Dark Venice. Silent Haze - Antonia Wesseling - E-Book

Dark Venice. Silent Haze E-Book

Antonia Wesseling

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Beschreibung

Willkommen in Venedig, der Stadt der Liebe – und der Lügen Seit der Nacht der Filmvorführung befindet Merle sich in freiem Fall. Nie hätte sie gedacht, dass sie sich so in Matteo täuschen kann. Während Matteo und seine Freunde sich vor Gericht den Konsequenzen für den Unfall ihres Freundes stellen müssen, wird Merle in der Uni von allen gemieden. Und die Wahrheit über jene Nacht liegt immer noch im Dunkeln. Jemand gibt sich größte Mühe, dass es auch so bleibt … 

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Seitenzahl: 448

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Dark Venice. Silent Haze

ANTONIA WESSELING, geboren 1999, erfand schon als Kind eigene Geschichten und fing später an, Jugendbücher zu veröffentlichen. Ihre »Light In The Dark«-Reihe wurde zu einem großen Publikumserfolg. Neben der Arbeit als Autorin bloggt sie auf Instagram und YouTube (@antoniawesseling) über gute Bücher, ihre Liebe zum Schreiben und mentale Gesundheit.

Venedig, Stadt der Liebe – und der LügenSeit der Nacht der Filmvorführung an der Università befindet Merle sich in freiem Fall. Nie hätte sie gedacht, dass sie sich so in Matteo täuschen könnte. Matteo, ihr Mitbewohner im Casa Nera, in den sie sich niemals verlieben wollte. Während er und seine Freunde sich vor Gericht verantworten müssen, wird Merle in der Uni von allen gemieden. Als Matteo freikommt, muss sie sich entscheiden, ob sie ihrem Herzen folgt und ins Casa Nera zurückkehrt. Dabei liegt die Wahrheit über jene verhängnisvolle Nacht immer noch im Dunkeln. Und jemand gibt sich größte Mühe, dass es auch so bleibt …

Antonia Wesseling

Dark Venice. Silent Haze

Roman

Forever by Ullsteinforever.ullstein.de

Originalausgabe bei Forever Forever ist ein Verlag der Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin

1. Auflage Februar 2025© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2025Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.Umschlaggestaltung: Favoritbüro, München Titelabbildung: © FinePic®Autorenfoto: © Antonia WesselingE-Book Konvertierung powered by pepyrusISBN 978-3-95818-850-1

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Inhalt

Titelei

Das Buch

Titelseite

Impressum

Teil 1

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

TEIL 2

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

TEIL 3

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

Epilog

Danksagung

Hilfsangebote

Hilfe und Unterstützung bei Suchtproblemen

Hilfe und Unterstützung bei ungewollter Schwangerschaft und Abtreibung

Anhang

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Teil 1

Widmung

Für alle, die Merles und Matteos Geschichte bis hierhin begleitet haben.

Teil 1

1. Kapitel

Merle

Einstein hat gesagt, Zeit sei etwas Relatives. Und auch wenn Liebeskummer nur bedingt etwas mit der Relativitätstheorie zu tun hat, fühlt sich mein Leben wie ein empirischer Beweis an.

Es ist fünf Tage her, dass sich alles, was ich über die Liebe zu wissen glaubte, ein zweites Mal als Lüge herausstellte. Als ein vierminütiger Zeitraffer meine Welt auf Stopp setzte und ich wie im freien Fall fiel, fiel und fiel. Fünf Tage, in denen ich fiel und irgendwann anfing, mir zu wünschen, ich würde endlich aufschlagen. So fest aufschlagen, dass es vorbei wäre. Dass das Gedankenkarussell aufhörte und ich die tausend Fragezeichen loslassen könnte. Stattdessen ist es so, als käme jeden Tag ein neues dazu. Ein neuer Splitter, der sich von der Realität abschält und unter meine Haut sticht.

Das Zimmer auf der Intensivstation ist kalt und steril, das monotone Summen der medizinischen Geräte erfüllt die Luft. Die kahlen Wände sind von grellen Neonlichtern beleuchtet, die einen schattenhaften Glanz auf Tinos Gesicht werfen. Ich betrachte seine reglose Gestalt und frage mich, ob es die richtige Entscheidung war, herzukommen. Oder ob dieser Besuch hier nur ein nächster Splitter werden wird.

Eine Antwort auf all die quälenden Fragen kann Tino mir nicht geben. Nicht, solange das einzige Lebenszeichen von ihm ein schwaches Signal auf dem Computer ist. Ein Signal, das mich immer wieder mit einem Gedanken konfrontiert: wie zerbrechlich das Leben ist …

Nur wenige Zentimeter entfernt liegt ein junger Mensch, der die Verwirklichung all seiner Träume noch vor sich hatte, der hoffte, dem die Zukunft gehörte. Niemand kann mit Sicherheit sagen, ob er jemals wieder aufwachen, geschweige denn aufstehen und sprechen können wird.

Weil ein einziger Abend außer Kontrolle geraten ist. Noch immer kenne ich nur die Bilder, die aus den Videoaufnahmen stammen und vor vier Tagen dazu führten, dass die Jungs verhaftet wurden.

Leandro, Romeo. Und Matteo.

Ich rutsche von dem Stuhl, der schon vorher neben Valentinos Bett gestanden hat, und gehe ein paar Schritte durch das Zimmer. Die Sonne ist fast vollständig untergegangen, und die Stadt beginnt, mehr und mehr zu leuchten. In weniger als vier Wochen ist Weihnachten – für viele Menschen die schönste Zeit des Jahres. Doch mir kommt es so vor, als habe Venedig seinen Glanz verloren. Seine Magie. Das Gefühl, es könnte sich bei dieser sagenumwobenen Stadt um einen Ort handeln, an dem alles anders ist.

Ich trete vom Fenster weg und drehe mich wieder zu Tino ans Bett.

»Die Wahrheit wird eines Tages ans Licht kommen.«

Ich weiß nicht, ob er mich hören kann. Ich kann nicht einmal sagen, wer von uns beiden die Worte mehr hören muss. Er oder ich. Aber ich hoffe so sehr, dass ich recht habe.

Meine Gedanken werden jäh unterbrochen, als die Tür aufspringt und eine Schwester den Kopf hereinsteckt.

Erschrocken fahre ich herum. Adriano hat zwar gemeint, dass es in Ordnung sei, herzukommen, dass Tinos Familie sich über jeden, der Anteil nimmt, freue … Aber ob sie damit auch mich gemeint haben?

Ich spüre, wie sich mein Herz bei dieser stummen Frage schmerzhaft zusammenzieht.

»Oh, entschuldigen Sie! Guten Abend.« Die Krankenpflegerin lächelt freundlich. »Soll ich später wiederkommen?«

Perplex schüttle ich den Kopf. »Nein, nein. Ich … ähm … ich möchte keine Routinen stören oder so.«

»Das tun Sie nicht. Ich müsste nur kurz die Sondennahrung austauschen.« Sie deutet auf einen Beutel, der neben dem Computer an einer Metallangel hängt.

Ich schlucke, nicke dann. »Klar. Ich wollte ohnehin gerade gehen.«

»Sie sind Valentinos Cousine aus Belgien, oder?«

Die Frage der Pflegerin trifft mich so unerwartet, dass ich keine Zeit habe, über eine Antwort nachzudenken. »Die Cousine, ja.« Die Lüge rutscht mir so schnell über meine Lippen, dass ich nicht einmal blinzeln kann. Was tue ich hier? Ich fühle mich wie ein Eindringling in diese klinische Umgebung, in diese Situation, in die ich eigentlich nicht gehöre.

»Ahh! Ihre Tante hat schon erzählt, dass Sie zu Besuch in der Stadt sind. Sie dachte nur nicht, dass Sie es ins Krankenhaus schaffen würden. Ich bin Sarah.«

Tiefer. Ich stürze immer tiefer in den Abgrund, und mit allem, was ich sage, kann ich meine Lage nur noch verschlimmern. »Ich bin gerade erst angekommen und wollte gleich nach ihm sehen."

Warum ich trotzdem nicht meine Klappe halte? Vielleicht sind es Schuldgefühle, die mich übermannen. Schuldgefühle, weil ich nicht hier sein sollte. Ich kann nicht mal sicher sagen, ob Tino wollen würde, dass ich ihn so sehe. Verletzlich und ausgeliefert.

Die Krankenpflegerin wirkt zufrieden mit meiner Antwort. »Verstehe. Es tut mir leid, dass Sie unter diesen Umständen hierherkommen mussten. Tino braucht alle Unterstützung, die er bekommen kann. Sind Sie so lieb und halten das hier mal kurz?«

Sie drückt mir eine Flasche Sondennahrung in die Hand.

»Glauben Sie, dass er bald aufwacht?«

»Dazu kann ich nichts sagen. Wenn Sie mögen, kann ich sehen, ob ein behandelnder Arzt oder eine Ärztin Zeit für Sie findet. Signora Ferrari hat für die Familie eine Entbindung der Schweigepflicht unterzeichnet.«

Ferrari. Auch jetzt, Tage, nachdem ich Tinos Nachnamen erfahren habe, bleibe ich bei dessen Erwähnung kurz daran hängen. Valeria Ferrari gehörte die Pension, in der ich von Deutschland aus ein Zimmer gebucht hatte. Nachdem sich dieses Puzzlestück in meinem Kopf zusammengesetzt hatte, ergab das Verhalten der Jungs – damals bei meiner Ankunft in Venedig – endlich einen Sinn. Die Bedingung dafür, dass ich erst mal im Casa Nera bleiben durfte, lautete, dass ich mein Geld von der Pension Ferrari nicht zurückverlange.

»Schon okay. Ich werde meine Tante fragen.«

Die Pflegerin nickt. »Machen Sie das. Ich gehe davon aus, dass sie erst morgen wiederkommt. Die letzten Tage waren für Ihre ganze Familie ja noch mal eine zusätzliche Belastung.«

Ich brauche keine weiteren Informationen, um sichergehen zu können, dass sie von dem Auftauchen des Videos aus der Unfallnacht spricht.

»Wir geben unser Bestes.« Ob sie hören kann, dass meine Stimme kurz davor ist, zu brechen?

»Ich wünsche Ihnen allen von Herzen, dass diese jungen Männer zur Rechenschaft gezogen werden. Man mag sich ja gar nicht vorstellen, dass sie seine Freunde gewesen sind.« Während sie spricht, beginnt sie, mit geübten Bewegungen die Schläuche zu entfernen. »Aber ich bin froh, dass die Wahrheit jetzt endlich ans Licht kommen wird. Wer weiß, was diese Jungen noch für Geheimnisse mit sich herumschleppen.«

»Ja.« Mehr bekomme ich nicht heraus. Meine Hände zittern vor Anspannung. Trotzdem kann ich den Blick nicht von der Prozedur abwenden. Es ist ein seltsames Gefühl, hier zu sitzen und zu beobachten, wie sie die neuen Schläuche anschließt. Zu intim. Zu persönlich.

Tino bekommt von alledem nichts mit. Er hat keine Ahnung, wie viele Menschen täglich um sein Leben bangen.

Als die Pflegerin mir die Sondennahrung aus der Hand nimmt, würde ich am liebsten fluchtartig von hier verschwinden. Doch weil ich nicht zu überstürzt wirken möchte, räuspere ich mich vorher leise.

»Ich würde dann jetzt gehen.« Noch während ich die Worte sage, frage ich mich, ob es seltsam wäre, mich nicht direkt bei Tino zu verabschieden. Würde seine Cousine so was machen? Wer ist diese Cousine überhaupt? Und wer war Tino, bevor er an diese Geräte angeschlossen wurde?

Welche Musik hat er gehört? Wie hat er seine Pasta am liebsten gegessen? Woran hat er geglaubt?

»Okay, dann wünsche ich Ihnen noch einen schönen Abend.« Die Antwort der Pflegerin dringt nur noch wie durch Watte zu mir hindurch. Hinter meinen Augen hat sich ein fürchterlicher Druck gebildet, und ich muss dringend hier raus. Denn auch wenn es in meiner Situation als Tinos Cousine kein bisschen ungewöhnlich wäre, jetzt zu weinen, will ich die Tränen nicht zulassen.

Nicht, solange ein Teil von mir nur um mich selbst weint. Um das, was ich verloren habe. Etwas, das von Anfang an auf Lügen aufgebaut war.

Als ich Tinos Zimmer verlasse, bleibe ich ein paar Sekunden reglos im Flur der Intensivstation stehen. Mein Innerstes fühlt sich so taub an, dass ich mich frage, wie ich den Weg nach Hause in das Studentenwohnheim, in dem ich seit vier Wochen lebe, überhaupt schaffen soll.

Ich bin erst ein paar Meter gegangen, da höre ich, wie am Ende des kurzen Gangs die Fahrstuhltür aufspringt.

Instinktiv spannt sich mein ganzer Körper an. Doch meine Sorge, gesehen zu werden, ist vollkommen unbegründet. Die junge Frau hat den Kopf gesenkt und hält den Blick selbst beim Gehen ausschließlich auf ihre dunklen Sneakers gerichtet.

Sie ist ein Stück kleiner als ich, hat dunkles Haar und trägt eine Jogginghose, weshalb ich sie als Pflegerin kategorisch ausschließe.

Allerdings ist es schon fast sechs, und man sagte mir bei meiner Ankunft am Empfang, die Besuchszeiten seien eigentlich auf den Vor- und Nachmittag begrenzt, damit auf der Station gegen Abend Ruhe einkehre. Ich war davon ausgegangen, dass mein später Besuch so etwas wie eine Ausnahme sei.

Als die Frau und ich auf derselben Höhe sind und wortlos aneinander vorbeigehen, habe ich noch immer nicht ihr Gesicht gesehen. Trotzdem spüre ich die Gänsehaut überall.

Ein bisschen so, als wüsste ein Teil von mir längst, wer sie ist.

»Ahhh, wie schön! Ich habe Sie die letzten Male verpasst.« Vielleicht zucke ich deshalb nicht zusammen, als die Stimme der Pflegerin in meinem Rücken ertönt. Diesmal spricht sie allerdings nicht mit mir.

»Es gab zu viel zu verarbeiten.«

Chiara klingt jung. Jünger, als ich sie eingeschätzt habe. Vor ein paar Wochen, als ich sie mit Matteo in dieser Gasse gesehen habe, dachte ich noch, sie könnte etwas mit ihm am Laufen haben. Aus heutiger Sicht würde ich mir beinah wünschen, es wäre tatsächlich so gewesen.

»Das würde jedem in Ihrer Situation so gehen.«

Die Worte erreichen mich gedämpft, aber ich kann den vertrauten Klang ihrer Unterhaltung hören. Chiara scheint eine enge Beziehung zu den Krankenhausmitarbeitern zu haben, was mich nach all den Monaten, die Tino schon hier ist, nicht überrascht.

»Ich habe gerade schon Ihrer Cousine gesagt, dass ich Ihnen und Ihrem Bruder endlich Gerechtigkeit wünsche.«

»Meiner Cousine?«

Fuck! Mein Herz macht einen kräftigen Sprung, und meine Hände zittern, als ich den Knopf des Fahrstuhls berühre. Bitte, bitte komm endlich!

»Ja, sicher. Ich habe mich gefreut, sie kennenzulernen.«

Die Hand noch immer auf den Drücker gelegt, schicke ich Stoßgebete in den Himmel. Ein bisschen so, als könnten meine Gedanken den Aufzug schneller machen.

»Meine Cousine aus Belgien? Oder reden Sie von Alexandra?«

»Wie meinen Sie? Sie sind sich eben doch noch im Flur begegnet.«

In dem Augenblick, in dem die Intensivschwester »Na, dahinten steht sie ja noch« sagt, dreht Chiara sich um, und ich glaube, dass es endlich so weit ist. Dass ich aufschlage und der quälende Fall vorbei ist.

Doch dem ist nicht so. Unsere Blicke treffen sich, und ich kann spüren, wie sich ein Schalter in ihr umlegt. Sie hat mich erkannt. Was danach in ihrem Gesicht steht, ist schwer zu deuten.

Überraschung. Unglaube. Vielleicht Wut.

»Oh. Ja, natürlich.«

Was tut sie da?

Der gottverdammte Fahrstuhl kommt endlich zum Stehen, und ich quetsche mich durch die sich öffnenden Türen hinein.

Ich lege die Hand auf mein rasendes Herz. Das war nicht nur knapp, das war … mehr als das. Chiara hat mich nicht aufliegen lassen, und ich habe absolut keine Ahnung, womit ich das verdient habe.

Habe ich mich geirrt, und sie hat mich doch nicht erkannt? Aber weshalb sollte sie eine Fremde schützen? Das ergibt keinen Sinn.

Als ich den Fahrstuhl verlasse, läuft im Eingang des Krankenhauses leise Musik. Es sind friedliche Töne, die das Gefühl der Schwere jedoch noch intensiver werden lassen. Dass Chiara die Verwechslung vor der Pflegerin nicht aufgeklärt hat, heißt noch lange nicht, dass sie es vor ihrer Familie oder spätestens im Gericht nicht doch noch tun wird. Dann könnte es nicht nur unangenehm für mich, sondern auch schwieriger für Matteo werden.

Ich trete hinaus ins Freie und werde von frischer Luft empfangen. Es ist, als könnte ich förmlich spüren, wie sie meinen Verstand flutet.

Hör auf, an ihn zu denken, Merle! Es ist nicht mehr deine Aufgabe, für ihn zu sorgen, geschweige denn, ihn zu verteidigen.

Das Einzige, was ich tun kann, ist, endlich zu versuchen, damit abzuschließen. Wie schwer kann das schon sein? Schließlich hat es den Matteo, den ich geliebt habe, praktisch nie gegeben.

2. Kapitel

Matteo

Ich starre auf die kalte graue Decke über mir und versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren als die Stille. Auf etwas anderes: zum Beispiel auf meinen Herzschlag oder meinen Atem. Das Rauschen meines eigenen Blutes.

Doch nichts davon kommt gegen die Stille an. Die Stille, das große Nichts, das meinen Verstand zuerst nur angenagt hat und nun immer weiter auffrisst.

Hätte man mich vor fünf Tagen gefragt, was das Schlimmste daran ist, hier zu sein, wäre mir der Freiheitsentzug als Erstes eingefallen. Ich habe gedacht, die größte Herausforderung wäre es, nicht mehr wirklich rauszukommen. Sich so zu fühlen, als würde die ganze Welt um einen herum schrumpfen, die Zelle von Tag zu Tag kleiner werden. Kleiner und enger, weil die Leere mehr Platz einnimmt. Heute weiß ich, dass es etwas gibt, was noch schlimmer als das ist. Es ist die Tatsache, nicht mehr zu wissen, wann man das letzte Mal mehr als drei Sätze mit jemandem gesprochen hat.

Die Gespräche mit den Vollzugsbeamten sind auf das Nötigste beschränkt. Zugegeben, ich habe mich auch kein bisschen um Kontakt bemüht. Die Blicke, mit denen sie mich ansehen, sind Aussage genug. Es ist, als könnte ich es ihnen von der Stirn ablesen. Irgendwas zwischen »davon habe ich doch in der Zeitung gelesen« und der Frage, welcher Umstand mich zu einem beschissenen Freund gemacht hat. »Oder bist du schon so beschissen auf die Welt gekommen?«

Auf Letzteres habe ich leider selbst noch keine Antwort, und ich wüsste gern, ob es den anderen auch so geht.

Es ist jetzt fünf Tage her, dass ich sie das letzte Mal gesehen habe. Am Morgen nach dem Filmfestival hat die Polizei uns verhaftet und Leandro, Romeo und mich getrennt voneinander verhört.

Anfangs glaubte ich, die Einzelhaft sei nur vorübergehend, doch ziemlich schnell hieß es, der Kontakt unter uns sei streng unterbunden, um Absprachen zu verhindern.

»Sie haben Besuch. Möchten Sie denjenigen empfangen?«

Da ist sie wieder. Wie jedes Mal überrollt H. mich mit einer Wucht, die ich nicht habe kommen sehen.

»Ja, bitte«, krächze ich. So klingt meine Stimme also, wenn ich zwei Tage lang nichts außer »Danke für das Essen!« oder »Wie spät ist es?« gesagt habe.

Das Knarzen des beiseitegeschobenen Riegels ist mir schon schrecklich vertraut. Streng genommen bin ich wie ein Tier, das knurrend und scharrend darauf wartet, aus dem Zwinger gelassen zu werden. Nur, dass ich weder knurre noch scharre. Stattdessen frage ich mich, ob man nach fünf Tagen schon von einer Konditionierung sprechen kann. Vielleicht beginnen jetzt gerade irgendwelche Nervenzellen zu arbeiten, und in meinem Gehirn werden Neurotransmitter freigesetzt. Kurz gesagt: Ein einzelnes kurzes Knarzen gibt mir den Kick.

Das meine ich, wenn ich sage, die eigene Welt zieht sich auf die Größe einer winzigen Murmel zusammen.

»Sie haben zwanzig Minuten. Ihre Besucherzeit ist danach für die ganze Woche aufgebraucht«, erklärt die Beamtin, die mich he­rauslässt, ohne das Gesicht zu verziehen.

Zwanzig Minuten sind nicht viel, doch ich versuche nicht einmal zu verhandeln. Zum einen, weil ich mir keine großen Chancen ausrechne, zum anderen, weil ich viel zu sehr damit beschäftigt bin, H. zu ignorieren.

»Wissen Sie, wer es ist?« In meiner Stimmung schwingt viel zu viel von ihr mit. Von ihr, die ich doch eigentlich schon am zweiten Tag vergraben habe. Ich habe seitdem angefangen, sie nur noch H. zu nennen, mir den vollen Namen »Hoffnung« schlichtweg zu verbieten.

Kein einziges Mal habe ich es bisher geschafft, sie zu bändigen. Nein, im Gegenteil, jedes Mal, nachdem ich festgestellt habe, dass es nicht Merle ist, die im Besucherzimmer auf mich wartet, ist H. nur noch gnadenloser über mir zerbrochen.

Doch kein einziges Mal hat es mich am Abend davon abgehalten, im Kopf weiter Scrabble zu spielen. Ich setze meine Worte jeden Tag neu zusammen. Verwerfe sie und beginne von vorn. Ein bisschen so, als würde ein naiver Anteil in mir glauben, es gäbe ihn. Den richtigen Satz. Die richtige Aneinanderreihung von Buchstaben, die alles erklärt.

»Nein, keine Ahnung. Die Zeitbegrenzung zählt aber für jeden, mit Ausnahme Ihres Anwalts.«

Als wäre mir das nicht längst bewusst. Ich folge der Beamtin in den stickigen Besucherraum, während mein Herz immer hartnäckiger gegen die Brust hämmert. Der Gedanke an Merle, an ihr Lächeln und ihre Berührungen ist gleichermaßen Qual wie auch Halt, der mich durch die endlos scheinenden Tage in dieser Zelle getragen hat.

Als die Tür zum Besucherraum aufgeht, ist die Enttäuschung fast körperlich spürbar. Es ist nicht Merle, die dort auf der anderen Seite eines Tisches wartet, sondern Diego, der sich erst in meine Richtung dreht, als ich mich setze.

Ich versuche, die Kontrolle über meine Gesichtszüge zu behalten. Mir nicht anmerken zu lassen, wie sehr ich innerlich zu zerbrechen drohe.

»Hey«, presse ich hervor. Es ist das erste Mal, dass er mich besucht, und mir fällt nichts Besseres als »Hey« ein?

»Es tut mir leid, dass ich erst jetzt hier bin.«

Mit einer einfachen Handbewegung bringe ich ihn zum Schweigen. »Ist eben kein Ort, an dem man gern seine Freunde trifft.«

»Sie haben mich nicht gleich zu euch gelassen. Ich wurde erst einmal selbst verhört.«

»Wir haben versucht, dich aus der Sache herauszuhalten.«

»Ich weiß.« Diegos Kiefermuskulatur ist angespannt, und allgemein wirkt es so, als wäre er auf dem Sprung. »Ich habe mich von eurem Anwalt auf dem Laufenden halten lassen.«

»Okay.« Dafür, dass ich mich so dringend nach einem Kontakt gesehnt habe, verläuft diese Unterhaltung eher schleppend. »Dann hat er mir den ganzen spannenden Gesprächsstoff ja schon vorweggenommen.« Falls das ein Versuch sein sollte, die Situation zu lockern, war er vergebens. Ich schaffe es nicht einmal selbst, mir ein Lächeln abzuringen.

»Sie werden die Anhörungen frühestmöglich ansetzen wollen.« Als ich nicht darauf reagiere, schiebt Diego ein »Das ist etwas Gutes« hinterher. »Die Untersuchungshaft dauert also nicht ewig.«

»Du meinst, wenn wir Glück haben, gibt es unter dem Weihnachtsbaum bereits eine Anklage?«

»Ich verstehe, dass du Schiss hast. Mir würde es in deiner Situation genauso gehen.«

»Du bist aber nicht in meiner Situation«, entfährt es mir anscheinend so laut, dass wir die Aufmerksamkeit des Aufsehers unfreiwillig auf uns ziehen.

»Halt die Luft an, Matteo. Sie können dich jederzeit wieder zurück in die Zelle bringen«, raunt Diego und nickt beschwichtigend in Richtung des Wächters.

Ich bin ungerecht. Das weiß ich. Diego kann nichts dafür, dass wir hier gelandet sind. Ganz im Gegenteil, er ist es gewesen, der uns in besagter Nacht beschworen hat, die Nerven zu behalten.

»Ich habe versprochen, dass ich euch hier raushole. Mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen. Dein Vater war hier, oder?«

Ich nicke. »Zweimal schon.« Wir haben kaum gesprochen.

»Er hat angeboten, etwas zu den Anwaltskosten beizusteuern«, erklärt Diego. »Ich habe abgelehnt.«

»Du musst das nicht tun.« Ich klinge schwach. Kein Wunder. Mein Vater könnte die Kosten für den juristischen Beistand niemals vollständig übernehmen. Jedenfalls nicht, ohne das Restaurant in Schwierigkeiten zu bringen. Und doch fühlt es sich beschissen an, auf die Hilfe eines Freundes angewiesen zu sein.

»Leandro ist mein Cousin. Er und Giulia sind der Grund, weshalb ich nach dem Tod meiner Familie damals nicht komplett abgestürzt bin. Ich würde alles tun, um ihn zu schützen. Und das Gleiche gilt auch für Romeo und dich. Avvocato Esposito vertritt euch also alle gemeinsam.«

»Danke.« Ich verspreche ihm nicht, das Geld zurückzuzahlen. Nicht, solange ich nicht sicher sein kann, dieses Versprechen halten zu können. »Wie geht es Giulia?« Ich fahre mit dem Blick durch den Raum, als wüsste ich nicht genau, dass die einzige Uhr seit dem ersten Tag auf halb sechs stehen geblieben ist. Bisher hat sich niemand die Mühe gemacht, die Batterie auszutauschen.

»Den Umständen entsprechend. Sie schläft viel.«

»Und sonst?« Hör auf, in deine beschissene Wunde zu stechen, mahnt mein letztes bisschen Selbsterhaltungstrieb.

Diego zögert. Wir tänzeln um den offensichtlichen Elefanten im Raum. »Sie hat die Familie besucht. Meine Tante und mein Onkel brauchen sie.«

Das kann ich mir vorstellen. »Wie ist das Wetter draußen?« Mein Blick bleibt einen Moment zu lang an dem dämmrigen Abendhimmel hängen, den ich durch die Gitterstäbe erkennen kann.

»Du weißt schon, dass du einmal am Tag hinausgehen darfst?«

»Ich bin kein Welpe, den man zum Pinkeln fünf Minuten vor die Tür setzen kann.«

»Du solltest die Kompromisse der Staatsanwaltschaft, die der Avvocato für uns verhandelt, nicht komplett in den Wind schießen.«

»Sag mir bitte nicht, wie ich meinen Alltag im Knast verbringen soll.«

»Ich meine es nur gut. Wenn du nicht willst, dass dein Leben vollkommen im Arsch ist, wenn du hier rauskommst, versuch, einen kühlen Kopf zu bewahren.«

»Danke für den Tipp. Ich werde ihn als Wandposter über mein Bett hängen.« Unruhig wippe ich mit dem Bein. Kurz bevor Diego hier aufgetaucht ist, habe ich mir nichts Schöneres vorstellen können, als ein vertrautes Gesicht zu sehen. Jetzt ertappe ich mich plötzlich bei dem Wunsch, allein zu sein. Allein mit der unausgesprochenen Frage.

»Die zwanzig Minuten sind um.« Als hätte der Vollzugsbeamte meine Gedanken gelesen, nähert er sich mit dunkler Miene unserem Tisch. »Sie müssen zurück. Tut mir leid.«

Anders als mein Vater versucht Diego nicht, mehr Zeit rauszuhandeln. Vielleicht weil er das juristische Vorgehen kennt, vielleicht lasse ich ihn aber auch die Enttäuschung zu sehr spüren, und er ist froh, das Treffen hinter sich gebracht zu haben.

»Ich komme bald wieder. Gib Avvocato Esposito Bescheid, wenn du etwas brauchst oder wir etwas tun können.«

Ich nicke, dabei wage ich zu bezweifeln, dass der Anwalt oder auch Diego in der Lage ist, Wunder zu verbringen. »Das werde ich. Mach’s gut.«

Bevor der Beamte Anstalten macht, mich zu ermahnen, stehe ich auf. Ich versuche, nicht an das Gefühl zu denken, das sich in mir ausbreiten wird, sobald ich zurück in der Zelle bin. Sobald ich die Maske absetze und H. ein weiteres Mal in sich zusammenfällt.

»Matteo?«

Reflexartig drehe ich mich noch einmal zu Diego um.

»Mach dir nicht zu viele Hoffnungen. Wir haben nichts mehr von ihr gehört. Ich denke nicht, dass sie herkommen wird.«

3. Kapitel

Merle

Mein Besuch im Krankenhaus ist jetzt knapp vierundzwanzig Stunden her, und bislang hat sich wegen meiner Lüge im Krankenhaus noch niemand bei mir gemeldet. Ich versuche, das als gutes Zeichen zu werten, wobei ich natürlich keine Ahnung habe, was noch auf mich zukommt. Ich hätte mich niemals als Valentinos Cousine ausgeben dürfen. Mein Smartphone vibriert, und ich werfe einen kurzen Blick auf das Display.

Isabella: Bin in der Bib. Wenn du willst, können wir gleich einen Kaffee trinken. Hast du Lust?

Seufzend entriegle ich den Bildschirm und tippe zurück.

Merle: Muss gleich los zur Arbeit. Morgen vielleicht?

Ohne eine Antwort abzuwarten, verstaue ich das Telefon in meiner Tasche und schlüpfe in den roten Uni-Hoodie, den Adriano mir schon vor Wochen aufgequatscht hat. Damals, als die Welt noch eine andere war. Dafür, dass ich mir sicher war, die vierzig Euro würden sich niemals auszahlen, trage ich ihn aktuell ganz schön oft. Passend zu meiner Stimmung ist das Wetter in den letzten Tagen umgeschlagen. Zwar ist es nicht so kalt wie in Deutschland, aber wir haben eben auch keine Sommertemperaturen mehr, und meine Schicht geht samstags häufig bis in die frühe Nacht hi­nein.

Ich schlucke den dicken Kloß in meinem Hals hinunter und verlasse das Studentenwohnheim, ohne auch nur eine Sekunde anzuhalten. Weiter und nicht denken ist das einzige Motto, das sich in letzter Zeit für mich bewährt hat. Würde ich mich nicht ständig zwingen, nach vorn zu sehen, läge ich von früh bis spät auf meinem Bett und würde mich selbst bemitleiden.

Entlang der Promenade sind die Straßenlaternen und Brückengeländer mit Lichterketten geschmückt, die in den frühen Abendstunden ein warmes, einladendes Leuchten verbreiten. Aus den Bistros kommt der Geruch von Glühwein. Gelegentlich hört man auch die erste Weihnachtsmusik. Während sich die Welt auf das Fest der Liebe vorbereitet, herrscht in mir eine schmerzhafte Einsamkeit.

»Komm erst mal rein und setz dich, Liebes!« Natalie empfängt mich, als ich die Türschwelle zum Restaurant Prezioso erreiche.

Das hat sie die letzten Male genauso gemacht. Egal, wie belegt die Tische sind, sie bringt mir erst mal einen Tee oder eine heiße Schokolade mit Haferkeksen.

Wenn man bedenkt, dass sie und Matteos Vater erst von unserer Beziehung erfahren haben, als diese quasi zerbrochen war, ist es schräg, wie sehr diese Menschen zu einer Art Ersatzfamilie für mich geworden sind.

»Schon in Ordnung. Ich bin zum Arbeiten hier«, erinnere ich Natalie auch diesmal, als sie mich in den kleinen Raum neben der Küche führt. Abgesehen von einem Tisch, der meistens zugestellt ist, werden hier hauptsächlich Vorräte gelagert. Heute stapeln sich außerdem einige Kisten mit Weihnachtsdeko.

»Irgendjemand muss das ja übernehmen …«, murmelt Natalie, als sie meinen Blick bemerkt.

Ich nicke verständnisvoll. »Wenn ich helfen kann …« Noch nie in meinem ganzen Leben war mir so wenig nach Weihnachten zumute.

»Du hilfst mir am meisten, wenn du auf dich selbst achtest. Die Gäste laufen so schnell nicht weg. Hast du schon gegessen?« Ich spüre ihren sorgenvollen Blick so intensiv auf mir, dass ich verlegen den Kopf schüttle. Obwohl ich kein bisschen Appetit verspüre, wird es mir guttun, eine Kleinigkeit zu mir zu nehmen. »Aber wirklich nichts Großes. Ich will keine Umstände machen.«

»Die hast du noch nie gemacht. Ganz im Gegenteil, du weißt hoffentlich, dass du immer herzlich willkommen bist. Auch nach Feierabend!«

»Das ist sehr lieb von dir.« Ich schlucke das Aber gerade noch rechtzeitig hinunter. Es gibt kaum etwas, das ich weniger tun möchte, als über Matteo zu sprechen. Darüber, dass dieser Ort, das Restaurant seiner Familie, mit Schmerz verbunden ist. Ich sehe überall irgendwelche Erinnerungen. Selbst auf der Toilette fühle ich mich zurückversetzt in den Moment, in dem Matteo mit diesen Theaterkarten aufgetaucht ist und ich mal wieder ins Wanken geriet, was meine Gefühle ihm gegenüber anging.

Als Natalie mit einer Schale Suppe aus der Küche zurückkommt, platzt es förmlich aus ihr heraus: »Bist du nicht schrecklich allein in diesem Wohnheim? Ich habe mit Cristiano noch mal gesprochen. Wenn du willst, könntest du vorübergehend auch hier einziehen. Vollkommen klar, dass Matteos Zimmer für dich nicht infrage kommt. Emilia würde sicher tauschen.«

»Das ist nicht notwendig. Das Wohnheim ist absolut okay.« Jedenfalls dann, wenn man darüber hinwegsieht, dass ich selbst zum Duschen gezwungen bin, aus meinem Zimmer und damit unter Leute zu gehen. Leute, die kein Problem damit haben, mich von der Seite anzuglotzen oder sogar zu tuscheln. Aber hey, selbst an diesen Umstand gewöhnt man sich irgendwann.

»Na schön. Solange ich dich zumindest hier ein bisschen verwöhnen darf, gebe ich mich geschlagen.«

»Ihr seid mir nichts schuldig.« Ich verbrenne mich beinah an der heißen Suppe.

»Oh, Merle, niemand hat gesagt, dass ich aus Schuldgefühlen für dich da sein will. So darfst du nicht denken.« Sie legt ihre Hand auf meinen Unterarm und streicht sanft über den Stoff des Sweatshirts.

»Ich wollte es nur noch mal erwähnen.«

»Und ich will es nicht noch mal hören.«

»Ich war gestern im Krankenhaus.« Mein Themenwechsel kommt so abrupt, dass ich selbst überrascht bin. Eigentlich hatte ich nicht vor, mit irgendwem über den Besuch bei Valentino zu sprechen.

»Und? Wie geht es dir damit?«

»Gemessen daran, dass ich nicht im Koma liege, ziemlich gut«, entfährt es mir ungewollt schnippisch.

»Entschuldige. Das hätte ich natürlich auch noch gefragt.«

»Alles gut. Ich bin gerade zu sensibel für diese Welt. Aber um deine Frage zu beantworten: Ich denke, ich hätte es besser lassen sollen.«

In wenigen Worten fasse ich Natalie den Besuch zusammen und berichte auch von der Begegnung mit Chiara.

»Seltsam. Hmmm. Ich kenne sie nicht gut genug, um ihre Absicht einschätzen zu können, aber wenn du willst, werde ich Cristiano bitten, den Anwalt zu informieren. Es sei denn, du hast vor, mit ihm selbst zu sprechen?«

Ich schüttle schnell den Kopf. »Nein.« Schon wieder klinge ich härter, als ich es geplant habe. Natalie kann nichts dazu. »Ich meine, nein, das habe ich nicht vor.«

Ich habe den Anwalt, den Diego für die Jungs engagiert hat, noch nicht kennengelernt. Am Abend des Filmfestivals ging alles ziemlich schnell. Jemand hat die Polizei gerufen, die die Menge schließlich auflösen musste. Wer weiß, wie das Chaos sonst geendet wäre …

Ich habe so gezittert, dass Isabella mich ins Wohnheim gebracht, mein Handy ausgestellt und Matteos Anrufe weggedrückt hat. Von ihr habe ich erfahren, dass die Jungs am nächsten Morgen verhaftet wurden.

Allein daran zu denken sorgt dafür, dass ich mich zentnerschwer fühle. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass ihr euch wünschen würdet, ich könnte ihm das einfach so verzeihen.«

»Das stimmt nicht.« Natalie und ich fahren gleichermaßen herum, als Matteos Vater das Zimmer betritt.

Cristiano sieht müde aus, richtig müde. Es würde mich nicht überraschen, wenn er seit Tagen nicht geschlafen hätte.

»Erschreck uns doch nicht so!«, mahnt Natalie und sieht zwischen mir und ihrem Mann hin und her. »Wo warst du eigentlich?«

»Spazieren.«

»Jetzt? Das Restaurant wird immer voller, und Silvio kann doch nicht alles allein machen.«

Ohne auf Natalies Worte einzugehen, schlurft er an uns vorbei, nimmt sich ein Bier aus dem Kühlschrank und öffnet den Deckel mit den Zähnen. »Was du sagst, stimmt nicht, Merle.« Schließlich sieht er in meine Richtung. »Niemand erwartet irgendetwas von dir.«

Natalie nickt langsam und dreht ihren Kopf wieder in meine Richtung. »Tu das, was für dich und dein Herz am allerbesten ist. Wir respektieren dich und unterstützen deine Entscheidungen.«

»Danke«, sage ich so leise, dass es auch als Flüstern durchgehen würde. Es rührt mich sehr, wie viel Verständnis die beiden für meine Gefühle zeigen.

»Hast du schon ein Datum für deine Aussage bekommen?«

»Jetzt lass doch gut sein, Cristiano. Sie hat doch gerade gesagt …«

»Schon okay«, unterbreche ich Natalie. »Übermorgen.«

Die ganzen letzten Tage habe ich versucht, den Gedanken an diesen Termin zu verdrängen, denn allein die Vorstellung, mit Tausenden Fragen zu Matteo durchlöchert zu werden, macht, dass sich alles in mir zusammenzieht.

Cristiano holt tief Luft. »Wenn du willst, dass dich jemand von uns begleitet, dann gib Bescheid, in Ordnung? Bitte versteh das nicht falsch. Keiner möchte dich bei irgendetwas beeinflussen.«

»Das weiß ich. Danke für das Angebot.« Lächelnd greife ich nach der leeren Suppenschale. Als Natalie mir zuvorkommen will, gebe ich nicht nach. »Zeit, mit der Arbeit anzufangen.«

Die nächsten sechs Stunden vergehen, ohne dass ich eine Pause einlege. Erstens bin ich zu beschäftigt, um mich zu fragen, ob ich zumindest mal kurz auf die Toilette muss, und zweitens gibt es einen Anteil in mir, der sich selbst etwas beweisen will.

Nein, nicht nur mir selbst. Ich funktioniere, weil ich allen um mich herum das Gefühl geben will, okay zu sein. Ich bin belastbarer, als die anderen denken. Als ich denke. Als ich mir ein Pflaster auf die brennende Ferse klebe, stelle ich schockiert fest, dass der Schmerz etwas Befreiendes hat. Solange ich mich auf die eine Wunde konzentriere, bin ich gezwungen, für ein paar Momente nicht an die andere zu denken.

Es ist kurz nach Mitternacht, als ich die letzten Gläser von den Tischen räume und kurz danach das Restaurant verlasse. Normalweise macht mir die späte Uhrzeit nichts aus. Venedig hatte in den ersten Monaten etwas Beruhigendes. Etwas beinah Unschuldiges. Doch seit ich das Video aus jener Novembernacht vor einem Jahr gesehen habe, erinnert mich das Wasser an schwarzes Pech.

Als ich ein dunkles Lachen höre, glaube ich für einen Moment, es mir nur eingebildet zu haben. Fehlt nur noch, dass aus der Lagune eine Hand emporsteigt und nach mir zu greifen versucht.

Ich habe den Verstand verloren.

Deshalb fühlt sich meine Fantasie so real an. Es ist beinah ironisch, dass mein erster Impuls, als ich die Gruppe junger Männer sehe, ein erleichtertes Ausatmen ist.

Ich bin nicht verrückt. Sie existieren tatsächlich. Sie sind zu dritt. Und sie kommen mir entgegen.

Instinktiv beschleunige ich meine Schritte, halte den Blick gesenkt.

Das ist ganz normal, versuche ich mich zu beruhigen. Wahrscheinlich haben sie hier etwas getrunken und sind auf dem Heimweg – so wie ich. Trotzdem: Jede Faser meines Körpers schreit danach, umzudrehen. Zurück zum Restaurant zu laufen.

»Du steigerst dich da rein«, murmele ich leise und zwinge mich weiterzulaufen. Als wir auf einer Höhe sind, schaue ich stur nach vorn … bis sie vorbei sind.

Ich werfe einen vorsichtigen Blick über die Schulter und stelle erleichtert fest, dass ihre Silhouetten bereits von der Dunkelheit verschluckt wurden.

Siehst du, Merle? Du bildest dir an jeder Ecke neue Gefahren ein.

Ehe ich mich erneut in meine Angst reinsteigern kann, habe ich die Nummer meiner Cousine gewählt. Olivia ist sofort dran und scheint nicht einmal überrascht, dass ich sie so spät anrufe.

»Störe ich?«, frage ich trotzdem, obgleich ich weiß, dass sie selbst dann für mich da wäre, wenn Beyoncé persönlich auf sie warten würde.

»Blödsinn. Bist du bald da, oder lohnt es sich noch, eine Gesichtsmaske aufzulegen?« Ich höre, wie es im Hintergrund raschelt. Wahrscheinlich ist meine Cousine gerade im Badezimmer. Ich sehe sie vor mir in ihrem pinken Schlafanzug, den sie von mir bekommen hat. Ich habe ihrer Tochter Josefine letztes Jahr zu Weihnachten den gleichen geschenkt, sodass sie die Dinger im niedlichen Partnerlook tragen können. Gott, wie ich die beiden vermisse.

»Bin gerade erst los.«

»Ich habe gehofft, dass du das sagst. Dein Anruf ist die beste Me-Time.« Obwohl ich weiß, dass Livi das nur sagt, weil sie mir kein schlechtes Gewissen machen möchte, muss ich lächeln. »Ich vermisse dich!« Während ich die Worte ausspreche, regt sich zum ersten Mal seit Tagen etwas in meinem Trümmerherz.

»Und ich dich erst.« Es entsteht eine kurze Pause, in der niemand von uns etwas sagt.

Ich will Livi gerade bitten, einfach weiterzusprechen. Mir irgendetwas aus ihrem Alltag zu erzählen, da setzt sie von selbst an: »Merlchen, weißt du, was ich mir überlegt habe? Robert sucht doch noch Praktikanten in seiner Firma. Die Stelle wird bezahlt.«

»Aha?« In mir steigt eine Ahnung auf, die sich im nächsten Moment bereits bestätigt.

»Ich weiß, es ist erst mal nicht das, was du machen willst. Aber wenn Robert dich einstellt, könntest du auch jetzt schon nach Hause kommen, dein eigenes Geld verdienen und quasi direkt ausziehen.«

Sofort spüre ich wieder den dicken Kloß in meinem Hals. Er breitet sich jedes Mal dort aus, wenn Livi mit mir über den Abbruch meines Auslandssemesters sprechen möchte. »Das ist echt lieb. Wirklich.«

»Kommt jetzt ein Aber?«

»Aber ich bin immer noch nicht sicher, ob ich schon bereit bin zu gehen.«

»Worauf willst du warten? Bis eine Erklärung vom Himmel fällt, in der Matteo seinen Freund nicht hat ertrinken lassen und dir gegenüber gelogen hat?« Kurz ist es still zwischen uns. »Sorry. Das wollte ich nicht …«

»Schon okay. Lass uns über etwas anderes sprechen, ja?«

Etwas knackt. Vielleicht ist es die Verbindung. Vielleicht aber auch mein Herz, das ein weiteres Mal bricht.

4. Kapitel

Merle

Am Montagmorgen ist die Luft frisch und klar, und trotzdem fühle ich mich wie gerädert. Ich stehe auf den untersten Stufen der Questura und spüre, wie sich ein Knoten aus Nervosität und Angst in meinem Magen immer weiter zusammenzieht. Mir ist hundeelend, und obwohl mein Termin erst in einer halben Stunde beginnt, war es mir unmöglich, zu Hause in Ruhe zu frühstücken, geschweige denn auszuschlafen. Ich bin nachts mehrfach aufgewacht, habe mich unruhig im Bett hin und her gewälzt und irgendwann auch noch den Fehler gemacht, Matteos Namen in die Suchmaschine einzugeben. Auf den offiziellen Seiten sind die Gesichter der Jungs zwar verpixelt, doch das hielt einzelne Internetnutzer nicht davon ab, private Aufnahmen unzensiert zu verschicken.

Ich befinde mich mitten in einem Horrorfilm.

Als die Anzeige auf meinem Handy auf acht Uhr zwanzig springt, frage ich mich, ob es wirklich eine gute Idee war, meine Freunde um Begleitung zu bitten. Doch da ist es bereits zu spät.

»Ich hab’s dir gesagt … Sie ist vor uns da.«

Schon aus der Entfernung höre ich Isabellas Stimme. Doch wider Erwarten ist sie nicht allein.

»Jetzt sag ihr bitte nicht, dass ich mich beschwert habe«, raunt Adri laut genug, sodass ich jedes Wort verstehen kann.

»Ihr seid ja beide gekommen!«, spreche ich das Offensichtliche aus.

»Na klar, wir lassen dich das doch nicht allein durchmachen.« Isabella schließt mich fest in die Arme. »Wenn du was brauchst, sind wir da. Immer.« Kaum hat sie sich wieder von mir gelöst, streicht sie ihre weiße Bluse glatt.

Was meine Outfitwahl angeht … Ich habe gestern bestimmt eine ganze Stunde vor meinem Kleiderschrank gesessen und auf die Bügel gestarrt. Nichts von meinen Sachen fühlte sich für diesen Termin richtig an. Also habe ich mich schlussendlich für ein dunkelblaues Langarmpolo und eine klassische Jeans entschieden.

»Weißt du, mit wem sie schon gesprochen haben?« Adrianos Blick wandert skeptisch über die Fassade des Polizeigebäudes.

Ich schüttle den Kopf. »Noch nicht, nein.«

Adriano pustet sich eine Locke aus der Stirn. »Müssen wir eigentlich hier draußen rumstehen?« Ohne eine Reaktion abzuwarten, setzt Adriano sich in Bewegung.

Verunsichert sehe ich zu Isabella.

»Ich hoffe, es war okay, dass ich ihn mitgebracht habe«, formt sie fast lautlos mit ihren Lippen.

»Für mich schon«, antworte ich. »Die Frage ist, ob wir ihm damit einen Gefallen tun.« Ich muss nicht weitersprechen, Isabella weiß sofort, worauf ich hinauswill. Aurora, wegen der die Jungs überhaupt in Untersuchungshaft sitzen, ist eine Freundin von ihm.

»Niemand zwingt ihn, Stellung zu beziehen. Genauso wenig wie dich und mich. Wir sind keine Richter.« Entschieden hakt sich Isabella bei mir unter.

Zwei schwere Holztüren öffnen sich langsam, und wir betreten einen geräumigen Empfangsbereich. Die Questura hat nicht viel mit einer deutschen Polizeistation gemeinsam. Alles ist so viel eindrucksvoller: Die Fresken an der hohen Decke scheinen in diesem sanften Licht zu schweben. Der Terrazzo-Boden, über den die Leute an uns vorbeigehen – hastig und mit ernsten Gesichtern, die mich vor die Frage stellen, welche Erlebnisse ihren Alltag auf links gedreht haben könnten –, ist beeindruckend.

Am Empfang werden wir von einem uniformierten Beamten begrüßt.

»Guten Tag, ich bin hier, um eine Aussage zu machen. Es geht um den Fall Valentino Ferrari«, sage ich. Meine Stimme klingt nervöser, als mir lieb ist.

»Haben Sie alle drei einen Termin?«

»Nein, wir sind nur die Begleitung«, eilt Isabella mir zu Hilfe.

Der Beamte nickt verständnisvoll. »Bei der Zeugenaussage müssen Sie aber draußen warten.«

»Natürlich.«

»Sie müssen einmal den Flur durch. Die Kollegen sind im letzten Zimmer. Es kann allerdings noch etwas dauern.«

»Kein Problem.« Ich zwinge mich zu einem höflichen Lächeln. Ob der Beamte weiß, dass ich Matteos Freundin bin?

Diese Menschen haben es mit ganz anderen Fällen zu tun. Mit Verbrechern. Richtigen Verbrechern, versuche ich mich zu beruhigen.

Der Wartebereich bietet einige Sitzplätze, die vereinzelt belegt sind. Ob die Leute wegen Tino hier sind? Ich versuche, ihre Gesichter möglichen Erinnerungen zuzuordnen, kann aber nicht mit Sicherheit sagen, ob ich einen von ihnen schon mal gesehen habe.

Noch zwanzig Minuten bis zu meinem Termin.

Ich atme tief ein, um meine aufkommende Panik zu unterdrücken, und setze mich neben Isabella auf einen der Stühle.

Als ich die Blicke einer jungen Frau auf mir spüre, habe ich keinen Zweifel: Sie weiß, wer ich bin.

»Alles okay?«, flüstert Isabella dicht an mein Ohr.

Während ich nicke, frage ich mich, wie häufig ich mit dieser Antwort in den letzten Tagen bereits gelogen habe und ob das überhaupt noch eine Bedeutung hat.

Denn nein, natürlich bin ich absolut gar nicht okay. Ich habe eine Scheißangst vor allem, was hier gleich auf mich zukommen wird. Vor Fragen, die ich nicht beantworten kann, weil ich genauso ahnungslos war wie alle anderen.

Ich versuche, starr zur Tür zu sehen. Ob ich die Nächste bin? Und kenne ich die Person, die gerade dort drinnen ist?

»Der Haftrichter, der den Fall betreut, ist noch mal getauscht worden«, höre ich die junge Frau in meinem Rücken tuscheln. »Es hieß, der Anwalt der Jungs habe da ordentlich was gedreht.«

»Ehrlich?«, fragt eine zweite Stimme, die höchstwahrscheinlich zu dem Typen gehört, der neben ihr sitzt.

Dreh dich nicht noch mal um. Lass es sein, Merle. Tu so, als wären sie unsichtbar. Ich spüre Isabellas Hand, die meine sucht. Offenbar ist auch ihr das Gespräch hinter uns nicht entgangen.

»Man kann der Justiz auch nie trauen.«

Meine Fingernägel vergraben sich so tief in der Haut meiner Freundin, dass sie mir besänftigend über den Handrücken streichelt. Ich wünschte, es wäre möglich, die Ohren zu verschließen.

»Gott, wie ich diese Verschwörungstheoretiker hasse«, raunt Isabella laut genug, dass die Gespräche hinter uns verstummen. Ein Hauch Wärme erfüllt mich bei dem Gedanken, wie viel Überwindung sie die Bemerkung gekostet haben muss. Isabella gehört in der Regel eher zu den zurückhaltenden Menschen. Und doch ändert ihre Anwesenheit nichts an der Übelkeit, die plötzlich meine Kehle hochwandert. Ich zögere einen Moment, bevor ich Luft hole. »Macht es euch etwas aus, wenn ich noch mal kurz auf die Toilette gehe?«

»Jetzt?« Adriano hebt fragend die Augenbraue.

Isabella funkelt ihn warnend an und sieht dann zu mir. »Kein Problem. Wir warten hier.«

»Danke.« Erleichtert atme ich aus. Ich muss nicht wirklich aufs Klo, vielmehr habe ich das Bedürfnis, allein zu sein. Unbeobachtet. Wenn auch nur für ein paar Sekunden. Der Flur kommt mir mit einem Mal endlos lang vor.

Als ich plötzlich wieder im Eingang der Questura stehe, spüre ich den Blick des Beamten auf mir ruhen. Wahrscheinlich fragt er sich, ob er ein Déjà-vu erlebt.

Ich will mich gerade nach den Toiletten erkundigen, da geht die Eingangstür auf.

Hektisch wische ich mir die schweißnassen Hände an meiner Jeans ab. Für einen kurzen Moment gaukle ich mir vor, es könne Matteo sein, der hier einfach so in das Gebäude spaziert. Matteo, der hier ist, um meine Hand zu nehmen. Mir zu versichern, dass alles gut werden wird. Stattdessen zittern meine Knie, und ich brauche ein paar Sekunden, um meine Sicht zu schärfen.

In all den Wochen, in denen ich im Casa Nera gewohnt habe, habe ich Giulia nur selten ohne Schminke gesehen, erst recht nie außerhalb des alten Hotels. Giulia lebt für Make-up, schöne Kleidung und Accessoires. Heute ist auf ihrer Haut nicht mal ein Hauch von Concealer zu sehen, und sie trägt anstelle von etwas Extravagantem nur einen schwarzen Trenchcoat.

Doch das ist nicht der einzige Grund, der die Situation zwischen uns seltsam fremd werden lässt. Wir stehen nur wenige Schritte voneinander entfernt, und doch kommt es mir vor, als habe sich eine Schlucht zwischen uns aufgetan. Eine Schlucht, in der wir offenbar beide unsere Sprache verloren haben. Unsere Blicke verhaken sich für wenige Sekunden ineinander. Ich habe tausend Fragen in meinem Kopf. Warum zum Teufel hat sie nichts gesagt? Wie konnte sie zulassen, dass ich mich in Matteo verliebe? Hat sie jemals in Betracht gezogen, mit mir zu sprechen?

Tausend Fragen, von denen keine einzige ihren Weg über meine Lippen findet. Ich ertrage es nicht einmal, sie länger anzusehen, und drehe mich einfach zur Seite. Vielleicht ist es sogar besser, wenn wir vorerst nicht miteinander sprechen.

Schon gar nicht jetzt. Hier. An dem Ort, an dem ich nicht sein will.

Einen kurzen Moment bin ich so darauf konzentriert, nicht in Giulias Richtung zu sehen, dass ich Diego erst bemerke, als er fast auf meiner Höhe ist. Natürlich. Sie wollte genauso wenig allein kommen wie ich.

Unsere Blicke treffen sich, und ich kann die Anspannung in seinem Gesicht ablesen. Er streicht sich das tiefschwarze Haar aus der Stirn und sieht an mir hinab, als suchte er etwas. Vielleicht will er mich auch nur verunsichern.

Ich weiß, dass er bei dem Unfall nicht dabei war. Er hat die Party vor den anderen verlassen und zu Hause gewartet. Allerdings habe ich gehört, dass davon ausgegangen wird, er habe von der Sache gewusst. Etwas anderes kann ich mir auch nicht vorstellen. Menschen wie Diego halten über alles, was in ihr Leben tritt, eine Hand. Sie kontrollieren, was zu kontrollieren geht, und betrachten den ganzen Rest mit Abscheu.

»Merle.«

Ich bin überrascht, dass er sich nicht abwendet. Diego kam mir nie wie jemand vor, der ein großes Problem mit unangenehmer Stille oder Spannung hat. Es wäre dementsprechend sehr leicht für ihn, so zu tun, als bestünde ich nur aus Luft.

»Hallo«, bringe ich hervor und ärgere mich gleich darauf, weil ich viel zu verletzlich klinge.

»Warst du schon dran?« Er legt eine Hand auf seine Brust und beginnt, mit dem silbernen Kreuz an seiner Kette zu spielen. Ich könnte schwören, dass er sie seit unserer ersten Begegnung kein einziges Mal abgelegt hat.

»Nein«, sage ich wahrheitsgemäß. »Adriano und Isabella warten drinnen.« Ich kann nicht genau sagen, warum ich diese Bemerkung noch nachschiebe. Geht es mir darum, zu zeigen, dass ich ebenfalls nicht allein bin? Dass ich Menschen an meiner Seite habe, die mich nicht im Stich gelassen haben?

Plötzlich spüre ich eine Vibration in meiner Tasche. Ich hole mein Smartphone hervor und bin erleichtert, dass Giulia und Diego den Moment zum Verschwinden nutzen.

Isabella: Brauchst du noch lang? Der Polizist ist jetzt bereit für die Vernehmung.

Ich kneife ein letztes Mal die Augen zusammen und biege den Rücken gerade. Schlagartig ist der Druck in meiner Blase vergessen.

Du schaffst das, Merle. Es wird alles gut.

Jeder einzelne Schritt wird mir helfen, die Trümmer, unter denen ich mich befinde, weiter zur Seite zu schieben.

Oder er macht alles nur noch schlimmer.

5. Kapitel

Merle

Ich löse den Blick für wenige Sekunden vom Boden und bereue diese Entscheidung sofort. Der Vernehmungsraum wirkt wie ein Ort aus Serien oder Filmen … wie aus einer anderen Welt. Einer Welt, die ich nie betreten wollte. Die Decke ist meterhoch, die Beleuchtung gedämpft. Dennoch bin ich mir sicher, dass dies nicht der einzige Grund für die düstere Atmosphäre ist. Dafür reicht die Dunkelheit, die sich in meinen Gedanken ausgebreitet hat.

Ich kann das Murmeln der beiden Beamten hören, einer von ihnen hat mir den Rücken zugewandt, der andere begrüßt mich an der Tür. »Bitte, setzen Sie sich!«

Meine Schuhe verursachen dumpfe Geräusche auf dem polierten Boden.

Ich atme tief ein und lasse mich an dem Tisch nieder, der in der Mitte des Raumes steht.

»Wir müssen noch einmal Ihre Personalien abfragen. Nur zur Routine.« Nun dreht sich der zweite Beamte auch zu mir um und setzt sich auf den Stuhl mir gegenüber. Er ist ein mittelgroßer Mann mit kurz geschnittenem Haar, das an den Schläfen bereits leicht ergraut ist.

»Ihr Name ist Merle Weber, Sie sind 22 Jahre alt und deutsche Staatsangehörige. Ist das richtig?«

Ich nicke.

»In welcher Beziehung stehen Sie zu Matteo Romano, Romeo Conti und Leandro Bianchi?«

»Ich bin … oder war Matteos Freundin«, druckse ich herum, selbst nicht sicher, wie ich die Frage beantworten soll.

»Können Sie das genauer definieren?«

»Ich bin am 21. September dieses Jahres für ein Auslandssemester nach Venedig gekommen und habe über mehrere Wochen im alten Casa Nera gewohnt.«

»Sie haben?«

»Ja, etwa fünf Wochen. Ich bin dann ins Studentenwohnheim gezogen. Es wurde kurzfristig ein Platz frei.«

»Verstehe. Haben wir die Adresse vorliegen?«, fragt er an seinen jüngeren Kollegen gewandt. Dieser blättert in seinen Unterlagen und nickt dann. »Ist vollständig.«

»Sehr gut. Wie Sie wissen, sind Sie heute hier, um uns bei den Ermittlungen die Nacht des 20. Novembers letzten Jahres betreffend zu helfen. Ihre Freunde stehen gemäß Artikel 593 des italienischen Strafgesetzbuchs im Verdacht der Omissione di soccorso.«

Unterlassene Hilfeleistung, übersetze ich automatisch. Davon war auszugehen.

»Darüber hinaus ist zu klären, was in der Nacht des 20. Novembers vergangenen Jahres wirklich geschehen ist, als ihr gemeinsamer Freund Valentino Ferrari bewusstlos von zwei zufällig vorbeifahrenden Carabinieri aus der Lagune gezogen wurde.«

Obwohl ich diesen Umstand mittlerweile natürlich kenne, zucke ich bei den Worten innerlich leicht zusammen.

»Valentino Ferrari, 24 Jahre alt, liegt nun seit einem Jahr im künstlichen Koma. Die Intensivärzte können keine Aussage über seinen Zustand treffen. Im Blut des Patienten wurde Methylendioxyamphetamin, kurz MDMA, nachgewiesen. Sie werden diese Droge vielleicht unter dem Namen Ecstasy kennen. MDMA ist eine vollsynthetische Droge, die wegen ihrer euphorisch machenden Wirkung häufig missbraucht wird und deshalb auch als sogenannte Partydroge bekannt wurde. Das Opfer war an dem besagten Abend mit seinen Freunden unterwegs. Dies belegen Videoaufnahmen, die der Freundin des Opfers Monate nach dem Tatabend anonym zugespielt wurden. Sie kennen das Video?«

Als ob sie das nicht längst wüssten. »Ich stand auf der Bühne und habe das Filmfestival moderiert, als es gezeigt wurde.«

Meine Erinnerungen genügen, um in meinem Kopf wieder dieses schreckliche Rauschen zu hören. Ein Rauschen, das meinen Körper jetzt erneut zum Zittern bringt. Ich will gar nicht wissen, was diese Bilder bei Tinos Familie auslösen.

»War es das erste Mal, dass Sie das Video gesehen haben?«

»Ja. Ich wusste nicht einmal, dass es diese Aufnahme gibt, geschweige denn, was an dem Abend passiert ist. Jedenfalls nicht in diesem …«, ich suche nach den richtigen Worten, »in diesem Ausmaß. Ich habe an Halloween von Tinos Unfall erfahren, hatte aber keine Ahnung, dass die Jungs …« Ich kann nicht weitersprechen. Es ist, als ob unsichtbare Hände meinen Hals umklammern und langsam zudrücken. Jeder Atemzug wird mühsam, und ich bemerke ein unangenehmes Engegefühl, das sich vom Kehlkopf bis in die Brust ausbreitet.

»Sie sagen also, keiner der drei jungen Männer, auch nicht Ihr Freund, habe jemals etwas in diese Richtung erwähnt?«

Nervös rutsche ich auf meinem Stuhl hin und her. »Nein … ich … Nein, ich denke nicht.«

»Sie denken?«

»Nein, ich meine, ich hatte keine Ahnung. Matteo macht viel mit sich selbst aus.«

»Zumal Sie sich ja noch nicht so lange kennen.«

Was soll das denn jetzt heißen?

Als hätte der Polizist mir die Frage von der Stirn abgelesen, fügt er eine Erklärung hinzu: »Manchmal kommt es vor, dass wir uns in Menschen täuschen. Vor allem im Anfangsstadium einer Beziehung sieht man über Zweifel oftmals hinweg.«

Ich lache trocken auf. »Haben Sie das aus einem Horoskop?« Kaum sind die Worte über meine Lippen getreten, bereue ich sie auch schon. Ich tue niemandem einen Gefallen, wenn ich negativ auffalle. Niemandem. Mir nicht und erst recht nicht Matteo.

»Was mein Kollege damit sagen wollte, ist, dass wir in alle Richtungen ermitteln müssen. Das bedeutet, dass wir keine Möglichkeiten ausschließen dürfen«, mischt sich der jüngere Polizist ein.

Ich schätze ihn nur ein paar Jahre älter als mich ein, was verrückt ist, denn in diesem Augenblick habe ich das Gefühl, dass wir in völlig verschiedenen Universen leben. Ob es daran liegt, dass er ebenso in Rätseln spricht?

»Wir stehen noch vor einigen Fragen, bei denen Sie uns vielleicht helfen könnten. Das Video, das uns vorliegt, zeigt, dass es in der Nacht zu einem Streit gekommen ist. Können Sie sich vorstellen, worum es ging?«

Ich schüttle den Kopf. »Wie bereits gesagt, das war alles lange vor meiner Ankunft hier in Venedig.«

»Das ist uns bewusst. Allerdings haben Sie mit besagten Freunden über einige Zeit in einem Haus gewohnt. Da bekommt man gewiss etwas mit. Gab es öfter Unstimmigkeiten?«