Tausend Splitter zu dir – Based on Lena's True Story - Antonia Wesseling - E-Book
SONDERANGEBOT

Tausend Splitter zu dir – Based on Lena's True Story E-Book

Antonia Wesseling

0,0
12,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 12,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Weil es Mut braucht, um zu lieben <3

Der Journalistin Ellie ist nichts so wichtig wie Gerechtigkeit. Mutig spricht sie auch unbequeme Wahrheiten aus. Niemand ahnt, warum sie so leidenschaftlich für diejenigen kämpft, die keine Stimme haben. Warum sie Beziehungen meidet. Warum sie sich abrupt von ihrer ersten großen Liebe Louis getrennt hat. Seit ihr als Kind sexualisierte Gewalt angetan wurde, ist Ellies Herz in tausend Teile zersplittert. Mit jedem Tag, den sie ihren eigenen Weg geht, setzt sie es wieder ein Stück zusammen. Als sie an einer brisanten Geschichte über Machtmissbrauch arbeitet, führen sie ihre Recherchen ausgerechnet zu Louis. Auf einmal steht Ellie zwischen einer Wahrheit und ihren immer stärker werdenden Gefühlen …

Tropes: Second Chance, Friends to Lovers ❤️

{heartlines} = True Story + New Adult: Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 509

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zum Roman

Der Journalistin Ellie ist nichts so wichtig wie Gerechtigkeit. Mutig spricht sie auch unbequeme Wahrheiten aus. Niemand ahnt, warum sie so leidenschaftlich für diejenigen kämpft, die keine Stimme haben. Warum sie Beziehungen meidet. Warum sie sich abrupt von ihrer ersten großen Liebe Louis trennt. Seit ihr als Kind sexualisierte Gewalt angetan wurde, ist Ellies Herz in tausend Teile zersplittert. Mit jedem Tag, den sie ihren eigenen Weg geht, setzt sie es wieder ein Stück zusammen. Als sie an einer brisanten Geschichte über Machtmissbrauch arbeitet, führen sie ihre Recherchen ausgerechnet zu Louis. Auf einmal steht Ellie zwischen einer Wahrheit und ihren immer stärker werdenden Gefühlen …

Ein Roman, der das Schweigen bricht und Hoffnung schenkt – inspiriert von Lena Jensens wahrer Geschichte.

Zur Autorin

Für Antonia Wesseling ist das Schreiben schon immer ein großer Teil ihres Lebens. Bereits in ihrer Kindheit veröffentlichte sie erste Jugendbücher. Heute ist sie vor allem mit ihren New-Adult-Romanen erfolgreiche Spiegel-Bestsellerautorin. Sie spricht auf YouTube (@tonipure), TikTok und Instagram (@antoniawesseling) über das Schreiben, Mental Health und alle Themen, die ihr wichtig sind.

»Was wir alle von Lena lernen können: Wir können die Vergangenheit nicht kontrollieren, aber die Zukunft mitgestalten. Du bist mehr als deine Vergangenheit, mehr als deine schlechten Tage und mehr als all die Dinge, die man dir angetan hat.«

Zur Storygeberin

Lena Jensen (@lenajensn) ist Survivorin von sexualisierter Gewalt, Speakerin, Vize Miss Germany, Unternehmerin und Mutter. Sie setzt sich in der Öffentlichkeit für die Sensibilisierung für Gewalt an Kindern sowie für Equal Parenting ein. Sie lebt mit ihrer Familie in Norddeutschland.

»Als Storygeberin will ich mit meiner Geschichte sensibilisieren und Menschen erreichen. Von jemand anderem aus einem anderen Blickwinkel das Erlebte zu lesen und die Interpretation von einem anderen Menschen zu sehen, hat auch meine Augen und Gefühle neu geöffnet. Es hat das Ganze irgendwie vollständig gemacht!«

Zum Verlag

{heartlines} – based on a true story

Weil das Leben die besten Geschichten schreibt.

Jede Geschichte ist es wert, erzählt zu werden. Wir schaffen einen Safe Space für die Begegnung von Autor*innen mit jungen Menschen, die ihre Erlebnisse teilen möchten. Inspiriert von den echten Geschichten und Persönlichkeiten der Storygeber*innen schreiben die Autor*innen Romane zum Eintauchen und Mitfühlen. Mit Charakteren, die Mut machen, und unvergesslichen Lovestorys, die unsere Herzen erobern.

Wenn auch du als Storygeber*in deine Geschichte teilen möchtest, dann schicke uns eine E-Mail an

[email protected]

mit folgendem Inhalt: einer kurze Schilderung deiner wahren Erlebnisse und deiner Motivation, daraus einen Roman zu machen. Die Länge sollte maximal 2 – 3 Seiten sein.

Wir freuen uns!

www.penguin.de/verlage/heartlines

@penguinlovestories

Antonia Wesseling

BASED ON LENA’S TRUE STORY

TAUSEND SPLITTER ZU DIR

ROMAN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Rechtlicher Hinweis

Dieses Buch basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte, einen Anspruch auf Faktizität erhebt es aber nicht. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffes und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerkes gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist. Für alle Leser und Leserinnen erkennbar, erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt, wodurch Grenzen bewusst verschwimmen.

Originalausgabe 02/2025

Copyright © 2025 by Antonia Wesseling

Copyright © 2025 by {heartlines}, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)

Redaktion: Janine Malz

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagmotiv: FinePic®, München; istock/natrot

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-32309-7V002

www.penguin.de/verlage/heartlines

@penguinlovestories

Für Dich, Papa. Weil Du mir früher schon gesagt hast, dass man die Dinge, die einem wichtig sind, nicht kampflos aufgeben darf.

Und für Dich, Mama. Weil Du mich dann trotzdem daran erinnerst, dass auch gute Kämpfer manchmal hinfallen, aber immer wieder aufstehen.

Ich habe Euch lieb! Eure Toni

Für N., die wohl das größte Herz dieser Welt hat! Vergiss nie, du wirst geliebt. Deine Lena

Content-Hinweis

Liebe*r Leser*in,

danke, dass du dieses Buch in die Hand genommen und aufgeschlagen hast. Es bedeutet mir viel, denn es beinhaltet etwas, was tief in mir viele Jahre lang verborgen war. Dachte ich nur eine Sekunde dran, darüber sprechen zu wollen, fühlte es sich an, als würde ich an einer Klippe stehen und gleich hinunterspringen. Und irgendwann sprang ich, weil ich Vertrauen spürte, aufgefangen zu werden und sicher zu landen.

Daher sieh es als Geschenk, wenn sich dir jemand anvertraut, denn es kostet so viel Mut und Überwindung, das Schweigen zu brechen. Und heute, mit diesem Buch, schenke ich dir mein Vertrauen und du mir dein Ohr. Denn indem du dieses Buch liest, auch wenn es mit Sicherheit nicht immer einfach ist, hörst du aber den Stimmen zu, die so oft ungehört bleiben, und gibst dem Thema die Chance, aus der Dunkelheit ans Licht zu kommen. Danke dafür! Denn das gibt Betroffenen Mut, auch ihr Schweigen zu brechen, und öffnet die Augen für die unsichtbare Gewalt, die viele Kinder tagtäglich ertragen müssen, so nah unter uns.

Aber achte beim Lesen auf dich und dein Gefühl, denn es behandelt in einigen Szenen das Thema sexualisierte Gewalt an Kindern. Wenn es dir also nicht gut gehen sollte zwischendurch, mach gerne Pausen. Und falls du Hilfe brauchst, kannst du dich an das Hilfetelefon für sexuellen Missbrauch 0800 22 55 530 wenden. Danke, dass du zuhörst, und wenn du selber betroffen bist: Du bist nicht schuld, du musst dich dafür nicht schämen, du kannst stolz darauf sein, das überlebt zu haben! ❤️🩹

Deine Lena

Vor neun Jahren

1. Kapitel Elena

Ich beschleunige meine Schritte. Hätte ich mitgezählt, wäre ich jetzt vielleicht bei dreihundert Runden. Immer, wenn ich mich verloren fühle, laufe ich los. Ich laufe und laufe, immer im Kreis, und höre einfach nicht mehr auf. Mein Zimmer ist nicht riesig, aber bietet genug Platz, dass ich mich frei bewegen kann.

Streng genommen war dies auch die einzige Bedingung, die ich gestellt habe, bevor ich vorschlug, auf den Dachboden zu ziehen.

»Wenn wir die alten Kisten rausräumen, habe ich dort meinen Rückzugsraum und Sarah kann in mein altes Zimmer.«

Alle paar Minuten wechsle ich die Richtung, um keinen Drehwurm zu bekommen. In mir gibt es schon genug Durcheinander.

Normalerweise denke ich während meiner Runden über die Zukunft nach. Ich träume mich weg von den Stimmen und dem Streit über mir und aus meinem Leben. Manchmal frage ich mich, wie meine Welt in zehn Jahren aussieht. Oder in fünfzehn. Heute werde ich den Gedanken nicht los, dass die Liebe etwas Eigenartiges ist.

Sie gilt als das schönste Gefühl der Welt und gleichzeitig ist sie auch der Grund, weshalb Menschen schreckliche Dinge tun.

Vor ein paar Tagen ist mir in der Schulbücherei ein Roman in die Hände gefallen. Es war die englische Ausgabe, geschrieben von einer Autorin, deren Name mir nichts sagte. Das ist erst mal nichts Ungewöhnliches, denn ich bin keins dieser Mädchen, die jede freie Minute zwischen zwei Buchdeckeln verbringen. Was die Bücherei angeht … ich bin eher – sagen wir zufällig – hineingeraten, weil die letzten beiden Stunden Sport seit etwa zwei Monaten im Schwimmbad stattfinden und ich mich freiwillig angeboten habe, Frau Hellbrand in der Zeit beim Putzen der alten Regale zu helfen.

Was unsere Bibliothekarin als Hilfsbereitschaft auslegte, hatte eigentlich vielmehr den Grund, dass ich nicht schon wieder schwänzen wollte.

Aber zurück zu diesem Roman … Laut Umschlag ging es um ein fiktives Szenario, in dem die Liebe als Krankheit angesehen und behandelt wird.

»Kann ich mir das vielleicht ausleihen?«, habe ich Frau Hellbrand gefragt.

»Natürlich. Am besten kommst du dafür morgen in der ersten großen Pause wieder. Zwischen den Unterrichtsstunden darf ich leider nichts herausgeben.«

Als ich am nächsten Tag tatsächlich in der Schulbibliothek stand, war das Buch bereits verliehen. Frau Hellbrand bat mich, in zwei Wochen noch mal zu kommen, und drückte mir für die Zwischenzeit ein anderes Buch in die Hand.

Ich habe es nicht übers Herz gebracht, sie zu enttäuschen, und konnte den dicken Fantasy-Wälzer unmöglich ablehnen. Deshalb liegt das Buch jetzt seit einer knappen Woche neben meinem Bett, ohne dass ich es auch nur aufgeschlagen habe.

Stattdessen beschäftigt mich noch immer die Geschichte mit der Liebe. Hätte ich dieses Buch bei mir, wäre ich mit den Fragen in meinem Kopf vielleicht schon etwas weiter: Wie kann Liebe, ein so großes und mächtiges Gefühl, zulassen, dass sich zwei Menschen so streiten?

Ich wünschte, ich hätte eine Antwort darauf. Andererseits würde keine Erklärung dieser Welt etwas an den dumpfen Schreien ändern, die man – oh Wunder – auch bis zu mir unters Dach hören kann.

Meist sind es die von Mamas Freund, Sarahs Vater. Ronald ist derjenige, der zuerst die Fassung verliert. Der aus dem Nichts hochkocht. Kurz darauf höre ich dann das Weinen meiner Mutter.

»Es ist okay, Ellie«, hat Mama neulich gesagt, als sie vorm Schlafengehen noch mal bei mir vorbeigeschaut hat. Es ist okay, Ellie. Mehr nicht.

Erst seitdem ist mir klar, dass sie weiß, dass ich die beiden höre. Dass ich ihr Weinen höre.

Was das Ganze noch schlimmer macht. Weil sie weiß, dass ich weiß, dass sie nicht nur wegen des Streits so verzweifelt ist. Der Streit ist nur der Auslöser für ihren Schmerz. Der eigentliche Grund, weshalb sie weint, bin ich.

Wieder einmal fühle ich den schweren, festsitzenden Stein in meiner Brust. Wenn ich aufhöre zu laufen, wird er noch schwerer. Deshalb gehe ich Schritt für Schritt durch mein Zimmer. Ich zähle nicht mit. Weder die Runden noch die Minuten, die ich gehe. Denn ich weiß, es sind noch nicht genug. Solange der dicke Stein noch da ist, werde ich nicht damit aufhören.

2. Kapitel Elena

Bereits in den Umkleiden schlägt mir der durchdringende Chlorgeruch entgegen. Die Luft ist schwer und ich spüre, wie sie von innen meine Nase kitzelt. Das grelle Licht der Hallendecke blendet mich kurz, bevor sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnen.

»Ich muss dir jetzt etwas ganz Scheußliches zeigen! Keine Ahnung, was meine Mutter sich dabei gedacht hat. Ich wollte doch diesen Bikini mit den schwarzen Bändern zum Geburtstag haben. War meinen Eltern zu teuer, also haben sie einen anderen genommen. Jetzt sehe ich aus wie ein peinlicher Schlumpf!« Meine Freundin Carla knallt ihre Schwimmtasche in den Spind neben meinem.

»Ich habe meiner Mutter natürlich gesagt, dass das der Falsche ist, aber weißt du, was sie erwidert hat? Sie meinte, kein normaler Mensch gibt zweihundert Euro für einen Bikini aus. Schon gar nicht mit siebzehn. Sie hat darauf bestanden, dass ich den anziehe, den sie mir besorgt hat. Sonst soll ich mir halt selber einen kaufen. Dabei spare ich doch für die Konzerttickets. Argh! Das Leben ist so ungerecht!« Carla zieht einen türkisfarbenen Stofffetzen aus der Tasche und hält ihn mir vors Gesicht. »Also im Ernst mal, was soll das bitte sein?« Dann schaut sie mich an. »Hörst du mir überhaupt zu, Ellie?«

»Ich?« Ertappt fahre ich zusammen. »Sorry, ich dachte, du sprichst mit Gina.« Ich werfe einen Blick über die Schulter, nur um festzustellen, dass Gina überhaupt nicht hier ist.

»Sag mal, hast du in den letzten zwanzig Minuten überhaupt irgendwas mitbekommen? Gina ist in der Halle. Sie schwimmt nicht mit. Hat ihre Tage.« Meine Freundin macht sich am Bund ihrer Hose zu schaffen und streift sich die Jeans schließlich über die Beine.

»Also ich finde den Bikini sehr hübsch. Ich glaube, so einen habe ich letztens in einer Zeitschrift gesehen. Die werden jetzt total modern.«

»Echt jetzt?« Carla reißt die Augen auf.

Während ich nicke, fühle ich mich wie die schlechteste Freundin der Welt, weil ich in Wahrheit von Bademode noch weniger Ahnung habe als von Trends allgemein.

»Hmm … Vielleicht hast du recht.« Ein zögerliches Lächeln huscht über Carlas Lippen. »Angeblich kommt der sogar aus Amerika. Das heißt, dieses Stück Stoff ist schon weiter rumgekommen als ich. Aber kein Wunder, wenn meine Eltern jedes Jahr mit mir nach Bayern fahren.« Carla senkt ihre Stimme. »Ich wette, ich sterbe nicht nur ungeküsst, sondern auch, ohne irgendwas von der Welt gesehen zu haben. Ich wünschte, ich könnte einfach mit deiner Familie mitkommen. Wohin fahrt ihr noch mal?«

Ich zucke kaum merkbar zusammen. »Äh … dieses Jahr, meinst du?« Shit. Shit. Shit. Was habe ich noch mal gesagt? War das Florida oder Barcelona? Nee, Barcelona hatte ich das letzte Mal … Oder?

»Diesen Sommer. Ihr fahrt doch in die USA.«

»Miami«, sage ich versuchsweise und hoffe, dass Carlas Gedächtnis nicht ausgerechnet in den nächsten zwei Minuten wieder anspringt.

»Ah, stimmt! Gott, das ist so verrückt. Du musst mir eine Postkarte schicken, ja?«

»Na klar.« Ich gehe einfach mal davon aus, dass ich online ein Motiv finden werde, das Carla überzeugt. Vielleicht kann man sich dort auch ein ganz neues Leben bestellen. Lieferung via Amazon Prime. Dann könnte ich aufhören, vor meinen Freundinnen so zu tun, als lebe ich in einer perfekten Parallelwelt.

Fürs Erste gibt sich Carla mit meiner Antwort zufrieden. Und ich? Ich habe maximal dreißig Sekunden Zeit, aus meiner Winterjacke zu schlüpfen, bevor eines der anderen Mädels fragt, wieso ich mich nicht umziehe. Ich bin die Einzige, die nicht mal ihre Schuhe ausgezogen hat. Die Ersten tragen sogar schon ihre Badesachen.

Na los, Ellie! Ich trete mir die Sneakers samt Socken von den Fersen und erschaudere, als zuerst mein dicker Zeh, dann die ganze Fußsohle die kalten Fliesen berührt. Hier ist doch gar kein Wasser, erinnere ich mich selbst. Noch nicht. Hier ist – noch – kein Wasser.

Die Stimmen der anderen und das Klappern der Spinde verschwimmen in meinem Kopf zu einem tosenden Rauschen. Ich spüre, wie sich mein Magen zu einem Kloß zusammenzieht und meine Hände feucht werden.

»Na, was sagst du?« Carla dreht sich einmal um die eigene Achse. »Du musst ganz ehrlich sein. Wenn Jonas mich für einen Schlumpf hält, gehe ich mich begraben. Ich will doch nur, dass er mich hübsch findet.«

Ich öffne den Mund, um etwas zu sagen, da kommt mir jemand zuvor. Ausgerechnet Helen, eins der beliebtesten Mädchen unseres Jahrgangs.

»Warte mal, hast du dich gerade als Schlumpf bezeichnet? Du siehst megaheiß aus.«

Helens beste Freundin Emma nickt zustimmend. »Der steht dir super. Woher ist der?«

»Findest du? Den habe ich zum Geburtstag bekommen. Ist in Amerika gerade irgendein Trend.« Carlas Wangen werden hochrot und sie schnappt aufgeregt nach Luft.

Abgesehen von mir weiß keiner in dieser Umkleide, wie viel Carla Komplimente dieser Art bedeuten. Sie so zu sehen, lenkt mich kurz von meinem eigenen Gedankenchaos ab. Bitte lass sie jetzt nicht vor Aufregung kollabieren!

»Wenn ihr mögt, kann ich meine Mutter fragen, wo man den bestellen kann.«

»Schon gut. Der ist eindeutig für Blondinen gemacht. Da kommt die Farbe besser zur Geltung«, bemerkt Helen in einem Tonfall, der klingt, als hätte sie sich gerade in Coco Chanel persönlich verwandelt. Jedenfalls ist das die einzige Modedesignerin, die mir spontan einfällt. Dann streift mich ihr Blick. »Braucht ihr noch lang?«

Ich trage noch immer meine normalen Klamotten. Weil ich weiß, dass Carla zu gern mit den anderen vorgehen möchte, ringe ich mir ein Lächeln ab. »Geh ruhig. Ich komme nach.«

Ihre Lippen formen ein wortloses »Danke«, bevor sie mit den anderen Mädchen die Umkleide verlässt und ich allein zurückbleibe.

Ich setze mich auf die Bank vor meinem Spind und atme tief durch. Du stehst das jetzt durch, Ellie. Du weißt, dass du das kannst. Du hast keine andere Wahl.

Immer wieder sage ich mir diese Sätze, während ich mich aus den Sachen schäle und schließlich in den schwarzen Badeanzug steige. Wir haben ihn zu Beginn des Schuljahrs gekauft und eigentlich sollte die Farbe mittlerweile ausgeblichen sein. Da der Stoff noch nicht sonderlich oft mit Chlor in Berührung gekommen ist, geht er als so gut wie neu durch. Und da es mein letztes Schuljahr ist und ich danach nie mehr freiwillig eine Schwimmhalle betreten werde, wird er auch so bleiben.

Ich linse Richtung Ausgang und mein Herzschlag beschleunigt sich weiter. Wenn ich abhaue, wird die Schule im besten Fall nur zu Hause anrufen, im schlimmsten Fall: bei der Polizei. Dein Freund und Helfer. Sie würden Fragen stellen. Meiner Mutter Probleme machen. Weil sie es nicht verstehen. Sie kennen die lähmende Angst nicht.

Jetzt reiß dich zusammen! Du bist hier sicher. Es ist Jahre her.

Ich binde mir mein Handtuch um die Hüfte, schließe den Spind und verlasse die Gemeinschaftsumkleide.

Die Luft ist mit einer Duftmischung aus Shampoo, Duschgel und feuchten Handtüchern durchzogen. Das rhythmische Schlapp-Schlapp von Flip-Flops auf dem glatten Boden begleitet mich zu den Duschen.

Ich schließe die Augen, stelle mich unter den Strahl und zähle bis drei. Drei Sekunden sind drei Sekunden zu viel. Ich habe das Gefühl, in einer lodernden Flamme zu stehen. Doch niemand kann es sehen. Niemand sieht, wie sehr meine Muskeln verkrampfen, als ich die Schwimmhalle betrete.

Aus der Entfernung erspähe ich, dass meine Mitschüler bereits im Wasser sind. Ihre Bewegungen sehen so einfach aus.

»Elena, haben wir mal wieder getrödelt?« Unser Sportlehrer geht auf mich zu. »Du weißt schon, dass ich dich für die Leistung im Wasser benoten muss, oder? Eine lange Modenschau ist kein Bewertungskriterium.« Herr Senker sieht mich an, als habe ich ihn mit meinem Verhalten höchstpersönlich beleidigt. »Dafür gibts zwei Extrabahnen, wenn die anderen gleich Wasserball spielen dürfen.«

Als ich nichts sage, verfinstert sich sein Blick weiter. »Und jetzt guck nicht so! Du tust ja so, als wäre das hier Folter.«

Gut erkannt. Nur, dass ich nicht nur so tue … Ich fühle es.

Ich fühle es so stark, dass ich mich am liebsten festhalten würde, um sicherzugehen, nicht jeden Augenblick umzufallen.

Ich trete näher an den Beckenrand und starre auf die spiegelnde Wasseroberfläche. Hier hinten geht es über zwei Meter runter. Wenn ich tauche, platzen mir fast die Ohren. Genauso hat es sich das letzte Mal angefühlt, als ich es länger als fünf Sekunden unter Wasser ausgehalten habe. Als würde ich explodieren.

»Haben wir es gleich oder brauchst du zur Motivation noch eine dritte Strafrunde?« Herr Senker schüttelt den Kopf. Für einen Moment wird sein Blick weicher und er sieht mich nachdenklich an. »Ich verstehe das nicht. Du bist doch gar nicht unsportlich.«

Nein, das bin ich nicht. Ich kann stundenlang durch mein Zimmer marschieren, ohne auch nur ein bisschen aus der Puste zu kommen.

»Ich wünschte, du würdest deinem Körper ein bisschen mehr zutrauen.«

»Dein Körper ist ein Held, Elena.« Es ist sieben Jahre her, dass man mir diese Worte gesagt hat. Sieben Jahre, und doch ist es, als stünde Frau Ellberg, meine damalige Kinder- und Jugendtherapeutin, wieder vor mir. Mit ihren langen braunen Haaren, dem freundlichen Lächeln und dem dezenten Geruch nach frischen Blumen.

»Die Angst ist kein Feind. Sie will dich beschützen. Manchmal musst du dich aber fragen, ob sie gerade etwas zu vorsichtig ist. Dann hörst du auf dein Gefühl.« So viele Jahre sind seither vergangen und doch habe ich kein Wort vergessen. Aber noch viel weniger vergessen habe ich die Angst. Und die gibt es schon viel länger.

»Ich bin krank.« Entschieden trete ich einen Schritt vom Beckenrand zurück, balle die Hände zu Fäusten und kralle die Zehen in meine Flip-Flops. Du bist hier sicher. Dir kann nichts passieren.

»Krank?« Wenn ich sagen würde, Herrn Senkers Tonfall sei von Skepsis geprägt, würde es der Wahrheit nicht annähernd gerecht werden. Sie trieft förmlich vor Fassungslosigkeit.

»Jetzt ist aber wirklich Schluss mit dem Unsinn! Letzte Woche hast du schon gefehlt. Du kannst gerne jemand anderen für dumm verkaufen. Ins Wasser jetzt!«

Herr Senker stürzt sich auf mich. Er packt meinen Kopf und drückt ihn unter Wasser. Alles geht so schnell, dass ich nicht mehr klar denken kann. Ich weiß nicht einmal, was genau hier passiert. Nur, dass ich sterben werde. Ich werde ertrinken. Hier in diesem Wasser. Nur Fische können unter Wasser atmen. Menschen haben keine Kiemen. Menschen sind Säugetiere. Menschen brauchen Luft. Ich werde sterben, obwohl ich noch ein Kind bin. Ob Mama viel weinen wird?

»Stopp!« Ich bin nur eine Sekunde an der Oberfläche. Nicht genug Zeit, um mich zu erholen. Aber genug, um zu realisieren, dass sie meinen Willen gebrochen haben. Sie können machen, was sie wollen. Sie sollen nur machen, dass ich nicht ertrinke.

Dass ich noch neun Jahre alt werde. Zehn. Und irgendwann siebzehn.

»Was ist jetzt?«, holt Herr Senker mich zurück in die Realität. Der Abstand zwischen uns ist keinen Zentimeter weniger geworden. Er muss mich nicht berühren, um mir den Kopf unter Wasser zu drücken. Die Erinnerungen tun es ganz von selbst.

»Ich fühle mich nicht gut. Kann ich mich auf die Bank setzen?«

Noch während ich die Frage stelle, tragen meine Beine mich weg vom Beckenrand. Mit jedem Meter Abstand wird die Welt um mich herum wieder klarer. Und die Stimme meines Sportlehrers bedeutungsloser: »Die Periodenausrede funktioniert nicht jede Woche. Bloß weil ich ein Mann bin, bedeutet das nicht, dass ich keine Ahnung vom weiblichen Zyklus habe. Auch Teenagermädchen menstruieren nicht ein Mal die Woche.«

»Weißt du, was ich glaube?«, fragt Gina, als ich die Stufen zur Tribüne hochgehe und neben ihr Platz nehme. »Der führt sicher irgendwo eine Liste darüber. Hat der letztes Jahr bei der Zehnten angeblich auch. Ob das legal ist? Ich meine, verletzt das nicht irgendwelche Persönlichkeitsrechte?«

»Hm?«, mache ich.

»Mein Onkel ist Anwalt. Ich muss ihn unbedingt fragen. Ganz ehrlich, wozu habe ich eine Perioden-App, wenn unser Sportlehrer minutiös unseren Zyklus trackt?«

Sie grinst spöttisch, dann sieht sie plötzlich zu mir, als wäre ihr meine Anwesenheit erst jetzt so wirklich bewusst geworden. »Hast du was dabei? Du hast deine Tage auch echt häufig. Warst du damit mal bei deiner Ärztin? Meine Mutter sagt, dass so was durch eine Hormonstörung kommen kann. Das muss man auf jeden Fall im Auge behalten.«

Meine Antwort ist eine Mischung aus Nicken und Kopfschütteln.

»Ich habe meiner Mutter aus der Praxis ’nen Haufen Tampons gemopst. Ganz ehrlich, ich sehe nicht ein, dass ich für so was mein Geld ausgebe. Müssen die Jungs doch auch nicht. Also wenn du willst, hole ich dir einen.«

»Ich habe nur ein bisschen Bauchweh. Sonst nichts. Vielleicht was Falsches gegessen«, murmele ich schnell.

»Verstehe.« Gina lächelt, als hätte ich ihr ein Geheimnis anvertraut. »Der Senker hat’s nicht anders verdient. Ich wünschte, jemand würde den mal ins Becken schubsen. Wahrscheinlich würde der laut strampelnd nach seiner Mama brüllen. Und bei uns macht der auf dicke Hose.«

Ich mache mir nicht die Mühe, meiner Freundin zu versichern, dass ich nicht absichtlich die Stunde schwänze. Vielleicht ist es besser, wenn sie an ihre eigene Version glaubt. Eine Version, in der es weniger Fragen gibt. Eine Version, die es nie gegeben hat und niemals geben wird.

Damals

Es ist nur ein winziger Lichtstrahl, der in das Zimmer fällt. Doch er genügt, damit ich augenblicklich hellwach bin. Vielleicht habe ich aber auch überhaupt nicht geschlafen. Bin wie ein Wolf auf der Lauer geblieben, weil ich wusste, dass es jeden Augenblick so weit sein wird.

»Elena?« Es ist ihre Stimme. Wahrscheinlich sind sie beide hier. Das letzte Mal hat sie sich um Sarah gekümmert … und der Blonde … er hat mich mitgenommen.

Ich überlege, ob ich so tun soll, als würde ich noch schlafen. Aber mein Gefühl sagt mir, dass sie es ohnehin nicht dabei belassen würden, und ich habe versprochen, keinen Ärger mehr zu machen.

»Ja«, flüstere ich also in die Dunkelheit. Ich will schon von selbst aufstehen. Schnell raus hier. Vielleicht vergessen sie dann, dass Sarah und die kleine Xelia von nebenan auch hier sind.

»Heute nicht.« Jetzt redet der Dunkelhaarige. »Heute bleibst du im Bett liegen.«

Ich erlaube mir nicht durchzuatmen. Solange sie hier sind, ist es noch nicht vorbei. »Wir werden heute hier im Zimmer spielen. Du magst doch spielen, oder?«

Nein, will ich sagen. Dieses Spiel gefällt mir nicht. Aber das letzte Mal, als ich versucht habe, ihnen das zu sagen, haben sie mich als unartig beschimpft.

»Du weißt doch, dass die Mama böse wird, wenn du nicht gehorchst.«

»Elena? Du magst doch spielen, oder?«, fragt der Blonde jetzt noch einmal. Erst jetzt sehe ich das Handy, das sie auf mich gerichtet hat. Wenn ich nicht gehorche, werden sie das Mama zeigen.

»Ja«, sage ich tonlos. »Wir spielen.«

3. Kapitel Louis

Der Montag ist mein Lieblingstag. Eigentlich schon immer. Früher genügte mir allein das Wissen, dass mir eine ganze Woche bevorstand, in der ich möglichst wenig Zeit zu Hause verbringen würde.

Nach den Herbstferien ist der Schwimmunterricht dazugekommen, weil unsere Turnhalle renoviert wird.

Wir waren als Familie nur selten im Hallenbad. Meine Mutter fürchtete das erhöhte Fußpilzrisiko und mein Vater ertrank selbst an den Wochenenden in seiner Arbeit.

»Weiter so! Du packst das, Louis! Das wird deine Bestzeit!«, höre ich die Stimme meines Sportlehrers durch das Peitschen des Wassers.

In einem Interview mit einem Spitzenschwimmer habe ich gelesen, dass die richtige Gleittechnik einer der unterschätztesten Schlüssel zum Erfolg ist.

Und diese Theorie erweist sich als nicht übel. Als ich mit den Fingerspitzen den Beckenrand berühre, ertönt die Trillerpfeife. Gina, die von Herrn Senker angewiesen wurde, die Zeit zu stoppen, gibt eine Zahl durch. Meine bisherige Bestzeit.

Ich drücke mich mit den Händen am Beckenrand hoch und ziehe mich aus dem Wasser. Meine Muskeln glühen, ich bin im Adrenalinrausch.

»Unglaublich!« Herr Senker kommt strahlend auf mich zu. »Das war unglaublich, Louis. Du hast nicht nur deine Bestleistung hingelegt, sondern gehörst auch zur Top Fünf meiner Schüler aus den letzten Jahren.«

»Vielen Dank!« Ich wringe meine Schwimmhose aus und sehe mit einer Mischung aus Stolz und Verlegenheit hoch.

»Nur die Wahrheit, mein Junge. Wenn ich darüber nachdenke, dass du dich am Anfang gerade so über dem Wasser halten konntest, kann ich es selbst kaum glauben.« Mein Lehrer klopft mir anerkennend auf die Schulter und sieht mich an. »Du bist für mich der lebende Beweis dafür, dass man mit ein bisschen Willen alles schaffen kann. Man braucht nur den richtigen Kampfgeist, Disziplin und Mut. Mach weiter so.«

»Das werde ich. Danke.« In meinem Bauch breitet sich ein kribbeliges Gefühl aus. Wie jedes Mal, wenn Herr Senker etwas dieser Art zu mir sagt.

»Ich kenne Schüler, die bei der erstbesten Herausforderung gleich das Handtuch werfen. So eine Schande, wenn man sieht, wie Menschen ihr Potenzial verschenken.«

Ich folge seinem Blick zu den Stufen am Rand der Schwimmhalle, von wo aus Elena gerade zu uns heruntersieht. Einen Moment zu spät realisiere ich, dass dieses Kompliment in Wahrheit vor allem eines war: ein Seitenhieb in andere Richtung. Elena hat die Bemerkung selbstverständlich gehört. Genau das scheint auch Senkers Absicht gewesen zu sein. Mein stolzes Lächeln erfriert und ich zwinge mich zu einem knappen Nicken.

»Du kannst dich oben hinsetzen und warten, bis die anderen auch fertig sind.«

»Okay.« Ich gehe die Stufen hinauf und schaue vorsichtig zu Elena hinüber. Seitdem Gina die Zeiten mitschreibt, sitzt Elena ganz allein am Rand. Es ist kein Geheimnis, dass sie montags auffällig oft fehlt. Manchmal verschwindet sie auch nur für die Doppelstunde im Schwimmbad. Oder aber sie bleibt wie heute im Trockenen sitzen und starrt auf das Wasser, als würde uns jeden Augenblick ein weißer Hai attackieren.

Sosehr Herr Senker sich ärgert oder die anderen auch tuscheln, irgendwie glaube ich nicht, dass sie aus Bequemlichkeit nicht mitschwimmt. Es ist ihre Körperhaltung, kombiniert mit einer wachen, beinah erschrockenen Mimik, die mich an mich selbst erinnert. Immer dann, wenn mein Vater früher die Hände in die Hüften gestemmt und mir einen Vortrag über Leistung und Gehorsamkeit gehalten hat, habe ich versucht, die Muskeln so lange anzuspannen, bis die Angst in meiner Brust kaum noch zu spüren war.

Ich fahre mit der Hand durch das nasse Haar und sorge versehentlich dafür, dass einzelne Wassertropfen in ihre Richtung fliegen.

»Sorry!«, sage ich schnell und versuche, wenigstens für eine Sekunde Blickkontakt mit ihr zu halten. Anfangs habe ich mir eingeredet, es handele sich nur um ein blödes Spiel, das entstanden ist, weil mir auffiel, dass sie sich immer umdreht oder wegsieht, wenn man sie anschaut. Ich wollte herausfinden, wie lange es dauern würde, bis sie es zulässt. Fünf Sekunden Blickkontakt. Bisher habe ich an meinen besten Tagen keine zwei geschafft und ich verstehe selbst nicht, warum mich das so wurmt.

»Ist nicht dein Ding, oder?«, versuche ich, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.

»Was?« Ihr Kopf bewegt sich in meine Richtung, doch sie sieht irgendwie an mir vorbei.

»Na, schwimmen, meine ich.« Kaum habe ich den Mund aufgemacht, bereue ich es. Das nervöse Zupfen an ihrem Badeanzug verrät, dass sie so ziemlich überall auf dieser Welt lieber wäre als hier. Also beschließe ich, meine Klappe zu halten.

Ich kenne Elena nicht gut genug, um zu wissen, wie sie tickt. Eigenartig, wenn man bedenkt, dass wir zweieinhalb Jahre in eine Stufe gegangen sind. Und uns nach unserem Abitur in wenigen Monaten vermutlich nie mehr wiedersehen.

Bis dahin muss ich unbedingt wissen, wie es sich anfühlt, die fünf Sekunden zu schaffen. Fünf Sekunden in diese smaragdgrünen Augen sehen zu dürfen. Verdammt, ich wünschte, ich könnte mir weiterhin einreden, das hier sei nur ein Spiel. Eine blöde Challenge mit mir selbst, die keinen wirklichen Hintergrund hat. Aber ich war noch nie gut im Lügen.

»Du bist deine Bestzeit geschwommen«, reißt Elena mich unerwartet aus meinen Gedanken.

»Was?« Ich fahre herum. »Ach so … Ja, stimmt.«

»Klingt nicht so, als würde es dir unglaublich viel bedeuten.«

»Doch! Natürlich. Ich liebe Schwimmen. Und du, was magst du? Also ich meine ein Hobby oder so was.« Mist. Das hier war jetzt nicht meine eleganteste Formulierung. Immerhin war ich nicht so plump, als Erstes zu fragen, ob sie einen Freund hat. Nicht, dass mich das irgendwas anginge … Es würde mich aber schon interessieren.

»Ich mag Theater.«

»Oh, cool! Hast du ein Lieblingsstück?«, hake ich neugierig nach. Genau in dem Moment blickt sie auf. Sie sieht mich an, und plötzlich glaube ich, dass es so weit ist. Dass wir die Zwei-Sekunden-Grenze knacken. Doch dann ertönt die Trillerpfeife und zerstört den Moment.

»Ihr sollt auf eurer Bahn bleiben und euch nicht über den Haufen schwimmen!«, bellt unser Sportlehrer durch die Halle. »Manchmal könnte man meinen, ihr habt keine Augen im Kopf.«

»Wow, normalweise spart er sich seine netten Sprüche für mich auf«, murmelt Elena.

»Er ist zu allen ein Arschloch«, antworte ich und setze mich mit einer Armlänge Abstand neben sie auf die Stufen.

»Stimmt nicht. Zu dir ist er anders. Er mag deine Leistungen.« Ich spüre, wie Elena mich von der Seite ansieht, gebe mir jedoch Mühe, nicht zurückzustarren.

»Meine Leistungen? Du meinst, er mag mich, weil ich gut bin?«

»Wenn man jemanden wegen seiner Leistungen mag, mag man nicht ihn, sondern seine Leistung.«

»So … so habe ich das noch nie gesehen.« Ein leicht bitterer Geschmack legt sich auf meine Zunge. Ihre Worte kamen so unerwartet, als hätten die zwei Sekunden Blickkontakt genügt, um in meine Seele zu schauen. Um mehr von mir zu sehen, als ich selbst über mich weiß. Schräg, ich weiß. Selbst in meinem Kopf klingt dieser Gedanke viel zu pathetisch.

»Vielleicht sieht er in dir auch so was wie einen verlorenen Sohn.«

»Du meinst, sie könnten mich im Krankenhaus vertauscht haben?«

Das würde zumindest einiges erklären. Zum Beispiel, warum ich zu neunzig Prozent der Zeit glaube, für meinen Vater eine Enttäuschung zu sein.

»Wenn ich du wäre, würde ich bei meinen Eltern mal nachfragen.«

Eigentlich ist das überhaupt nicht komisch. Und doch amüsiert mich ihr Kommentar. Aus Elenas Mund klingt alles weniger hart. Sie hat eine sehr schöne helle und vor allem weiche Stimme. Eine, die gut zu ihr passt. Ich frage mich, ob ihr das schon mal jemand gesagt hat und ob es seltsam wäre, würde ich es tun. Weil ich keine Zeit habe, über die Antwort nachzudenken, behalte ich den Gedanken erst mal für mich.

Stattdessen greife ich unseren Gesprächsfaden auf.

»Du glaubst also echt, dass jemand wie Senker einen Sohn wie mich haben könnte?«

»Einen Sohn wie dich?« Elena hebt belustigt eine Augenbraue. Um ihre Mundwinkel kräuselt sich ein zartes Lächeln, das man wohl eher als Schmunzeln bezeichnen könnte. Fakt ist: Ich wünschte, ich könnte es häufiger sehen.

»Na ja … ich meine, mal abgesehen von meinem unverschämt guten Aussehen …«

Elena lächelt spöttisch und streicht sich eine rotblonde Haarsträhne aus der Stirn.

»Glaubst du, jemand, der vom Senker abstammt, könnte dir solche Grübchen in die Wangen zaubern?«

Ertappt fasst sie sich ins Gesicht, das plötzlich einen zart-roten Schimmer bekommt.

»Keine Sorge! Sie stehen dir sehr gut.«

Ich lächle, weil ich mich dabei ertappe, sie schön zu finden. Es ist nicht das erste Mal, dass ich das über sie denke. Aber es ist das erste Mal, dass ich es denke und dabei nicht mal ein Meter Entfernung zwischen uns ist.

4. Kapitel Elena

Gefühle sind letztendlich nichts anderes als chemische Reaktionen, die sich in unserem Körper abspielen.

Es ist verrückt, wenn man bedenkt, welch enormen Stellenwert sie für uns haben. Wenn man so will, ist Chemie das auslösende Moment hinter jeder unserer Entscheidungen.

Die Chemie bringt uns dazu, zu heiraten oder Kinder zu bekommen.

Die Chemie entscheidet, wann wir panisch werden, weinen oder morgens wach werden und wissen, dass wir an diesem Tag keine Chance haben, zu funktionieren. Einfach so. Da gibt es irgendeine chemische Reaktion, die dem Körper »Depression! Jetzt!« signalisiert, und plötzlich ergibt nichts auf der Welt mehr einen Sinn. Man denkt sich: Ich könnte die Decke beiseiteschieben und zumindest etwas frühstücken, doch gleichzeitig gibt es diese Stimme, die laut »Wozu?« fragt. Wozu essen, lernen, lieben, wenn wir irgendwann zu Staub zerfallen? Wozu aufraffen, wenn ich heute Abend ohnehin wieder schlafen gehe? Nichts ergibt mehr einen Sinn.

Die Welt ist eine Mischung aus Schwarz … und Schwarz.

»Ellie, du liegst ja immer noch im Bett. Du musst aufstehen, mein Schatz. So wird das doch nie besser.« Meine Mutter ist das Fläschchen Deckweiß in einem Wasserfarbkasten. Sie versucht, die schwarzen Flecken aufzuhellen.

»Mama«, brumme ich. »Bitte … Bitte lass mich!«

»Sagst du mir Bescheid, wenn du was brauchst?«

»Mach ich.«

Meine Mutter will meine Welt zumindest in Grau verwandeln, obwohl wir beide wissen, dass sie das nicht kann. Dass das Deckweiß längst vertrocknet ist, während das Schwarz auch nach Jahren noch hervorragend funktioniert.

Warum ich ausgerechnet an dieses Bild denken muss, als meine Mutter mit gesenktem Kopf das Zimmer verlässt, kann ich nicht sagen. Vielleicht, weil mein Unterbewusstsein mich daran erinnern will, dass ich ausgerechnet jetzt eine Doppelstunde Kunst gehabt hätte.

Eigentlich gehören die kreativen Fächer zu denen, die ich am liebsten mag. Doch heute ist einer der Tage, an denen sich die Schatten auch über die Dinge legen, die normalerweise schön sind. An denen ich das Bett nicht verlassen kann. Wegen der Chemie.

In diesem Zustand sehe ich mein eigenes Leben wie durch einen dünnen Vorhang. Alles trägt einen Grauschleier.

Noch mehr Zeit verbringe ich allerdings damit, zu schlafen.

Es mag ironisch klingen, aber den erholsamsten Schlaf finde ich dann, wenn es draußen hell und lebendig ist. Wenn ich mich weniger auf der Hut fühle. Die Gedanken leiser werden. Die Erinnerungen blasser. Wenn auch nur für wenige Stunden …

* * *

Als es am Nachmittag an meiner Zimmertür klopft und die Tür aufgeht, bleiben mir etwa zwei Herzschläge Zeit, zu überlegen, ob ich mich lieber schlafend stellen sollte.

Ich habe keine Energie, zu diskutieren, warum ich immer noch auf meinem Bett liege, geschweige denn, wie ich vorhabe, die Abiturprüfungen zu meistern, wenn ich es nicht einmal aus meinem Pyjama schaffe. Ehrliche Antwort? Ich weiß es selbst nicht. Es gibt sogar Momente, in denen es mir vollkommen egal ist, weil die Chemie mich glauben lässt, dass es kein Danach mehr gibt. Kein »Es wird besser«. Und wenn das hier das »Immer« ist, wüsste ich nicht, warum ich meinen kleinen Zeh bewegen, geschweige denn mich anziehen sollte.

Um einem Gespräch zu entkommen, lasse ich den Kopf in das Kissen fallen und warte mit geschlossenen Augen, dass meine Mutter wieder verschwindet. Doch aus irgendeinem Grund tut sie das nicht.

Sie steht im Türrahmen, das kann ich hören, wobei ihre Atmung etwas schneller ist als sonst. Es sind nur neun Stufen hoch bis zu meinem Zimmer unterm Dach, aber sie klingt, als hätte sie einen Berg bestiegen.

»Sarah hat mich reingelassen.«

Ich reiße die Augen auf und drehe meinen Kopf zur Tür, in der Erwartung, mir die Stimme nur eingebildet zu haben.

Aber nein, meine Mutter hat weder einen plötzlichen Stimmbruch durchgemacht, noch hat sich das letzte bisschen klarer Verstand, das mir geblieben ist, aufgelöst. Da ist Louis. Der Louis. Verdammt, ich kenne nur einen Louis. Und der ist groß, athletisch gebaut, hat dunkle wuschelige Haare und einen markanten Kiefer. Aber Louis kann unmöglich in meinem Zimmer stehen.

»Störe ich?«

Oder … doch. Er steht in meinem Zimmer. Genauer gesagt immer noch im Türrahmen.

»Ich habe gehört, dass du krank bist, und dachte, ich bringe dir die Arbeitsblätter aus der Schule vorbei.« Ein zögerliches Lächeln. Am liebsten würde ich mir die Augen reiben, weil ich noch immer nicht glauben kann, dass das hier echt ist.

»Du bist extra dafür hergekommen?«

»Na ja, ich wollte eigentlich auch fragen, wie es dir geht.«

Ich brauche einen Augenblick, um mich zu sortieren. Verdammt … ich bin immer noch im Pyjama. Das Oberteil ist ein viel zu großes Baumwollhemd mit Knopfreihe, dessen untere Knöpfe kaputt sind. Dazu trage ich schwarze Leggins und dicke Plüschsocken mit bunten Wolken drauf. Das Schlimmste aber ist, dass ich ungeschminkt bin. Nackt. Ja, so fühlt es sich für mich an. Ich trage nicht einmal Mascara, dabei existiere ich normalweise ohne das Zeug nicht einmal.

Normalweise bekomme ich aber auch keinen Besuch. Was möglicherweise daran liegt, dass ich bisher noch niemanden zu mir nach Hause eingeladen habe. Noch nicht einmal Carla oder Gina. »Das ist lieb von dir«, bringe ich als Reaktion zustande. Dabei kommt mir alles, was ich sagen könnte, ziemlich wenig vor. Ich schätze, meine Gehirnzellen sind zu sehr damit beschäftigt, an einer Methode zum Unsichtbarwerden zu arbeiten. Leider nur nicht schnell genug.

»Es hat mir keine Umstände gemacht. Ich komme ohnehin hier vorbei, wenn ich Rad fahre.«

Das tut Gina auch. Und trotzdem hat sie mir die Blätter immer erst dann gegeben, wenn ich wieder zurück in der Schule war.

»Ich …« Ein Anflug von Verlegenheit huscht über Louis’ Gesicht. »Außerdem wollte ich noch etwas loswerden, was ich eigentlich schon gestern sagen wollte, aber …« Er fährt mit der Zunge über seine Lippe, was meinen Herzschlag plötzlich etwas beruhigt, denn ich denke, das bedeutet, dass er ebenfalls nervös ist.

»Ich war nicht da«, ergänze ich seinen Satz. »Bin krank.« Okay, dieser Zusatz war überflüssig, aber rechtfertigt vielleicht noch mal die Tatsache, dass ich aussehe, wie ich aussehe.

»Genau. Deshalb dachte ich, ich sage es dir hier. Also, dass es mir leidtut, was Herr Senker vorgestern beim Schwimmen gesagt hat.«

»Hm?«, mache ich, als hätte ich ihn nicht richtig verstanden. Und irgendwie stimmt das auch, denn mein Hirn ist immer noch ein Durcheinander aus Wolkensocken, braunen Wuschelhaaren und Leere.

»Dass er mich benutzt hat, um dich runterzumachen. Ich hätte widersprechen sollen.«

»Das ist doch nicht deine Aufgabe. Wirklich nicht.« Ich bin überrascht, dass er sich diesen kurzen Moment überhaupt gemerkt hat.

»Ich weiß. Ich wünschte trotzdem, ich hätte es getan. Er verhält sich manchmal wie ein Arschloch und bekommt das definitiv zu selten gesagt.«

Jetzt muss ich tatsächlich lachen. Nur leise, eher ein Kichern, das jedoch genügt, um mich zum ersten Mal an diesem Tag etwas zu entspannen.

»Ich gebe zu, dass ich das gerne gesehen hätte«, gestehe ich und versuche, mir die Reaktion unseres strengen Sportlehrers vorzustellen. Unmöglich.

»Ich auch.« Louis zögert einen Moment. »Wusstest du, dass der Senker als Kind gelähmt war?«

»Bitte was?« Erstaunt reiße ich die Augen auf. »Niemals!«

»Eine ganz seltene Neuroimmunerkrankung. Transverse Myelitis nennt sich das. Betroffene erleiden eine Entzündung im Rückenmark. Er hat zwei Lebensjahre im Rollstuhl verbracht.«

»Das ist doch bestimmt nur ein Gerücht«, überlege ich und beginne, an dem Knopf meines Hemdes herumzuspielen. Vielleicht sollte ich Louis fragen, ob er sich setzen will? Aber nein, das käme sicher etwas seltsam rüber.

»Nein. Er hat es mir selbst erzählt. Wenn man es weiß, kann man es manchmal immer noch sehen. Aber sonst hat er sich gut davon erholt.« Louis sieht zu meinem Bett. Seine Augen wandern über meine blaue Bettdecke zu dem Arielle-Poster, das über der schrägen Wand hängt. Spätestens jetzt möchte ich mich in Luft auflösen.

»Er hat es dir erzählt?«, frage ich und trete instinktiv einen Schritt zur Seite, um das peinliche Kinderposter zu bedecken. Ob Louis die Ironie hinter diesem Bild bemerkt? Ich meine … Arielle, die kleine Meerjungfrau …

Louis muss sein neugieriges Gucken bemerkt haben, denn er wendet schlagartig den Blick ab und sieht stattdessen zu mir. »Behalt es für dich, okay? Ich habe es nie jemandem weitergesagt, weil ich denke, dass es keinen etwas angeht.«

Nervös beiße ich mir auf die Unterlippe.

»Wieso hast du es dann mir erzählt?«

»Ich dachte, vielleicht hilft es dir, zu sehen, dass auch jemand wie Senker sein Päckchen zu tragen hat. Der Sport ist alles für ihn. Ich schätze, du löst etwas in ihm aus, indem du seinen Unterricht meidest.«

»Ich schwänze nicht«, presse ich hervor.

»Das weiß ich«, kommt es von Louis so schnell zurück, dass ich keine Sekunde an der Echtheit seiner Antwort zweifle. Eigenartig! Normalerweise bekomme ich nach einer solchen Versicherung ein Grinsen zu sehen.

Ich kann niemandem verübeln, dass man mir nicht glaubt. Doch wieso … wieso tut Louis es? Wieso glaubt er mir einfach so und vertraut mir sogar ein Geheimnis an?

»Ich werde es niemandem weitersagen«, verspreche ich und spüre, wie sich etwas in mir entspannt.

Als Louis geht, verspricht er, am nächsten Tag wiederzukommen. Wegen der Arbeitsblätter, auf die ich mich plötzlich freue.

* * *

Am Freitag ist der dritte Tag in Folge, an dem Louis mich besucht. Diesmal ist es fast achtzehn Uhr, als er an meine Zimmertür klopft. Ich verrate ihm nicht, dass ich mir sicher war, er würde heute nicht mehr kommen.

»Ich habe bis eben gelernt. Wegen der Prüfungen bald.«

»Bald?« Es ist Anfang November. Die schriftlichen Prüfungen finden im April statt.

»Gibt eine Menge Stoff.«

Stimmt. Bisher habe ich versucht, diese Tatsache zu verdrängen. Denn auch wenn ich es kaum abwarten kann, dass die Schulzeit endlich vorbei ist, weiß ich, dass die Klausuren nicht einfach werden. Zwar habe ich es bisher immer irgendwie geschafft, den verpassten Stoff allein nachzuholen, doch die Abiklausuren scheinen mir noch mal eine besondere Hürde zu sein.

»Lernst du immer so viel oder erst jetzt kurz vorm Ende?« Wenn ich ehrlich bin, habe ich Louis immer für einen Überflieger gehalten, dem die guten Noten einfach zufliegen. Wahrscheinlich ein blödes Klischee, dass ich eine Kombination aus Nerd und Sportler für unwahrscheinlich hielt. Als würden sich Lernen und Muskeln irgendwie ausschließen …

»Ich fürchte, ich bin ein Fall von von nichts kommt nichts«, sagt Louis und ich schäme mich, weil ich so blöde Vorurteile hatte. »Sagt mein Vater jedenfalls«, fügt er leise hinzu und zuckt mit den Schultern.

»Verstehe. Dann sind deine Eltern sehr streng?«

»Je nachdem, wie andere Eltern so sind.«

Weil ich das Gefühl habe, dass er mit seiner Antwort ausweicht, wechsle ich das Thema und frage ihn, ob er sich nicht setzen möchte.

Er lässt sich auf meinen Schreibtischstuhl sinken und rollt neben mich ans Bett. Genau hier hat er gestern auch gesessen, wenn auch nur für ein paar Minuten, in denen er mir die Matheübung erklärt und geduldig gewartet hat, bis ich tatsächlich alles verstanden hatte.

»Du solltest Nachhilfe geben. Ich glaube, ich habe gerade zum ersten Mal kapiert, wofür man eine Ableitung benutzt«, meinte ich, woraufhin er nur grinste und behauptete, er sei maximal durchschnittlich.

So ähnlich verläuft auch dieser Abend, nur dass wir gemeinsam die literarischen Epochen durchgehen. Ein wenig stolz stelle ich dabei fest, dass ich in Deutsch ein klitzekleines bisschen besser bin als er, und Louis gesteht, er habe bisher bei jeder Gedichtanalyse geraten, um welches Versmaß es sich handelt.

»Es geht um den rhythmischen Aufbau eines Gedichts. Man kann das Metrum raushören, indem man darauf achtet, welche Silben betont und welche unbetont sind. Nehmen wir zum Beispiel den Jambus. Der besteht immer aus zwei Silben. Die erste Silbe ist unbetont und die zweite ist betont. Stell dir vor, du sagst das Wort ›Verstand‹. Du betonst dabei die zweite Silbe.«

Louis hebt eine Augenbraue und sieht dabei so komisch aus, dass ich grinsen muss.

»Das ist wirklich nicht schwierig. Du musst am Ende nur noch darauf achten, wie der Vers endet. Wenn ein Vers mit einer betonten Silbe endet, nennt man das eine männliche Kadenz. Endet er unbetont, spricht man von einer weiblichen Kadenz. Das gibt dem Gedicht einen bestimmten Klang am Ende jedes Verses.«

»Was ein Blödsinn.« Louis seufzt. »Da bin ich mit dem Raten gar nicht so schlecht dran.«

»Das machst du nach meiner großartigen Erklärung gefälligst nie wieder.« Ich beuge mich vor und verpasse dem Schreibtischstuhl einen amüsierten Stoß, sodass Louis ein Stück nach hinten rollt.

»Mal sehen. Weißt du, wie spät es ist? Mein Handy ist fast leer.«

»Viertel vor sieben gleich«, antworte ich und beobachte, wie er im nächsten Moment verspannt.

»Fuck, dann muss ich jetzt dringend los.« Sein Tonfall klingt plötzlich ernst.

Ich will ihn fragen, was er noch Wichtiges vorhat, komme aber nicht mehr dazu, weil er sich stürmisch verabschiedet.

Erst am Montag sehen wir uns wieder.

Die ganze nächste Woche versorgt Louis mich mit den Unterlagen aus der Schule. Und jeden einzelnen Tag, wenn er sich neben mich ans Bett setzt, erwarte ich, dass er mir heute diese eine Frage stellt. Die eine Frage, die früher oder später jeder stellen würde: Warum kommst du nicht zur Schule? Wann bist du wieder gesund? Wieso siehst du überhaupt nicht krank aus?

Es vergehen insgesamt zwei Wochen, in denen er kommt und geht, ohne irgendwelche Erklärungen von mir zu verlangen. Stattdessen interessiert er sich für ganz andere Dinge. Während die Novembertage draußen dunkler werden, reden wir über Gott und die Welt.

»Du hast mir immer noch nicht verraten, welches Stück du besonders magst.«

»Welches Stück?«, frage ich verwirrt.

»In der Schwimmhalle meintest du, dass du Theater liebst.«

Das hat er sich gemerkt?

»Oh ja, das stimmt. Ich habe aber kein richtiges Lieblingsstück. Zuletzt hat mir Der Mann im Mond gut gefallen.« Mama ist mit uns hingegangen, als sie Urlaub hatte. Ich glaube, sie hatte Streit mit Ronald und wollte deshalb weg von zu Hause. Da kamen ihr die Tickets, die meine Großeltern uns geschickt hatten, sehr gelegen.

»Klingt interessant.«

Die wenigsten Leute, die ich kenne, interessieren sich für Theater.

Aber es ist nicht das Einzige, was an Louis besonders ist. Die meisten Menschen reden lieber von sich. Louis hört mir zu. Vor allem dann, wenn ich nicht versuche, mit ihm über Gedichtanalysen zu reden. Und nein, er hört nicht nur zu, er merkt sich die Dinge auch noch.

Als ich einmal in einem Nebensatz erwähne, dass ich früher gerne saure Gummibärchen gegessen habe, bringt er mir am nächsten Tag eine ganze Tüte mit.

Irgendwann spielen wir mehrere Runden »Wer bin ich?«. Ich kenne niemanden, der so gut darin ist wie Louis.

»Weißt du, was ich langsam glaube … Ich glaube, dass du schummelst. Du hast irgendeinen Trick.«

»Ich stelle nur die richtigen Fragen«, hält er dagegen.

Das Wochenende vergeht ausnahmsweise viel zu langsam. Ich öffne zum ersten Mal die Nachrichten, die ich von Gina und Carla bekommen habe. Sie wollen wissen, wie es mir geht und ob sie etwas für mich tun können.

Als ich »geht langsam bergauf« schreibe, bin ich überrascht, dass es sich zum ersten Mal seit Langem nicht mehr so sehr nach einer Lüge anfühlt. Und doch verliere ich am nächsten Montag, als Louis endlich wieder zu Besuch kommt, kein Wort darüber, wie sehr ich mich auf ihn gefreut habe.

In der Nacht auf den Dienstag höre ich meine Mutter und Ronald wieder streiten, weshalb mir zwangsläufig das Buch aus der Schulbücherei einfällt. Das über die Liebe, die als Krankheit behandelt wird. Deshalb bitte ich Louis nachzusehen, ob es mittlerweile vielleicht zurückgebracht wurde.

Er bringt es mir am Freitag mit und ich verspüre eine prickelnde Aufregung, als ich den Buchumschlag vorsichtig abnehme, um bloß nichts zu beschädigen.

»Was hast du morgen vor?«, frage ich, weil ich bei dem Gedanken, das ganze Wochenende auf ihn zu warten, plötzlich ein Ziehen in meiner Brust verspüre.

»Ich schätze, ich werde die meiste Zeit mit Lernen verbringen.«

»Schon wieder? Du lernst so viel.« Mir kommt Louis’ Ehrgeiz für einen Siebzehnjährigen ungewöhnlich vor. Soweit ich weiß, geht es den meisten in unserer Stufe nur darum, durchzukommen. Die Schule hinter sich zu bringen. Es wäre gelogen, wenn ich mich nicht dazuzählen würde. Der Gedanke, mich nie mehr an diesen Ort kämpfen zu müssen, lässt den Druck in meiner Brust ein klitzekleines bisschen weniger werden.

»Wenn mein Abi gut genug ist, kann ich vielleicht ein Stipendium bekommen.« Louis fasst sich in den Nacken. »Jedenfalls ist das der Plan.«

»Weißt du denn, was du nach der Schule machen willst?«

»BWL studieren«, kommt es unerwartet schnell aus seinem Mund. Und wieder schiebt er einen Halbsatz nach, der mich aufhorchen lässt. »Wie mein Vater.«

»Dann ist dein Vater so was wie ein Vorbild für dich?«

»Keine Ahnung.« Louis legt die Stirn in Falten. Sein Gesicht erhellt sich wieder, als er die Gegenfrage stellt: »Und du? Was willst du machen?«

»Ich schätze, meine Chancen, eine erfolgreiche Schauspielerin zu werden, sind ziemlich gering. Deshalb würde ich gerne etwas anderes Kreatives machen. Zum Beispiel für eine Zeitung schreiben.«

»Das klingt spannend. Liest du allgemein viel?« Er deutet auf das Buch, das er mir mitgebracht hat.

»Nur dann, wenn mich ein Titel gezielt anspricht«, erkläre ich und fahre mit den Fingern die geprägten Buchstaben auf dem Einband nach. Delirium. Ein Wort, das gleichzeitig schön und bedrohlich klingt.

»Und was war an diesem hier so spannend?«

»Das Thema. Es ist eine Dystopie, also eine Geschichte, die in einer düsteren Zukunft spielt. In dieser Welt geht man davon aus, dass die Liebe eine gefährliche Krankheit ist, gegen die man sich durch eine Behandlung immunisieren muss. Die Protagonistin der Geschichte wird innerhalb dieses Systems groß, beginnt es aber eines Tages zu hinterfragen«, fasse ich für Louis den Klappentext zusammen.

»Klingt tatsächlich interessant. Obwohl die Vorstellung, dass wir uns vor der Liebe schützen müssen wie vor einem Infekt, wohl jede existierende Form von Romantik zerstört.«

»Sag bloß, du bist ein Romantiker.«

Louis lächelt. »Ich fürchte, mir fehlt die Erfahrung, um das zu beurteilen.«

Nervös fahre ich mit der Zunge über meine Lippen. Will Louis damit sagen, dass er noch keine Freundin hatte? Bisher hat er jedenfalls nie ein anderes Mädchen erwähnt, das weiß ich genau, weil mir das sofort aufgefallen wäre. Eines steht fest: Wenn Louis aktuell in einer Beziehung wäre, hätte er keine Zeit, um neben dem Lernen so viel bei mir zu sein. Oder?

»Was machst du am Wochenende?«, durchbricht er meine Gedanken und ich fühle mich irgendwie ertappt.

Ich zucke mit den Schultern. Auf einmal fühle ich mich so klein und unbedeutend. Ich habe keine spannenden Pläne, von denen ich erzählen kann. Und auf keinen Fall werde ich ihm sagen, dass ich gehofft habe, er könne auch außerhalb von Schultagen vorbeischauen.

»Vielleicht werde ich auch etwas lernen. Mal sehen!«

»Sag bloß, ich habe einen guten Einfluss auf dich?« Scherzhaft legt sich Louis eine Hand auf die gespannte Brust.

»Bilde dir bloß nichts drauf ein!« Wenn er wüsste …

»Keine Sorge! Aber hey, sollte dein Kopf danach noch Kapazitäten haben … wie wäre es, wenn du in dem Buch liest und mir das nächste Mal alles darüber erzählst?«

»Interessiert dich das überhaupt?«

»Natürlich. Ich interessiere mich für alles, was dich interessiert.«

Hitze schießt mir in die Wangen. Hitze, kombiniert mit einem ungewohnten Kitzeln auf der Haut.

»Wann ist das nächste Mal? Wirst du am Montag wiederkommen?«

»Willst du, dass ich wiederkomme?«

Ich nicke, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern.

»Dann bis Montag, Ellie.«

Er nennt mich zum ersten Mal bei meinem Spitznamen, was das Kitzeln noch stärker werden lässt.

»Louis?«

»Ja?«

»Danke!« Ich deute auf das Buch, das er neben mich auf die Decke gelegt hat. »Fürs Mitbringen!« Dabei wissen wir beide, dass damit mehr gemeint war.

Damals

Das Durcheinander in meinem Kopf kommt von der Zauberbrause. Die kribbelt im Gehirn heute ungewöhnlich lang nach, sodass es sich anfühlt, als hätte ich die Nacht kein Auge zugemacht.

Ich versuche, mir nichts anmerken zu lassen. Wenn die Erwachsenen merken, dass die Zauberbrause nicht die gewünschte Wirkung hat, dann könnten sie denken, ich sei irgendwie kaputt oder so. Vielleicht bin ich das ja auch? Die Zauberbrause gibt es sowieso nur ein Mal im Monat, immer an einem Freitag. Sie haben uns erklärt, dass das etwas mit den Geistern zu tun hat, die nachts um die Häuser ziehen und abwechselnd alle Kinder besuchen. Nur die Kinder. Ein Mal im Monat sind wir dran und dann ist die Zauberbrause das einzige Mittel, was uns beschützen kann.

Es ist ein paar Monate her, da habe ich Mama gefragt, ob sie sich noch an ihre Geister erinnern kann. Als Mama entsetzt meinte, dass es keine Geister gäbe, war ich so wütend, dass ich mir geschworen habe, das Gegenteil zu beweisen.

Ich tat deshalb etwas, wovon ich niemandem – wirklich niemandem – erzählt habe. Bis heute nicht. Ich habe die Zauberbrause heimlich ausgespuckt und unter dem Kopfkissen versteckt. Natürlich wusste Sarah nichts davon. Sie hat ihre Brause brav genommen und geschlafen.

Als die Tür irgendwann aufging, waren da zuerst nur sie, die uns mitgenommen haben.

Vielleicht fahren wir weit weg, irgendwohin, wo die Geister uns nicht finden, dachte ich noch. Stattdessen haben sie uns in einen Keller gebracht. Es war so dunkel, dass ich trotz Blinzeln nichts sehen konnte. Aber ich habe jemanden gespürt. Einen Körper. Dann noch einen. Und noch einen. Die Geister … sie sahen aus wie Menschen … aber sie waren so grausam, dass es unmöglich welche sein konnten.

Sie waren überall. Auch über mir. Vielleicht sind sie geflogen. Ihre großen Köpfe und die ganzen Körper.

Das war der Moment, in dem ich bereut habe, die Zauberbrause nicht genommen zu haben. In dem ich mir geschworen habe, die Geister niemals irgendjemandem gegenüber zu erwähnen, geschweige denn, sie noch einmal sehen zu wollen.

Seit dieser Nacht weiß ich, dass das Kribbeln, das ich heute im Kopf habe, im Vergleich zu den Geistern gar nicht so schlimm ist. Ich bin sogar froh, dass es da ist, weil es bedeutet, dass die Zauberbrause mich beschützt hat.

Als Mama und Ronald uns heute nach ihrer gemeinsamen Nachtschicht am Flughafen abholen, fragt Mama, was wir gestern Nachmittag gemacht haben.

»Wir waren Kirschen ernten«, antwortet der Dunkelhaarige und beugt sich lächelnd zu mir. »Das war doch schön … das Kirschenernten, oder?«

»Ja«, sage ich, kann mich aber nicht mehr erinnern. Das kommt bestimmt von der Zauberbrause. Da Kinder den Erwachsenen nicht widersprechen sollen, nicke ich schnell. »Es war schön. Ich liebe Kirschen.«

5. Kapitel Elena

»Ich konnte doch nicht ahnen, dass es noch einen zweiten Band gibt«, beende ich meinen ausführlichen Lektürebericht am Montag. Wie immer sitze ich auf dem Bett, die Decke bis zur Hüfte hochgezogen … mit einem Unterschied: Ich habe die Beine angewinkelt, um Platz für Louis zu lassen, der heute nicht auf meinem Stuhl sitzt, sondern mit mir auf der Matratze.

»Ich habe so mitgefiebert und plötzlich war der Roman vorbei. So ein verdammter Cliffhanger.« Eine Antwort auf die »Ist Liebe jetzt etwas Gutes oder am Ende doch gefährlich?«-Frage habe ich noch nicht.

»Du weißt also nicht, ob sie mit Alex zusammengekommen ist?«

Überrascht reiße ich die Augen auf. »Ich habe seinen Namen überhaupt nicht genannt.«

Louis grinst. »Woher soll ich wissen, ob du das Buch aufmerksam gelesen hast, wenn ich nicht selbst mal einen Blick reinwerfe?«

»Woher …?«

»Auf der Zülpicher Straße der kleine Buchladen … Egal was man bestellt, am nächsten Tag ist es sofort da.« Er macht eine kurze Pause. »Dementsprechend bin ich natürlich vorbereitet.« Er kramt in seinem Rucksack und zieht wenige Sekunden später ein dickes Taschenbuch hervor.

»Du hast mir ein Buch gekauft?« Bevor ich zu einem Protest ansetzen kann, hat Louis mir schon das Wort abgeschnitten.

»Meine Mutter besorgt mir jedes Buch, das ich haben will. Lesen ist Bildung, you know? … Und streng genommen ist das auch das Einzige, was sie an mir interessiert.« Sein Seufzen lässt darauf schließen, dass das Verhältnis zu seinen Eltern kompliziert ist. Weil er die letzten Male auf Nachfragen zu seiner Familie nicht eingegangen ist, traue ich mich nicht nachzuhaken.

»Ich möchte trotzdem nicht, dass deine Mutter Geld für mich ausgibt.«

»Entspann dich, Ellie. Die Bücher waren nicht teuer.«

»Die Bücher?«, quietsche ich auf.

»Na ja … Ich konnte doch nicht riskieren, dass der Cliffhanger von Band zwei dich wieder fast umbringt. Also habe ich das getan, was jeder vernünftige Mensch in einem Buchladen tut.« Triumphierend greift er in seine Tasche und holt ein weiteres Buch heraus. »Tada! Keine Sorge! Einen Vierten gibt es nicht.« Er reicht mir das Exemplar und ich muss als Erstes daran schnuppern. Ich liebe den Geruch von frischen Büchern.

»Du sollst mir keine Geschenke machen«, erinnere ich mich gerade noch rechtzeitig an meine guten Manieren, bevor ich tief mit der Nase zwischen den Seiten abgetaucht bin.

»Das ist doch kein richtiges Geschenk«, widerspricht Louis mit einem unschuldigen Grinsen.

»Ach nein?« Ich hebe eine Augenbraue.

»Sieh es als eine Art Leihgabe! Vielleicht möchte ich sie danach auch noch lesen. Wenn man es so sieht, habe ich also ziemlich egoistisch gehandelt.«

»Du bist unmöglich.« Ich nehme ein Kissen und schlage nach ihm, woraufhin Louis sich auch eines schnappt und sich gnadenlos rächt. Wir verfallen in lautes Gekicher und können beide nicht mehr aufhören. Ich vergesse alles um mich herum, da sind nur noch wir, Louis und ich. Es kommt mir vor, als hätte es dieses »Wir« schon immer gegeben. Alles an Louis’ Nähe fühlt sich neu und vertraut zugleich an. Und in meinem wild schlagenden Herzen fühlt sich das so richtig an wie kaum ein Gefühl, das ich je hatte.

Louis startet zu einem nächsten Angriff.

»Das ist kein Kissen«, protestiere ich, als mich mein Stern an den Schultern trifft.

»Kein … was?«

»Das ist Stern.« Im selben Augenblick, in dem ich die Worte ausspreche, wird mir klar, wie seltsam es für ihn klingen mag. Ich meine, wie viele Siebzehnjährige haben einen Kuscheltierstern in ihrem Bett liegen und nennen ihn immer noch beim Namen?

»Oh, das tut mir leid. Ich …« Mitten im Satz hält er inne. Ich wünschte, ich müsste nachfragen, warum. Doch die Stimmen, die durch die Wände dringen, sprechen im wahrsten Sinne des Wortes für sich.

»Ich weiß nicht, was du noch von mir willst.« Das ist Mamas Freund Ronald.

»Das tue ich doch.« Wieder er.

»Ich reiße mir den Arsch für euch auf!« Und schon wieder.

»Niemand zwingt dich dazu.« Jetzt höre ich auch meine Mutter.

Ich hätte mich auf den Moment vorbereiten müssen. Natürlich hätte ich das. Louis wird Fragen stellen, die ich ihm nicht beantworten kann. Nicht beantworten darf. Weil niemand außerhalb unserer vier Wände das Geheimnis kennt. Das schlechte Geheimnis.

»Es gibt gute und schlechte Geheimnisse. Die, die einem Bauchschmerzen machen, die darf man auch erzählen.«

»Sie sind beide überarbeitet«, versuche ich, es Louis zu erklären. »Es ist nichts Ernstes.«

Nur unser verkorkstes Leben.

»Keine Sorge, ich kenne das. Meine Eltern streiten auch oft. Man muss irgendwie versuchen, nicht zwischen die Fronten zu geraten.«

Ich möchte ihm gerne zustimmen, doch gleichzeitig würde sich ein Nicken wie eine Lüge anfühlen. Wenn Mama und Ronald streiten, geht es nicht um zwei verschiedene Meinungen. Es geht darum, dass jeder versucht, nicht zu ertrinken. Sie krallen sich aneinander fest und ziehen sich noch tiefer nach unten. Aber das kann ich so nicht sagen.

Ist doch egal, ob es stimmt, was du ihm erzählst. Du lügst Carla ständig an.