DARK ISLAND - Matt James - E-Book

DARK ISLAND E-Book

Matt James

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Beschreibung

Tauchen Sie ein in die düstere Welt von DARK ISLAND und erleben Sie ein nervenzerreißendes Abenteuer, das Sie nicht mehr loslassen wird. Madagaskar ist eine "Alte Insel", wie es die Geologen nennen. Seit über 150 Millionen Jahren vom afrikanischen Festland isoliert, konnte sich dort eine ganz eigene Pflanzen- und Tierwelt entwickeln. Und überleben … Nur widerwillig nimmt der ehemalige Navy SEAL Ian Hunt das Angebot an, ein Forschungsteam nach Madagaskar zu begleiten, nachdem dort ein Erdbeben ein riesiges Netzwerk aus Tunneln freigelegt hat, aus welchen unbekannte Kreaturen zur Oberfläche fliehen. Ihre Entdeckung könnte sich als Sensation entpuppen, vorausgesetzt, das Team überlebt lange genug, um davon berichten zu können, denn im Herzen der dunklen Insel haben Dinosaurier überlebt. Und sie sind hungrig … Matt James erschafft eine Atmosphäre der Angst und Spannung, die bis zur letzten Seite anhält. Mit jeder Wendung wird das Geheimnis der Insel komplexer und die Gefahr größer. Werden die Forscher das Rätsel lösen und DARK ISLAND lebend verlassen können? Oder werden sie für immer dort gefangen sein? ★★★★★ »Matt James schreibt elektrisierend.« [Rick Chesler, Autor von Hotel Megalodon]

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DARK ISLAND

Matt James

This Translation is published by arrangement with SEVERED PRESS, www.severedpress.com Title: DARK ISLAND. All rights reserved. First Published by Severed Press, 2017. Severed Press Logo are trademarks or registered trademarks of Severed Press. All rights reserved.

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: DARK ISLAND Copyright Gesamtausgabe © 2019 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Andreas Kasprzak

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2019) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-425-8

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

DARK ISLAND
Impressum
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Epilog
Über den Autor

Prolog

Andringitra-Nationalpark, Madagaskar

Das Andringitra-Bergmassiv trägt den Spitznamen Die Felsenwüste und erstreckt sich über eine Fläche von annähernd vierzig Meilen. Selbst die schmalste Stelle des Gebirges ist immer noch über sechs Meilen breit. Der Osthang entstand einst bei einem Vulkanausbruch und bietet einen spektakulären Anblick. Im Gegensatz zur Westseite, die schrittweise zu den umliegenden Grasflächen hin abfällt, endet die östliche Seite des Gebirgszugs abrupt mit steilen, unheilvollen Klippen.

Ian und Abigail Hunt hatten diese gnadenlose Felswand gerade über einen schwierigen, in Serpentinen verlaufenden Wanderweg bezwungen. Nun sollte der nächste Abschnitt ihrer Wanderung sie querfeldein führen. Sie mussten auf der Hut sein. Der Boden war – einem Schweizer Käse gleich – von Felsspalten übersät, die man im Zwielicht leicht übersah. Die meisten waren nicht sonderlich tief, vielleicht sechzig Zentimeter. Andere hingegen reichten zehnmal weiter ins Gestein hinab, mache sogar noch tiefer.

Hier will man nicht festsitzen, dachte Ian und platzierte seine Schritte mit Bedacht.

Die Sonne war dabei, unterzugehen, weshalb sie gezwungen waren, sich zu beeilen, um einen geeigneten Lagerplatz zu finden, bevor es zu spät wurde – und zu dunkel. Dieses UNESCO-Weltkulturerbe beim Schein von Taschenlampen zu erkunden, war nicht zu empfehlen. Binnen Sekunden konnte einem alles Mögliche zustoßen, und wenn das geschah, war man hier gänzlich auf sich allein gestellt.

»Es ist das Risiko nicht wert«, sagte Abigail. Wie üblich war die hübsche blonde Australierin übervorsichtig. »Ich hätte eigentlich gedacht, ein Typ mit deiner Erfahrung und deinem Hintergrund wüsste die Lage realistischer einzuschätzen.«

Sie hatten die Hälfte des Gebirgszugs überquert, als Abigail stehenblieb, ihren Rucksack von den Schultern schüttelte und ihn mit einem Seufzen zu Boden fallen ließ. Sie streckte sich; dabei glitt ihr Shirt einige Zentimeter in die Höhe. Wie immer konnte Ian seine Frau bloß dafür bewundern, in was für einer großartigen körperlichen Verfassung sie war. Als sie sich vor fünfzehn Jahren kennengelernt hatten, war sie ein absoluter Hingucker gewesen.

Das ist sie immer noch.

Vielleicht würde er nachher mal nachschauen, was sich sonst noch unter diesem Shirt befand. Und falls es nicht dazu kam, konnte er immer noch die Augen schließen und sich Abigail stattdessen einfach im Adamskostüm vorstellen.

Er grinste. Es hat schon was für sich, ich zu sein …

Ian verdrehte die Augen. »Komm schon, Abby, das hier ist kein Kampfgebiet oder so. Wir wandern bloß; wir pirschen uns nicht an eine Terrorzelle in einer Höhle in Afghanistan an. Ich bezweifle ernsthaft, dass hier draußen irgendwo eine Horde Taliban-Arschlöcher auf uns lauert.«

Doch er setzte sich hin und entledigte sich gleichfalls seines Rucksacks. Abigail lachte und rutschte näher an ihren Ehemann heran. Ian legte einen kräftigen Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. Die Abendluft kühlte rasch ab und aus irgendeinem Grund hatte Abigail darauf verzichtet, für ihre Tollerei oben auf dem Berg irgendetwas Warmes einzupacken.

»Und falls wir doch in eine Schießerei geraten«, stichelte sie, während sie ihn mit dem Ellbogen anstieß, »ist keiner deiner Kumpels von zuhause da, um dir aus der Patsche zu helfen.«

Ian ließ seinen Bizeps spielen, was Abigail ein Lachen entlockte. »Seit wann brauche ich Hilfe von irgendwem?« Dann wurden seine Augen groß und er fügte hastig hinzu: »Abgesehen von dir, meine ich?«

Wieder ließ sie ihn ihren Ellbogen spüren. »Gerade noch mal gutgegangen, Amigo.« Sie fröstelte in seinen Armen. »Verdammt nochmal, Ian, warum habe ich keine Jacke mitgenommen?«

»Weil du mich dabei hast, um dich warmzuhalten.« Er grinste. »Abgesehen davon bist du manchmal ein bisschen flatterhaft.«

»Ha, ha …«

Sie legte ihren Kopf an seinen Hals, und gemeinsam saßen sie da und schauten zu, wie die Sonne hinter dem Horizont versank. Einen friedvolleren Ausblick konnte man sich nicht wünschen. Er vermochte sich nicht zu erinnern, wann sie das letzte Mal einfach zusammen gewesen und sich schweigend einen Sonnenuntergang angesehen hatten. Sie führten ein bewegtes Leben, und wie die meisten anderen Menschen hatten auch sie bisweilen Probleme, immer alles unter einen Hut zu bringen.

»Denkst du wirklich, wir sind hier richtig?«

Abigail antwortete nicht.

Er war schon drauf und dran, seine Frage zu wiederholen, doch dann entschloss er sich stattdessen, den Mund zu halten und zu lauschen. Das Einzige, was er außer der sanften Brise vernahm, war das schwere, ruhige Atmen seiner Frau. Sie war eingenickt. Er ließ sie behutsam zu Boden gleiten und stand auf, um ihr seinen zusammengerollten Schlafsack sanft als Kissen unter den Kopf zu schieben. Er atmete tief ein, seufzte und genoss die angenehme, erfrischend kühle Luft.

Es roch nach Natur.

Und er liebte diesen Geruch.

Nach dreizehn Jahren im Dienst der Marine der Vereinigten Staaten hatte Ian abgedankt und war mit seiner Frau, Dr. Abigail Hunt, nach Australien übergesiedelt. Später hatte es sie irgendwie nach Südafrika verschlagen, wo sie jetzt lebten. Abigail war auf ein sehr kontroverses Forschungsgebiet spezialisiert und hatte unter der renommierten Dr. Catherine Forster an der George-Washington-Universität in Washington, D. C. promoviert.

Anfangs war das Studium der Evolution von Dinosauriern zu Vögeln Gegenstand hitziger Debatten gewesen. Doch im Laufe der Jahre, als zusehends mehr Informationen zutage traten, begann das Ganze nach und nach immer mehr Sinn zu ergeben, auch wenn Ian zugegebenermaßen einige Mühe gehabt hatte, sich mit der Materie anzufreunden.

Wie so viele Angehörige ihres Fachgebiets hatten auch Abigail und ihre Mentorin Dr. Forster ursprünglich angenommen, dass sich die Dinosaurier aus der Paraves-Gruppe schlussendlich zu Vögeln weiterentwickelt hatten und davongeflogen waren. Bei diesem Gedanken fühlte sich Ian stets an die Ansprache von Dr. Alan Grant am Anfang von Jurassic Park erinnert, als er einer Schar Besucher eben diese Theorie erläuterte.

Ian gefiel besonders die Szene, in der Grant diesem ungezogenen Gör mit seiner versteinerten Raptorklaue einen Schrecken einjagte. Allerdings musste Ian, nachdem er sämtliche Filme der Jurassic-Reihe ein dutzend Mal oder noch öfter gesehen hatte, zugeben, dass nicht wenige der Dinosaurier, die man dort sah, gewisse Ähnlichkeit mit Truthähnen hatten.

Genau wie der Fettsack Dr. Grant gegenüber behauptet.

Bei ihrer allerersten Verabredung erzählte Abigail ihm von ihren Forschungen und legte dabei dieselbe Passion und Leidenschaft an den Tag, die sie auch heute noch für ihre Arbeit zeigte. Seine erste Reaktion hatte darin bestanden, sie auszulachen, genau wie jene Ausgrabungsstätten-Gäste zu Beginn des Kinofilms.

Gleichwohl, fünfzehn Jahre Ehe hatten ihn gezwungenermaßen – und eingangs gänzlich gegen seinen Willen – ebenfalls zu einem Experten auf diesem Gebiet gemacht. Tagaus, tagein konfrontierte sie ihn mit ihren Hypothesen, um zu sehen, was er davon hielt, woraufhin er dann stets mit der ihm eigenen Bodenständigkeit seine Sicht der Dinge zum Besten gab. Ian war ein stinknormaler Bursche mit einer stinknormalen Denkweise.

Das war auch der Grund dafür, warum Ian das Geschwafel eines senilen alten Narren aus einem der Dörfer, die sich an den Fuß dieses Gebirgsmassivs auf Madagaskar schmiegten, als genau das ansah – als bloßes Geschwafel. Doch nachdem sie einige gründlichere Nachforschungen angestellt und einige Gespräche mit sehr weiter Ferne geführt hatten, stellte Abigail die Theorie auf, dass es diese Mischform beider Tierarten – einen Hybriden aus Vogel und Dinosaurier − tatsächlich gab und dass sie irgendwo im Andringitra-Gebirge lebte.

Der schrullige Kauz erklärte, er hätte vor sechs Monaten eine Reihe merkwürdiger, kreischender Rufe gehört, unmittelbar nach einer Reihe schwacher Erdbeben. Der Mann trieb sich regelmäßig auf dem Berg herum, auf der Suche nach Wertsachen, die Wanderer verloren hatten. Dann kam Yakko – ja, der alte Knacker hieß wirklich wie die Figur aus der Trickfilmserie Animaniacs – und durchkämmte die vielen Felsspalten nach Dingen, die sich verkaufen und zu Geld machen ließen.

Er meinte, das Geräusch klinge nach einem riesigen Vogel mit Hass in der Kehle.

Was zur Hölle das auch immer bedeuten mag.

Ian stützte die Schrotflinte auf seine Schulter. Er war zuversichtlich, dass es ihm gelingen würde, ein solches Geschöpf zu erlegen – sofern es wahrhaftig existierte. Und er hoffte, dass es das tat. Nicht so sehr für sich selbst, sondern vor allem für Abigail. Dies hier war ihr Lebenswerk, und er wünschte ihr nur das Beste. Sie arbeitete derzeit für das MuseuMAfricA im Newtown, einem Bezirk von Johannesburg, in Südafrika, und sie hoffte, dass diese Entdeckung ihr eine Anstellung als neue Kuratorin des Museums einbringen würde.

Das war ihr Traumberuf, seit sie ein Mädchen war.

Ians Traumjob indes fand ein jähes Ende, als er im Mittleren Osten im Kampf gegen den Terror angeschossen wurde. Zwar überlebte er, doch dem Tod so knapp entronnen zu sein, brachte ihn letztlich dazu, den Dienst zu quittieren und zu seiner superscharfen Braut von Ehefrau nach Hause zurückzukehren. Wie bei manch anderem in ihrem Leben auch, brauchte er eine Weile, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Anfangs beschwerte er sich alle naselang. Mittlerweile jedoch war er ihr inoffizieller Forschungsassistent und, was um einiges wichtiger war, ihr persönlicher Sicherheitschef.

Sein neuer Job bestand darin, dafür zu sorgen, dass seiner superscharfen Braut nichts zustieß.

Sie bereisten zusammen die Welt und im Laufe der Jahre hatte es sie an einige gefährliche Orte verschlagen. Zum Glück gehörte Madagaskar nicht dazu, obwohl es auch hier, wie in allen anderen Ländern – besonders in einigen afrikanischen −, ein paar ziemlich riskante Ecken gab.

Ian umklammerte seine Schrotflinte fester. Er mochte solche Situationen; da konnte er zeigen, wer er war, was in ihm steckte. Als ehemaliger Navy SEAL kam Ian bestens mit allen möglichen Not- und Zwangslagen zurecht. Er schreckte vor nichts zurück und verlor niemals die Nerven. In der Vergangenheit musste er einige schwere Gefechte überstehen und erwies sich dabei als verdammt guter Soldat.

Dann bekam er drei Kugeln in die Brust – und das war‘s dann. Das Groteske dabei war, dass das Ganze nicht bei einem feindlichen Angriff passierte. Nein, einer der Typen aus seiner Einheit war durchgedreht und hatte versucht, Ian umzubringen, und alle anderen, die sich in diesem Moment in der Nähe befanden. Ian hatte sich auf den Verrückten gestürzt und mit seinem Eingreifen unzählige Menschenleben gerettet. Sie nannten ihn einen Helden, und dementsprechend wurde er von seinen Vorgesetzten auch geehrt und ausgezeichnet. Doch seine Verletzungen – zwei Projektile hatten seine linke Lunge durchschlagen – waren so schwerwiegend, dass er von seinen Kameraden wiederbelebt werden musste.

Trotzdem hat‘s nicht gereicht, um mich zu erledigen.

Das war seine Reaktion auf seine wundersame Genesung gewesen. Hinterher meinte er, der Sensenmann hätte ihn zwar schon gepackt gehabt, konnte ihn aber nicht festhalten. Und das war die Wahrheit. Anschließend hatte Ian keine Angst mehr vor dem Tod, ja, manchmal glaubte er sogar, stärker zu sein als selbiger. Er weigerte sich, seine Frau zu verlassen, indem er starb, und als er in die Heimat zurückkam, hängte er den Militärdienst an den Nagel, um mit ihr zusammen sein zu können. Die Navy war unwillig gewesen, ihn gehen zu lassen, aber als Ian sich zur Ruhe setzte, gab es nichts, was sie dagegen tun konnte.

Als er unvermittelt etwas Ungewöhnliches registrierte, blieb er abrupt stehen. Plötzlich begann der Boden unter seinen Füßen zu zittern. Anfangs war das Beben schwach, wurde jedoch rasch so stark, dass es ihn von den Beinen riss. Noch niemals zuvor war er herumgeschleudert worden wie in diesem Moment, wie ein Paar Socken im Wäschetrockner. Nicht einmal während seiner Dienstzeit.

Der Boden um ihn herum sprang auf und bekam Risse. Erdplatten hoben sich und sackten wieder nach unten, als würden überall um ihn herum Mörsergranaten explodieren. Der Lärm war ohrenbetäubend, und er musste die Augen schließen, um zu verhindern, dass er sich übergeben musste. Gerade, als er glaubte, ohnmächtig zu werden, hörte das Beben auf. Dennoch konnte Ian, der immer noch ein schwaches Vibrieren unter sich fühlte, im ersten Moment bloß daliegen und versuchen, wieder zu Atem zu kommen.

Soweit er wusste, galt der Andringitra-Nationalpark als geologisch stabil. Obwohl kleinere Beben in dieser Region keine Seltenheit waren, lagen die letzten nennenswerten tektonischen Vorkommnisse bereits eine ganze Weile zurück.

Stabil – am Arsch!

Stöhnend rappelte er sich vom felsigen Boden auf, als er ein huschendes Geräusch vernahm, das vom Fuße des Pic Boby zu kommen schien, dem höchsten Gipfel des Gebirgszugs. Eigentlich lag dort ihr morgiges Ziel. Ihr Plan bestand darin, den Pic Boby zu erklimmen und dabei nach etwaigen Höhleneingängen Ausschau zu halten, falls es welche gab. Und dank des Vulkangesteins erwartete sie eine ziemliche Sucherei.

Jetzt nicht mehr.

Zweifellos hatte das Erdbeben unzählige Höhleneingänge zum Einsturz gebracht – doch andererseits waren im Zuge dessen möglicherweise ja auch ganz neue freigelegt worden. So oder so, selbst am helllichten Tage mussten sie größte Vorsicht walten lassen, wenn sie sich auf diesem Terrain bewegten.

Wieder ertönte dieses huschende Geräusch.

Ian richtete seine Schrotflinte in die Richtung, aus der die Laute kamen, und pirschte so verstohlen vorwärts wie ein Löwe auf der Jagd. Er setzte seine Schritte leise und langsam. Er musste achtsam sein, jetzt mehr denn je. Nach drei Schritten frischte die Brise um ihn herum ein wenig auf, was gut war, um die Geräusche seines eigenen Vorrückens zu vertuschen.

Gleichzeitig jedoch übertönte der Wind das seltsame Huschen.

Ian hielt inne, als er ein weiteres Geräusch im Nordwesten hörte.

Er wandte sich in diese Richtung und ging weiter, bevor er das tat, wovon Abigail ihm ausdrücklich abgeraten hatte: Da er keine Taschenlampe bei sich trug, die diese Bezeichnung verdiente, ließ er sich vom Schein des Sternenhimmels den Weg weisen. Hier oben auf dem Berg, wo es nirgends künstliches Licht gab, brach die Dunkelheit ungeheuer schnell herein. Von dieser Höhe aus war der Himmel klar und wunderschön. Der Boby-Gipfel ragte gute 2.600 Meter empor. Das Gelände, in dem er sich gerade befand, lag ungefähr 600 Meter über der Ebene.

»Wo steckst du?«, murmelte er, ohne es selbst so recht zu bemerken. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er führte ständig Selbstgespräche. Auch Abigail redete mit sich selbst. Es war immer ziemlich lustig, wenn sie einander dabei ertappten und sich fragend anschauten.

Dieses Mal ertönten in seiner Nähe zwei unterschiedliche Husch-Geräusche. Er wirbelte herum, schaute hinter sich – und stolperte über einen aus der Erde ragenden Stein, der ihn mit einem überraschten Keuchen zu Boden fallen ließ.

Abigail schaltete ihre Taschenlampe ein und schüttelte mit einem amüsierten Lächeln den Kopf, während sie auf ihn herabblickte. Sie entspannte sich ein wenig, hob den Schirm ihrer George-Washington-University-Baseballkappe und stieß ein langes Seufzen aus. Offensichtlich hatte er sich nicht nur selbst, sondern auch sie erschreckt.

»Im Ernst jetzt, Ian?« Sie stemmt eine Hand in ihre Hüfte. »Ich werde aus dem Schlaf gerissen und mache mir fast in meine verfluchten Hosen, weil ich glaube, die Welt um mich herum stürzt ein, und von dir ist weit und breit nichts zu sehen!«

Er reckte eine Hand in die Höhe, in dem Wissen, dass sie ihm jeden Moment die ihre hinhalten würde. Was sie auch tat. Sie packte seine Hand und half ihm auf die Füße. Er zuckte zusammen, als er einige Steinchen aus seinen Handflächen pflückte.

»Ich bin übrigens okay, nur so nebenbei bemerkt.«

Er schaute sich um und überprüfte die Umgebung. Dann kehrte sein Blick zu ihr zurück. »Ich glaube, ich habe etwas gehört. Klang wie Klauen auf Fels.«

Abigails Miene hellte sich auf. »Wirklich?«

Ian zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, was genau das war. Möglich, dass es bloß ´ne Ratte oder so was war. Ich wollte mich nur vergewissern, dass es nichts gibt, worüber man sich Sorgen machen muss, während wir hier die Nacht verbringen.«

Sie nickte.

Die Geräusche wurden lauter, umringten sie.

»Ähm, Ian …«

»Pssst!«, zischte er mit der Waffe im Anschlag. »Bleib hinter mir.« Sie tat wie geheißen, packte den Gürtel an seinem Rücken und ging hinter ihm her.

»Pass auf unsere Ärsche auf, okay?«

Er machte einen Schritt und blieb stehen.

»Ich könnte hier vorn ein bisschen Licht gebrauchen.«

Abigail hob die Taschenlampe über seine Schulter, um mit einer zittrigen Hand den Boden vor ihm zu erhellen. Vorsichtig näherte er sich dem Geräusch, während er den Knauf der Schrotflinte fester gegen seine Schulter drückte. Er hielt die Waffe ganz ruhig in den Händen und atmete langsam und bedächtig. Für ihn war das hier das reinste Kinderspiel, und er hatte schon seit einer ganzen Weile keinen Grund mehr gehabt, Soldat zu spielen.

Der Atem seiner Frau hingegen klang um einiges gequälter.

Sie schrie auf, als Ian einen Schuss abfeuerte. Er hatte einen Schatten erspäht, der schnurgerade und verdammt schnell auf sie zukam. Was immer das war, kreischte schmerzerfüllt und verschwand geschwind in der Nacht.

»Abby … was … zum … Teufel … war … das?«

»Ich … keine Ahnung«, gestand sie verängstigt. »Ich bin mir nicht …«

Zwei schrille Kreischlaute verkündeten die Attacke von zwei weiteren dieser Dinger, eines von jeder Seite. Ian wirbelte nach links und pumpte zwei Schrotsalven in die sich rasend schnell bewegende Gestalt, ehe er dasselbe auch bei dem anderen Angreifer versuchte, wobei er jedoch über die Füße seiner Frau stolperte. Sie hielt noch immer seinen Gürtel umklammert und wurde zu Boden gerissen, als er sich umdrehte.

Ian landete ebenfalls unsanft auf seinem Hintern und schlug sich den Hinterkopf an etwas Hartem, Schartigem an. Der plateauartige Berg war mit kleinen Granithügel übersät, und als Ian hinstürzte, hatte er offensichtlich mit einem davon Bekanntschaft gemacht.

Benommen streckte er die Hand nach seiner panischen Frau aus, doch gerade, als er ihre Finger berührte, fuhr eine gewaltige Klaue seitlich über seinen Schädel. Dass es ihm nicht das ganze Gesicht wegriss, hatte er Abigail zu verdanken, die seine Hand losgelassen hatte, sodass er unversehens nach hinten kippte, fort von den rasiermesserscharfen Krallen.

Angeschlagen und stark blutend, schrie Ian von blindem Grauen erfüllt, als seine hysterisch kreischende Frau in die Dunkelheit davongeschleift wurde. Unbewaffnet rappelte er sich auf und folgte ihr schwankend, so schnell er konnte, im Zickzack durch die stockfinstere Landschaft. Ihre beständigen, herzerweichenden Schreie waren der einzige Grund dafür, dass er wusste, dass sie noch lebte.

Wieder stolperte er, und wieder fiel er hin. Als er jetzt aufschaute, sah er Abigail, die ihn im Mondlicht ansah, nur für einen Moment. Das, was als Nächstes geschah, war schlimmer als alles, das er jemals gesehen hatte – schlimmer als alles, das er jemals erlebt hatte.

Es war sogar noch schlimmer als damals, als sein eigener Teamkamerad versucht hatte, ihm den Schädel wegzuballern.

Nach einem letzten Aufschrei verstummte Abigail mit einem feuchten Gurgeln, wie es nur entstand, wenn einem jemand – oder etwas – die Kehle aufschlitzte. Während seiner Zeit in Übersee hatte Ian dieses grässliche Geräusch mehrere Male vernommen. Gnädigerweise senkten sich in diesem Moment neue Schatten über die Welt, sodass er ihre grausame Ermordung nicht mit ansehen musste.

Dafür hörte er alles überdeutlich …

»Nein!«, brüllte Ian und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Seine Waffe war fort, genau wie seine geliebte Frau. Er war entschlossen, das, was immer sie getötet hatte, mit großen Fäusten zu Tode zu prügeln. Für so etwas brauchte er keine Schrotflinte.

Als er wieder auf den Füßen stand, wischte er sich die schmierige Mischung aus Blut, Rotz, Tränen und Schweiß aus dem Gesicht und stapfte vorwärts. Erneut erbebte die Erde, und direkt unter seinen Füßen tat sich der Boden auf. Er schlug schwer hin, rollte das steile Gefälle in einen Tunnel hinab und spürte, wie er sich dabei zwei Rippen brach. Schließlich kam er keuchend und mit dem Gesicht nach unten zu liegen.

Ein zirpendes Geräusch lenkte seine Aufmerksamkeit nach vorn und instinktiv hob er das Kinn, um zu sehen, was das Zirpen verursachte. Er war überrascht, dass er überhaupt irgendetwas sehen konnte, doch dann erkannte er, dass das Licht von Abigails Taschenlampe stammte, die neben ihm lag und geradewegs vor ihn leuchtete. Und ungeachtet der erbarmungslosen Kopfschmerzen, die in seinem Schädel hämmerten, und seines verschwommenen Blicks wusste er, dass er vor sich sah, was seine Frau getötet hatte.

Und was er sah, konnte er nur als böse beschreiben.

Kapitel 1

Burke, Virginia, USA

Sieben Jahre später, heute

Nachdem ihr Chef bei National Geographic sie durch die Mangel gedreht und übel zusammengestaucht hatte, fühlte sich die Journalistin Mackenzie Moore, als wäre sie gegen eine Dampfwalze gelaufen. Mack − sie zog es vor, so genannt zu werden – stand von ihrem Laptop auf und streckte sich. Ungeachtet des Umstands, dass sie die Schelte per Skype verabreicht bekommen hatte, anstatt von Angesicht zu Angesicht, zitterte sie immer noch beim Gedanken daran, wie knapp sie davor gewesen war, ihren Job zu verlieren. Mack liebte ihre Arbeit, doch irgendwie schien in letzter Zeit der Wurm drin zu sein.

Die jüngste ihrer Veröffentlichungen war ihrer Ansicht nach ein todsicheres Ding über eine erstaunliche historische Entdeckung gewesen. Vor einem Monat hatte man auf Sardinien menschenfressende Riesen ausgegraben, und sie war die Erste, die von der Story Wind bekommen hatte und darüber berichtete. Ja, sie ging sogar so weit, auf die Mittelmeerinsel zu fliegen und die beteiligten Parteien zu interviewen. Doch sobald sie vor Ort war und durch die Kleinstadt Cabras spazierte, wurde ihr schnell klar, dass sie sich die Reise hätte sparen können.

Niemand wollte mit ihr reden. Keine Seele. Die meisten Einheimischen behaupteten, nicht in der Gegend gewesen zu sein, als sich der vermeintliche Vorfall ereignete. Und die anderen Leute in der Stadt sprachen entweder kein Englisch oder schlugen ihr rundheraus die Tür vor der Nase zu. Ein Mann bedrohte sie sogar mit einer Schaufel …

Es war, als habe der gesamte Ort beschlossen, das Vorgefallene unter den Teppich zu kehren. Mack spielte ihnen sogar einige YouTube-Videos auf ihrem Handy vor, die allesamt einen großgewachsenen, langhaarigen amerikanischen Ureinwohner zeigten, einen Indianer. In einem dieser Videos machte der Mann in einer örtlichen Kneipe Ärger. Irgendwelche Highschool-Kinder aus der Gegend hatten die Filmchen hochgeladen, zusammen mit einem Titel, der mindestens fünf Ausrufezeichen zu viel aufwies.

Das faszinierendste dieser Videos war mit »HEILIGE SCHEISSE!!!!!!« betitelt und verbreitete sich schon unmittelbar nach der Veröffentlichung wie ein Lauffeuer, um innerhalb kürzester Zeit eine beeindruckende halbe Million Online-Klicks zu verbuchen.

Als Mack die Eltern des Kindes befragte, besaßen sie die Frechheit, die Sache mit einem Lachen als Schwindel abzutun. Sie hatten den Jungen zwar für sein Tun bestraft, doch seine Mom und sein Dad hatten keine Ahnung, wie sie das Video wieder offline nehmen konnten. Was bedeutete, dass Mack ohne irgendwelche konkreten Hinweise, denen sie nachgehen konnte, auf Sardinien festsaß, Tausende Meilen entfernt von zuhause. Doch was am schlimmsten war: ohne Story. Ihr Trip dorthin hatte eine Menge Geld verbrannt.

Vermasselte Aufträge kamen bei ihren Vorgesetzten gar nicht gut an.

So kam es, dass sie zum ersten Mal in ihrer Karriere beschloss, sich etwas aus den Fingern zu saugen, zumal sie ehrlichen Herzens glaubte, dass sich in Cabras tatsächlich etwas Außergewöhnliches zugetragen hatte, und sie war bereit, zusammen mit dem Schiff unterzugehen, um zumindest das Wenige zu veröffentlichen, das sie zusammentragen konnte.

Die Welt wimmelte nur so vor Fake News, und sie ging nicht davon aus, dass irgendjemandem ein kleiner Scheit Brennholz auf diesem riesigen Feuer mehr auffallen würde. Sie schmückte die Geschichte aus und stopfte bei Bedarf die Löcher in der Story.

Mit anderen Worten: Sie log.

Praktisch in derselben Minute, in der der Artikel online ging, erhielt der Chefredakteur des renommierten Magazins, für das sie arbeitete, die ersten entsprechenden Mitteilungen. Er hatte keine Ahnung, dass große Teile der Story ihrer Fantasie entsprungen waren. Sobald sich die Geschichte verbreitete, rief der Bürgermeister von Cabras den Hauptsitz von National Geographic in Washington, D. C. an und verlangte, den Geschäftsführer zu sprechen. Unnötig zu sagen, dass ihr Boss, eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, nicht glücklich über das war, was er als »Fälschung und Schwindel« bezeichnete. Noch nie zuvor hatte sich der aktuelle CEO einem Politiker gegenüber rechtfertigen müssen.

Bis ihm Mack in die Quere kam.

Als sie da an ihrem Computer saß, war sie fest davon überzeugt, erledigt zu sein. Sie wartete darauf, online gefeuert zu werden. Dabei versuchte sie sogar, ihren Bossen quasi als Entschädigung eine andere Story schmackhaft zu machen, und verwendete den Großteil ihres Gesparten darauf, ihren Fehler wieder in Ordnung zu bringen. Auf der Suche nach einem sagenumwobenen Raubtier reiste sie nach Brasilien und tat sich hierfür mit demselben langhaarigen – und dummerweise ziemlich attraktiven − Arschloch zusammen wie in Cabras, mit einem Mann, den sie erst zu bewundern lernte … und dann zu hassen. Zwar fanden sie ihr Monster, doch abgesehen davon erwies sich die Mission zumindest aus ihrer Warte letzten Endes als totaler Reinfall. Als sie ihn das letzte Mal sah, hob er gerade mit einem Helikopter ab, in der Hand ihr kostbares Notizbuch.

So ging eine weitere bahnbrechende Story den Bach runter.

Zum Glück für Mack hatte jemand von der Regierung ihre Vorgesetzten kontaktiert und angeregt, dass sie so tun sollten, als sei die ganze Sache in Brasilien niemals passiert. Die Tatsache, dass ihre Bosse einwilligten, die Angelegenheit zu vertuschen, war gleichermaßen überraschend wie ermutigend. Man würde Mack dafür keine Vorhaltungen machen. Sie war vor etwaigen potenziellen Repressalien sicher.

Jedenfalls fürs Erste.

Trotz allem, was sie angerichtet hatte, wurde Mack dennoch nicht fristlos gefeuert. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihre Arbeit mehr als mustergültig gewesen – bis zu der Cabras-Story und dem Vorfall in Brasilien, der offiziell nie stattgefunden hatte. Jeder in der Geschichtsabteilung des Magazins kannte sie als fleißige Mitarbeiterin, als jemanden, zu dem die Neuangestellten aufschauten. Deshalb wurde Mack nicht entlassen, sondern für vier Wochen ohne Bezahlung suspendiert. Außerdem landete der Zwischenfall in ihrer Firmenpersonalakte.

Fortan würde sie für alle Zeiten auf dem Schleudersitz sitzen.

Noch ein einziger weiterer Patzer und ich bin raus.

Vor ihrem geistigen Auge ließ sie einen Teil der Videokonferenz Revue passieren.

»Tut mir leid«, sagte Mack. »Ich schätze, ich habe immer noch daran zu knabbern, was passiert ist. Gut möglich, dass ich zu vorschnell war und zu früh zurückgekommen bin. Ich bin einfach in Panik geraten und habe eine Dummheit gemacht.«

Die Frau, die auf der anderen Seite des Computermonitors saß, wusste von Macks herzzerreißendem Verlust. Julia Hodges hatte jahrelang mit Mack und auch mit ihrem unlängst verstorbenen Vater zusammengearbeitet, der ebenfalls lange als Autor für NatGeo tätig gewesen war.

Peter Moore hatte über dreißig Jahre lang für das Magazin geschrieben und wurde angeheuert, nur wenige Tage, nachdem Julia, die gegenwärtige Chefredakteurin, an Bord gekommen war. Die beiden dienstältesten Mitarbeiter des Unternehmens standen einander sehr nahe und arbeiteten auch einige Zeit draußen an der Front zusammen, bis Julia schließlich in die Redaktion versetzt wurde. Julia war der einzige Grund dafür, warum Mack trotz allem noch immer ihre Stelle hatte.

Vor fünf Jahren war bei Macks Vater eine frühe Form der Demenz diagnostiziert worden, und da er das Schlimmste fürchtete, war er unverzüglich mit ihr zusammengezogen. Sechs Monate später reckte das Schlimmste sein hässliches Haupt, als er ihre Adresse vergaß, die Adresse des Hauses, das sich seit Jahrzehnten im Familienbesitz befand. Dann, anderthalb Jahre darauf, konnte er sich schon nicht mehr an den Namen seiner verstorbenen Frau erinnern. Catherine, Macks Mom, war eines Nachts friedlich eingeschlafen, kaum ein Jahr vor der Diagnose ihres Vaters. Ein dritter Ausbruch von Leukämie war einfach zu viel für ihren ohnehin schon geschwächten Körper gewesen.

Mack schwor, sich bis zum Tag seines Todes um ihren Vater zu kümmern.

Dieser Tag lag mittlerweile etwas über einen Monat zurück. Eines Abends hatte er ziemlich neben sich gestanden und war in den strömenden Regen hinausgelaufen. Es dauerte nicht lange, bis er sich verirrte und stundenlang draußen in der Sintflut blieb. Die ganze Zeit, seit seinem Verschwinden, war Mack auf der Suche nach ihm kreuz und quer durch die Stadt gefahren. Schließlich fand sie ihn, durchweicht bis auf die Knochen, im Rinnstein vor dem Lieblingsrestaurant ihrer Mutter. Die Lungenentzündung, die er sich dabei einfing, machte ihm schwer zu schaffen, und er sollte sich nie wieder davon erholen.

»Mack«, sagte Julia, bevor sie den Anruf beendete, »was ich dir jetzt sage, sage ich dir als Freundin. Als dein Boss werde ich dich nicht anlügen, indem ich dir weismache, dass es keinerlei Vorbehalte gebe, dich wieder da raus an die Front zu schicken.« Macks Augen wurden groß. »Doch ich habe das Gefühl, dass ich es Peter und dir schulde, dir einen Blick auf die Sachen zu gewähren, an denen er zuletzt gearbeitet hat. Vielleicht hilft dir das irgendwie, die Sache für dich abzuschließen und mit deinem Leben weiterzumachen.«

»Wovon redest du da eigentlich?«, fragte Mack unsicher. Sie wusste nichts von irgendwelchen unvollendeten Artikeln, die ihr Dad bei seinem Tod zurückgelassen hatte.

»Dein Vater hat an etwas gearbeitet – an etwas, von dem er sich nicht sicher war, ob ich bereit sein würde, es zu veröffentlichen.« Julias Blick wurde ernst. »Allerdings machen in dem betreffenden Gebiet unlängst gewisse Gerüchte die Runde, denen man vielleicht auf den Grund gehen sollte.«

»Was für Gerüchte?«, fragte Mack und beugte sich vor. Nachdem sie beinahe gefeuert worden war, hatte ihre Blase bereits ein wildes Tänzchen aufgeführt. Jetzt tanzte sie Tango.

»Gerüchte über Vulkane und Raubtiere.«

»Wie bitte?«

Julia lächelte. »Peter war dabei, Nachforschungen über die jüngste sprunghafte Zunahme seismischer Aktivitäten auf Madagaskar und über die Auswirkungen anzustellen, die sich dadurch auf das umliegende Ökosystem ergeben. Zum ersten Mal kam er mit der Story vor sieben Jahren zu mir, als die Insel von diesem Monsterbeben heimgesucht wurde, erinnerst du dich daran? Die Nachrichten damals waren voll davon.« Julia dehnte ihren Hals. »Wie auch immer, Peter traf Vorbereitungen, selbst dorthin zu reisen …« Ihre Stimme wurde sanfter. »Eigentlich wollte er dich mitnehmen und dir bei dieser Gelegenheit von seiner Pensionierung berichten.«

Mack lehnte sich verblüfft zurück.

»Tut mir leid, dass ich dir das nicht schon früher erzählt habe, Mackenzie, ehrlich. Aber als dein Vater uns dann so plötzlich und viel zu früh genommen wurde … und angesichts des Umstands, wie schnell danach alles ging, konnte ich …«

Mack rannen Tränen aus den Augen. Sie wischte sie fort und lächelte. »Du hast nichts falsch gemacht, Julia. Danke, dass du es mir jetzt gesagt hast.« Weitere Tränen kamen, doch ihr Lächeln blieb. »Ich würde alles dafür geben, die Chance zu haben, Dads Werk zu vollenden.«

Julia erwiderte ihr Lächeln, was die ohnehin schon tiefen Krähenfüße rings um ihre Augen noch stärker zutage treten ließ. »Gut. Dann triff die nötigen Reisevorkehrungen. Leider kann ich dir für diesen Auftrag kein großes Team zur Seite stellen. Nach allem, was passiert ist …« Ihre Augen verengten sich. »Ich meine, angesichts deiner beiden jüngsten Abenteuer kann ich nicht zu meinen eigenen Vorgesetzten gehen und irgendetwas Extravagantes für dich rausholen.«

Mack verspürte den Drang, Julia zu erzählen, was sich wirklich am Amazonas ereignet hatte, doch sie wusste, dass sie keinem von ihnen damit einen Gefallen getan hätte. Die Leute, die ihre Firma in dieser Angelegenheit zum Schweigen gebracht hatten, hatten verdammt tiefe Taschen und sogar noch bessere Verbindungen. Nein, fürs Erste würde Mack sich an den Plan halten. Das bedeutete allerdings nicht, dass sie sich in nächster Zukunft nicht noch einmal mit der Sache beschäftigen würde.

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, nein, ich verstehe schon. Ich werde mich dorthin begeben und schauen, wen ich vor Ort anheuern kann. Kriege ich wenigstens meine üblichen Spesen?«

Julia nickte. »Deine Ausgaben sind gedeckt – jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. Du weißt ja, wie die Sache läuft.«

Mack lächelte. »Klar. Keine nächtelangen Partys, keine harten Drogen.«

Das entlockte Julia ein Lachen. Dann schlich sich so etwas wie Aufgeregtheit in ihr Gebaren. »Oh, da fällt mir noch etwas ein … und das hat nichts mit dem zu tun, was du gerade über Alkohol und Drogen gesagt hast. In den Arbeitsunterlagen deines Vaters fand sich eine Notiz, in der es darum ging, einen bestimmten Mann aufzusuchen, einen Kerl namens …« Sie blätterte einige Papiere durch. »Ähm, ah, hier. Sein Name ist Ian Hunt. Offenbar hat er einige ziemlich abgedrehte Geschichten auf Lager und schwört Stein und Bein, den – und ich zitiere − Teufel von Madagaskar mit eigenen Augen gesehen zu haben. Das soll zwar schon vor ein paar Jahren gewesen sein, etwa zur Zeit des großen Erdbebens, aber vielleicht ist das ein guter Ansatzpunkt.«

Der Rest des Gesprächs konzentrierte sich darauf, womit sie es Macks Dad zufolge zu tun hatten und von wem man womöglich sonst noch irgendwelche nützlichen Informationen bekam. Es gab da einen Einheimischen mit verwandtschaftlichen Banden zu der Inselnation, der jedoch als unzuverlässig galt. Doch die ganze Geschichte war ohnehin ein Schuss ins Blaue, und falls überhaupt irgendjemand das Puzzle zusammensetzen konnte, dann war Mack zuversichtlich, dass sie die richtige Frau für diesen Job war.

Auf dem Weg zu ihrem Schlafzimmer zog sie sich aus und ließ ihren Schlafanzug achtlos auf den Holzboden des oberen Korridors fallen. Ihr Schlafzeug − so hatte ihre Mom das immer genannt – von letzter Nacht bestand lediglich aus einem alten Nirvana-In-Utero-T-Shirt und ihrer Unterwäsche.

Einer der Vorteile, zuhause zu arbeiten, dachte sie, als sie in nichts weiter als ihren Spitzenpanties den Flur entlangging. Ihre Schritte waren lang und geschmeidig, was im selben Maße auch für ihre Figur galt. Mit einer Größe von knapp einem Meter fünfundsiebzig und der Sportlichkeit einer Athletin war sie wie geschaffen dafür, Hochschul-Volleyball zu spielen – früher war sie sogar in der Uni-Auswahl gewesen. Daher stammte auch ihr Spitzname. Sie neigte dazu, den Ball mit der geballten Kraft eines Mack-Trucks auf das gegnerische Feld zu donnern. Dass ihr Name zu allem Überfluss auch noch mit denselben Buchstaben begann, war reiner Zufall.

Reiner Zufall … jedenfalls, bis der Ball ihre Hand verließ, ein Mitglied der anderen Mannschaft traf und ihre Gegnerin ins Reich der Träume beförderte. In diesem Moment wurde sie zur Legende. Was bedauerlicherweise ebenso für das Mädchen galt, das sie ausgeknockt hatte.

Ihr schulterlanges, rotes Haar und die Sommersprossen ließen sie wirken wie das »Mädchen von nebenan«. Als sie an dem großen Flurspiegel vorbeikam und ihren fast nackten Körper sah, seufzte sie. Dank ihres schlanken, gebräunten Körpers und ihrer kleinen Brust hatten sie die Typen damals in der Highschool bisweilen eher für den »Jungen von nebenan« gehalten.

Sie mochte Männer. Das Problem war nur, dass sie mit jenen, mit denen sie sich traf, nie lange zurechtkam. Die meisten waren einfach zu nett, zu sensibel. Und die anderen größtenteils Arschgeigen. Irgendwie schien sie nicht imstande zu sein, den goldenen Mittelweg zu finden, sozusagen »Mr. In Between«. Mack wünschte sich jemanden, der ihr im Hinblick auf ihren jüngsten Verlust Rückhalt gab, zugleich aber nicht zu sehr in dieser Wunde herumstocherte und ihre emotionale Wunde dadurch nur noch tiefer machte.

Mr. Right …

Sie erreichte ihr Arbeitszimmer am Ende des Flurs, in dem vollkommenes Durcheinander herrschte. Dabei war Mack, sofern es um ihren Job ging, grundsätzlich ein extrem organisierter Mensch; nur zuhause nicht. Besucher hätten vielleicht gedacht, die Unordnung sei bloß vorübergehend. Das war jedoch nicht der Fall. Ihre Mom war eine echte Ordnungsfanatikerin gewesen; von ihr oder ihrem Vater konnte man das freilich nicht behaupten. Sie neigten dazu, in – wie Dad es nannte − kontrolliertem Chaos zu arbeiten.

Deshalb auch das Nirvana-T-Shirt auf dem Fußboden im Flur.

Ursprünglich hatte das Haus Macks Eltern gehört. Eigentlich wollte sie von hier wegziehen, doch dann hatte National Geographic sie angeheuert, kurz nachdem sie an der Universität von West Virginia ihren Abschluss gemacht hatte. Stattdessen war sie dann wieder bei ihren Eltern untergekommen, weil sie nichts lieber wollte, als Seite an Seite mit ihrem Helden, Peter Moore, zu arbeiten. Gemeinsam reisten sie viel umher, wobei er als ihr beruflicher Mentor fungierte – und später dann als ihr Komplize, als sie sich schließlich als Journalistin mehr und mehr einen eigenen Namen zu machen begann.

Als ihre Eltern im Laufe der Jahre zu dem Schluss gelangten, dass ihnen ein kleineres Apartment genügen würde, überließen sie Mack als ihrem einzigen Kind das Haus. Sie hatten sich standhaft geweigert, das Zuhause ihrer Familie zu verkaufen; stattdessen sollte Mack für eine Weile darauf achtgeben …

In Wahrheit handelte es sich bei Macks Arbeitszimmer um ihr Arbeitszimmer. Das Einzige hier, das nicht von Staub bedeckt oder mit irgendwelchem Gerümpel vollgemüllt war, war der Schreibtisch ihres Vaters. Sie sorgte dafür, dass sein Arbeitsplatz stets tipptopp in Ordnung war. Sie hatten einander oft mitten in dem großen, rechteckigen Raum gegenüber gesessen. Jede Wand wurde von Bücherregalen gesäumt, die fast bis ganz nach oben zur drei Meter hohen Decke reichten. Und auch alle übrigen Stellflächen waren belegt und von Karten bedeckt, die die Länder der Welt zeigten.

»Madagaskar, hm?«

Sie betrat den Raum und ging geradewegs zu der Karte von Afrika hinüber. Afrika war ihr liebster Reisekontinent, genau wie der ihres Vaters. Er hatte vor allem das Geheimnisvolle am Schwarzen Kontinent gemocht, an dem sie selbst ebenfalls großen Gefallen fand, was das betraf. Dort wurden ständig neue Entdeckungen gemacht, und sie – oder besser: Mack – hatten dann die Freude und das Privileg, der Öffentlichkeit davon zu berichten.

Sie tippte mit den Fingern auf die Worte Serengeti-Nationalpark und zog dann eine Linie nach Südosten, runter zum 47. größten Land der Welt – bei dem es sich um eine Insel handelt. Zwar hatte sie in der Vergangenheit einige grundlegende Nachforschungen über Madagaskar angestellt, doch als Expertin auf diesem Gebiet konnte man sie beim besten Willen nicht bezeichnen. Im Grunde wusste sie bloß, dass die Insel riesig war, die viertgrößte der Erde. Außerdem existierte dort ein auf der Erde einzigartiges Ökosystem.

»Steckt da wirklich etwas Handfestes dahinter?«, fragte sie sich, während sie sich erneut an ihr Gespräch mit Julia erinnerte.

»Dein Vater schien zu glauben, dass unweit der Mitte des Landes eine Spezies fleischfressender, vogelartiger Tiere lebt. Doch natürlich vermag das niemand mit Sicherheit zu sagen. Eben deshalb wollte dein Vater die Expedition dorthin zu seinem Schwanengesang machen. Hätte sich dann herausgestellt, dass das Ganze ein Schuss in den Ofen war, dann wäre es eben so gewesen; dann hätte er zumindest etwas über die Erdbeben in der Region und darüber berichten können, inwiefern sie sich auf die aktuelle Tierwelt auswirken. So oder so, ob sich die Geschichte nun als Erfolg oder als Fehlschlag entpuppte, für ihn sollte die Sache der Schlusspunkt seiner beruflichen Laufbahn sein.«

»Und du warst damit einverstanden?«, fragte Mack. »Du hättest kein Problem damit gehabt, wenn er mit nichts weiter zurückgekommen wäre, als mit irgendwelchen seismischen Aufzeichnungen und einer Handvoll Interviews mit einheimischen Schnapsdrosseln?«

Julia zuckte mit den Schultern. »Das waren wir Peter schuldig. In dreißig Jahren hat er uns kein einziges Mal hängen gelassen. Warum hätten wir jetzt anfangen sollen, an ihm zu zweifeln?«

»Und warum seid ihr bereit, dasselbe Vertrauen in mich zu setzen?«

Julia gluckste. »Eben weil dies das Werk deines Vaters ist und wir dir die Möglichkeit geben, es fortzusetzen und zu vollenden.« Ihre Miene sackte ein wenig in sich zusammen. »Das soll keine Beleidigung sein.«

»Ich hab´s auch nicht so aufgefasst. Nach allem, was ich angerichtet habe …«

»Das ist alles Schnee von gestern«, entgegnete Julia. »Das bedeutet allerdings nicht, dass so was je wieder passieren darf. Verstehen wir uns? Wenn du es nochmal so vermasselst, bist du raus, okay? Mehr als das hier kann ich nicht für dich tun.«

Mack nickte. »Ich werd‘s wieder gut machen.«

Julia lächelte. »Das ist mein Mädchen. Ich schicke dir alles an Material, das wir haben, per E-Mail. Viel Glück.« Mack wollte die Verbindung gerade unterbrechen, als Julia sagte: »Einen Moment noch, Mackenzie. Ich habe noch etwas für dich.«

Sie verfolgte, wie die ältere Frau etwas eintippte und dann ein bisschen zu kräftig die Enter-Taste drückte. Im Laufe der Jahre hatte Julia eine gewisse Abneigung gegen das Tippen entwickelt. Hin und wieder machte Mack sich einen Spaß daraus, Julia damit aufzuziehen, um das Blut der Chefredakteurin in Wallung zu bringen. Mit der Zeit hatte Julia ein gutes Maß an Tastaturen verschlissen, um die Schuld daran natürlich jedes Mal bei der schäbigen Qualität der Keyboards zu suchen, anstatt bei sich selbst. Heute jedoch entschied Mack, angesichts all dessen, was Julia für sie getan hatte, diesbezüglich die Klappe zu halten.

»Ich habe das Material an deine private E-Mailadresse geschickt. Diese Dokumente haben deinen Vater überhaupt erst auf die Sache aufmerksam werden lassen. Darunter ist ein Foto, das vor etwa acht Jahren aufgenommen wurde. Das Bild wurde sofort als Fälschung abgetan, aber Peter schien diesbezüglich anderer Ansicht zu sein.« Sie lächelte. »Vielleicht helfen dir diese Unterlagen irgendwie weiter.«

Der Bildschirm wurde dunkel.

Mack blinzelte angestrengt. »Madagaskar …«

Gedankenverloren starrte sie das folierte Poster in ihrem Arbeitszimmer an. »Häh?« Aus irgendeinem Grund war ihr das bislang noch nie aufgefallen, aber direkt neben der Insel prangte ein schwarzes Fragezeichen. Ihr Vater hatte regelmäßig Notizen auf die Plakate gekritzelt, die um sie herum an den Wänden hingen. Deshalb bestand er darauf, dass sie mit Folie überzogen waren. Außerdem war immer ein Whiteboard-Stift in greifbarer Nähe.

»War das schon die ganze Zeit da?«

Mack hatte sich zuletzt lange vor dem Tod ihres Vaters mit dem Kontinent beschäftigt, weshalb ihr nie in den Sinn gekommen war, die Karte eingehender in Augenschein zu nehmen; tatsächlich hatte sie sie bislang kaum eines Blickes gewürdigt, wurde ihr jetzt klar. Das Fragezeichen zauberte ihr ein Grinsen ins Gesicht. Sie war noch nie darauf aus gewesen, die Lorbeeren für das Werk ihres Vaters selbst einzuheimsen. Vielmehr hatte er Mack bei ihren Aufträgen unterstützt, und jetzt würde sie ihr Bestes geben, um ihm bei seinem letzten Job zu helfen.

Sie legte ihre Hand flach auf die Mitte des Plakats und schloss die Augen.

»Ich werde dich stolz machen.«

Dann drehte sie sich um und ging zum Schreibtisch hinüber, um mit einem raschen Wackeln der Maus den Computer zu wecken. Sobald der Rechner bereit war, rief sie mit einem Doppelklick ihre E-Mails auf und öffnete die neueste in ihrem Posteingang. Das gepackte File, das Julia ihr geschickt hatte, war wirklich ziemlich groß.

Als Erstes schaute sich Mack das Foto an, von dem ihr Dad geglaubt hatte, es sei echt. Das Bild zeigte die Knochen einer Kreatur, die am Fuße des östlichen Steilhangs des Andringitra-Bergmassivs gefunden worden war. Die sterblichen Überreste maßen etwa einen Meter fünfzig in der Länge und wiesen ein filigranes Paar Flügel und ein Maul voller kleiner, dolchartiger Zähne auf. Diese besondere Spezies … − »Ähm, Rahonavis ostromi«, sagte sie laut und mit deutlicher Betonung. − … lebte bekanntermaßen ursprünglich in dem Gebiet, das später zu Madagaskar werden sollte.

Rasch überflog sie die Notizen ihres Vaters unter dem eingescannten Foto.

Millionen Jahre alt. Von wegen …

Als sie die Notizen ihres Vaters studierte, fielen ihr zwei Dinge an dem Kadaver auf dem Foto auf. Erstens: Er war viel zu groß, um zur Gattung der Rahonavis zu gehören, von denen es vor all diesen Jahren in dieser Region nur so gewimmelt hatte. Und zweitens: Die sterblichen Überreste auf diesem Bild waren mit Sicherheit keine Äonen alt.

Im Gegenteil.

Sie waren frisch.

Kapitel 2

Flughafen Antananarivo, Madagaskar Eine Woche später

Obgleich ihr Auftraggeber die Kosten für nahezu alle nötigen Ausgaben übernahm, gehörte der Becher heißen, dampfenden schwarzen Kaffees, die sie gerade bestellt hatte, nicht dazu. Ihre zahlreichen Flüge in der Holzklasse gehörten nicht unbedingt zu den angenehmsten Erfahrungen ihres Lebens. Schon jetzt graute es ihr vor dem Heimflug. Glücklicherweise sah das einheimische Gebräu stark wie die Hölle und schwärzer als die Nacht aus. Genau das Richtige in diesem Moment. Damit konnte sie gegen ihre gedrückte Stimmung ankämpfen, anstatt auf andere den Eindruck zu machen, als hätte sie einen richtig üblen Kater. Wobei das in gewisser Weise sogar zutraf, bloß mit dem Unterschied, dass sie keinen einzigen Tropfen Alkohol getrunken hatte.

Ihr Ziel war das Andringitra-Bergmassiv oder vielmehr die kleinen Städte und Dörfer rings herum. Der Gebirgszug lag gute 230 Meilen vom Flughafen entfernt, und die einzige Möglichkeit, um dorthin zu gelangen, bestand darin, den Bus zu nehmen oder einen Wagen zu mieten. Da sich ihr Wunsch, die größtenteils unbefestigten Straßen auf eigene Faust zu bewältigen, arg in Grenzen hielt, war Mack zu dem Schluss gelangt, dass die öffentlichen Verkehrsmittel in diesem Fall die bessere Wahl waren, obwohl sie die Strecke vermutlich auch irgendwie allein hinter sich gebracht hätte. Die Schotterpisten waren viel genutzt und wirkten fest und eben, doch letzten Endes entschied sie sich dagegen, um auf Nummer sicher zu gehen.

Was, wenn ich mitten im Nirgendwo liegenbleibe? Diese Möglichkeit wollte sie von vornherein ausschließen, denn das war ihr schon einmal passiert, im australischen Outback. Sie musste damals sechs Stunden warten, bis am Ende zufällig jemand vorbeikam.

Mack wuchtete den Seesack auf ihre Schulter und ging zum Straßenrand hinüber, während sie ihren Rucksack zurechtrückte. Sie suchte sich ein schattiges Plätzchen, ließ ihr schweres Gepäck vor ihre Füße fallen, stand da und streckte ihre Beine, während sie auf die Ankunft des hoffentlich mit einer Klimaanlage gesegneten Busses wartete. Das Letzte, wozu sie Lust hatte, war, in einer mobilen Sardinenbüchse mit einer Gruppe Menschen eingepfercht zu sein, die alle genauso schwitzten sie wie selbst.

Ungeachtet des Umstands, dass sie kein Gramm Fett am Leib hatte, transpirierte Mack wie ein Schwein. Genau wie ihr Dad es immer getan hatte. Früher hatten sie sich darüber amüsiert. Jetzt indes weckte die Erinnerung daran eine Traurigkeit in ihr, von der sie hoffte, dass sie sich eines Tages legen würde. Sie wollte sich auf eine gute, positive Weise an diese Dinge entsinnen. In diesem Moment jedoch weckten sie in ihr bloß ein Gefühl des Bedauerns – so, als hätte sie mehr für ihren Vater tun können, als sie getan hatte.

Um sich vom Gedanken an ihren Dad abzulenken, ließ Mack ihren Blick über den Horizont schweifen und verlor sich in der wunderschönen Weite des Nichts, die so viele afrikanische Länder auszeichnete. Als jemand, der in und um Washington, D. C. aufgewachsen war, wusste Mack schlichte, offene Landschaften wie diese hier ganz besonders zu schätzen. Sie vermittelten ihr ein Gefühl von Freiheit.

Nach einer Viertelstunde Warterei tauchte ihr Transportmittel schließlich auf. Für einen Moment hatte sie schon befürchtet, der Bus würde nicht kommen. Wäre so etwas zuhause passiert, hätte Mack gewusst, dass das Busunternehmen einfach ein anderes Fahrzeug schicken würde, um für Ersatz zu sorgen. Doch auf Madagaskar … sie vermochte nicht einmal zu sagen, ob es hier überhaupt einen zweiten Bus gab!

Sie bedachte das Gefährt mit einem erleichterten Lächeln; es war voll verkleidet, wenn auch so verschlissen, wie man es sich nur vorstellen konnte. Sie schnappte sich ihre Habseligkeiten, eilte zur Vorderseite des Busses und stöhnte genüsslich, als die Tür aufging und ihr eine Woge kühler Luft entgegenschlug. Der Fahrer kam heraus, schenkte ihr ein Lächeln, nahm ihr den Seesack ab und verstaute ihn unten in der Kofferablage.

Ihren Rucksack behielt Mack bei sich.

Sie ging an Bord und nahm auf dem Vordersitz auf der Beifahrerseite Platz, direkt neben der Tür. So konnte niemand vor ihr sitzen und sie würde beim Fahren nach links und rechts hinausschauen können, was ihr gut gefiel. Mack wusste, dass sie ein großes Privileg genoss, so häufig die Welt bereisen zu können, wie sie es tat; nicht zuletzt deshalb wollte sie nach Möglichkeit nichts verpassen.

Allein mit ihrem Rucksack und ihrem Kaffee atmete Mack tief durch und machte sich an die Arbeit. Ein weiterer Pluspunkt war, dass die Armlehne an ihrem Sitz über einen Getränkehalter verfügte, wie sie erfreut feststellte. Willkommen daheim, dachte sie und platzierte ihren Becher in der Halterung.

Sie holte ihr iPad hervor und öffnete jede Datei, die sie über das Thema ihrer Expedition besaß. Die Files reichten von lokaler Folklore über paläontologische und ornithologische Entdeckungen im Nationalpark bis hin zu einer Liste mit Kontaktpersonen und potenziellen Interviewpartnern, unter denen sich auch ein gewisser Ian Robert Hunt befand, gebürtig aus Lavonia, Michigan, USA.

Der Ex-SEAL-Soldat hatte sich seinerzeit nach einem Angriff durch einen Kameraden aus seiner eigenen Einheit, der durch alle Medien ging, zur Ruhe gesetzt. Mack musste nicht eigens Nachforschungen darüber anstellen, was damals passiert war; sie erinnerte sich daran, von der Sache gehört zu haben, als sie noch jünger gewesen war. Nach dem Vorfall war Ian so eine Art kleine Berühmtheit gewesen. Die Medien verfolgten seine wundersame Genesung, bis er eines Tages – Wusch! – plötzlich von der Bildfläche verschwand. Danach war er wie vom Erdboden verschluckt. Objektiv betrachtet war er arbeitslos gewesen, seit er aus dem Militärdienst ausgeschieden war. In Wahrheit jedoch war er zusammen mit seiner Frau um die Welt gereist. Es gab mehrere Fotos, auf denen Ian im Hintergrund stand.

Als Mack eine Porträtaufnahme von Mrs. Hunt öffnete, konnte sie nicht umhin, zuzugeben, dass Ian ein echter Glückspilz war. Seine Frau war eine echte Schönheit gewesen.

Ian …

Sie hatte den Planeten schon etliche Male umrundet und war dabei allen möglichen Arten von »Glücksrittern« begegnet. Ian Hunt entsprach dem Klischee dieser Typen bis aufs i-Tüpfelchen. Denn auch wenn sie keinerlei handfeste Belege dafür hatte, dass diese Annahme zutraf, hatte Mack gelernt, auf ihre Instinkte zu vertrauen. Und in diesem Moment sagte ihr Instinkt, dass mehr an Ian dran war, als auf den ersten Blick ersichtlich. Er war ein sehr gefährlicher Mann.

Besonders seit ihrem Tod …

Ian war schon vor Abigails Hinscheiden mit dem Geschäft der Gefahr vertraut gewesen, und daran hatte sich seitdem nichts geändert; im Gegenteil.

Mack rief eine andere Datei auf und las erneut den Polizeibericht, der auf das Frühjahr vor sieben Jahren datiert war. Darin wurden die Umstände von Abigail Hunts Tod grausam detailliert beschrieben.

Damals war Ian blutbesudelt den Berg heruntergetorkelt gekommen. Einiges von diesem Blut war sein eigenes, aber nicht alles. Er hatte lauthals um Hilfe geschrien und von einem Teufel schwadroniert, der oben auf dem Gebirgszug lauern würde. Er hatte behauptet, der Berg hätte ihn und seine Frau verschluckt. Dann sei Abigail von irgendetwas umgebracht worden.

Mack war überrascht, dass seinerzeit überhaupt jemand das verheerende Erdbeben überlebt hatte. Sämtliche internationalen Medien hatten darüber berichtet. Damals waren Hunderte Menschen ums Leben gekommen. Der Umstand, dass Ian und seine Frau sich im Epizentrum des Bebens befunden hatten, als es passierte, und einer von ihnen diese Nacht tatsächlich überlebt hatte, war allein für sich genommen schon verblüffend.

Der psychisch mitgenommene, brabbelnde Mann wurde wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verhaftet und in Gewahrsam genommen, bis die Behörden weitere Nachforschungen anstellen und der Angelegenheit ordnungsgemäß auf den Grund gehen konnten. In Zusammenarbeit mit der örtlichen Polizei ging die Madagascar National Parks Association Ians Behauptungen nach. Die Beweise, auf die man dabei stieß, bestätigten, dass es tatsächlich einen Mord gegeben hatte. Und als man Ian Hunts ebenfalls blutbespritzte Schrotflinte entdeckte, wurde Ian für ihren Tod für schuldig befunden, anstatt irgendein übernatürliches Wesen.

Dieser Bursche hat schwere Zeiten durchgemacht, das ist mal sicher, dachte Mack stirnrunzelnd.

Ian verbrachte acht Jahre im Gefängnis, ehe er schließlich freigelassen wurde. Als im selben Gebiet, in dem Abigail verschwunden war, ein weiterer Todesfall passierte, erkannten die Behörden, dass sie ihn zu Unrecht beschuldigt hatten. Im Gegensatz zu der Sache mit Abigail fand man diesmal allerdings menschliche Überreste – oder zumindest Stücke davon.

Dank eines Kontaktmanns bei der südafrikanischen Regierung konnte Mack in Erfahrung bringen, dass Ian anschließend auf Madagaskar geblieben war, anstatt nach Johannesburg zurückzukehren, wo er offiziell wohnte. Sie vermutete, dass er auf eigene Faust Nachforschungen anstellen wollte. Zwar hatte die Polizei Mrs. Hunts Akte tatsächlich noch einmal geöffnet, doch bislang ohne irgendwelche konkreten Ergebnisse.

Nachdem sie sich noch ein bisschen eingehender mit Ian beschäftigt hatte, rief sie die Datei auf, in der es darum ging, was seine Frau getötet haben könnte.

Da war zunächst die relativ verbreitete Sage über ein einheimisches Mythengeschöpf, den Kalanaro. Angeblich ähnelten diese Geschöpfe kleinwüchsigen Menschen und waren mit kurzem, krausem Haar bedeckt. Außerdem besaßen sie ein Paar fieser Klauen. Irgendwie fühlte Mack sich an die Monster aus dem Film Gremlins erinnert, bloß mit Fell und ohne diese furchteinflößende Reaktion auf Wasser oder Sonnenlicht.

Diese gremlinartigen Kreaturen lebten vorgeblich in Höhlen und an anderen dunklen Orten. Deshalb zogen sie den Schutz der Nacht auch der intensiven afrikanischen Sonne vor. Das passte zum Zeitpunkt und zum Ort des Angriffs: bei Nacht und in der Nähe einer Reihe von Höhleneingängen.

Sie überflog die Seite und entdeckte ein Bild von Ian, das unmittelbar nach dem Vorfall aufgenommen worden war. Er sah schlimm aus, über und über mit Blut beschmiert. In diesem Blut zeichneten sich drei lange Wunden ab, wie von einem Messer. Sie begannen hinter seinem Ohr und endeten nur Zentimeter über seinem Auge. Sofern es die Kalanaro tatsächlich gab, passten die Verletzungen zu ihren mutmaßlichen Klauen.

Mack dachte bei sich: Jedenfalls, wenn sie nicht nur sechzig Zentimeter groß gewesen wären … Sie hegte große Zweifel, dass ein sechzig Zentimeter großer Affenmensch diesem Kerl ernsthaft gefährlich werden konnte. Den Kopf schüttelnd ob dieses lächerlichen Gedankens, setzte sie ihre Recherchen fort.

Der Nächste auf der Liste der potenziellen Angreifer war der gar nicht so mythische Fossa. Dieses seltene, nur schwer zu fassende Raubtier hatte die Größe eines kleinen Pumas, wog ausgewachsen gute zehn Kilo und hatte mörderische Krallen. In gewisser Weise hatte der Fossa Ähnlichkeit mit einem übergroßen Mungo, und so wie neunzig Prozent der übrigen Pflanzen- und Tierarten, die man hier fand, gab es ihn ausschließlich in diesem Land. Die Flora und Fauna Madagaskars konnte sich über Generationen vollkommen ungestört vom Rest der Welt entwickeln, was ein wahrhaft einzigartiges Ökosystem hervorgebracht hatte.

Aber könnte ein Fossa das Gesicht eines SEALs so verunstalten?

Mack bezweifelte es. Abgesehen davon waren die Pfoten dieses Tieres viel zu klein, um die Art von Wunden zu verursachen, die Ian Hunt zugefügt worden waren – und das offenbar mit einem einzigen Prankenhieb. Darauf deuteten jedenfalls die Beweise hin. Es hatte ihn nur ein einziges Mal erwischt, aus derselben Richtung, nicht mehrmals aus verschiedenen Winkeln. Sie stellte sich den Fossa als übergroße, übereifrige Hauskatze vor, die mit einem Gestöber kurzer, schneller Schläge ihren Kratzbaum bearbeitete.

Aber was war es dann?