeschubst: mit dem Kopf gegen den Küchenschrank.

Na ja, komm. Wenn du mich hier in die Ecke drängst.

 

Aber der Küchenschrank, das war in der alten Wohnung. So ein Hängeschrank, der da schon hängt, wenn man reinkommt, bei der ersten Besichtigung, und die Vormieterin will dreitausend Euro Abstand für die Küche, die aber eben in Wahrheit nur aus diesem Küchenschrank besteht und aus einem niedrigen Kühlschrank, Krümel im Drei-Sterne-Fach.

Der Küchenschrank kommt als Erstes raus, das sagte sich so leicht.

Der Küchenschrank hängt dann da bis zum Schluss, immer noch, vielleicht ist er das Letzte, was du siehst beim Auszug. Vielleicht. Vom Winkel her käme es hin, Blickachse von der Wohnungstür in die Küche.

Im neuen Haus aber, endlich alles neu: Einbauküche, Küchenzentrum, Küchenzeile von der Küchenmeile an der A1. Neubau, Neuanfang, neuwertig. Der Rohbau Beton, die Fassade vorgeklinkert, die matten Steine in einem Beigegelb, das natürlicher aussehen könnte.

Na ja, es ist auch ganz schön viel Stress gerade. Kein Wunder, dass er gereizt ist. Aber wenn wir erst einziehen. Ist er immer noch so gereizt? Nur noch manchmal.

War das eigentlich ein Code? Und wussten die anderen, wie man diesen Code verwendete, oder wusste sie es? Oder verstand sie einfach keiner, und das war dann irgendwann auch in Ordnung, weil der Schmerz sich am Ende womöglich verdoppelte, je nachdem, mit wem man ihn teilte?

Und im neuen Haus, Neukauf, Neubau, Neuland, würde man den Schmerz in Beton einschließen können wie einen havarierten Reaktorkern. Ein Sarkophag, um die Welt zu schützen vor allem, was nach draußen drang. Aber was sie vergessen hatte: dass sie dann ja mit einbetoniert war. Mit verklinkert, unterkellert. Vielleicht drang der Schmerz wirklich nicht mehr nach draußen. Aber sie auch nicht.

 

Einer der Maurer, Ende dreißig, Pragmatiker, ein Meister der kurzen Wege, nie ging der mit leeren Händen; und die Kollegen fanden ihn einen «schrägen Typen», was manchmal lustig war, aber meistens musste man da schon weggucken. Einer der Maurer hatte sich im Falle von Naturklinker angewöhnt, etwas dunklere Steine beiseitezulegen, und dann irgendwo in Kniehöhe ein Hakenkreuz zu klinkern. Der Effekt war immer der gleiche: Man sah das nur, wenn die Sonne in einem bestimmten Winkel auf die Fassade fiel. Und wann tat sie das je, in Kniehöhe, im Hamburger Stadtteil Hausbruch. Zweite Ausfahrt A7 hinterm Elbtunnel Richtung Süden. Drittletzte Ausfahrt in Hamburg.

Wie ein Nachkriegsgedicht aus Kommissbrot, Spätheimkehr und Bewohnerfeuchte. Man sah das Hakenkreuz also nur, wenn die Sonne darauffiel, und selbst dann musste man sich fragen: Sah man da ein Hakenkreuz in der Sonne? Weil der horizontal vermauerte Klinkerstein sich eigentlich gegen die geometrische Darstellung von Kreuzformen wehrte, das Hakenkreuz lag, wenn es denn überhaupt eines war, flach und gedrückt in der Wand und der Sonne.

Ein schräger Typ.

Mit den Jahren und Jahrzehnten dunkelten die Naturklinker ungleichmäßig nach, die ohnehin schon dunklen wenig, die hellen sehr, und dann verschwand das Hakenkreuz, ohne jemals weg zu sein, aber das war viel später, da gehörte das Haus schon längst einem anderen Paar, mit Kindern, und alles ganz normal.

 

Ihr Leben bestand aus Fragen.

Warst du den ganzen Tag im Haus?

Was hast du gemacht, so allein im Haus?

Oder, wenn sie doch mal losmusste, obwohl er schon da war, noch mal ins Einkaufszentrum oder zum großen Rewe: Wann bist du wieder im Haus? Und es musste schon stimmen, auf die zehn Minuten genau. Manchmal wartete sie hinter der Ecke, die Einkaufstasche zu ihren Füßen, den Blick aufs Feld, als hätte sie Tiere gesehen. Um nicht zu früh zu kommen. Manchmal musste sie so hetzen, weil sie sich verschätzt hatte, dass sie die Hälfte vergaß und dann zu Hause improvisieren musste.

Im Haus. Er sagte nie zu Hause.

Wenn sie zu spät kam, wurde er misstrauisch. Wenn sie zu früh kam, noch mehr, als hätte ein geheimer Plan von ihr sich zerschlagen, oder als hätte sie den Mut verloren zu etwas, worüber er keine Kontrolle hatte.

 

Die Eltern hatten ihnen achtzigtausend Euro geliehen. Er hatte durch seine erfolgreiche und gleichförmige Berufstätigkeit im Bereich der Kabelbaumzuganlagen rund vierzigtausend Euro angespart, sie durch die Arbeit als Buchherstellerin achttausend Euro. Sobald sie das Geld auf ihr gemeinsames Baukonto gezahlt hatte, schlug er ihr vor, ihren Job zu kündigen, damit sie sich auf den Umzug, die Einrichtung und das Haus konzentrieren konnte. Auf das Kinderzimmer. Und dass es nicht so lange leer stehen würde.

 

Sie nahmen einen Kredit von rund zweihundertneunzigtausend Euro auf, und auf etwa eintausendsiebenhundert Euro belief sich nun ihre monatliche Belastung, die tägliche nicht eingerechnet.

5.Kapitel

Danowski atmete Ostseeluft. Nicht so salzig wie Nordseeluft. Weicher. Leichter zu atmen. Und wenn man dem Kurzentrum den Rücken kehrte: freier Blick auf Beige und Grau und Hellblau. Endlich Ruhe. Oder? Danowski hatte diesen sechsten Sinn im Rücken, für den Fall, dass einer von hinten kam und sich in zwischenmenschlicher Absicht schräg neben ihn stellte. So wie jetzt.

«Käffchen?» Holm, der sich ihm mit Plauder-Absichten näherte. Das war die Psychosomatik hier, und da saßen sie alle im selben Boot und Meta ja auch wieder mit ihrem Ratschlag: sich drauf einlassen. Seine Frau sagte das schon gar nicht mehr, die hatte ihn, als sie ihn hier abgesetzt hatten, nur auf diese ganz feste Art und Weise in den Arm genommen, dass ihm klar war: Sich nicht drauf einlassen war jetzt keine Alternative mehr. Eine der letzten Chancen, so in die Richtung. Wenn Leslie ihm letzte Chancen gab, dann wollte er die nutzen. Egal, was es ihn kostete. Er dachte daran, wie seine Töchter darauf bestanden hatten mitzukommen, und wie lange sie nicht mehr zu viert im Auto gesessen hatten. Früher hatte er von ihnen bestenfalls die krummen Scheitel im Rückspiegel gesehen, jetzt nur noch ihr Kinn. Leslie war gefahren, Danowski auf dem Beifahrersitz wie ein Patient. Nach einer Weile Stellas Hand durch die Kopfstützenstreben auf seiner Schulter. Martha, bisschen zu laut wegen Airpods: «Hoffentlich behalten die dich nicht gleich für immer da.»

Danowski seufzte, vielleicht hatte er wirklich: «Kaffeedurscht?»

Holm nahm ihm auf diese Weise das Wort aus dem Kopf und reichte ihm den Pappbecher, Automat im Flur, zehn Schritte von der Gruppentherapie entfernt.

Danowski nickte und versuchte sich zu merken, an welcher Stelle des Becherrandes Holm seine unegalen Spenderfinger gehabt hatte, von da wollte er nicht trinken. Hinter Holm fiel die schwere Glastür zu, und sie waren in der Außenwelt allein. Raucheraustritt, Kippen in die Betonaschererde gesteckt, dicht an dicht wie eine Flechte.

Sich drauf einlassen hieß für Danowski, diesen Kaffee anzunehmen. Was sollte man machen, wenn da einer mit zwei Bechern stand, von denen einer ganz offensichtlich einem selber zugedacht war. Danke, Holm, ich möchte keinen Kaffee? Dann hätte man sich ja wieder nicht drauf eingelassen. Wäre sich drauf einlassen aber nicht in Wahrheit gewesen, den Kaffee abzulehnen und sich drauf einzulassen, dass die anderen sich vor den Kopf gestoßen fühlten?

«Danke, Holm», sagte Danowski, der sich vom ersten Tag an angewöhnt hatte, seine Mitpatienten ständig mit Namen anzureden, damit er sich die durch Wiederholung besser merken konnte. Und weil er merkte, dass es eine Verbindlichkeit erzeugte, die ihm die Leute paradoxerweise vom Leibe hielt. «Genau das Richtige jetzt.»

«Ja, Scheißsitzung mal wieder.» Das war Ehrensache: nicht über den Inhalt der Gruppentherapiesitzung zu sprechen, aber darüber, wie scheiße sie gewesen war. War sie aber auch gewesen. Heute besonders.

Es gab zwei Leute, die Danowski hier nicht ausstehen konnte, obwohl er von Anfang an sein Bestes gegeben hatte. Holm und diese Frau, die in seiner zweiten Woche in der Gruppentherapie aufgetaucht war und die Aufmerksamkeit auf eine unauffällige Weise an sich gezogen hatte, die ihm nicht gefiel. Mareike. Immer in so gesunde Sandtöne gekleidet, als wollte sie in der Wandfarbe verschwinden. Ernsting’s Family. Von fröhlichen Familien empfohlen. Zum Verschwinden war sie aber zu penetrant. Sie strahlte was Bedürftiges aus, als stünde ihr was zu. Ein paar Jahre jünger als er, aber wer war das nicht. Holm auch. Mareike fragte immer nach bei den Geschichten der anderen und schaffte es irgendwie, sich in allem wiederzufinden und alles auf sich zu beziehen, sodass Danowski am Ende immer das Gefühl hatte, sie hätten die ganze Stunde nur über Mareike geredet, obwohl sie in Wahrheit kein Wort von sich erzählt hatte. Und die Therapeutin, Frau Birkmann, die hin und wieder hinter ihren Schoßunterlagen auf dem Telefon spielte, während die anderen erzählten, nickte Mareike ganz ergriffen und aufmunternd zu: wie gut die mitarbeitete. Ich mag einfach keine Streber, dachte Danowski, als wäre der Fall damit für ihn er- ledigt.

Wenigstens verschwand Mareike im Erdboden, sobald die Gruppentherapie vorüber war. Aber Holm lief Danowski hinterher. Der hatte sich in ihn verguckt, sobald die Vorstellungsrunde gelaufen war. «Ich bin bei der Kriminalpolizei», hatte Danowski gesagt, weil er sich eigentlich vorgenommen hatte, in der Gruppe von dem Einsatz zu erzählen, das war ja der Sinn der Sache, denn, so seine Therapeutin in Hamburg: «Das sind Traumata.» Aber dazu würde es nun nicht mehr kommen. Denn Holm hatte gleich dazwischengebellt: «Ha! Endlich ein Kollege.»

Die anderen hatten gelacht. Die lachten, sobald es auch nur ansatzweise einen Anlass gab. Was, wenn man sich hier umsah, selten genug vorkam.

Kiel, ein Dezernat für Verbrechensbekämpfung.

Ah ja. Was denn für Verbrechen.

Einbrüche.

Oha. Viele Einbrüche in Kiel?

Ferienhäuser. Wohnungen. Alles.

Schwer, da Fortschritte zu machen, oder?

Ja. Und dann holte Holm noch mal so richtig aus.

Fachsimpeln konnte Danowski. Einbrüche, im Grunde das perfekte Verbrechen. Bisschen Vorarbeit, paar Fachkenntnisse, dann: wenig Risiko, raus und weg, in der Masse verschwinden, und zwar in der der unaufgeklärten Delikte.

Na ja, nach einer Weile hatte sich rausgestellt, dass Holm eher der Typ im Dezernat war, der Beratungsbesuche bei Leuten machte, die Einbruchsangst hatten, und denen er erklärte, für welches Schloss ein erfahrener Einbrecher 30 Sekunden und für welches er 30 Minuten brauchte.

Prävention, ach so.

Prävention verhindert mehr Verbrechen als Aufklärung.

Sicher, Holm.

Danowski ließ sich auf den Kaffee ein und bereute es sofort.

Vor seiner Bekanntschaft mit Holm hatte Danowski nicht gewusst, wie viele unterschiedliche Arten von Kleidungsstücken man aus Jeansstoff fertigen konnte, er hatte angenommen, dies beschränke sich auf Hosen, Jacken und Hemden. Holm hatte sogar Jeansschuhe, die Danowski öfter sah, als ihm lieb war, weil er gern den Blick gesenkt hielt. Davon abgesehen war Holm so ein Ausrüstungstyp. Manchmal hatte er ein Fernglas um den Hals und guckte, als wollte er danach gefragt werden. Oder eine Kamera mit auffälligem Objektiv. Aber Danowski fiel nicht darauf rein, wenn er Holm so traf. Der würde ihn nicht in ein Gespräch über Blessrallen, Gänsesäger und Eiderenten verwickeln.

«Prost», sagte Holm und schob seinen Pappbecher gegen Danowskis. «Blue lives matter.»

Danowski setzte den Kaffee ab. Verbrüderungen fand er schwierig, und erst recht auf Grundlage einer zufällig geteilten Berufstätigkeit. Zumal einer, die sie beide auf unterschiedliche Weise hierhergeführt hatte, in die psychosomatische Kurzklinik. Bei Holm vermutlich Bore-out.

«Na ja», sagte Danowski und rieb sich die Stirn, wo ihn dieser Einschluss unter der Haut noch mehr plagte als Holm.

«Ist doch wahr», sagte Holm. «Immer müssen wir den Kopf hinhalten.»

Holm, du erklärst Leuten, wie man einen Alarmanlagenbauer in den Gelben Seiten findet, dachte Danowski. «Na ja, weiß nicht», sagte er.

«Na», sagte Holm und hob seinen Kaffeebecher noch mal so prostgierig, «meinetwegen all lives matter.»

«Wirklich all lives?», sagte Danowski und fühlte das ganze Sich-drauf-Einlassen aus sich entweichen wie Atemabluft aus einem schlecht verknoteten Ballon. «Also jetzt zum Beispiel hier von dem Cordon Bleu, was die hier dienstags machen? Ich meine, Holm, ich ess das nicht, aber bist du jetzt Vegetarier oder so?»

Holm hatte sich schnell an Danowskis Gereiztheit gewöhnt, was aber, das war Danowski schon klar, nicht bedeutete, dass er gut damit klarkam.

«Na ja, ich sag mal, menschliche lives», sagte Holm, «aber das ist ja wohl auch klar.»

«Also jetzt zum Beispiel auch Leute, die eine Patientenverfügung haben, und da steht, alles abschalten, aber du sagst, all lives matter?» Man hatte ja schon viel Zeit hier und führte die seltsamsten Gespräche. Beim Abendessen fand Danowski das nach wenigen Tagen ganz schön, er hatte da so eine Zufallsrunde, am Tisch war nicht mehr genug Platz für Holm, er und die drei anderen hatten sich an einem Vierer gefunden, am zweiten Abend, und da mochte er dieses ziellose Reden über alles, was nichts mit der Vergangenheit und der Zukunft zu tun hatte. Aber mit Holm, da suchte er den Gesprächsausgang, fand aber nur den Selbstzerstörungsknopf.

«Nee, klar nicht.»

«Oder so Kriegsverbrecher, die …»

Holm hob abwehrend die Hände.

«Also nehmen wir mal die Nürnberger Prozesse», sagte Danowski.

«Meine Güte, ist ja gut», sagte Holm.

Danowski war ihm eigentlich dankbar dafür. Sie schwiegen. Das war auch ganz gut. Danowski war sich nicht sicher, ob er einen Black-lives-matter-Vortrag hingekriegt hätte, an dessen Ende er sich nicht wie ein Heuchler oder ein Klugscheißer vorgekommen wäre. Das Thema war eh durch. Sie hatten 2019. Es ging vorwärts.

«Wo bist du noch mal genau, welche Dienstelle?», fragte Holm.

Danowski runzelte die Stirn über ein Jucken an seiner Stelle hinweg. «Hab ich dir doch schon gesagt.»

«Nee, ich glaube nicht», sagte Holm. «Das hätte ich mir ja gemerkt. Also, ich merk mir eigentlich Sachen, die mich interessieren.»

«Warum interessiert dich das?», fragte Danowski und fürchtete, Holm würde antworten. Zugleich war es ihm lieber, als sich seine Dienststellenbezeichnung und seine Arbeitsplatzbeschreibung aus der Nase ziehen zu lassen.

«Ich kenn ein paar von euren Jungs», sagte Holm. «Vom Lehrgang in Neumünster. Einbruchsdelikte und Delikte am Menschen: Unterscheidungen, Schnittmengen, Tendenzen.»

«Klingt nach einem Lehrgang in Neumünster», pflichtete Danowski bei.

«Da war auch ein Hamburger», sagte Holm. «Name habe ich vergessen.»

«Ich war’s nicht», sagte Danowski.

Holm steckte sich eine an und lachte den Rauch weg. Das war erstaunlich, wie viel hier geraucht wurde. Womöglich, weil es vielen half, mit Sachen klarzukommen, die entweder noch gefährlicher oder so schlimm waren, dass es auf eine Schachtel mehr oder weniger auch nicht mehr ankam. Menschen, die todkrank waren. Oder die in der Trauergruppe. Erwachsen gewordene misshandelte Kinder. Suizidale Mobbingopfer. Warum sollten die nicht rauchen. Viel, wie das hier pauschal hieß: Depression. Danowski auch. Und Trauma.

«Und», sagte Holm, Themenwechsel in der Stimmlage. «Was läuft da mit dir und Mareike?»

6.Kapitel

Einer der letzten größeren Maschinenbauer in Norddeutschland, na ja, Zulieferbetrieb. Komponenten für Ziehanlagen für Kabelbäume. In Süddeutschland brauchten sie damit gar nicht erst aufzutauchen, Süddeutschland war dicht. Aber weil da unten alle Mitbemüher feste Verträge mit den deutschen Marken hatten und ihre Preise stabil halten konnten, lieferten sie ihre norddeutsche Feinmechanik zum Kabelziehen und die IT zum Auseinanderklamüsern der unterschiedlichen Anforderungsprofile nach Japan und Korea. Eigentlich kam er aus der Reifenbranche. Reifen, ja, da denkt keiner drüber nach. Aber überlegen Sie sich das mal: Das Einzige, was Sie mit der Straße verbindet, sind vier handtellergroße Gummiflächen. Das war so einer von seinen Texten gewesen. Das war bei den Kabelziehern nicht so einfach, da war er auch nicht ganz mit der gleichen Leidenschaft dabei. Vielleicht merkte man ihm das auch an. Gefällt’s dir noch bei uns? Wenn der Chef das fragte, Familienbetrieb, gute Stimmung war wichtig. Deine Zahlen stimmen, aber ich will ja auch, dass du dich wohlfühlst bei uns.

Wohl fühle ich mich nur zu Hause, dachte er auf dem Heimweg, durch den dunklen Schacht der Nordheide, die Ränder seines Gesichtsfeldes ausgekleidet mit Kettendiscountern, Logistikunternehmen, Tankstellen und Gartenbedarf, gelb-orange beleuchtete Außen-Lagerflächen. Wohl fühle ich mich nur im Haus.

7.Kapitel

Danowski schob Backfisch im Bierteig über den Teller wie einen Toten im Schlafsack, der den Ausgang versperrte. Fisch mit Finzi, Ostseeblick. «Scholle & Meer». Der Appetit war ihm nicht vergangen, weil er keinen gehabt hatte.

Finzi in so einer zweifarbigen Sportjacke, das war doch würdelos. Fehlten nur noch die Nordic-Walking-Stöcke, fand Danowski. Er nahm sich übel, dass er seinen Freunden übelnahm, wenn er ihnen sein eigenes Alter ansah.

«Und?», sagte Finzi.

«Na ja», sagte Danowski.

Finzi nickte und kaute, Pannfisch. «Kannst du dich hier drauf ein…»

Danowski hob die Hand und ließ das Kinn sinken. Finzi hörte auf, kaute und nickte.

«Der Abschlussbericht ist da», sagte Finzi.

«Interessiert mich nicht», sagte er. Konnten nicht mal alle aufhören, sich um ihn zu kümmern.

«Meta und ich …» Finzi legte die Gabel hin. «Der Einsatz war falsch angelegt. Beruhend auf einer fehlerhaften Lagebeurteilung. Zu wenig Deeskalation vor Ort, die ganze Unklarheit über die juristischen Hintergründe …»

«Das ist mir bekannt», sagte Danowski. «Mein Reden.»

Jetzt hob Finzi die Hand, das fiel ihm zu schwer hier. Runter von der Ich-verarsch-dich-du-verarschst-mich-Ebene, auf der sie sonst alles regelten.

«Aber sie nennen es eine Verkettung von Umständen. Jeder einzelne Fehler hat passieren können und war nicht auf Nachlässigkeit oder menschliches Versagen zurückzuführen, sondern auf Fehleinschätzungen.»

«Kann man wohl sagen.» Danowski quetschte was ab vom Backfisch und steckte es sich in den Mund, um etwas zu tun zu haben. Finzi hatte die Hand gar nicht wieder runtergenommen. Als dirigierte er seine eigene Verlegenheit. Diese auswendig gelernte Sprache. Vielleicht entfernte man sich im Laufe der Jahre sowieso immer weiter voneinander, und das war einfach ein weiterer großer Schritt auf diesem Weg.

«Also Meta ist … Du weißt, dass das bei Meta und mir in der Diskussion bis zu vorläufiger Dienstenthebung ging, Einbehalt der Bezüge …»

«Suspendierung», sagte Danowski, der sich nichts weniger wünschte für Meta und Finzi. Und nichts mehr für sich, als endlich seine Ruhe zu haben und nicht jeden zweiten Tag Entschuldigungs- und Erklärungsbesuche.

«Also, das ist vom Tisch», sagte Finzi.

Danowski kaute den Fisch und fand ihn doch gar nicht so übel. «Das freut mich.»

Finzi nahm die Hand runter. «Echt?»

«Klar. Was hab ich davon? Was hätte irgendjemand davon? Darum geht’s doch gar nicht. Ehrlich. Ich …»

«Auf ’ne Art ist es fast schlimmer», sagte Finzi. «Also, für Meta.»

Bisschen Remoulade mit dem nächsten Bissen, dieser unklare, säuerliche Fertighausgeschmack.

«Die lösen Metas Taskforce auf.»

Danowski hörte auf zu kauen.

«Oh.»

Wie immer, wenn etwas Überraschendes geschah, war es aus seiner Sicht im Nachhinein absehbar gewesen. Paradox, aber ermüdend.

«Das ist der Preis, sozusagen. Die offizielle Lesart ist: Die Struktur der Taskforce war nicht geeignet für Einsätze dieser Art, das muss aus den Dezernaten und Kommissariaten kommen, das muss dann direkt im LKA koordiniert werden und nicht von einer Außenstelle.»

«Arme Meta», sagte Danowski. Die Taskforce Sexualisierte Gewalt: ein Thema, das Meta wichtig war, bei dem sie kompetent war. Verantwortung, Leute unter sich. Die Entführung vor zwei Jahren war für die Taskforce eigentlich glimpflich abgelaufen: das Opfer befreit, Täter gefasst. Leider hatte ihr pensionierter Ex-Chef Behling einen davon erschossen, mit einer Dienstwaffe von Danowski, eine von diesen alten Geschichten, die einen einholten, sobald man sie vergessen hatte. Ein Desaster also, und deshalb: keine gute PR. Wie sollte man erklären, dass ein pensionierter Polizist mit Demenz seine alten Kollegen stalkte und in einem laufenden Einsatz eine Waffe abfeuerte? Gar nicht. Also hatte Meta da nichts zu verbuchen gehabt. Seitdem machte die Taskforce Kleinkram, bis runter dahin, an Schulen zu gehen und mit Lehrer*innen über Missbrauch zu reden. Wichtig! Aber komplett nicht das, was Meta sich vorgestellt hatte, das wusste Danowski, weil er sie kannte und selten mit ihr sprach. Meta sagte Kolleg*innen, Leslie sagte Lehrer*innen, mit dieser charakteristischen Pause wie bei Spiegelei, manchmal versuchte er das auch, schüchtern. Er gewöhnte sich langsam daran.

Fremdes Blut auf seinem Körper. Das war seine letzte Erinnerung an den Einsatz vor drei Monaten, das letzte große Ding der Taskforce. Diese überraschende Wärme, aber nur im ersten Moment, und wie schnell das kalt wurde, dabei war die Sommernacht so lau, das Fenster ja nun offen. Aufgeschossen. Also, weggeschossen. Blut und er: jedes Mal überrascht vom metallischen Geruch, noch nach dreißig Jahren im Job. Na ja. Wie oft hatte er in der Zeit frisches Blut gerochen? Frisch war es selten.

«Adam?»

«Arme Meta.»

«Sagtest du bereits.»

«Und was wird jetzt aus ihr?»

«Zurück ins Glied», sagte Finzi und sprach das Wort mehrsilbig aus, um Danowski zu ärgern oder zu trösten, Geliehied. «Mordbereitschaft. Sie haben einen Deal gemacht. Mit Kienbaum.»

«Mit wem?» Warum war sein Glas leer. Das war ja nicht zu fassen. Bei den Namen mancher alter Kollegen bekam er sofort einen trockenen Mund. Kienbaum: definitiv ganz oben auf dieser Liste.

«Kienbaum leitet künftig die vierzehn, und der Deal war, dass er mich die letzten fünf, sechs Jahre nimmt. Bisschen demütigend. Und er hat sich Meta ausgesucht. Ein paar Leute waren überrascht. Aber ich versteh genau, was er will. Erstens ist Meta super …»

Danowski nickte. «Zweitens hat er mit euch zwei Gestrauchelte unter seiner Knute.» Kienbaum, die sprechende Lederjacke. Danowski würde nie vergessen, dass er statt Kienbaum in einen Kabelgang unterm neuen Elbtunnel hatte kriechen müssen, damit sie einen suizidalen Tatverdächtigen an den Füßen herausziehen konnten; Kienbaum war zu breit dafür gewesen, Kraftsport, Proteine, mittags immer Hüttenkäse am Schreibtisch, nach Dienstschluss erst mal zwei Stunden in den Kraftraum im Erdgeschoss vom Präsidium, Omelette ohne Eigelb. Einarmige Liegestütze, aber nicht in einen Kriechgang kommen. Es hatte eine Zeit gegeben, da fand er Kienbaum weniger schlimm als Behling. Aber Behling war weg. Jetzt war Kienbaum schlimmer.

«Was für eine Scheiße», sagte er, und es fühlte sich gar nicht schlecht an für ihn, denn es kam endlich von Herzen.

«Kann sein, dass er dich auch noch holt», sagte Finzi brutal, aber es sollte wohl tröstlich klingen.