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"Lauf, Kabal, lauf!"
Die Worte seines Vaters trieben den jungen Vampir noch weiter an. Er rannte um sein Leben, ebenso wie seine Verwandte und Freunde. Verzweifelt klammerte er sich an die Hand seiner Mutter, die ihn mehr mitriss, als dass er wirklich selbst lief. Seine Beine waren einfach zu kurz, um wirklich mit ihr mithalten zu können.
Plötzlich waren die grausamen Gestalten da. Kabal kannte sie. Die Verzehrer gehörten normalerweise zu den friedlichsten Geschöpfen von Twilight City, mit denen viele Mitleid hatten. Eigentlich waren sie nur Tote, die aus irgendeinem Grund wieder zum Leben erwacht waren und ihren Platz in eben jenem suchten. Jetzt aber waren sie zu mordlüsternen Bestien mutiert ...
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Seitenzahl: 138
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Was bisher geschah
Geist der Vergeltung
Leserseite
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
»Geisterjäger«, »John Sinclair« und »Geisterjäger John Sinclair« sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: breakermaximus / iStockphoto
Datenkonvertierung eBook: Blickpunkt Werbe- und Verlagsgesellschaft mbH, Satzstudio Potsdam
ISBN 978-3-7325-6392-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Hauptpersonen dieses Romans sind:
Lieutenant Bella Tosh: Ermittlerin der Abteilung Delta
Sergeant Kajahn: Bellas Partner in der Abteilung Delta
Wynn Blakeston: Gestrandeter aus einer anderen Dimension
Abby Baldwin: Wynns beste Freundin
Johnny Conolly hat seine Mutter verloren. Sie wurde von einem Schnabeldämon brutal ermordet. Als dieser Dämon durch ein Dimensionstor flieht, folgt Johnny ihm.
Kurz darauf wird das Tor für immer zerstört, sodass es für Johnny keine Möglichkeit zur Rückkehr gibt. Das Dimensionstor spuckt ihn schließlich wieder aus – in einer anderen Welt. Er ist in Dark Land gelandet, genauer gesagt in Twilight City, einer Stadt voller Geheimnisse.
Menschen und Dämonen leben hier mehr oder weniger friedlich zusammen, und doch ist Twilight City voller Gefahren. Die Stadt ist zudem von einem dichten Nebelring umgeben, den kein Einwohner jemals durchbrochen hat. Niemand weiß, was hinter den Grenzen der Stadt lauert …
In dieser unheimlichen Umgebung nennt sich Johnny ab sofort Wynn Blakeston – für den Fall, dass irgendjemand in Twilight City mit seinem Namen John Gerald William Conolly etwas anfangen kann und ihm möglicherweise Übles will. Schließlich wimmelt es hier von Dämonen aller Art – und die hat Wynn in seiner Heimat immer bekämpft.
Wynn findet heraus, dass der Schnabeldämon Norek heißt und skrupelloser und gefährlicher ist als alle seine Artgenossen, die sogenannten Kraak.
Als Wynn wegen eines unglücklichen Zwischenfalls zu einer langen Haftstrafe verurteilt wird, zahlt der geheimnisvolle Sir Roger Baldwin-Fitzroy das Bußgeld und nimmt ihn in bei sich auf – warum, das weiß Wynn nicht.
Er lernt Sir Rogers Tochter Abby und seinen Diener Esrath kennen, die auch in Sir Rogers Villa leben. Er freundet sich mit Abby an, sie wird schon bald zu seiner engsten Vertrauten in dieser mysteriösen Welt.
Was Wynn nicht ahnt: Auch sein geheimnisvoller Gönner hat noch eine Rechnung mit dem Dämon Norek offen. Als es Sir Roger schließlich gelingt, Norek zu schnappen, liefert er den Kraak dem Wissenschaftler Dr. Shelley aus, der gleichzeitig Leiter des Sanatoriums Dead End Asylum im Deepmoor ist. Dieser verpflanzt Noreks Gehirn in einen anderen Körper und sperrt den Kraak in seinem Sanatorium ein.
Sir Roger aber präsentiert Wynn Noreks toten Körper, sodass der glaubt, der Kraak wäre für immer besiegt.
Doch einen Ausweg aus Dark Land scheint immer noch in weiter Ferne, und Wynn muss sich mit dem Gedanken anfreunden, dass sein Aufenthalt in dieser Welt wohl noch länger andauern wird. Mit der Hilfe von Abby, die inzwischen herausgefunden hat, dass ihre verstorbene Mutter Matilda Fitzroy eine Hexe war, hat er einen Job beim Twilight Evening Star ergattert, der größten Zeitung von TC. Als man dort erkennt, dass er für Größeres bestimmt ist, steigt er vom Archivar zum Reporter auf.
Und schon bald stellt Wynn fest, dass noch ganz andere Aufgaben in TC auf ihn warten …
So gelingt es ihm, TC von dem so genannten »Richter« zu befreien, einem riesigen, schlangenartigen Wesen, das TC in regelmäßigen Abständen mit seinen Jägern heimgesucht hat.
Bei seiner Vernichtung warnt der Richter Wynn vor einer drohenden Gefahr, und Wynn fragt sich, ob das etwas mit dem geheimnisvollen weißen Schiff zu tun hat, das vor einiger Zeit wie aus dem Nichts im Hafen aufgetaucht ist und auf dem immer wieder Bewohner der Stadt spurlos verschwinden.
Kurz darauf bricht der Winter über TC herein – was in dieser Stadt sehr ungewöhnlich ist, die meisten Bewohner haben noch nie Schnee gesehen. Und tatsächlich bringt das Schneechaos eine Seuche mit sich, der auch Abby zum Opfer fällt. Gerade noch rechtzeitig gelingt es Wynn & Co., Abby zu retten und ein Gegenmittel aufzutreiben.
Doch damit ist die Gefahr für TC noch lange nicht gebannt. Die Dämonen des Weißen Schiffs stellen eine unbestimmte Bedrohung für die Stadt dar. Und schließlich gelingt es Wynn und Abby, was kein Bewohner von TC zuvor geschafft hat: Sie verlassen die Stadt und gelangen in die Welt, aus der das geheimnisvolle Schiff stammt.
Und auch Bella und Kajahn haben einen Weg raus aus TC gefunden. Nachdem die fünf Dämonen das Weiße Schiff verlassen haben, machen die beiden sich auf den Weg zu dem sagenumwobenen Ort Sgoth, um dort das Geheimnis der Dämonen zu lüften. Sie ahnen nicht, welchen Gefahren sie sich dort aussetzen …
Und auch Wynn und Abby geraten in der fremden Welt, in der offenbar mysteriöse Doppelgänger der TC-Bewohner leben, in Schwierigkeiten.
Während Bella und Kajahn den Weg zurück nach Twilight City finden, bleiben Wynn und Abby verschollen. Niemand weiß, ob sie jemals wieder heil nach TC zurückkehren werden …
Geist der Vergeltung
von Rafael Marques
Als Delmon in seine Wohnung trat, wusste er sofort, dass sich etwas verändert hatte.
Eine fremde Aura hatte sich in seinen vier Wänden eingenistet. Er nahm sie mit jeder Faser seines Körpers wahr.
War es der Tod?
Die Frage schoss ihm ganz automatisch durch den Kopf. In der gesamten Stadt herrschte die Aura des Todes vor, und das nicht erst seit der Feuersbrunst, die gleich mehrere Viertel in Schutt und Asche gelegt hatte.
Die fünf Dämonen, die dem untergegangenen Weißen Schiff entstiegen sein sollen, hatten ein wahres Blutbad angerichtet. Zumindest im übertragenen Sinne, denn Leichen gab es kaum zu sehen.
Delmon war geflohen, so wie viele andere. Als ihm jedoch klar geworden war, dass es kein Entkommen geben würde, hatte er sich dazu entschieden, wieder zurückzukehren. Doch anscheinend war ihm dabei jemand zuvorgekommen.
Er dachte an die Leute von Fletchers Green und Narrowby. Zahlreiche der dortigen Bewohner waren in ihren Häusern zurückgeblieben. Das hatten mit Sicherheit nicht wenige mit ihrem Leben bezahlt. Die Gerüchte um den großen Stadtbrand dort machten bereits überall die Runde.
Seine Wohnung lag in dem als Innenstadt bezeichneten Gebiet von Twilight City, jedoch abseits der Einkaufsmetropolen. Das Mietshaus war eines dieser schäbigen Gebäude mit ihren heruntergekommenen Fassaden, die das Straßenbild der Stadt wie kaum etwas anderes prägten. An den braunen Ziegelsteinen nagte schon seit Jahren der Zahn der Zeit.
Delmon war das egal. Er verbrachte an diesem Ort nie viel Zeit. Zumindest war das so gewesen, als er noch einen Job gehabt hatte. Als Lehrer an einer der öffentlichen Schulen konnte man sich kaum mehr leisten als eine Unterkunft in einer solchen Bruchbude. Doch sein Job war mehr eine Berufung, wie bei den meisten Mitgliedern seiner Art.
Er war hochgewachsen, über zwei Meter groß. Die Haut war blass, wirkte trocken und rissig. Seine kleinen Augen lagen tief in den Höhlen des knochigen Gesichts. Die zu groß geratenen Finger nestelten nervös an einem grauen Anzug. Seine Farbe passte zu dem, was er war – ein Grauer Mann. Seine Rasse hatte keinen richtigen Namen, da niemand ihn mehr kannte. Deshalb hatte man sie anhand ihres Aussehens und ihrer Kleiderwahl so getauft.
Tief sog Delmon die Luft ein. Der muffige Gestank, der aus der alten Tapete und dem ausgefransten Fußbodenbelag strömte, ließ sich einfach nicht vertreiben. Das war auch diesmal nicht anders. Allerdings wurde er von etwas anderem überlagert. Etwas, das der Dämon bisher noch nicht einordnen konnte.
»Ist jemand hier?«, rief er in den Flur hinein.
Niemand antwortete ihm. Vielleicht war derjenige, der sich in seiner Wohnung aufgehalten hatte, schon längst wieder verschwunden. Eigentlich konnte er von Glück reden, wenn sein Zuhause nicht komplett ausgeräumt worden war. Schließlich war er in seiner Panik nicht einmal dazu gekommen, die Wohnungstür zu schließen.
Delmon öffnete den Mund. Hinter seinen Lippen blitzten spitze Raubtierzähne auf. Er war jemand, der sich ganz in den Dienst der Allgemeinheit gestellt hatte. Er war kein Kämpfer geworden, so wie manche seiner Artgenossen, aber er wusste sich zu wehren.
Vorsichtig schlich er weiter. Vorher ließ er die Tür leise ins Schloss gleiten. Auf dem weichen Teppichboden waren seine Schritte kaum zu hören. Unbehelligt durchquerte er den Flur, bis er seine Schlafzimmertür erreichte. Er stieß sie auf und stürmte hinein.
Der Raum war leer. Die Bettdecke lag noch genauso zerwühlt da, wie er sie zurückgelassen hatte. Sogar das Fenster stand offen. Der omnipräsente Nebel strömte an ihm entlang, ohne ins Innere des Hauses zu dringen. Ein schwarzer Vogel huschte an den fast durchsichtigen Vorhängen vorbei. Um was für ein Tier es sich handelte, konnte er nicht genau identifizieren.
Der Graue Mann ließ die Zimmertür wieder zugleiten. Als sie schon ins Schloss fiel, zog er sie noch einmal stärker zu sich heran. Das Geräusch, das dabei entstand, war kaum zu überhören. Wenn sich wirklich noch jemand in seiner Wohnung befand, musste er jetzt eigentlich reagieren. Trotzdem tat sich nichts.
Er trat zur Seite und nahm etwas von der der Tür gegenüberliegenden Kommode wahr, zu der auch ein fast bis zur Decke reichender Spiegel gehörte. Es handelte sich um einen hölzernen Stock, den er auch in seinem Unterricht benutzte. So manchem Schüler hatte er damit schon die unzüchtigen Finger gebrochen. Mit der Schlagwaffe in der Hand fühlte er sich sofort einen Deut sicherer.
Der Flur, dessen Wände mit dunklem Holz vertäfelt waren, endete in einer weiteren Tür. Hinter ihr lag das Wohnzimmer, wenn man es denn als solches bezeichnen wollte. Der Raum war relativ klein und bestand nur aus einer Couch, einem Sofa, ein paar Schränken und einem Radio.
Delmon kaute nervös auf der Unterlippe. Eine Angewohnheit aus seiner Kindheit, die ihm seit damals nicht mehr an ihm aufgefallen war. Diese Zeit lag verdammt lange zurück. Ein wenig kam er sich sogar wie ein kleiner Dämonenjunge vor, der sich heimlich in eine fremde Wohnung geschlichen hatte. Denn genauso kam er sich in seinen vier Wänden inzwischen vor – wie ein Fremder.
Seine Anspannung steigerte sich von Schritt zu Schritt. Immer wieder krampften sich seine Finger um den Stock. Dann löste er eine Hand von seiner Waffe und legte sie auf die Tür. Sie war nicht verschlossen. Er gab etwas Druck und ließ sie nach innen schwingen.
Im Wohnzimmer war es nicht dunkel. Das lag nicht nur an dem matten Licht, das durch die dunklen Vorhänge hineinschien. Jemand hatte an jeder Ecke des Raums jeweils eine Kerze aufgestellt. Die gut einen halben Meter langen Dochte waren noch nicht sehr weit heruntergebrannt, also mussten sie erst vor wenigen Minuten entzündet worden sein. Das Wachs gab einen seltsamen, beinahe hypnotischen Duft ab. Aber selbst er schaffte es nicht, den Verwesungsgeruch zu vertreiben, der sich ebenfalls in dem Zimmer festgesetzt hatte.
Als er die Gestalt entdeckte, die sich direkt hinter dem Sessel aufbaute, zuckte Delmon zusammen. Nicht wegen des Outfits der Fremden – ein mit Stickereien verziertes Kleid und eine Stoffjacke – oder der Tatsache, dass es sich bei dem Eindringling um ein dunkelhaariges Mädchen handelte. Er kannte die Kleine, immerhin hatte er sie jahrelang unterrichtet. Sie hieß Tabea Knight …
***
»Tabea«, formulierte der Graue Mann seinen ersten Gedanken. Seine Stimme klang rauchig und kratzig wie immer. Trotzdem hatte er das Gefühl, einen dicken Kloß im Hals stecken zu haben.
Delmon konnte das Gesicht seiner Schülerin nicht richtig erkennen. Zum einen, weil es von den strähnigen, ungewaschenen Haaren zum Teil verdeckt wurde. Es schien zum anderen aber auch, als hätte sich ein Schatten über ihre Züge gelegt.
Zunächst beruhigte er sich wieder, dann aber stieg seine Anspannung erneut an. Er hatte Tabea über so viele Jahre begleitet, ihr, wo es nur ging, unter die Arme gegriffen. Sie war ein talentiertes Mädchen, wissbegierig und selbstbewusst, wenn auch etwas introvertiert. Eigentlich ein kleines Wunder, wenn man bedachte, wie konservativ ihr Vater eingestellt gewesen war.
Inzwischen kannte jeder an der Schule ihre Geschichte. Dass ihr Ex-Freund Layoun zum Serienmörder geworden war, Norman Knight erschossen und Tabea schwer verletzt hatte. Über die genauen Hintergründe war natürlich niemand informiert, aber Gerüchte gab es immer.
Delmon hatte Tabea einige Wochen nicht mehr gesehen. Bereits vor dem Auftauchen der mörderischen fünf Dämonen war sie nicht mehr zur Schule erschienen. Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, war sie wie ausgewechselt gewesen. Stumm und in sich gekehrt hatte sie den Unterricht über sich ergehen lassen, so als wünschte sie sich an einen völlig anderen Ort. Seine Kollegen und er hatten das mit dem Trauma, das sie erlitten hatte, abgetan. Doch was, wenn mehr dahintersteckte?
Das Mädchen gab keinen Ton von sich. Es stand einfach nur da. Delmon konnte nicht einmal erkennen, ob es die Augen geöffnet hatte. War das wirklich Tabea? Diese Frage spukte ihm nicht zum ersten Mal durch den Kopf. Auch ohne das Gesicht erkennen zu können, gab es eigentlich keine andere Möglichkeit. Körperlich war sie es wohl – aber auch geistig?
»Tabea?«, versuchte es der Graue Mann erneut. Dabei ging er einen Schritt auf sie zu. »Du weißt doch, wer ich bin. Immerhin bist du in meine Wohnung gekommen. Ist alles okay mit dir?«
Delmon hätte sich bei seinen Worten beinahe selbst auf die Zunge gebissen. Er brachte für seine Schüler stets viel Verständnis auf, insbesondere für seine Tabea. Bei ihrem Lehrer einzubrechen und vier Kerzen auf eine rituelle Art und Weise aufzustellen und zu entzünden war jedoch alles, nur nicht okay.
Trotzdem reagierte Tabea, wenn auch nur sehr leise. »Nein«, hauchte sie ihm zu. Dabei bewegten sich ihre Lippen so gut wie gar nicht.
»Was ist mit dir passiert?«
Seine Schülerin hob den Kopf leicht an. Jetzt sah er, dass sie ihn tatsächlich ansah. Der schattenhafte Schleier verschwand von ihrem Gesicht. Ihr Blick war so unendlich traurig, dass er Delmon durch Mark und Bein ging. Auf ihrer Haut zeichneten sich kleine, dunkelrote Spritzer ab, ebenso wie an ihrem Kleid. Er wusste sofort, dass es Blut war. Was musste Tabea in den letzten Tagen nur erlebt haben?
»Der Fluch …«, presste sie hervor.
»Was?«
Tabea schüttelte den Kopf. »Glauben Sie mir, ich will das nicht. Er zwingt mich dazu.«
Delmon starrte seine Schülerin verständnislos an. »Ich verstehe nicht …«
Plötzlich verschwand der traurige Gesichtsausdruck und machte einem arroganten, geradezu brutalen Grinsen Platz. In den Augen der Kleinen blitzte es auf. Es war, als hätte eine zweite Persönlichkeit Besitz von ihr ergriffen. »Du musst auch nichts verstehen. Gar nichts. Du bist nur Mittel zum Zweck. Ich muss dich töten, um IHN zu befreien.«
»Was?«, stieß der Graue Mann erneut aus. Er konnte nicht fassen, was er gerade gehört hatte. Mit einem Mal fiel ihm wieder der Stock ein. Sollte er tatsächlich zuschlagen? Auf Tabea einprügeln? Sie war offensichtlich geistesgestört, ja, aber er musste ihr doch irgendwie helfen.
Bevor er reagieren konnte, hob Tabea ihre linke Hand an. Der Revolver, den sie zwischen den Fingern hielt, war eigentlich viel zu schwer für eine so zierliche Person wie sie. Trotzdem schien es ihr keine Mühe zu bereiten, ihn festzuhalten.
»Tabea, ich … ich …«, stammelte er, ohne einen vollständigen Satz herauszubringen. Was da vor ihm geschah, schockte ihn einfach zu sehr. Er konnte einfach nicht fassen, dass ausgerechnet seine beste Schülerin ihn mit einer Waffe bedrohte.
Der Blick des Mädchens war so kalt, dass es ihn fast schüttelte. Merkwürdige Laute begannen ihr plötzlich über die Lippen zu dringen. Sie klangen wie eine Sprache, wenn auch wie eine, die er noch nie im Leben gehört hatte. Was sie ihm mitteilen wollte, blieb ihr Geheimnis. Delmon ahnte jedoch, dass es so etwas wie eine Zauber- oder Beschwörungsformel war. Allein der Klang der Worte ließ ihn erschauern. In gewisser Weise verfehlten sie ihr Ziel nicht. Er spürte, wie der Tod seine Krallen nach ihm ausstreckte.
»Tabea, bitte …«, begann er erneut.
Seine frühere Schülerin beachtete seine Worte nicht – und drückte ab. Die großkalibrige Kugel drang mitten in Delmons Brust, die wie eine überreife Frucht aufplatzte. Aschgraues Blut floss hervor und benetzte sein weißes Shirt.
Der Lehrer trat einen Schritt nach vorn, dann noch einen. Er spürte bereits die Nähe des Todes. Seine Sinne schwanden dahin. Er wurde allein noch von dem inneren Antrieb geleitet, irgendwie Tabea zu erreichen. Jetzt sah er wieder ihren traurigen, kindlichen Blick, der so voller Schmerz und Trauer streckte.
Delmon streckte eine Hand nach ihr aus. Dann brach er in die Knie. Seine Kräfte verließen ihn jetzt endgültig. Noch bevor er mit dem Gesicht voraus auf den Boden prallte, hörte sein Herz auf zu schlagen.
***
Nebel, überall Nebel. Seine Welt bestand aus nichts anderem als den grauen Schwaden. Wohin er auch blickte, überall breiteten sie sich aus. Er konnte nicht einmal seine eigenen Hände ansehen, so dicht war dieser Dunst.