Dao De Jing - Lao Zi - E-Book

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Lao Zi

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Beschreibung

Das zeitlos gültige spirituelle Vermächtnis des großen «verborgenen Weisen» Lǎo Zǐ

Ein deutschsprachiges «Dao De Jing», das dem Original gerecht werden will, muss nah an dessen Wortlaut bleiben und mit der Urform zugleich die spirituelle Essenz der altchinesischen Lehre erfassen. Mit dieser Neuübersetzung finden nun Klang, Rhythmik, Sinn und Hintersinn ihren adäquaten sprachlichen Ausdruck. In ihr nimmt Kontur an, was in alten Nachdichtungen zumeist diffus und vage bleibt. Hier zeigt sich, dass das «Buch von Weg und Tugend» heute so aktuell ist wie vor zweieinhalbtausend Jahren. Wider menschliche Verblendung gerichtet, lehrt es die Besinnung auf das Wesentliche und stellt zeitlos gültige Fragen: «Ihr, die ihr mit euch selbst nicht im Reinen seid, wollt über die Zukunft der Zivilisation entscheiden? Ihr, die ihr in irdische Abhängigkeiten verstrickt seid, wollt die Erde von euch abhängig machen? Ihr, die ihr nicht im Einklang mit dem Ganzen steht, wollt das Ganze bestimmen?» Lǎo Zǐ geht es um ein erfülltes Leben des Einzelnen ebenso wie um eine angemessene und harmonische Weltordnung.

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Seitenzahl: 207

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«Gemeinschaft versteht sich auf das menschliche Mitgefühl, die wahre Rede versteht sich auf die Glaubwürdigkeit, die wahre Herrschaft versteht sich auf die rechte Ordnung.» Lǎo Zǐ

Das zeitlos gültige spirituelle Vermächtnis des großen «verborgenen Weisen» in Neuübersetzung.

Ein deutschsprachiges «Dao De Jing», das dem Original gerecht werden will, muss nah an dessen Wortlaut bleiben und mit der Urform zugleich die Essenz der altchinesischen Lehre erfassen. Mit dieser Neuübersetzung finden nun Klang, Rhythmik, Sinn und Hintersinn ihren adäquaten Ausdruck. Hier nimmt Kontur an, was in alten Nachdichtungen zumeist diffus und vage bleibt, und hier zeigt sich, dass das «Buch von Weg und Tugend» heute so aktuell ist wie vor zweieinhalbtausend Jahren.

«Das wahre Selbst ist nicht digital und nicht analog. Es ist urmenschlich und zugleich das Allzumenschliche überwindend, himmlisch und irdisch, universal und singulär. Das im Einklang mit DAO stehende wahre Selbst zeigt sich allem angemessen und alles umschließend. Es kann nicht bestimmt, muss vielmehr beständig neu errungen werden. Der Einklang ist kein Zustand, sondern ein Lebensweg.» Michael Hammes

Lǎo Zǐ

DAO DE JING

Chinesisch-deutsche Ausgabe

Neu ediert, aus dem Altchinesischen übersetzt und umfassend erläutert von Michael Hammes

MANESSE VERLAG

Vorwort

Das DAO DE JING ist nicht nur eines der meistübersetzten Werke der Weltliteratur, es ist auch eines der rätselhaftesten und auslegungsbedürftigsten. Entsprechend divergieren die einzelnen Übersetzungen ins Deutsche, die in den vergangenen eineinhalb Jahrhunderten geballt entstanden sind, in hohem Maße voneinander. Es sind nicht bloß stilistische Variationen auf ein Thema, sondern eigentlich inkommensurable Neuinterpretationen des Originals. Auch die vorliegende Übersetzung erhebt den Anspruch, eine singuläre inhaltliche Neuinterpretation des jahrtausendealten Werks zu sein und es unserem heutigen Verständnis auf bisher noch nicht da gewesene Art und Weise aufzuschlüsseln.

So wie Friedrich Nietzsche verschiedene Arten der Geschichtsschreibung unterschied, kann es verschiedene Ansätze zur Textübertragung geben. Grundlage der hier entstandenen Neuübertragung des DAO DE JING ins Deutsche ist die solide Erschließung des Urtextes in seinem kulturellen Umfeld unter Heranziehung aller verfügbaren seriösen Deutungsansätze. Um eine profunde deutsche Fassung anzufertigen, benötigt man intensive und extensive Kenntnisse der altchinesischen Sprache, die nicht einfach so in Wörterbüchern zu finden sind. Daneben ist die Vertrautheit mit den geistigen und spirituellen Schöpfungen der chinesischen Kultur von entscheidender Bedeutung. Das hermeneutische Vorgehen wurde jedoch noch um einen zusätzlichen Zugang ergänzt. Zeichen und Vorstellungsbilder des DAO DE JING erschließen sich in ihrer Fülle und Eigenart erst dem tiefen, intuitiven Verständnis der chinesischen Kultur und der daoistischen Tradition, gewonnen durch Versenkung in die alte chinesische Sprache, durch meditative Übungen, durch eigene Lebenserfahrung und Lehren aus der therapeutischen Praxis. Die Versenkung bezeichnet keinen ausschließlichen oder ausschließenden, sondern einen erweiterten hermeneutischen Zugang. Sich als DAO DE JING ausgebende Versionen, die aus der reinen Versenkung entstanden sind, kennt man zur Genüge – sie sollten in der besagten bald wieder verschwinden. Gemeinsames Ziel der philologischen, historischen, philosophischen und intuitiven Annäherung an den Urtext war es, ein sowohl authentisches als auch zeitgemäßes Verständnis für den zu bearbeitenden Stoff zu entwickeln.

Es ist unmöglich, einen esoterischen Text des alten Chinas in vordergründig «wörtlicher» Diktion zu übersetzen. Mit dem «Esoterischen» ist allerdings nicht etwa das Nebulöse, Irrationale gemeint, sondern der literarische Hintersinn, der kategorisch auf etwas «Innerliches» verweist, das nur Eingeweihten zugänglich ist beziehungsweise in seiner Tiefe nicht allein durch lesendes Verstehen, sondern letztlich durch eigene Erfahrung aus einer Praxis der Lebensführung nachvollzogen werden kann. Die esoterische Schranke des DAO DE JING, vergleichbar den Verschlüsselungen anderer klassischer Texte aus dem Reich der Mitte, präsentiert sich wie die Koan-Sammlung des Mumonkan: Es ist eine Schranke ohne Tor, ohne sichtbaren Einlass.

Dem DAO DE JING kann man nicht auf den Grund dringen, wenn man nur über eine sinologische Expertise verfügt. Noch weniger gelingt das Unterfangen, solange die Verstrickung in eigene und fremde kulturelle Kontexte noch nicht aufgelöst ist. Den Hinweisen auf das DAO in dem Lǎo Zǐ zugeschriebenen Text darf man nicht mit dem Verstand, man muss ihnen mit Verinnerlichung, Versenkung nachgehen. Auch wenn der Text nicht mit Gesellschaftskritik spart und eine äußerst skeptische Haltung zur Entwicklung der sogenannten Zivilisation einnimmt, so bleiben die Aussagen im Kern ein Leitfaden der Hygiene für Geist und Seele, der inneren Alchimie. Somit bietet das DAO DE JING auch ein Plädoyer für die Wiederentdeckung der Spiritualität in einer zunehmend entspiritualisierten, säkularisierten Welt.

Das Büchlein gehört in die Hand aufgeschlossener Angehöriger der Heilberufe wie unter das Kopfkissen geplagter Patienten, die mehr als den Zauber von Pille, Skalpell und Spritze erfahren wollen. Es könnte zum Entgiftungsmittel für Politiker und Bürger gereichen, die immer noch glauben, dass Gewalt und Ausgrenzung Lösungen bieten, oder die ihr Glück von materiellem Wohlstand, dinglichem Besitz und Macht abhängig machen. Jahrtausende bevor Technologie zum gesellschaftlichen Allheilmittel und Rationalismus zur Ersatzreligion des sich aufgeklärt wähnenden modernen Menschen wurde, formulierte das DAO DE JING eine radikale Gegenposition.

Mehr noch, die Schrift dekonstruiert die geschickt getarnten Manipulationen des Bewusstseins als Überformungen aus der Hand des Zeitgeists und der Macht verwaltenden Institutionen. Ja, man könnte sogar behaupten, dass diese Aussprüche der alten Meister dem fast unangefochten herrschenden wissenschaftlichen Positivismus unserer Tage seine wohlgefällige Maske herunterreißen.

Obwohl dieses weitverbreitete Werk also seit jeher Sprengstoff für die etablierten Systeme der Macht und der Deutungshoheit liefert, ist es nicht indiziert, sondern schlummert harmlos auf den entlegensten Bücherborden. Dass bislang keine detonationsauslösenden Zündungen stattgefunden haben, liegt einerseits an der erwähnten esoterischen Kodierung, andererseits an der grundlegenden Intention einer friedlichen inneren Wandlung und nicht einer gewaltsamen äußeren Revolte.

Die hier vorgelegte Übertragung des Urtextes in die deutsche Sprache zielt auf dessen möglichst anschauliche Entschlüsselung ab, auf frische Inspiration, nicht zuletzt aber auch auf heilsame Wirkungen. Der Leser möge versuchen, die Worte nicht bloß zu verstehen, sondern mithilfe ihres Sinns sein Inneres von Ballast zu befreien. So kann er den in ihm schlummernden Einklang mit dem DAO zum Leben erwecken.

Einleitung

Die Übertragung des Ursprungstexts, seine Erläuterung in den Kommentaren des Übertragenden und die angefügten Übungsbeispiele für die Praxis sollen davor bewahren, den Entwurf des DAO DE JING als Utopie abzutun.

Den Sinnsprüchen des DAO DE JING gelingt es, sich abstrakter philosophischer Theorien zu enthalten und die Fragen des Lebens in Bezug auf den Menschen mit sich allein und den Menschen in der Gesellschaft mit Bildern aus der Alltagswelt zu illustrieren. Der Text erblüht aus der souveränen Beherrschung der klassischen Figuren der Rhetorik: der Metapher und der Allegorie. Die Eröffnungen des DAO DE JING haben allerdings nichts mit schnöder Überredungskunst gemein, sondern sind eine aufklärerische Einführung in die Praxis der Selbstkultivierung und die Gewinnung weiser Einsicht in die innere und äußere Welt.

Die Grundüberzeugung, dass in allen Bereichen dieselben Prinzipien wirken, in der Regierung des Staates, in Ackerbau und Viehzucht, in der Gemeinschaft, in der Familie und in der inneren Welt der Gedanken, Gefühle und Wahrnehmungen wie auch in der Selbstregulation des Organismus, wird bereits von der universellen Bedeutungsfunktion chinesischer Wörter repräsentiert.

Staatliches und medizinisches Behandeln, aber auch die erzieherische Behandlung durch Bestrafung oder Erteilen einer Lektion, werden in der chinesischen Sprache durch dasselbe Zeichen ausgedrückt (zhì 治). Es kann verstanden werden als die Befähigung, Ströme zu lenken, die großen Ströme des Wassers in der Welt, denen alle Lebewesen ihre Existenz verdanken, ebenso wie die feinen Ströme der Lebenskraft qì 氣 im menschlichen Organismus, durch die der Leib am Leben und in Gesundheit erhalten wird. Daraus wird verständlich, dass sich der vorliegende Text sowohl mit der Beherrschung des Makrokosmos Welt als auch mit der des Mikrokosmos Mensch beschäftigt. Das Reich zu regieren, zügelloses Verhalten zu disziplinieren und den menschlichen Leib zu heilen, alles folgt identischen Prinzipien.

Nicht nur die Schaffung von Abhilfe im Falle der Unordnung, auch deren Entstehung in der Außen- und der Innenwelt sind auf gleiche Mechanismen zurückzuführen. Politik, Erziehung und Medizin bringen die Menschen aus dem Gleichgewicht, wenn mit dem Schüren von Ängsten, falschen Versprechungen und mangelhafter Aufklärung den ursprünglichen Beziehungen zuwidergehandelt wird.

Dass der Einzelne und die Gesellschaft unausgeglichen sind, zeigt sich nicht nur in offensichtlichen Entgleisungen wie Krieg und Gewalt. Dort, wo Vorbildfunktionen wahrgenommen werden sollten, herrschen nun Geltungsdrang, grenzenlose Gier, Erfolgssucht, Skrupellosigkeit, Neid und fehlendes Verantwortungsbewusstsein. Im modernen Spitzensport, auf den Führungsebenen von Großkonzernen wie auch im Bankenwesen zeigt sich ein pervertierter Geist der Gewinnmaximierung und der bedingungslosen Konkurrenz. Der Politik fehlt der Mut zur Ehrlichkeit, zu allgegenwärtig ist die Praxis der Heuchelei.

Analog dazu hat sich ein pervertiertes Verständnis von Gesundheit entwickelt: Der heutige Mensch wird dazu verleitet, sich als reparaturbedürftige Maschine mit begrenzter Lebensdauer zu begreifen. Verantwortung wird nicht mehr auf den einzelnen bezogen, sondern diffundiert im Systemischen, sodass den vielen Rädchen nicht die Ursache für die Bewegung zugesprochen werden kann.

Dem stehen die hier entwickelten Eröffnungen mit maximaler Konkretisierung entgegen, soweit dies für Figuren der inneren Einsicht und tiefen Weisheit überhaupt möglich ist. Die Zeilen des DAO DE JING verweisen darauf, dass eine höhere Gesundheit und eine größere, natürlichere Ordnung möglich sind. Ganz im Sinne der verantwortungsvollen Aufklärung sucht das DAO DE JING, den Menschen aus seiner Verwirrung in der Welt und seiner Verstrickung in Abhängigkeiten heraus und zu sich selbst zu führen.

Mit dem Konzept des DAO und der Kraft der Tugend kann der Mensch wieder lernen, sich selbst ins Gleichgewicht zu bringen und zum Wohl der ganzen Welt beizutragen. So könnte ein Untertitel zum DAO DE JING lauten: Über die Freilegung des wahren Selbst.

DAO DE JING

Die erste Eröffnung

Das DAO, von dem man sprechen kann,

ist nicht das immerwährende DAO.

Der Name, mit dem man benennen kann,

ist nicht der immerwährende Name.

Ohne Namen ist der Beginn von Himmel und Erde;

das Benannte ist die Mutter der Zehntausend Wesen.

Daher: Mit grundlegender Begierdelosigkeit betrachtet man seine Wunder,

mit grundlegender Begierde betrachtet man seine Grenzen.

Diese beiden haben einen gemeinsamen Ausgang, aber verschiedene Bezeichnungen;

zusammen nennen wir dies ein Mysterium.

Des Mysteriums noch größeres Mysterium ist die Pforte zu mannigfachen Wundern.

Erläuterung (1)

Erschließung

Das Zeichen dào 道 setzt sich zusammen aus 首(«Kopf», «Haupt») und 辵 [辶] («vorwärtsgehen»). Das Ideogramm verweist zurück auf das Bild eines Kindes, das einen Büffel mit einem Strick um Hörner und Kopf auf eine Bahn, in eine Richtung zieht.

Eine andere Deutung besagt, dass es sich dabei um die Stilisierung eines menschlichen Hauptes handelt, das an einer Kreuzung den richtigen Weg sucht.

Im übertragenen Sinne bedeutet dào 道 dann die Richtung, den Weg, auf den man gebracht werden soll, die Ausrichtung oder Ordnung, die sich dahinter verbirgt und darin ausdrückt, oder das Prinzip, das man mit Worten umschreiben kann.

Gleich zu Anfang wird eindringlich darauf hingewiesen, dass eine Beschränkung auf die greifbare vordergründige Bedeutung der Worte zu kurz greift. Himmel und Erde symbolisieren die noch benennbaren Grenzen der bekannten Welt der Zehntausend Erscheinungen. Von Himmel und Erde wird in den folgenden Eröffnungen noch häufig die Rede sein. Himmel und Erde sind – dem Grundverständnis der antiken chinesischen Kultur zufolge – sowohl wahrnehmbare Wesenheiten als auch die Dinglichkeit übersteigende Prinzipien und Wirkkräfte in der Welt.

In der ursprünglichen Auffassung des alten China hatten die innerlich spür-, fühl- und meditativ erfassbaren Aspekte des Seins Vorrang vor dem dinglich Fassbaren. Die Welt der Dinge führt stets in die Begrenzung; die innere Einsicht überwindet alle Grenzen. Der «edle Mensch» (jūn-rén 君人) war nicht bloß in seinen Manieren verfeinert, sondern noch viel mehr in seinen Sinnen, in seiner inneren Wahrnehmung und bewussten Durchdringung der Welt.

Einem erweiterten Bewusstsein stehen nach traditioneller Auffassung die Triebe, die Prägungen, die «Begierden» (yù 欲) entgegen, ein weiterer thematischer Pfad, der die häufige Verwendung dieses Ausdrucks im Text erklärt.

Die Überwindung des Bestimmt-Seins durch Begierde war Gegenstand der antiken chinesischen Charakterbildung. Das erweiterte Bewusstsein ergibt sich als Ganzheit aus der Erfahrung der Abhängigkeit von Zielsetzungen wie auch aus ihrer gelungenen Überwindung.

Aus der schmerzlichen Erfahrung miteinander verfeindeter, in Krieg und Zerstörung konkurrierender Reiche war das alte China durch die Suche nach der verlorenen Beständigkeit (cháng 常) legendärer Epochen der Vorzeit geprägt. Die erste Eröffnung benutzt ein weiteres Wort, das die folgenden Sinnsprüche wieder und wieder aufgreifen. Beständigkeit führt zurück in den Urzustand der Welt, in das ewige Sein von Himmel und Erde (jiǔ 久), ebenfalls ein wiederkehrendes Motiv des DAO DE JING. Dieser zeitentrückte Zustand wird in der chinesischen Kultur später auch «Unsterblichkeit» (shòu 壽) genannt.

Der Ausdruck xuán (玄) für «dunkel», «mysteriös», «unfassbar» ist ein Schlüsselwort der daoistischen Welterfahrung. Die wahrhaftige «Erleuchtung» als Einsicht in die tiefen Geheimnisse der Welt findet nicht im grellen Licht des Alltäglichen statt, sondern hat seine Entsprechung in dem auf Seneca zurückgehenden geflügelten Wort «per aspera ad astra». Zum Mysterium dringt nur vor, wer Widerstände überwindet, Mühen auf sich nimmt, Dunkelheit und Verirrung hinter sich lässt.

Mit miào (妙) wird schließlich das bezeichnet, was mit Verstandeskräften nicht mehr begriffen werden kann und allem eine wundersame Subtilität verleiht.

Auslegung

Oberflächlich betrachtet erscheint die erste Eröffnung wie eine Einführung in das Thema. Tatsächlich gelingt es dem Text, die gesamte Aussage des DAO DE JING auf das Wesentliche zu verdichten und dadurch alle davon abgeleiteten Aussagen, die in den nachfolgenden Eröffnungen getroffen werden, in der Wurzel bereits in sich zu tragen.

Die echte innere Erfahrung kann man nicht in Worte fassen; die tiefe Einsicht in die Zusammenhänge des Daseins ist nicht mit Begriffen auszudrücken. Es ist die Erfahrung des Eins-Seins mit der Welt, das Erleben der Ungeschiedenheit des Uranfangs aller Dinge, als wären wir im kosmologischen Sinne Zeuge der Ewigkeit vor dem Urknall, mit dem die Universen geschaffen wurden, oder im kontemplativen Sinne im Zustand der «unio mystica».

Der Satz «Das Benannte ist die Mutter der Zehntausend Wesen» ist ähnlich zu verstehen wie der Vers des Johannesevangeliums «Im Anfang war das Wort …»: Die Erfahrung der dinglichen Welt beginnt mit ihrer Benennung.

Im Hinblick auf das DAO kommt Worten nur ein Verweischarakter zu. Sie können auf die Erfahrung hindeuten, diese aber weder ersetzen noch hinreichend abbilden. Das DAO findet sich jenseits des Begrifflichen, des vom Verstand Auslotbaren und jenseits der Zeit: Es ist ewig. Benennungen hingegegen sind transient, zeitgebunden und begrenzend.

Namenlos ist der Anfang allen Seins, denn für das allen Begriffen Vorangehende gibt es keinen Begriff. Benennbar ist nur, was bereits einen konkreten Zustand angenommen hat wie die «Zehntausend Wesen».

Tiefe Einsicht in das immaterielle DAO ist nicht per Willensentscheid zu erlangen, kann nicht angestrebt werden. Das Benennen-Wollen, der Wunsch nach Definition und Festlegung, steht dem Erfahren des DAO im Wege. Mit Vorsätzen und Intentionen stoßen wir immer an unsere Grenzen.

Im Zustand der Absichtslosigkeit und Abwesenheit von Begehrlichkeiten können sich dagegen Wunder ereignen. Wir sind in der Lage, zu betrachten, ohne dass der Verstand für das Betrachtete bereits Kategorien gebildet hätte. Unsere Wahrnehmung wird so unverfälscht und unmittelbar.

Dieses Betrachten von Wundern («sich wundern») bedeutet, Zeuge des Wirkens der höchsten ordnenden Instanz zu werden.

Beides, sich dem Wunder der Schöpfung zu öffnen und sich der Einsicht in die eigene Begrenzheit auszusetzen, wird von unserem erweiterten, erkennenden Bewusstsein ermöglicht. Zu begehren und frei von Begehren zu sein, beides hat einen gemeinsamen Ursprung in unserer geistig-seelischen Innenwelt. Dass wir begehren und uns zugleich unseres Begehrens und der Auswirkungen von Begehrlichkeit bewusst werden können, ist eine wunderbare Fähigkeit unseres Geistes, ein Mysterium.

Das Erwachen des erweiterten Bewusstseins bildet aber nur die Eintrittspforte. Ist der Geist einmal erwacht und mit dem Wunder der unkonditionierten Wahrnehmung in Berührung gekommen, so will er immer weiter in alle Erscheinungen des neu entdeckten Universums von Wundern und Mysterien eindringen.

Wir haben es hier nicht mit einer Technik zur Selbstberuhigung zu tun, vielmehr stoßen wir das Tor zu einer neuen Erfahrungsdimension auf. Hinter der Grunderfahrung des erwachten Bewusstseins warten weitere Mysterien, die zu durchdringen sind. Die Durchdringung der Mysterien offenbart Wunder über Wunder.

Diese Erfahrungen liegen nicht nur jenseits des Benennbaren, es kann auch kein vorgegebener Weg gewiesen werden, der zur Offenbarung des DAO führt. Auch wenn es vielfältige Übungsanleitungen zum inneren Pfad gibt, so muss ihn doch jeder so beschreiten, wie es für ihn möglich und richtig ist.

Daher: Glaube nicht, das DAO mit dem gewöhnlichen Alltagsverstand begreifen zu können, löse dich von dem Wort und mache dich empfänglich für das Wunder. Über Mysterien und immer tiefer dringende Mysterien offenbart sich dir das DAO.

Die zweite Eröffnung

Unter dem Himmel erkennen alle das Schöne als das Schöne;

denn zugleich besteht auch das Hässliche.

Alle wissen um das Gute;

und zwar mit dem Widerpart des Nicht-Guten.

Sein und Nicht-Sein bringen sich wechselseitig hervor,

Schwieriges und Einfaches vollenden sich gegenseitig,

Langes und Kurzes begrenzen sich gegenseitig,

Hohes und Niederes ergänzen einander,

Töne und Akkorde fließen ineinander,

Vorher und Nachher folgen aufeinander;

so ist es die immerwährende Regel.

Daher verbleibt der im Einklang Stehende bei der Verrichtung der Ungeschäftigkeit,

betreibt die Unterweisung ohne Geschwätz;

dem Tun der Zehntausend Wesen setzt er keine Ursache,

er wirkt ohne Eigensinn, vollendet sein Werk und verweilt nicht dabei.

Da er sich mit nichts aufhält, verliert er nichts.

Erläuterung (2)

Erschließung

Der Text arbeitet zunächst mit Gegensatzpaaren wie «schön»/«hässlich», «sein»/«nicht sein», «lang»/«kurz», die als aufeinander bezogen und sich gegenseitig bedingend verstanden werden. Fast unmerklich wird dann auf ein Begriffspaar übergeleitet, das nicht Gegensätze benennt, sondern in dem das eine ein Teil des anderen darstellt (Töne/Akkorde).

Dies illustriert das chinesische Konzept von Yin und Yang, das sich auf polare Gegensätze bezieht. Dies ist der erste Aspekt von Yin und Yang. Dass die einander gegenüberliegenden Pole nicht nur als Gegensätze zu begreifen sind, sondern das eine immer auch Anteil am anderen hat, kennzeichnet den zweiten Aspekt der Yin/Yang-Polarität. Ein Beispiel hierfür ist etwa der Gegensatz von Nacht und Tag, wobei am Tag das Licht die Dunkelheit vertreibt und in der Nacht die Dunkelheit wiederum das Licht. Der dritte Aspekt von Yin und Yang besteht darin, dass sich die Polaritäten nach antiker Vorstellung gegenseitig hervorbringen. So ist ein Ton Teil eines Akkords, und der Akkord ergibt seinerseits einen neuen Ton.

Die alte chinesische Kultur interessiert sich besonders für die atmosphärische Relation zwischen den Dingen, also weniger für das, was jedes Ding für sich alleine genommen ist, als dafür, auf welche Art es ist und in welchen Beziehungen es steht.

Um diese Zusammenhänge in allen Dimensionen erfassen zu können, muss sich der Betrachter im Zustand der vollkommenen Zentrierung bei Abwesenheit jeder Fremdbestimmung befinden: Er muss sich als «ungeschäftig» (wú-wei 無爲) erweisen.

Dieses Motto prägte die alte chinesische Kultur dergestalt, dass es als kalligrafiertes Bildnis über dem kaiserlichen Thron in der «Halle der gelassenen Vereinigung» schwebt, dem Ort im Pekinger Palast, an dem der Himmelssohn den Austausch mit den irdischen Konkubinen pflegte. Selbstvergessenheit, scheinbares Vergnügen und rituelle Repräsentanz verschmolzen hier zu einem Amalgam aus Symbol und Realie.

Der oberste Anführer der Menschen praktizierte inmitten seines Palastes die Zentrierung in der gelassenen Ungeschäftigkeit und im Herbeiführen der Vereinigung der Gegenpole von Yin und Yang, von Himmel und Erde. Das Sich-Verbinden mit den Mysterien des DAO ist fester Bestandteil der Rituale der Herrschaftsausübung.

So wie Herrschaft über das äußere Reich ausgeübt wird, so muss auch der Mensch lernen, sein inneres Reich zu beherrschen und sich aus Verstrickungen zu lösen.

In dieser Eröffnung ist von «Unterweisung ohne Geschwätz» (wörtlich «Unterricht ohne Worte», bù-yán-zhī-jiào 不言之教) die Rede. Auch dieser Ausdruck ist im doppelten Sinne zu verstehen: Zum einen verweist er auf die Grenze des Sagbaren (vgl. erste Eröffnung), woraus die Unterweisung aus unmittelbarer Anschauung resultiert, zum anderen meint er die Vermeidung von überflüssigen als auch vordergründigen Worten. Daraus folgt das bevorzugte Sprechen in Andeutungen, das Eingrenzungen durch zu eng gefasste Begriffe vermeidet. Der Ausdruck «Unterweisung ohne Geschwätz» wird in der dreiundvierzigsten Eröffnung noch einmal aufgegriffen.

Das oft mit «Wille» übersetzte Zeichen zhì 志 sollte hier besser als «Eigensinn», als egoistische Motivation verstanden werden.

Auslegung

Der Verbindung und dem Einklang mit dem DAO steht nicht nur unser gewohnter Drang nach Benennung und verstandesmäßiger Erfassung im Weg, sondern auch die gewöhnliche Art, Dinge wahrzunehmen.

In einem Winkel unseres Verstandes ist uns bewusst, dass das Schöne nur existiert, weil es auch das Hässliche gibt, und dass wir nur in der Lage sind, das Gute als gut zu erkennen, weil wir wissen, was nicht gut ist. Unser Interesse jedoch gilt dem Schönen, das Hässliche wollen wir nicht sehen und mit dem Nicht-Guten nicht in Verbindung treten.

Der Verstand kennt nur A oder Nicht-A, und das Gefühl wählt das attraktivere von beiden aus. Gegensätze erscheinen uns üblicherweise als voneinander geschiedene Entitäten.

Hier können wir verstehen lernen, dass Gegensätze nicht absolut unvereinbar zueinander stehen, sondern vielmehr die zwei Seiten einer Medaille darstellen. Ganz im Sinne des Theorems von Yin und Yang entstehen nach chinesischer Vorstellung Gegensätze auseinander, stehen in untrennbarer Beziehung zueinander, bedingen einander und ergeben nur in Verknüpfung miteinander Sinn.

Die Verbindung mit dem DAO wird vollführbar, wenn ein Blick auf das Ganze gewagt wird, wenn die Gesamtheit der Erscheinungen und ihre wechselseitigen Beziehungen und Bedingtheiten in Augenschein genommen werden. Wir sind gewohnt, die Welt zu analysieren, das heißt in diskrete, voneinander abgetrennte Einzelphänomene aufzulösen.

Die analytische Sicht ist in sich begrenzt, während die synthetische Betrachtungsweise unter der Führung des DAO allumfassend und in sich unbegrenzt ist.

Wenn man das Ganze ins Auge fasst, kann einem nichts mehr entgehen. Das Einnehmen einer kontemplativen Haltung wirkt wie ein Nullabgleich auf unser Gehirn. Es fördert nicht nur den Abbau von Stressfaktoren, sondern ermöglicht einen unvoreingenommenen und unverstellten Zugang zu allen Erscheinungen.

Die erweiterte Perspektive tut sich demjenigen auf, der nicht in vielfältige Vorgänge und Konflikte verstrickt ist. Daher ist die Rede des mit dem DAO im Einklang Stehenden lakonisch und fokussiert; sie meidet überflüssige Worte.

Wenn die Welt sich uns dank unverstrickter Beobachtung in unverfälschter Form offenbart, entwickeln wir erst eine erweiterte und schließlich eine umfassende Sicht auf alles: auf uns selbst, auf die Welt und auf das Sein. Dieser Einsicht folgend, werden unsere Handlungen vollständig. Sie beschränken sich auf das Notwendige und Wesentliche, ohne Ursachen für Gegenbewegungen zu sein. Aus der Sicht des Ganzen vollendet sich die Handlung in sich selbst, weil sie dem Wesen der natürlichen Ordnung der Welt, dem DAO, entspricht und diese nicht übertritt.

Daher: Löse dich von den Erscheinungen, werde frei von (Vor-)Urteilen und Abhängigkeiten.

Die dritte Eröffnung

Wird die Tüchtigkeit nicht überhöht,

lässt es das Volk nicht streiten;

werden rare Güter nicht überbewertet,

führt es das Volk nicht in die Versuchung zu stehlen;

wird nicht mit Prahlerei Begehrlichkeit geweckt,

stürzt es die Herzen des Volkes nicht in Verwirrung.

So verhält es sich mit der Beherrschung des im Einklang Stehenden:

Er leert das Herz, füllt den Bauch,

schwächt den Eigensinn, stärkt die Knochen,

hält das Volk stets fern von Schläue und Begehren.

So zügelt er den Übermut der Neunmalklugen

und begnügt sich selbst mit Ungeschäftigkeit;

auf diese Weise bleibt nichts unbeherrscht.

Erläuterung (3)

Erschließung

Mit dem Ausdruck xián 賢 wird das «tugendhafte» und «strebsame Verhalten» bezeichnet. Es meint auch die «besondere Begabung» eines Menschen. Mit seinen Ambitionen und Talenten soll man sich nicht «nach oben» (shàng 上), also über andere stellen. Dies führt zu Neid und fördert den Streit. Genau dies jedoch soll im Sinne des DAO vermieden werden. Die immer wieder im Text aufgegriffene Zielsetzung lautet: «nicht miteinander konkurrieren», «nicht streiten» (bú-zhèng 不爭).

Bú-jiàn 不見 heißt wörtlich «nicht sehen», meint hier aber «nicht zu Gesicht bringen», «nicht zur Schau stellen», «nicht prahlen». Was dem DAO gemäß über das Streiten hinaus noch vermieden werden soll, ist das «Chaos», das «Durcheinander», die «Unordnung» luàn 亂. Als schädliches Motiv hinter dem Ausscheren aus dem DAO wird die «Begehrlichkeit» (yù 欲) identifiziert; ebenfalls ein Ausdruck, der im Folgenden mehrfach aufgegriffen wird.

Die Ausdrücke xū 虛 und shí 實 werden hier als Verb im Sinne von «leeren» und «füllen» benutzt. Sie dienen auch als substantivische Beschreibung des funktionellen Zustands des Leibes in der alten chinesischen Medizin (Fülle und Leere).

Das Wort zhì 治 steht für «herrschen», «beherrschen», «regieren», «die Ströme leiten», medizinisches «Behandeln», letztlich auch «Selbstbeherrschung».

Schließlich wird die Verführung durch das «Wissen» (zhī 知) thematisiert, wobei der Text nicht als grundsätzlich wissensfeindlich missverstanden werden sollte, sondern bloß der Selbstüberhöhung durch größeres Wissen Einhalt zu gebieten sucht. Daher wurde der Ausdruck hier mit «Schläue» im Sinne von Besserwissertum übertragen.

Die Menschen sollen dazu gebracht werden, trotz ihres Wissens keine Übertretung der Gesetze des DAO zu «wagen» (bù-gǎn 不敢, «sich nicht erdreisten»). Wörtlich heißt der Satz hier: «lässt Mensch wissen nicht wagen tun», was mit «Zügelung des Übermuts der Neunmalklugen» übertragen wurde. Durch Selbstzügelung bleibt «nichts mehr ungezügelt» (wú-bú-zhì 無不治), durch Selbstbeherrschung (wèi-bú-wèi 爲不爲, «das Nicht-Tun tun») bleibt nichts unbeherrscht.

Auslegung

Wenn wir den Grund dafür suchen, dass sich der Mensch überhaupt aus seiner Mitte, aus der Verbundenheit mit allem, herausbewegt, gelangen wir zu der Einsicht, dass es die vielfältigen Versuchungen und Begehrlichkeiten sind, die den Menschen verwirren und dazu führen, dass er «außer sich» gerät. Immer wenn wir anfangen zu glauben, dass wir ohne einen bestimmten Besitz, ohne ein bestimmtes Vergnügen, ohne eine bestimmte Position nicht glücklich und zufrieden sein können, geraten wir in Gefahr.