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Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern! Wenn Liebe zur Falle wird … »Loverboy – Niemand liebt dich so wie ich« ist nach »Insight« der neue süchtig machende Romance-Thriller von Bestseller-Autorin Antonia Wesseling, den man nicht mehr aus der Hand legen kann. Lola freut sich sehr, als sich ihre Mitbewohnerin Vivian in den charismatischen Pascal verliebt, denn Vivian galt immer als Außenseiterin. Nach ein paar Wochen mit Pascal ist Vivian jedoch nicht mehr wiederzuerkennen. Sie wird unzuverlässig und verstrickt sich in Lügen. Die Lage spitzt sich zu, als Vivian nach einem Streit mit Lola wie vom Erdboden verschwindet. Für Lola ist klar: Hier stimmt etwas nicht! Das fürchtet auch Elias, Vivians Halbbruder. Weil die Polizei in der Sache nichts unternehmen kann, beschließen Lola und er, Vivian auf eigene Faust zu helfen. Während sich die beiden bei ihrer Suche immer näherkommen, ahnen sie nicht, welche Grenzen Vivian für die vermeintliche Liebe längst überschritten hat … Fesselnder New-Adult-Roman mit Thrill Als eine junge Frau in die gefährlichen Fänge eines Loverboys gerät, setzt ihre Mitbewohnerin wirklich alles daran, sie zu retten … Herzklopfen, große Gefühle, Spice, Gänsehaut und Nervenkitzel: all das erwartet dich in dem New-Adult-Romance-Thriller »Loverboy – Niemand liebt dich so wie ich«. Über Antonia Wesselings ersten romantischen Spannungsroman »Insight – Dein Leben gehört mir« sagt Romy Hausmann: »Antonia Wesseling weiß genau, wie man Brustkörbe knackt, um Herzen freizulegen, mit ungefilterter Echtheit, aber stets voller Liebe und Feingefühl. Das nun also gepaart mit einem Ausflug in die Spannung – Toni, ich bin dir hemmungslos verfallen.«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 544
Veröffentlichungsjahr: 2025
Antonia Wesseling
Roman
Knaur eBooks
Wenn Liebe zur Waffe wird ...
Als Vivian den attraktiven, charismatischen Pascal kennenlernt, freut sich niemand mehr für sie als ihre Mitbewohnerin Lola. Zu lange hat Vivian unter familiären Schwierigkeiten und instabilen Beziehungen gelitten. Mit Pascal wird alles anders werden!
Doch in der Beziehung mit Pascal verändert sich Vivian zunehmend, und nach ein paar Wochen ist sie nicht mehr wiederzuerkennen. Das findet auch Elias, Vivians Halbbruder, der in seine Heimatstadt zurückgekehrt ist und sich Sorgen macht. Als Vivian nach einem Streit mit Lola nicht wiederauftaucht, die Polizei in der Sache aber nichts unternehmen kann, beschließen sie, Vivian auf eigene Faust zu suchen und ihr zu helfen. Während sich Lola und Elias bei ihrer Suche immer näherkommen, ahnen sie nicht, welche Grenzen Vivian für die vermeintliche Liebe längst überschritten hat …
»Loverboy – Niemand liebt dich so wie ich« ist nach »Insight« der neue süchtig machende Romance-Thriller von Bestseller-Autorin Antonia Wesseling, den man nicht mehr aus der Hand legen kann.
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Widmung
Vorwort
TEIL 1
1. Gone Girl
2. Lit But Lost
3. Von Ghosting und Gorillas
17. November (vor dreieinhalb Jahren)
4. Boxershorts und Boundaries
5. Episode »Endlos«
6. Whose Tanga is This?
23. Dezember (vor dreieinhalb Jahren)
7. Reality Check
8. Fahrtrichtung Neuanfang
13. April (vor drei Jahren)
9. Funkstille
05. Juni (vor drei Jahren)
10. Missed Call
TEIL 2
11. Panic Mode On
01. Juli (vor 3 Jahren)
29. August (vor 3 Jahren)
12. Find My Roomie
13. Blender oder Bruder?
14. Unkraut vergeht nicht
15. Unerwarteter Besuch
16. Plot Twist
17. Ein schrecklicher Fund
18. True Crime Vibes
19. Von Hoffnung zu Horror?
20. Stand Together oder so
21. Liar on the Dance floor
22. Unsafe
23. From Fear to Fire
24. Drama at the Door
20. Mai (dieses Jahr)
01. Juni (dieses Jahr)
25. Breathe, Baby, Breathe
26. Emotional Wipe-out
27. Dark Web of Regret
28. Truth Bombs Dropped
29. That Escalated Quickly
30. Survival Mode
31. Naked Truth
32. Von Schlangen und Löwen
33. … was du nicht siehst
34. Auf dünnem Eis
35. It’s All or Nothing
36. Lockdown
37. Fair Play
38. Fullhouse
39. Bad Liars
40. Who is Ilvy?
41. Hold My Heart
42. Stop the World
43. Penelope
44. Memory
09. August (dieses Jahr)
45. Flight, Fight or Fail
46. Wo ist Lola?
47. Showdown
48. Keine Zeit für Erklärungen
49. Code Red
50. Basement
51. Fade Away
52. Found
53. Out of Hell
54. Wo ist Penelope?
55. Not the Twist We Wanted
56. Hard Pass
57. Ugly Truth
11. November (letztes Jahr)
13. November (letztes Jahr)
30. Dezember (letztes Jahr)
30. Januar (dieses Jahr)
21. Februar (dieses Jahr)
30. März (dieses Jahr)
10. April (dieses Jahr)
23. April (dieses Jahr)
26. April (dieses Jahr)
30. April (dieses Jahr)
13. Mai (dieses Jahr)
30. Juni (dieses Jahr)
04. Juli (dieses Jahr)
06. Juli (dieses Jahr)
07. Juli (dieses Jahr)
09. Juli (dieses Jahr)
30. Dezember (dieses Jahr)
EpilogIrgendwer, irgendwann, irgendwo anders
Nachwort & Danksagung
Detailliertere Ausführung der potenziell sensiblen Themen
HILFSANGEBOTE
Bundesweites Hilfetelefon »Gewalt gegen Frauen«
Weißer Ring e.V.
Wildwasser Deutschland e.V.
Zartbitter Deutschland e.V.
Nummer gegen Kummer
Pro Familia
Telefonseelsorge
Frauenhäuser und Beratungsstellen
Opferhilfe Deutschland
KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
Für alle Mädchen und Frauen, die dachten, seine Liebe nicht verdient zu haben. Die dachten, mit ihnen sei etwas falsch. Die dachten, sich für seine Zuneigung verändern zu müssen.
Und für mein jüngeres Ich, das leider auch dazugehört.
Hey du,
ich gehe mal davon aus, dass du dieses Buch in die Hand genommen hast, weil du das Cover ganz hübsch findest. Fair enough …
Bevor du mit dem Lesen beginnst, will ich dich kurz darauf hinweisen, dass die hier behandelten Themen nicht für jeden so easy zu verdauen sind.
Lola, all die anderen und ich sind zwar fiktive Figuren, und diese Geschichte ist auch erfunden, aber das Schicksal, das in Loverboy behandelt wird, ist real. Real und brutal (wow, das reimt sich!).
Heißt: Du solltest dir bewusst sein, dass es in diesem Buch explizite Szenen gibt, in denen sexuelle und emotionale Ausbeutung stattfindet. Eine genauere Auflistung und Einordnung findest du am Ende des Romans. Diese wird dich jedoch spoilern.
Wichtig: Loverboy ist kein Dark-Romance-Roman. Hier wird nichts romantisiert, aber eben auch nichts verharmlost.
Vivi
PS: Irgendwie fuckt es mich ab, das hier zu schreiben, denn ganz ehrlich? Das Leben hält auch keine Warnung bereit.
Jetzt #Lola
»Meine Mitbewohnerin ist verschwunden.«
Die Luft riecht nach billigem Desinfektionsmittel, das in Zeiten der Corona-Pandemie überall in den Eingängen stand. Auf dem glänzenden weißen Fliesenboden hallen Schritte fremder Menschen wider, jedoch nicht laut genug, um das nervöse Klopfen meines Herzens zu übertönen. Seit ich vor neunzehn Jahren mit meinen Eltern nach Deutschland gekommen bin, war ich erst ein Mal auf einer Polizeistation. Vor etwa acht Monaten hat sich jemand in meinen Zalando-Account gehackt und Klamotten für einen absurden Betrag von achthundertdreiundzwanzig Euro bestellt. Warum ich das so exakt weiß? Weil ich ungefähr drei Wochen lang nicht schlafen konnte, aus Angst, auf den achthundertdreiundzwanzig Euro sitzen zu bleiben. Spoiler Alert: Bin ich. Und trotzdem ist das unruhige Flattern in meiner Brust, das ich nun spüre, nicht mit dem Gefühl von damals zu vergleichen.
Denn heute geht es nicht um zwei Monatsmieten für mein WG-Zimmer (mehr kann man sich als Studentin Anfang zwanzig nur leisten, wenn man aus einer reichen Familie kommt), sondern um Vivian.
»Was genau meinen Sie mit verschwunden?« Die Polizistin, die bis eben in ihre Unterlagen vertieft war, hebt den Blick und sieht mich durch die dicke Glasscheibe an.
»Sie ist seit Tagen nicht mehr erreichbar.« Während ich den Satz formuliere, beginnen meine Beine zu zittern. »Und ich mache mir Sorgen.«
Die Beamtin legt den Papierstapel beiseite, tritt aus dem Glaskasten und deutet nach rechts. »Kommen Sie, ich bringe Sie zu einem Kollegen.«
Jetzt gibt es kein Zurück mehr. Und das ist gut so.
Als wir den Flur entlanggehen, fällt mir auf, wie wuselig die Station ist. Polizisten eilen von einem Büro zum nächsten, Telefone klingeln unaufhörlich, und Stimmengewirr erfüllt die Wache. Überall scheinen hektische Gespräche und Diskussionen im Gange zu sein. Ein Beamter schiebt Akten auf einem Rollwagen vorbei, eine seiner Kolleginnen macht sich Notizen auf einem Klemmbrett und spricht dabei in ihr Handy. Scheint, als würden alle mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen wollen.
Mein Blick fällt auf eine Pinnwand voller Zettel. Die meisten sind mit Fotos bedruckt.
Vermisstenanzeigen, kombiniere ich spätestens, als ich in das Gesicht eines Mädchens sehe, von dem mittlerweile sicher ganz Berlin gehört hat. Ich zähle die Zettel mit ihrem Foto und komme auf fünf. Fünf Aufrufe an einer einzigen Pinnwand.
»Sind Sie alle an dem Fall von Penelope dran?«, frage ich den Polizisten, der plötzlich hinter mir steht. Er ist groß und schlank, hat blonde Haare und noch viel hellere Augenbrauen.
»Wir tun alles, um das Mädchen zu finden.«
»Gibt es denn schon etwas?«
»Dazu darf ich Ihnen leider keine Auskunft geben. Kommen Sie mit. Wir unterhalten uns an meinem Platz weiter.«
»Vielen Dank.« Obwohl der Polizist gefühlt doppelt so groß ist wie ich, gehe ich so viel schneller, dass ich aufpassen muss, ihm nicht in die Hacken zu treten.
»So, jetzt erzählen Sie mir doch mal, warum Sie hier sind!« H. Knast (kein Scherz, der Name steht auf einem Schild auf seinem Schreibtisch) lädt mich mit einer Handbewegung ein, mich hinzusetzen.
Ich trage eine kurze Hose, was ziemlich unpraktisch ist, weil meine Oberschenkel schon in den ersten Sekunden an dem billigen Plastikstuhl haften bleiben. Ja, ich klinge nicht, als hätte ich echte Probleme, aber solange ich mich mit der Sommerhitze beschäftige, muss ich weniger Angst haben, vor Nervosität auf meinen Schoß zu kotzen.
»Meine Mitbewohnerin heißt Vivian Schwarz und ist seit sechs Tagen nicht nach Hause gekommen.« Ich schlucke. Einmal. Zweimal. Der dicke Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, geht nicht weg.
»Wie alt ist sie?«
»Zwanzig, im September wird sie einundzwanzig.«
»Hat sie Ihnen gesagt, dass sie wegfahren will?« H. Knast hat eine Ausstrahlung, die sich als professionell beschreiben lässt. Man könnte es auch als emotionslos bezeichnen. Jedenfalls erinnert mich seine Art, Nachfragen zu stellen, eher an einen Kassierer im Supermarkt, der wissen will, warum man vergessen hat, die Tomaten abzuwiegen. Vielleicht passiert das mit Menschen, die sich für einen solchen Job entschieden haben. Man stumpft ab, um all die Ungerechtigkeiten irgendwie ertragen zu können.
Etwas in dieser Art hat uns eine Dozentin in einem Seminar erzählt. »Die Polizei muss sie fangen, Sie, als angehende Psychologinnen und Psychologen, müssen sie verstehen. Empathie ist eine Waffe, die man für sich, aber auch gegen sich selbst einsetzen kann. Lassen Sie Letzteres nicht zu!«
»Oder ist Ihre Mitbewohnerin häufiger so lange weg?«, reißt mich der Beamte aus meinen Gedanken.
Ich schüttle den Kopf. »Nein, bisher war sie das nie. Nicht in dem halben Jahr, das wir zusammenwohnen. Normalerweise ist sie maximal für zwei Nächte bei ihrem Freund.«
»Haben Sie mit besagtem Freund Kontakt aufgenommen?«
Ich hole tief Luft, bevor ich erneut ein Kopfschütteln andeute. »Das … Das ist nicht so einfach.«
»Wie meinen Sie das? Also wissen Sie nicht, ob sie bei ihrem Freund ist?«
»Nein. Ich weiß überhaupt nichts mehr. Sie wollte zu ihm, glaube ich.« Jetzt beiße ich mir auf die Lippe, und meine Zehen verkrampfen sich unter dem Tisch. Wie soll ich erklären, was passiert ist, wenn ich es selbst nicht weiß? »Vivi war so aufgelöst.«
»Was ist mit der Familie Ihrer Freundin? Haben Sie bei den Eltern nachgefragt?«
Schon wieder bleibt mir nichts anderes übrig, als den Kopf zu schütteln.
»Dann kann ich Ihnen raten, das zu tun. Vielleicht ist Ihre Mitbewohnerin nach Hause gefahren.«
»Ich kenne ihre Familie nicht.« Plötzlich dringt das Schluchzen einer Frau aus dem Flur zu uns und lässt meine Muskeln verspannen.
Empathie ist eine Waffe, die man … Ich höre die Stimme meiner Dozentin ganz weit weg. Ebenso das Weinen der Frau, was möglicherweise daran liegt, dass H. Knast aufsteht, die Tür zu seinem Büro schließt und sich zurück an seinen Schreibtisch setzt.
»Wissen Sie, ich verstehe, dass Sie sich Sorgen machen, allerdings ist Ihre Mitbewohnerin volljährig, was bedeutet, dass sie überall hingehen kann, wo sie es will. Ich schlage vor, Sie versuchen, Vivians Freund zu erreichen, und haken nach, ob er mehr weiß oder ihre Eltern kennt. Solange es keinen Grund zu der Annahme gibt, dass etwas passiert ist, können wir nichts …«
»Das ist es ja. Ich bin mir sicher, dass etwas passiert ist«, schneide ich dem Polizisten das Wort ab. Auf meiner Hand haben sich vor Aufregung rote Flecken gebildet. Los jetzt, Lola! Fang von vorn an!
Vor vier Monaten #Vivi
Unter meinen Füßen wummern Bässe. Schweiß und ein Hauch von Süße, vielleicht von einem verschütteten Cocktail, mischen sich in der stickigen Luft. Die Lichter blitzen im Takt der Musik, mal rot, mal blau – das Flimmern wirkt surreal.
Ich stehe an der Ecke der Bar und habe direkte Sicht auf einen Typen, der viel zu gut aussieht, um tatsächlich zu existieren. Früher hat meine beste Freundin Dalia immer gesagt, dass es solche Männer bloß in Filmen gibt. Das war, bevor sie mit Daniel zusammengekommen ist.
Aber dieser Typ hier spielt in einer ganz anderen Liga als Daniel. Dunkelblonde Haare fallen ihm leicht in die Stirn. Sein Gesicht ist markant, mit scharfen Wangenknochen, die in den schnellen Lichtwechseln deutlich hervortreten. Die junge Frau, mit der er spricht – sie hat wellige braune Haare –, lacht, ihre Augen strahlen, und ich ertappe mich bei dem Gedanken, auch nur für fünf Minuten an ihrer Stelle sein zu wollen. Ihre Bewegungen sind sorglos und anmutig, während er mit gestikulierenden Händen ihren Arm streift.
»Was willst du haben?«, fragt mich der Barkeeper.
Blinzelnd reiße ich mich von der männlichen Erscheinung neben mir los. »Äh, irgendwas mit Schwung bitte. Dreimal.«
Bemerkenswerter Einfluss von Mister Universum, dass ich nicht mehr weiß, was ich bestellen soll. Noch bemerkenswerter ist jedoch, dass ich nicht aufhören kann, ihn anzustarren.
In dem Moment hebt er den Kopf, sieht über die Schulter der Frau zur anderen Ecke des Raums und macht einen Schritt an der Brünetten vorbei. Gleich darauf verschlucken ihn die Lichter des Clubs.
»Midori Sour – passt das?«, fragt der Kerl hinter der Bar.
Wie elektrisiert nicke ich und zücke mein Portemonnaie. Kaum hat er mir die Getränke hingestellt, bahne ich mir damit einen Weg zurück zu unserem Platz am Rand der Tanzfläche.
»Endlich!«, ruft Helena mir entgegen. »Wir dachten schon, du hättest jemanden aufgerissen, aber …« Sie verzieht belustigt den Mund, was den Rest ihres Satzes deutlich macht: aber uns wurde klar, wie unwahrscheinlich das ist.
»Sorry, habe euch nicht gefunden.« Hastig drücke ich Helena eins der Gläser in die Hand und wende mich an Lola, die neben ihrer Freundin steht und unsere Getränke skeptisch betrachtet.
»Das soll Sprite sein?«
Verdammt.
»Wahrscheinlich hat der Barkeeper nicht aufgepasst.« Oder ich, als ich mich von dem Anblick eines Fremden hypnotisieren ließ.
»Und was ist das?« Die Flüssigkeit leuchtet künstlich grün. Eiswürfel schimmern an der Oberfläche und klirren bei jeder Bewegung. »Sieht aus, als würde ich nach drei Schlucken unter dem Tisch liegen.«
»Oder eine unchristliche Nacht mit einem Womanizer feiern. Wenn ich mich hier so umsehe, gibt es einige, bei denen ich sogar nüchtern schwach werden könnte.« Helena schürzt die Lippen.
»Da ist bestimmt nicht viel drin«, gehe ich – wenn auch etwas ausweichend – auf die ursprüngliche Frage ein, obwohl das penetrante Limettenaroma nicht über den Geruch von billigem Alkohol hinwegtäuschen kann. »Ihr könnt mich jetzt nicht darauf sitzen lassen. So ein Becher kostet sieben Euro.«
»Du hast dafür gezahlt?« Helenas Blick huscht über die Getränke, bevor sie einen Schluck nimmt. Ihre dunkelrot geschminkten Lippen hinterlassen einen Abdruck auf dem Glas, und sie fährt sich mit perfekt manikürten Fingern durch ihre schulterlangen blonden Haare. »Girl, hat dir niemand die Spielregeln erklärt? Das oberste Gesetz beim Feiern lautet, dass wir keinen einzigen Cent ausgeben. In diesem Club hättest du hundert notgeile Typen gefunden, die dir die Drinks bezahlt hätten.«
Ich nippe an meinem Getränk und runzle die Stirn. »Meinst du das ernst?«
»Klar.« Sie zuckt mit den Schultern. »Irgendeinen Nutzen muss man doch aus diesen Kerlen ziehen. Ich schwöre, es funktioniert jedes Mal, selbst beim Eintritt.«
»Lass dich nicht auf solche Ideen bringen, Vivi!« Lola hebt eine Augenbraue und stellt sich in ihren schwarzen Stiefeletten auf die Zehenspitzen, um über die Menge zu spähen. »Wir sind selbstbestimmte, unabhängige Frauen.«
Helena verdreht die Augen. »Einen Scheiß sind wir! Wir werden vom Patriarchat in jederlei Hinsicht verarscht. Als Frau ist es unser gutes Recht, die positiven Seiten vom Sexismus auszunutzen. Fressen oder gefressen werden.«
Ehe eine feministische Grundsatzdebatte entbrennt, kippe ich den restlichen Inhalt meines Bechers hinunter. Für mich sind diese sieben Euro hervorragend investiert. Sobald mein Kopf in Schwung geraten ist, fühle ich mich entspannter und schaffe es vielleicht, den Typen von der Bar zu vergessen.
»Puh, das schmeckt wie Säure.« Lola hustet. »Ist da Likör drin?«
Helena kichert. »Gönn dir doch einen Schluck der flüssigen Batterie. Seit wann bist du so wählerisch? In den ersten Semestern warst du ein Fass ohne Boden.« Sie wendet sich an mich. »Kannst du dir das vorstellen, Vivienne? Passt gar nicht mehr zu ihr, oder?«
»Vivian«, korrigiert Lola ihre Freundin, während ich so tue, als hätte ich nichts bemerkt. Mich schockiert nichts mehr, was meinen Namen betrifft. In der fünften Klasse haben sich die Jungs einen Scherz daraus gemacht, mich Kiwi zu nennen. Das Ganze ging so weit, dass unser Sportlehrer beim Halbjahreszeugnis wissen wollte, wer denn diese Vivian auf seiner Klassenliste ist.
»Keine Ahnung«, antworte ich. Generell weiß ich nicht viel über Lola. Die Lola, die ich kenne, ist verantwortungsbewusst, fast ein bisschen zu vernünftig. Auf eine Everbody’s-Darling-Art. Wenn mich die Leute von früher jetzt sehen würden … Wahrscheinlich würden sie nicht glauben, dass jemand wie Gloria De Santis mit mir befreundet sein will.
»Doch, ganz sicher. Letztes Jahr war sie immer die Erste, die sich abgeschossen hat.« Helena wackelt mit den Augenbrauen und dreht sich zu Lola um. »Fuck, du hast mich in der Erstiewoche nach einem Kondom gefragt.«
»Das war Klara, nicht ich.« Meine Mitbewohnerin lacht nervös und streicht sich eine rote Strähne aus dem Gesicht. »Und es war Teil von diesem beschissenen Wenn ich du wäre …«
Oh, von diesem Partyspiel kann ich auch ein Lied singen. Elfte Klasse. Wenn ich du wäre, würde ich Kiwi küssen oder auf Insta posten, dass ich gern mal jemandem einen blasen will.
Der Beitrag, den Sebastian zwei Minuten später gepostet hat, bekam 568 Likes.
»Das waren die besten Zeiten«, sagt Helena und seufzt. »Manchmal wünschte ich, wir könnten das noch mal erleben.«
»Schön wär’s«, bestätigt Lola sehnsüchtig.
Als die ersten Sekunden von I Can Do It With a Broken Heart durch die Boxen schallen, kreischt Helena. »O mein Gott, den Song liebe ich.«
Kichernd stellt Lola ihr leeres Glas neben das von Helena auf eine halbhohe Mauer. Dann nehmen sie sich an den Händen, werfen die Arme in die Luft, als könnten sie die Musik nicht nur hören, sondern tief in ihren Adern spüren. Als wären sie ein Teil der Musik oder umgekehrt. Ich hingegen stehe unbeholfen da und frage mich, was die Leute denken, wenn sie unser Grüppchen betrachten. Niemand würde glauben, dass ich zu ihnen gehöre, dafür sind wir zu unterschiedlich.
Während die zwei Spaß haben, bewege ich mich wie eine Puppe im Kasperletheater. Ich falle aus dem Rhythmus, bin der Geisterfahrer auf einer Autobahn.
Zeit, um auszusteigen. Ich flüchte mich ein paar Meter zur Seite und werde an einem Stehtisch mein Glas los.
Der DJ wechselt den Track, und ein jubelnder Aufschrei brandet durch die Menge. Ich kenne lediglich einen Ausschnitt des Liedes – den Refrain, der gerade auf TikTok viral geht. In den Videos bewegen sich junge Frauen zu der Musik, als hätten sie nie etwas anderes gemacht. Ob sie die Art von Menschen sind, für die es beim Profilbild die Funktion Foto aufnehmen gibt? Die Art von Menschen, die nicht stundenlang darüber nachdenken müssen, auf welchem Bild sie am wenigsten beschissen aussehen?
Im Gegensatz zu ihnen habe ich etliche TikTok-Entwürfe, die ich nie öffentlich stellen werde. Ich könnte es nicht ertragen, würden Dalia und Franzi so einen Beitrag von mir zu Gesicht bekommen. Seit dem Abitur haben wir uns nicht mehr gesehen, und trotzdem höre ich ihre Stimmen wie ein Echo in meinem Kopf.
»Du musst so tun, als wären sie dir alle egal. Die Typen spüren, wenn du sie willst. Du darfst nicht so needy wirken. Niemand will Ramschware. Sei ein Unikat.«
Unbehaglich beiße ich mir auf die Unterlippe und beobachte Lola. Bei ihr sieht diese Alle-sind-mir-scheißegal-ich-bin-ein-Unikat-Einstellung so mühelos aus. Sie lebt das einfach.
Mit einer schwungvollen Bewegung dreht sie sich zu mir um, ihr schwarzer Rock flattert leicht mit. »Los, Vivi, komm rüber und tanz mit uns!«
»Ich weiß nicht …«
Lola legt eine Hand auf ihre Hüfte und streckt die andere auffordernd in meine Richtung, während sie im Rhythmus des Songs wippt. »Na los!«, ruft sie über die Musik hinweg. Ihre Augen glitzern im wechselnden Licht, und ihr Grinsen hat diesen ansteckenden Lola-Charme, dem man schwer widerstehen kann.
Unschlüssig trete ich auf der Stelle und sehe mich um, als würde ich einen Fluchtweg suchen. Das Lied, das jetzt durch die Boxen schallt, kenne ich. Unwritten von Natasha Bedingfield. Es lief die letzten zwei Wochen in Dauerschleife, wenn Lola geduscht hat.
Sei nicht so ein Freak, murmelt eine Stimme in meinem Kopf. Kein Wunder, dass dich nie jemand dabeihaben will.
Eigentlich will ich nicht, denke ich, obwohl mein Bein bereits einen waghalsigen Schritt in Lolas Richtung macht. Und noch einen. Wieso handelt mein Körper so?
Das ist schon wieder Lolas beneidenswerte Anführer-Ausstrahlung. Von nichts und niemandem lässt sie sich kleinkriegen. Als hätte sie ihren Namen hinter meiner Stirn gelesen, spüre ich auf einmal ihre Hand auf meiner Schulter. »Macht dir das keinen Spaß?«
Ich habe ein paar Sekunden, um mir eine Ausrede zu überlegen, aber Gott, mir fällt nichts ein. Es ist jedes Mal dasselbe. Sobald ich etwas sagen will, ist mein Gehirn wie abgeschnürt. Da sind zwei verschiedene Festplatten, von denen nur die eine halbwegs normal läuft. Doch genau die spinnt, wenn ich einigermaßen cool wirken will.
Langsam bewege ich mich zu der Musik. Glaube ich. Hoffe ich. Meine Arme hängen an meinen Seiten, und ich schaffe es gerade mal, die Knie im Takt zu beugen. Ich versuche, meine Hüften kreisen zu lassen, allerdings ist es mehr ein ruckartiges Hin-und-her-Wippen, das sich überhaupt nicht so lässig anfühlt, wie ich es mir vorgestellt habe. Wie es bei Lola aussieht. Verschwende keinen Gedanken daran, wie viele Leute dich beobachten könnten. Stell dir vor, du wärst wie Lola. Denk nicht darüber nach, dass sich Mister Universum in deiner Nähe befinden könnte. Er würde eh nichts von dir wollen.
»Alles in Ordnung, Vivi?«, hakt Lola nach. Die perfekte Lola, die alles sieht. Für alle da ist. Aber für die das alles hier auch leichter ist.
»Was?« Eigentlich habe ich sie längst verstanden. Ich besitze jedoch die Eigenschaft, mir Fragen noch mal wiederholen zu lassen, um Zeit zu schinden. Zeit, um meinen Roboterkörper zu entspannen.
»Ob bei dir alles in Ordnung ist.«
»Alles super.« Zeit, um meine Lüge zu perfektionieren. Mir geht’s super. Ja, ich bin glücklich.
Ich bin kein bisschen neidisch, weil meine Eltern sich einen Scheiß für ihre Tochter interessieren und dein Vater dir die verdammten Kisten in den vierten Stock getragen hat, da unser Aufzug nicht funktioniert.
Mit Dalia war es das Gleiche.
Nein, es macht mir nichts aus, dass mein Crush lieber mit dir zum Abschlussball gehen will und du danach mit ihm zusammengekommen bist.
»Du siehst müde aus. Sollen wir gehen?« Lola ist ein harter Brocken. Anders als Dalia schluckt sie meine Antwort nicht und hört sogar auf zu tanzen. Wahrscheinlich hat sie gemerkt, dass ich nicht richtig in den Takt finde. (Alles eigentlich wie immer, doch das weiß sie ja nicht.)
»Nee, es ist wirklich alles super. Ich muss bloß diesen bitteren Geschmack loswerden.« Dieses bittere Leben. Ich wünschte, das könnte man genauso problemlos hinunterspülen. Um Lola zu beweisen, dass sie sich keine Sorgen machen muss, fange ich wieder an zu tanzen.
»Bitter? Also findest du das Zeug auch so widerlich?«
Es geht. »Ich schwöre, der Barkeeper meinte, es ist nicht viel drin.« Ja, so etwas in der Art muss er gesagt haben, während ich meine Gedanken an den heißesten Kerl des Abends verschwendet habe.
»Viel ist grundsätzlich Definitionssache, aber ich kann uns was anderes holen gehen. Vielleicht kriege ich ja jetzt eine Limo.«
Ob er zurückgekommen ist? Mister Ich-bin-zu-schön-um-wahr-zu-sein? Wohl eher nicht.
»Ich komme mit.« Die Hoffnung stirbt zuletzt.
»Bringt mir was mit, ja?«, höre ich Helena rufen, ehe wir uns einen Weg zum Bartresen bahnen.
»Eigentlich tanze ich nicht so gern«, sagt Lola in meine Richtung. »Man will halt nicht der Spielverderber sein und …« Sie stockt mitten im Satz. »Also nicht, dass ich das von dir denke. Ich meine eher, dass ich dich verstehe.«
»Alles gut. Habe ich nicht so aufgefasst.« Und selbst wenn, hätte sie recht damit.
»Danke. Ich bin froh, dass du mitgekommen bist. Wäre ich mit Helli allein, hätte sie mich längst abgefüllt.« Lola lächelt. »Die Kondomstory war übrigens wirklich nicht von mir.«
»Schade«, entgegne ich mit einem Zwinkern. Was denkt sie über mich? Dass alle grauen Mäuse prüde sind? Es ist mir vollkommen egal, mit wie vielen Typen sie Sex in der Erstiewoche hatte. Generell ist es mir egal, mit wie vielen Leuten andere Menschen Sex haben. »Hätte gern erfahren, wie die Story weiterging.«
»Dito.« Grinsend tritt Lola an die Bar. »Auch Sprite?«
Ich will einen Schritt nach rechts machen, um mich neben sie zu stellen, da drängt sich ein kräftiger Kerl zwischen uns. Gerade so kann ich seiner Schulter ausweichen und mir ein Schädeltrauma ersparen.
»Hast du keine Augen im Kopf?«, donnert eine Stimme hinter mir.
Ich setze zu einer Entschuldigung an, da überkommen mich zwei Erkenntnisse auf einmal. Erstens: Diese Stimme gehört zu keinem Geringeren als Mister Ich-bin-zu-schön-um-wahr-zu-sein. Zweitens: Seine Worte waren nicht an mich gerichtet, sondern an den Pitbull, der mir den Platz weggenommen hat.
»Sie stand vor dir an der Bar.« Auf einmal weiß ich nicht, was zuerst passiert: dass mich ein griechischer Gott verteidigt oder ebenjener den Pitbull an der Schulter packt. »Stell dich hinten an!«
Das muss ein Traum sein.
»Was interessiert es dich?«, blafft Pitbull mit geweiteten Nasenlöchern. »Gehört dir der Club?«
Oh, shit. Die Augen des blonden Kerls verengen sich bedrohlich. »Mir gefällt nicht, wenn ein Mann seine Manieren vergisst.«
»Wer hat dir denn ins Gehirn geschissen?« Der Pitbull winkt ab. »Wenn’s dich glücklich macht …« Er tritt zurück und macht Platz für mich. Und ich? Ich bin zu verdattert, um mich zu regen.
»Also, willst du was?«, fragt Lola unbeeindruckt. Als ich sie nur perplex ansehe, schnippt sie mit den Fingern vor meinem Gesicht. »Hallo, Vivi?«
Noch immer keine Reaktion.
»Dann diesmal Sprite, oder?« Wortlos nicke ich, woraufhin Lola bestellt. Als meine Mitbewohnerin wenig später die Gläser von der Bar nimmt, schenkt sie Mister Ich-bin-zu-schön-um-wahr-zu-sein ein Lächeln. »Danke.«
»Kein Ding. Seid ihr zum ersten Mal hier?« Lässig lehnt er sich gegen den Tresen und beobachtet uns.
Okay, ciao. Egal, was ich gesagt habe, ich träume. Definitiv. So was passiert nicht in Wirklichkeit. Oder vielleicht schon, wenn du mit Lola unterwegs bist?
»Jep.« Lola sieht den Typen nicht mal an. »Kommst du, oder willst du noch etwas?«, fragt sie mich.
Was ist in sie gefahren? Warum sollten wir weg, wenn das Universum es ausnahmsweise gut mit mir meint?
Dem Typen entgeht ihre knappe Art nicht. Unbeeindruckt hebt er einen Mundwinkel, dann wandert sein Blick zu mir. Ganze drei Sekunden sehen wir uns an. Einfach so. Himmelblau trifft auf Kackbraun. Letzteres ist natürlich meine Augenfarbe.
»Vivi? Kommst du?« Lola durchbricht meinen magischen Moment. Sie zerstört ihn, aber ich darf ihr nicht böse sein, schließlich verdanke ich es ihr, dass er überhaupt zustande gekommen ist. Ich sollte dankbar sein. Für die drei Sekunden, in denen ich ein bisschen Luft aus ihrer Welt schnuppern durfte, aus der Welt der Nicht-Unsichtbaren.
Kaum habe ich Lola eingeholt, erklärt sie: »In meinen schwitzigen Händen schmelzen die Eiswürfel in unseren Gläsern.«
»Verstehe.« Ich bin noch nicht bereit, meinen Once-in-a-lifetime-Moment gedanklich ziehen zu lassen.
»Was ist denn los?«
Wie kann ein Mensch so aufmerksam sein wie Lola? In meinem Kopf dreht sich plötzlich alles. »Nichts.«
»O mein Gott, warte.« So wie sie die Augen aufreißt, dämmert ihr etwas. »Du hast den Typen gut gefunden, oder?«
Perplex starre ich sie an. Und nicke. Ich gebe zu, dass ich, Vivian, einen Typen anschmachte, der nicht nur in einer anderen Liga spielt, sondern dessen Universum für gewöhnlich nicht einmal mit meinem kollidiert.
»Fuck, ich hab’s zu spät gecheckt. Lass mich das wiedergutmachen.«
»Was?« Meine Augen weiten sich. »Lola, wa…«
Aber schon ist sie an mir vorbei in die Richtung, aus der wir gekommen sind. Will sie etwa … Nein, will sie nicht. Okay, Scheiße, sie will es wirklich. Unter meiner Haut kribbeln die elektrisierten Nerven, während ich beobachte, wie Lola auf den Fremden zusteuert, auf seinen Rücken tippt und dann zu mir deutet.
Ich versinke im Erdboden.
Nur offenbar nicht schnell genug.
Denn da sind sie wieder. Seine Augen. Wie Magnete ziehen sie mich an.
Mister Ich-bin-zu-schön-um-wahr-zu-sein kommt auf mich zu, die Welt löst sich auf, und möglicherweise versinke ich doch nicht. Ich träume auch nicht. Ich … sterbe. Ist es deshalb so hell? Und ich dachte, seine Schönheit blendet mich.
»Deine Freundin sagt, dass ich dir ein Getränk schulde.« Er lächelt. Mister Ich-bin-zu-schön… Verdammt, sein Spitzname ist zu lang für mein Chaoshirn. Mister Universum muss fortan reichen. Passt auch perfekt zu diesem schicksalhaften Augenblick.
»Meine Freundin?« Die bessere Frage wäre »ein Getränk?« gewesen. Oder ob er mich heiraten will. Statt einer Mitgift hätte ich kackbraune Augen zu bieten. Die sollen treu sein, sagt man. Wenn das nichts ist.
Er grinst nur in sich hinein. »Welcher Drink darf’s sein?«
Fieberhaft überlege ich, was ich erwidern könnte. Etwas, das nicht peinlich oder total daneben klingt. Was würde Lola sagen? Mit Sicherheit irgendeine schlagfertige Antwort! Wo ist Lola überhaupt?
»Sollte nicht die Person jemanden auf ein Getränk einladen, die einfach abgehauen ist?«, ist das Beste, was ich hervorbringe. »Als Entschuldigung, meine ich.«
»Theoretisch.« Er tut so, als würde er überlegen. »Aber ein Gentleman lässt eine schöne Frau nicht kampflos ziehen.« Betörend macht er einen Schritt auf mich zu und sieht unter seinem geschwungenen Wimpernkranz auf mich herab. »Und ich würde meinen Fehler gern wiedergutmachen.«
In meinem Körper breitet sich ein Kribbeln aus. Ich kann mich gerade noch davon abhalten, zu fragen, was er dann ausgerechnet bei mir macht. Bei mir.
»Wie heißt du?«
»Vivian. Und du?«
»Vivian«, wiederholt er, den Blick wie ein Raubtier auf mich geheftet. »Die Lebendige.«
»W…was?«
Die Art, wie er mich mit geneigtem Kopf mustert und seine sinnlichen Lippen befeuchtet, ruft ein verlangendes Ziehen zwischen meinen Beinen hervor. »Ich frage mich, wie lebhaft du bist, wenn du alles von dir preisgibst.«
Mit trockenem Hals starre ich ihn an. »Ich bin langweilig«, rutscht es mir heraus.
»Oh, das bezweifle ich, Vivian.« Der Kerl richtet sich zu seiner vollen Größe von mindestens eins fünfundachtzig auf und verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Ich bin Pascal. Rum-Cola?«
»Wie bitte?«
Sein Grinsen wird breiter. »Gute Wahl.« Das war seine, nicht meine. Gott, warum finde ich diese dominante Ich-kann-sie-alle-haben-Art so sexy?
Er macht einen Schritt zur Seite, dreht sich langsam zur Bar und sieht dann noch einmal zu mir. Als würde er warten, dass ich ihm folge. Oh, fuck … Genau das tut er auch. Warten. Dass. Ich. Ihm. Folge.
Und ich tue es. Natürlich tue ich es.
»Wie gefällt es dir hier?«, fragt er, sobald wir an der Bar ankommen.
»Hier? Äh …« Ich bremse mich, bevor ich verrate, dass ich keine Partymaus bin. Sei cool! Sei wie Lola! Oder wie eine der etlichen jungen Frauen um dich herum, mit denen Pascal sich unterhalten könnte.
Aber er tut es mit mir. »War bisher ganz lustig.« Lustig?! Zum Glück geht er nicht weiter auf meine Antwort ein.
Als der Barkeeper mir eine kalte Rum-Cola zuschiebt und Pascal bezahlt, erwarte ich, dass jeden Moment der Vorhang aufgeht und jemand laut »reingelegt« ruft. Dass alle in Gelächter ausbrechen, weil sie es geschafft haben, mich hochzunehmen.
Doch nichts davon geschieht. Pascals Aufmerksamkeit liegt weiterhin auf mir. Habe ich einen Fiebertraum?
»Sorry. Wegen Lola, meine ich. Sie wollte nicht unverschämt sein oder so. Wenn du willst, kann ich sie suchen.«
Wieso. Bin. Ich. So?
»Lola?« Er nippt an seinem Drink. »Deine Freundin?«
Ich nicke.
»Verstehe.« Seltsamerweise sieht er nun so aus, als würde er es tatsächlich tun. Als würde er alles verstehen. »Du denkst, dass ich euch angesprochen habe, weil ich mit deiner Freundin flirten wollte?«
Fuck.
»War es denn nicht so?« Ausnahmsweise bin ich offensiv. Es ist besser, wenn ich mich nicht in eine alberne Fantasie hineinsteigere, sondern das Pflaster schnell abreiße.
Pascal tritt näher an mich heran, und für eine halbe Sekunde halte ich die Luft an, aber zu spät. Verdammt, der Duft seines herben Aftershaves zieht mich schon in seinen Bann. Das war’s mit Dalias Nicht-so-leicht-zu-haben-sein-Devise.
»Nein«, durchbricht seine raue Stimme mein benebeltes Hirn. Vier kleine Buchstaben, und plötzlich scheint alles außerhalb dieser pulsierenden Blase irrelevant.
»Der Grund, weshalb ich euch angesprochen habe«, knurrt er nahe an meinem Ohr, »warst du, Vivian.«
Und auf einmal ist es, als hätte ich mit einem Atemzug eine neue Welt betreten.
Vor vier Wochen #Lola
»Wenn sie noch kommt, kaufe ich mir einen Gorilla.«
»Es ist erst fünf nach drei. Zwanzig Minuten Verspätung können mal passieren. Vielleicht hat sie die Bahn verpasst und ihr Akku ist leer«, halte ich zugegebenermaßen schwach dagegen.
»Ich denke, ich werde ihn Charlie nennen.« Während Helena die halbe Parkbank in Beschlag genommen hat, sitze ich mit überkreuzten Beinen auf der frisch gemähten Wiese und überfliege meine Notizen.
»Hör auf, dich über mich lustig zu machen! Ich habe ehrlich gedacht, dass sie auftauchen würde.«
Helli schnaubt amüsiert. »Süße, ich hasse es, dich desillusionieren zu müssen. Echt. Aber gerade fühle ich mich, als müsste ich meiner fünfjährigen Cousine erklären, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt und ihre Nintendo Switch ziemlich sicher vom Konto meines Onkels abging.« Bevor ich etwas erwidern kann, fährt Helli fort. »Trotzdem sage ich dir, was Sache ist: Deine bezaubernde Mitbewohnerin kann sich von ihrem Herzallerliebsten nicht losreißen und hat das Treffen mit dir vergessen.« Seufzend pustet sich meine Freundin eine blonde Strähne aus der Stirn. »Wie kann es sein, dass ich Vivian besser kenne als du?«
Tut sie nicht. Ich will meine Hoffnung nur nicht vollends begraben.
»Wir haben heute Morgen noch geschrieben.« Wem zur Hölle mache ich mit meinen Argumenten eigentlich etwas vor?
»In der Welt der Verliebten sind sechs Stunden ein ganzes Jahrzehnt. Gott, ich wünschte, ich wäre auch mal wieder so verknallt, dass ich alles um mich herum vergesse.« Helli hält das Gesicht in die Sonne, als hätte der Berliner Tiergarten sich in ihr persönliches Solarium verwandelt. Obwohl wir erst Mitte Juni haben, halten die Temperaturen gut mit, und auf meiner Schulter prangt bereits eine rot brennende Quittung. Vielen Dank an Mutter Natur, die sich beim Stichwort Hauttyp so gar nicht von den italienischen Genen meines Vaters beeindrucken ließ. Fehlt nur noch, dass ich morgen früh einen Abdruck des Collegeblocks auf meinen Oberschenkeln habe.
»Ich hätte lieber ein fertiges Interview«, erkläre ich und puste einen Marienkäfer von meinen Notizen.
»Und damit bist und bleibst du für mich eines der größten psychologischen Phänomene.« In Hellis Stimme schwingt so viel Tragik mit, dass ich meine Lebenseinstellung für ganze drei Sekunden infrage stelle. (Und drei Sekunden sind ziemlich viel für jemanden, der den Begriff des überzeugten Singles erfunden haben könnte.)
»Mal ernsthaft, Lola, warum wollt ihr euch auch im Park treffen? Wenn man zusammenwohnt, wäre es viel naheliegender, das Interview in der WG zu führen.«
»Danke für den Hinweis«, grummle ich. »Als hätte ich das nicht bereits probiert. Vivi ist kaum noch da, und ich habe gehofft, dass sie mich bei einer offiziellen Verabredung nicht versetzt.« Oder wenigstens an ihr scheiß Handy geht!
»Kannst du dir für dein Interview nicht jemand anderes suchen? Gibt doch genug Scheidungskinder.«
Damit hat sie nicht ganz unrecht.
»Statistisch gesehen ist jede zweite Ehe mittlerweile geschieden«, schießt es mir automatisch aus dem Mund.
»Na siehst du? Wie wäre es mit dem kleinen Rumtreiber?« Helli muss die Augen einen Spalt geöffnet haben, denn ihre ausgestreckte Hand deutet zielsicher auf einen Jungen, der in der Ferne seinen Fußball vor sich herkickt. »Eine Fünfzig-Prozent-Trefferquote ist ein Geschenk Gottes. Du musst also nur zu dem Knirps gehen und fragen, ob er mit dir über einen potenziellen psychischen Knacks sprechen würde.«
»Sehr lustig.« Ich presse die Lippen aufeinander, lasse den Blick über die verstreuten Blätter schweifen und bleibe schließlich bei dem Jungen auf der Wiese hängen. »Weißt du was? Wenn ich ein Kind hätte, könnte ich es vermutlich keine Sekunde aus den Augen lassen.«
»Du meinst wegen Penelope?« Überrascht von dem abrupten Themenwechsel, setzt sich Helli auf. »Nee, das kannst du nicht vergleichen. Wenn du mich fragst, sind die Täter auf einen Haufen Lösegeld aus. Die schnappen sich nicht irgendein Kind.«
Gedankenversunken schüttle ich den Kopf. »Unwahrscheinlich. Wenn das Motiv Geld ist, melden sich die Entführer schnell, um an die Kohle zu kommen, und das Mädchen ist seit zwei Wochen verschwunden.«
»Gott, ich hoffe, sie fassen die Kerle, die das getan haben.«
»Ich auch.« Als ich wieder in Richtung des Jungen schaue, ist nichts mehr von ihm zu sehen. Vielleicht ist ihm das Kicken allein zu langweilig geworden. Genauso wie mir das Warten. Ich knülle eins meiner Blätter zusammen und blicke ungeduldig auf die Anzeige meines Smartphones. 15:21 Uhr. Seit über vierzig Minuten sitzen wir hier. »Lass uns gehen. Schade für deinen Gorilla.« Und für meinen Fragebogen. Die naive Hoffnung hat sich in meinem Bauch zu einem schweren, kalten Knoten zusammengezogen.
»Mein Vermieter erlaubt eh keine Haustiere«, sagt Helli und schnappt sich ihre Tasche.
Die Sonne malt helle Flecken auf den Weg und taucht alles in ein goldenes Licht.
»Sorry, dass wir meinetwegen hergekommen sind«, murmle ich.
»Oh, du musst dich nicht bei mir entschuldigen.« Helli winkt ab. »Wenn überhaupt, dann bei diesem süßen Minikleid, das mir wahrscheinlich jemand weggeschnappt hat. Ich habe online gesehen, dass sie es jetzt im Angebot haben, und wollte es mir heute Nachmittag kaufen.«
»So wie ich dich kenne, findest du morgen ein besseres.«
»Wag es nicht einmal, so etwas zu denken! Dieser Schnitt war perfekt. Meine Möpse sahen aus wie die von Marilyn Monroe in ihren besten Jahren.« Sie verdreht dramatisch die Augen.
»Wir können nachsehen, ob es noch da ist. Vielleicht hast du Glück, und es hat nur auf dich und deine Brüste gewartet.«
»Vielleicht. Vielleicht wollte eine höhere Macht aber auch, dass wir ein Eis essen gehen, weil ich nicht mehr in das 38er-Kleid passen muss.« Helli grinst. »Weißt du, wenn man es so sieht, hast du meinen Sommer gerettet.«
»Na wenigstens etwas.« Genau in dem Moment vibriert mein Handy. Kurz habe ich Hoffnung, dass es Vivi ist, stattdessen will mein Papà wissen, ob ich morgen eine Stunde früher in der Buchhandlung sein kann.
Papà
Bitte mach dir keinen Stress, il mio tesoro. Das Studium geht immer vor.
Das schlechte Gewissen bohrt sich wie ein Pfeil in meine Brust. Seit mehr als einem halben Jahr habe ich keine einzige Vorlesung mehr besucht, und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, mache ich ausgerechnet meinem Papà diesbezüglich etwas vor. Erstens, weil ich ihm unmöglich die Wahrheit sagen kann, und zweitens, weil dieser Zustand bald vorbei sein wird. Das Interview ist Teil meiner ersten Hausarbeit seit neun Monaten.
Ich antworte noch im Gehen.
Lola
Tutto bene, Papà. Reicht zwölf Uhr?
Kaum habe ich auf Senden gedrückt, leuchtet eine Benachrichtigung von Instagram auf. Vivi hat eine neue Story hochgeladen. Keine fünf Sekunden später ist ihr Profil geladen; der grüne Kringel verrät, dass dieser Beitrag ausschließlich für enge Freunde sichtbar ist.
Helli linst mir im Gehen neugierig über die Schulter. »Und?«
»Ich wette, wegen Pascal«, brumme ich. »Sie darf kein Bild veröffentlichen, auf dem man ihn richtig sieht.«
»Bitte?« Hellis Brauen schießen in die Höhe. »Wenn ich so aussehen würde wie er, würde ich mich der ganzen Welt zeigen. Am liebsten nackt. Ich meine, normalerweise stehe ich nicht auf blonde Kerle, aber hast du diese blauen Augen gesehen?«
Ohne auf ihre Bemerkung einzugehen, tippe ich die Story-Bubble an. Auf dem Foto – es ist ein einfaches Selfie – sitzen Pascal und Vivi strahlend in einem Café, sie hat ihren Kopf an seine Schulter gelehnt.
»Ist es fies, wenn ich sage, dass ich nicht damit gerechnet habe, dass aus den beiden etwas wird?«
»Ja, ist es.« Rasch ziehe ich das Handy weg und schließe die Story.
»Hatte Vivian vorher schon mal einen Freund?«
»Keine Ahnung.« Bisher haben wir nicht viel über unser Liebesleben gesprochen.
»Ist ja auch egal.« Helli hakt sich bei mir unter. »Sie sieht jedenfalls glücklich aus.«
Ja, das tut sie. Und das ist schließlich alles, was zählt.
Inmitten des Berliner Stadtlebens ist der große Balkon, der zu unserer WG gehört, so was wie ein Sechser im Lotto. Um das Geländer ranken sich üppige Weinreben, die uns von der Straße abschirmen; eine grüne Barriere, die sich gegen das Grau der Stadt erhebt. Die Sitzgarnitur gehört Vivian. Sie besteht aus dem kleinen Sofa mit abgenutzter Polsterung, einem hellen Holztisch (die Kaffeeflecken konnte weder der Sommerregen noch unser gründliches Schrubben beseitigen) und zwei klapprigen Stühlen. Die Lichterketten, die mehr und mehr im Wein verwachsen, gehen auf mein Konto. Selbst bei achtundzwanzig Grad passt das warme Licht perfekt ins Bild.
Gerade als ich die Teller abgestellt habe, höre ich Schlüssel im Flur klirren. Erleichtert atme ich auf. Vivi kommt nur eine halbe Stunde später als erwartet.
Kurz darauf vernehme ich Schritte, dann ein »Hey, bin wieder da«, und schließlich taucht meine Mitbewohnerin in der Küche auf. Jedenfalls glaube ich, dass es Vivi ist, denn ich brauche einen Moment, um sie zu erkennen.
»Wow!«, entfährt es mir.
»Na, was sagst du?« Sie dreht sich im Kreis, um mir die neue Frisur zu präsentieren. »Wie ein anderer Mensch, was?«
»Du siehst super aus.« Die braunen Haare sind um einiges kürzer, fast schulterlang, und statt des Ponys fallen ihr leicht gestufte Strähnen weich ins Gesicht. Auch die Farbe ist dunkler, beinahe schwarz, was ihren Look zusätzlich markanter macht.
»Ich konnte das öde Braun nicht mehr sehen. Hab mich erst nicht getraut, bis Pascal meinte, dass es mir sicher gut stehen würde.«
Verstehe. Was Pascal sagt, ist mittlerweile so etwas wie ein ungeschriebenes Gesetz.
»Die Friseurin hat mir genaue Anweisungen gegeben. Das richtige Shampoo, eine Kur … Ich hatte keine Ahnung, dass Haarewaschen so kompliziert sein kann.«
»Lass dir bloß keine überteuerten Produkte andrehen«, warne ich sie. »Die werfen mit Werbeversprechen um sich und ziehen dir am Ende nur das Geld aus der Tasche.«
»Ja, der Kram ist sauteuer. Für Frisur und Produkte haben wir fast sechshundert Euro ausgegeben. Zum Glück hat mir Pascal das Geld vorgestreckt. Er wollte es mir sogar schenken, aber ich werde es ihm bald zurückzahlen.«
»Wow, ganz schön großzügig«, bemerke ich. »Hat er nicht letztens auch die neuen Klamotten bezahlt?«
»Ja, er meinte, er habe ja auch was davon.«
»Von deinem Aussehen?« Ich muss schmunzeln.
Meine Mitbewohnerin fährt sich mit einer Hand durch ihre Haare und lässt die glänzenden Strähnen zwischen ihre Finger gleiten, bevor sie sie locker hinter ein Ohr streicht. »Er hat etwas davon, wenn ich gut aussehe und mich wohlfühle. Wie gesagt, ich zahle es ihm trotzdem zurück.«
Jetzt beugt sie sich hinunter, um einen Blick in den Ofen zu werfen. In Erwartung eines freudigen Lächelns – Lasagne ist Vivians Lieblingsessen – trifft mich ihr trockenes »Du hast gekocht?« etwas unvorbereitet.
»Jup. Ich dachte, wir können danach das Interview durchgehen? Ich würde das echt gern fertig machen.« Der Nachmittag mit Helli in der Stadt hatte neben zwei Kugeln Zitroneneis auch den Vorteil, dass mir die geplatzte Verabredung im Park halb so schlimm vorkommt.
»Ah, ja klar. Mist, das hatte ich gar nicht mehr auf dem Schirm.« Schuldbewusst verzieht Vivi das Gesicht.
»Ich weiß«, antworte ich eine Spur zu schnell. »Kein Problem! Wir sind in der Zeit, und zuerst essen wir ohnehin. Ich habe draußen gedeckt.«
Vivi nickt, ehe sie an mir vorbei auf den Balkon tritt. »Wie schön! Das sieht gemütlich aus.« Ihre Stimme klingt hell, fast zu betont, und sie streicht nervös über den Türrahmen, als würde sie sich an etwas festhalten müssen. Irgendwie wirkt ihre Freude aufgesetzt.
Als ich die dampfende Auflaufform zehn Minuten später auf den Tisch gestellt habe, nimmt sich Vivi eine kleine Portion.
»Hattest du einen schönen Tag?«, frage ich und scanne ihr Gesicht ab. Das Lächeln auf ihren Lippen wirkt oberflächlich. Wie eine hauchdünne, aufgezeichnete Linie, die mit einem billigen Radiergummi in Sekunden wegradiert werden könnte.
»Sehr. Ich bin bloß etwas erschöpft«, murmelt sie und stochert in ihrem Essen herum. »Lass uns mit dem Interview loslegen, ja? Ich bin morgen früh verabredet.«
»Mit Pascal?«, frage ich und schneide mir ein weiteres Stück Lasagne ab.
»Ja«, kommt es knapp zurück.
»Wie schön! Dann seht ihr euch wieder häufiger?« Neulich hat Vivi erwähnt, er habe aktuell weniger Zeit für sie.
»Es geht. Gerade ist alles etwas stressig.«
»Falls du magst, kannst du ihn auch mal in die WG einladen. Wenn ich hier bin, meine ich.« Ein bisschen Neugierde ist sicher nicht verboten. Bisher habe ich den Eindruck, dass sich die beiden häufig vor mir verstecken.
»Mache ich. Hast du da die Interviewfragen drin?« Ihr Blick geht an mir vorbei zu dem Collegeblock, den ich auf den freien Stuhl gelegt habe.
»Genau. Du musst nichts beantworten, was dir zu persönlich ist. Wobei das Gesprächsprotokoll am Ende sowieso niemand außer meiner Dozentin lesen wird. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich eine Sprachmemo machen.«
Vivi nickt kaum merklich.
Ich schiebe meinen Teller zur Seite und ziehe stattdessen den Block zu mir heran. »Du kannst ruhig weiter … ähm … essen.« Mehr als ein paar Gabeln hat sie bisher nicht zu sich genommen.
Ich positioniere mein Handy auf der Mitte des Tisches und lese Vivian die ersten Fragen vor. Zwar antwortet sie mir, wirkt jedoch während des gesamten Gesprächs abwesend.
Als das Interview zu Ende ist, halte ich inne und schiebe meine Notizen beiseite. »Ist wirklich alles okay bei dir?«
»Ja, klar.« Vivi legt ihre Gabel vorsichtig auf den Teller. »Also eigentlich schon. Es ist nur … Ich habe auf dem Heimweg mit Pascal gegessen.«
»Oh.« Das erklärt wohl das Herumstochern in der Lasagne. »Warum hast du nichts gesagt?«
Vivi senkt ihren Blick auf den Tisch. »Ich wollte dich nicht enttäuschen.«
»Ach was! Wo wart ihr denn?«
»Beim Koreaner.«
»Haben die dienstags nicht geschlossen?«
»Nee.« Auf meinen verwirrten Gesichtsausdruck hin fügt sie ein »Also wir waren woanders« hinzu. Dass sie sich in ihren eigenen Worten verheddert, scheint sie selbst zu bemerken. Jedenfalls fuchtelt sie auf einmal mit den Händen herum und stößt beinahe ihr Glas um.
Im letzten Augenblick fange ich es ab und verhindere eine mittelgroße Sauerei. »Wenn du Pascal mal zu uns einlädst, dann am besten, wenn ihr vorher nichts gegessen habt. Sonst muss ich die Lasagne wieder allein vertilgen«, versuche ich es mit etwas Leichtigkeit.
»Ich werde ihn fragen, versprochen.« Zögerlich leckt sie sich über die Lippen. »Es kann allerdings etwas dauern. Aktuell ist er viel unterwegs, und ich möchte ihm keinen zusätzlichen Stress machen. Die letzten zwei Wochen war er zwischendurch immer in Hamburg bei seiner Schwester.«
»Er hat eine Schwester?« Obwohl die beiden schon knapp drei Monate ein Paar sind, weiß ich kaum etwas über Pascal. Sicher ist das auch einer der Gründe, weshalb ich ihm gegenüber skeptisch bin. Je weniger wir einen Menschen kennen, als desto bedrohlicher empfinden wir ihn. Wobei Studien gezeigt haben, dass Personen mit höherem Testosteronspiegel in der Regel misstrauischer auf Fremde reagieren als andere. (Eine der letzten Vorlesungen, die ich besucht habe, war evolutionäre Psychologie.)
Vivi nickt. »Sie stehen sich sehr nah. Gerade macht seine Schwester eine echt harte Zeit durch. Es ist …« Sie schluckt mehrfach hintereinander. »Sie hat vor Kurzem ihr Baby verloren. Im siebten Monat. Autounfall. Verständlich, dass Pascal sich erst einmal um sie kümmert. Zumal ihr Partner am Steuer saß und lange im Krankenhaus war.«
Bei Vivis Worten wird mein Mund trocken. »Wie schrecklich. Hast du sie kennengelernt?«
Vivi schüttelt den Kopf. »Nicht persönlich. Ich war dabei, als sie telefoniert haben und er es erfahren hat. Es gibt sogar einen Artikel über den Unfall.« Sie zückt ihr Handy, entsperrt den Bildschirm und tippt ein paarmal darauf herum, bevor sie es mir unter die Nase hält.
»Familientrip endet in großem Unglück. Frau verliert Ungeborenes bei schwerem Verkehrsunfall«, lese ich leise vor. Ich starre auf das Bild unter der Überschrift – ein Polizeiwagen auf einer Landstraße – und frage mich, wie es wohl sein muss, so etwas durchzumachen. Als ich versuche, die Details zu verdrängen, die unweigerlich vor meinem inneren Auge auftauchen, zieht sich mein Magen zusammen.
»Das Letzte, was sie aktuell braucht, sind fremde Menschen um sich herum. Ich glaube, Pascal hat ein schlechtes Gewissen, weil er weniger Zeit für mich hatte. Jedenfalls meinte er das vorhin beim Friseur.«
»Weniger Zeit? Du bist ständig mit ihm unterwegs«, werfe ich irritiert ein.
»Ja, also natürlich immer noch, aber nicht mehr pausenlos. Was völlig normal ist.«
Ich runzle die Stirn. Wenn man mich fragt, haben sich die beiden seit dem Tag ihres Kennenlernens ununterbrochen gesehen. Meistens kommt Vivi nur abends zum Schlafen zurück in die WG, manchmal erst nachts.
»Dann hattet ihr heute zumindest einen schönen Nachmittag«, sage ich, weil ich unsere unterschiedlichen Auffassungen von »viel Zeit miteinander verbringen« gar nicht weiter thematisieren will. Sicher ist es so, wie Helli gesagt hat. In der Welt der Verliebten gilt eine andere Zeitrechnung. Da sind fünf Minuten ohne den anderen das Gleiche wie fünf Wochen.
»Total. Er wollte eben, dass ich mich wohlfühle. Du weißt ja, dass ich oft unsicher war, wie ich meine Haare tragen soll.«
»Stimmt. Wobei du eher daran gedacht hast, sie dir ganz kurz zu machen.« Vor ein paar Wochen habe ich einen albernen Filter gefunden und mit Vivi zusammen sämtliche Frisuren ausprobiert.
»Das war bloß eine Spinnerei. Pascal meinte, das hier würde mir viel besser stehen.«
»Verstehe.« Ich nicke langsam und lasse meinen Blick über Vivis Haare schweifen. Es passt zu ihr, auch wenn ich mich an die Veränderung gewöhnen muss.
Jetzt beißt sie sich auf die Lippe. »Ähm, und wegen heute … Sei nicht sauer, weil ich dich gleich zweimal versetzt habe. Es tut mir wirklich leid.«
»Schon vergessen«, murmle ich, rutsche vom Stuhl und nehme Vivi in den Arm. »Das Wichtigste ist, dass es dir gut geht und dass du glücklich bist. Und das bist du ja, oder?« Meine Stimme klingt eigentlich wie immer. Bis auf den Hauch an Zweifel, den ich plötzlich nicht mehr zurückhalten kann.
»Sehr«, kommt es schnell, beinahe fluchtartig über ihre Lippen. Fast ein bisschen so, als hätte sie Sorge, ihre Antwort könnte im nächsten Moment anders ausfallen.
#Vivi
Liebes Tagebuch,
es ist spät, und ich sollte längst schlafen. Körperlich bin ich hundemüde, dafür ist mein Kopf hellwach. Vielleicht sind vermeintliche Widersprüche so ein Ding in meinem Leben. Denn ganz ehrlich: In letzter Zeit frage ich mich häufiger, wie es sein kann, dass jemand, dessen Brustkorb sich so schwer anfühlt, als würde man Sisyphus’ Steine darin rollen, gleichzeitig unsichtbar sein kann. Unsichtbar für andere, meine ich. (Okay, ich rede hauptsächlich von Daniel.)
Manchmal denke ich, dass am Tag meiner Geburt etwas aus dem Gleichgewicht geraten ist, das seit siebzehn Jahren nicht mehr richtig in seine Bahn zurückfindet. Neuerdings ertappe ich mich öfter in Tagträumen (die auch alle mit Daniel zu tun haben). Gott, ich wünschte, er würde mich wenigstens bemerken. So richtig, verstehst du? Neulich ist er bei einem Raumwechsel an mir vorbeigegangen, er hat in meine Richtung gesehen und dann … einfach durch mich hindurch. Als wäre das seltsame Mädchen aus seinem Geschichtskurs (it’s me) nur stickige Luft im Schulflur.
Ich frage mich, welchen Sinn meine Existenz hat, wenn nichts, was ich tue, von Bedeutung ist. Vielleicht bin ich nichts weiter als eine Komparsin, die sich eine höhere Macht ausgedacht hat, damit das Leben der Main Character nicht allzu leer wirkt?
Ich weiß es nicht. Für mich steht jedenfalls fest: Wer auch immer dieses Drehbuch geschrieben hat … Ich wünschte, man hätte den Scheiß nach der ersten Folge abgesetzt.
Vor zwölf Tagen #Lola
»Lola, mein Schatz, was machst du denn hier?«
Heute ist ein guter Tag, denn meine Mutter erinnert sich nicht nur auf Anhieb an meinen Namen, sie ist auch noch überraschend schnell an der Tür. Ihr dünner, fast zerbrechlicher Körper steckt in einem ausgeblichenen grauen Nachthemd, das an den Schultern ein wenig schief sitzt, als hätte sie es hastig übergeworfen. Ihre Füße stecken in weichen Hausschuhen, deren Stoff an den Rändern schon ausfranst. Wahrscheinlich hat mein Vater es heute Morgen nicht geschafft, ihr beim Umziehen zu helfen. Nicht schlimm. Ich bin froh, ihn bei der Pflege meiner Mutter zu unterstützen.
»Hallo, Mama. Sieh mal, ich habe deine Medikamente mitgebracht.« Ich halte ihr die Medikamentenschachtel entgegen. Das Lächeln, das in meiner Stimme mitschwingt, ist das Ergebnis von monatelanger Akzeptanzarbeit.
Indem wir unseren Schmerz umarmen, gehen wir den ersten Schritt zur Heilung.
Es ist ein vollkommen ausgelutschter Spruch, den ich in einem Buch über Verlust- und Trauerverarbeitung gelesen habe. Ich weiß, es klingt makaber, von Verlust zu sprechen, wenn der Mensch, um den man trauert, irgendwie noch da ist. Aber letztlich eben auch nicht. Meine Mutter ist nichts anderes als eine Gefangene in ihrem eigenen Körper.
»Medikamente?«, hakt sie nach.
»Für dich. Sie helfen dir, dich besser zu fühlen. Der Arzt hat sie dir verschrieben.«
»Oh, ja, sicher«, sagt sie, obwohl ihr überraschter Gesichtsausdruck verrät, wie wenig sie sich erinnert. Ich werfe einen Blick auf ihre schmalen Schultern, wie sie leicht nach vorn hängen, und bemerke, wie Mama mit den Fingern unruhig über die Kante des Türrahmens streicht. Der Schmerz, der sich in Sekunden wie diesen in meine Brust bohrt, ist Beweis dafür, dass Gefühle immer in Wellen kommen. Mal schwappt das Wasser dünn über die Füße, mal droht es einen mitzureißen.
»Gerade ist bestimmt viel los bei dir, und ich wollte sehen, ob du noch etwas brauchst.«
»Nein, nein.« Sie schüttelt den Kopf, aber die Bewegung ist langsam, fast abwesend, als würde sie jedes einzelne Wort mit Mühe formen. »Ich komme klar.« Sicher. Das würde sie mir gegenüber auch behaupten, wenn sie sich nicht mehr selbst im Bett umdrehen könnte.
»Okay. Dann nehmen wir nur kurz die Tabletten zusammen? Ich war heute so viel allein und brauche Gesellschaft.« Dieser Trick funktioniert in neun von zehn Fällen.
»Natürlich, mein Schatz. Komm mit in die Küche!«
Mit kalten Fingern greift sie nach meiner Hand und führt mich mit vorsichtigen Schritten in den Flur, während ihre schlurfenden Bewegungen leise auf den Dielen widerhallen. Die Luft hier riecht nach alten Möbeln und etwas, das ich nie wirklich identifizieren konnte. Dennoch mag ich diesen Geruch, er erinnert mich an all die Momente, die es vor der Frühdemenz meiner Mutter gegeben hat.
»Gut, dass du da bist. Ich habe nämlich ein Geschenk für dich.« Sie stellt einen Korb mit Wolle auf den Küchentisch und zaubert drei gehäkelte Armbänder hervor. Was jetzt kommt, weiß ich genau. Wir führen dieses Gespräch etwa dreimal die Woche.
»Weißt du noch? Letztes Jahr wolltest du solche unbedingt haben? Den ganzen Urlaub hast du ein Kettchen getragen.«
Der Sommer, auf den meine Mutter anspielt, ist fünfzehn Jahre her. Damals war ich acht, fast neun.
»Wow, die sind wunderschön. Es ist so lieb, dass du an mich denkst.« Kurz nach ihrer Diagnose vor zwei Jahren haben wir versucht, sie mit der Realität zu konfrontieren und ihr das Vergessen bewusst zu machen.
Nein, du hast heute schon dreimal gesaugt.
Ja, du ziehst den Deckel vom Joghurt ab, bevor du den Löffel reintust.
Ziemlich schnell haben wir gemerkt, dass wir damit alles schlimmer machen.
»Wenn Sie Ihre Mutter am wenigsten leiden lassen wollen, dann zeigen Sie ihr nicht, dass etwas anders ist! Erlauben Sie ihr, in ihrer Welt zu leben.« Irgendwie so hat es der Doktor gesagt, woraufhin mein Vater mit den Tränen gekämpft hat und ich alle Kraft zusammengenommen habe, um ihn nicht auch in einem dieser Gefühlstsunamis zu verlieren.
»Du bist eine richtige Künstlerin.« Ich greife mir eines der Bänder und betrachte das gelbe Garn, das zu einem kunstvollen Muster verflochten ist. Mittlerweile habe ich ihre Armbänder in allen Farben. Neulich habe ich Vivi angeboten, sich ein paar davon zu nehmen, weil ich sie ohnehin nicht alle tragen kann.
Die Wangen meiner Mutter haben vor Freude einen leichten Rosaton angenommen. »Gelb ist doch deine Lieblingsfarbe.«
Vor Jahren war sie das mal, aber ich mag sie auch heute gern. Ich mag alles, was mir von meiner Mutter bleibt. »Hilfst du mir, es anzuziehen?«
Ich lege das Armband um mein Handgelenk und beobachte, wie meine Mutter es mir zuknotet und den Kopf dabei besonnen zur Seite neigt. Manchmal kommt es mir vor, als würden wir nebeneinander auf dem Sofa sitzen und einen Film sehen. Während sie ihn zum ersten Mal schaut, kann ich die einzelnen Szenen mitsprechen.
»Es steht dir! Die Kinder in der Schule werden staunen!«
»Ja, das werden sie. Ich habe dich lieb, Mama«, sage ich sanft und streiche mit den Fingern über das Armband. »Jetzt lass uns deine Tabletten nehmen, okay?« Sie nickt, und ich greife nach der kleinen Pillendose auf der Anrichte. »Hier, eine nach der anderen.«
Meine Mutter nimmt die erste Tablette und spült sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Ich bleibe eine weitere halbe Stunde bei ihr in der Küche sitzen, ehe ich mich verabschiede.
Auf dem Heimweg regnet es in Strömen, und es kommt mir wie schäbige Ironie vor, dass das Wetter in dem Augenblick umschlägt, in dem ich die WG pitschnass betrete.
Als ich meine einzige kurze Jogginghose nicht finden kann, zieht es mich schnurstracks ins Badezimmer. Dort angekommen, öffne ich die Tür des Trockners und werde von warmer, trockener Luft erschlagen. In der Erwartung, auf meine Jogginghose, Socken und vertrauten Slips zu stoßen, greife ich in die Trommel und bin überrascht, als ich stattdessen zwei Boxershorts herausziehe. Die eine ist knallig blau, die andere ist dunkelgrau. Sie fühlen sich weich an, leicht flauschig, als wären sie gerade erst getrocknet. Seit wann wäscht Vivi Pascals Wäsche, und wo zum Teufel sind meine Sachen? Hektisch taste ich die Trommel ab. Lauter XXL-Shirts, die ich in meinem Leben noch nie gesehen habe. Sonst nichts.
Ich schnappe mir mein Handy und schreibe meiner Mitbewohnerin eine Nachricht.
Lola
Wollte meine Wäsche wegräumen und finde sie nicht? Hast du sie zur Seite gelegt?
Ihre Antwort kommt, als ich meine Klamotten bereits in einem Korb neben der Badewanne entdeckt habe. Ordentlich zusammengelegt. Selbst der winzige Stoff meiner Slips ist gefaltet.
Vivi
Pascal war kurz da. Ich habe gesagt, er kann seine Wäsche bei uns waschen. Die Maschine bei ihm im Haus ist kaputt. Deine Sachen liegen noch im Bad, glaube ich.
Beim Lesen ihrer Worte breitet sich ein fader Geschmack auf meiner Zunge aus. Vivians Freund hat meine Wäsche ausgeräumt und sie zusammengelegt? Mein Blick wandert zurück zu dem Korb. Welcher Mann faltet so penibel Wäsche? Und fuck, wieso ausgerechnet meine Slips?
Lola
Hm. Ich habe sie gefunden. Ehrlich gesagt finde ich es etwas seltsam, wenn ein fremder Mann einfach meine Sachen durchwühlt. Kannst du mich das nächste Mal vorher fragen?
Ich setze mich im Schneidersitz auf den Boden und räume meine Sachen aus, da fällt mir ein knallroter Tanga in die Hände, den ich nie zuvor gesehen habe. Nicht dass ich verklemmt wäre oder so, aber ich trage meistens Unterwäsche, die über den Hintern geht, weil ich finde, dass sie sonst in der Arschritze zwickt. Gehört dieses Fundstück etwa Vivian?
Zwar kommt mir der bescheidene Stoff ungewohnt sexy vor (meine Mitbewohnerin kleidet sich eher sportlich), andererseits wäre Vivi nicht die erste Frau, die sich für einen neuen Partner Dessous kauft.
Als ich meine durchnässten Shorts gegen die Jogginghose getauscht und meine Wäsche in den Schrank in meinem Zimmer sortiert habe, beschließe ich, Vivi das Höschen auf den Schreibtisch zu legen. So machen wir das auch mit Briefen oder Paketen.
Das Zimmer meiner Mitbewohnerin ist etwas größer als meins, dafür um einiges dunkler, was weniger an den kleineren Fenstern liegt als an der dunkelgrünen Wand, auf die man beim Betreten des Raums direkt zusteuert.
Überall an der Tapete hängen Poster und Bilder, die Vivi gemalt hat. Das Werk, das aktuell in ihrer Leinwand spannt, ist ein Kunstprojekt für die Uni und zeigt halb skizzierte Schuhe, umrankt von grob angedeuteten Blumen. Stellenweise ist der Hintergrund mit dunklem Blau gefüllt. Ich weiß nicht viel über dieses Projekt, was vor allem daran liegt, dass ich dem Thema Studium, so gut es geht, ausweiche. So vermeide ich es, selbst mit Fragen gelöchert zu werden.
»Warum hast du alles auf Eis gelegt?«
»Weißt du nun, wie es weitergeht?«
»Du musst dir mal wieder Gedanken wegen der Uni machen, oder?«
Eigentlich weiß ich bloß, dass es neben Vivians zwei weitere Bilder geben wird, die von Kommilitoninnen angefertigt werden und sich ergänzen sollen, und dass Vivi seit Wochen daran arbeitet. Jedenfalls immer dann, wenn sie sich von Pascal losreißen kann.