DARKNET - Daniel Suarez - E-Book + Hörbuch

DARKNET Hörbuch

Daniel Suarez

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Beschreibung

Die Welt ist nur ein Spiel – das Überleben der Menschheit der Preis. Ein DAEMON hat die digitale Welt erobert, und wer das Internet beherrscht, beherrscht auch den Planeten. Die Menschen, die sich ihm unterordnen, erleben die Realität wie ein Computerspiel und werden mit ungeheuren Kräften ausgestattet. Nach und nach gewinnt der DAEMON immer mehr Macht jenseits der Datenströme. Und staunend erkennt die Menschheit: Vielleicht ist das die Rettung der Zivilisation. Doch diejenigen, die bisher das Sagen hatten, wollen sich nicht kampflos entthronen lassen. So treten die Söldnerarmeen des Global Business an gegen den DAEMON. Und bald herrscht Terror in allen Ländern, brennen Städte und Dörfer, rüsten sich zwei Heere zur letzten Schlacht. «Diese beiden Romane bilden zusammen den Cyberthriller, an dem sich in Zukunft alle anderen messen lassen müssen.» (Publishers Weekly über DAEMON und DARKNET)

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Zeit:12 Std. 42 min

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Daniel Suarez

Darknet

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann

 

Über dieses Buch

Die Welt ist nur ein Spiel – das Überleben der Menschheit der Preis.

 

Ein DAEMON hat die digitale Welt erobert, und wer das Internet beherrscht, beherrscht auch den Planeten. Die Menschen, die sich ihm unterordnen, erleben die Realität wie ein Computerspiel und werden mit ungeheuren Kräften ausgestattet. Nach und nach gewinnt der DAEMON immer mehr Macht jenseits der Datenströme. Und staunend erkennt die Menschheit: Vielleicht ist das die Rettung der Zivilisation.

Doch diejenigen, die bisher das Sagen hatten, wollen sich nicht kampflos entthronen lassen. So treten die Söldnerarmeen des Global Business an gegen den DAEMON. Und bald herrscht Terror in allen Ländern, brennen Städte und Dörfer, rüsten sich zwei Heere zur letzten Schlacht.

 

«Diese beiden Romane bilden zusammen den Cyberthriller, an dem sich in Zukunft alle anderen messen lassen müssen.»

(Publishers Weekly über DAEMON und DARKNET)

Vita

Bevor Daniel Suarez seinen ersten Roman begann, machte er als Systemberater und Softwareentwickler Karriere. «Daemon» veröffentlichte er 2006 unter Pseudonym im Eigenverlag. Nachdem der Roman die Internet- und Gaming-Community im Sturm erobert hatte, wurde ein großer amerikanischer Verlag auf das Buch aufmerksam. In der neuen Ausgabe wurde «Daemon» zum Bestseller; eine Verfilmung ist in Vorbereitung. «Darknet» ist der zweite Roman des Autors, der von seinen Fans mit fast noch größerer Begeisterung begrüßt wurde. Daniel Suarez lebt und arbeitet in Kalifornien.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel «Freedom™» bei Dutton/Penguin Group, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Mai 2011

Copyright © 2011 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

«Freedom™» Copyright © 2010 by Daniel Suarez

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Redaktion Jan Valk

Umschlaggestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Umschlagabbildung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-25244-0 (1. Auflage 2011)

ISBN E-Book 978-3-644-44291-7

www.rowohlt.de

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Erster Teil

1 In der Dunkelheit

2 Operation Exorcist

3 Viral

4 Ende der Spur

5 Einsichten

6 Begegnung

7 Das schamanische Interface

8 Erebus

Zweiter Teil

9 Saatgutpolizei

10 Maisfarmer-Rebellion

11 Gejagt

12 Meisterwerk

13 Epiphanie

14 Modell China

15 Nur eine Information

16 Gepwnt

17 Unsterblichkeit

18 Unterwelt

19 Scheideweg

20 Datenfluch

21 Exploit

22 Identitätsdiebstahl

Dritter Teil

23 Ultimatum

24 Grüne Wüste

25 Schwarze Operationen

26 Privatsphäre

27 Wiedervereint

28 Sky Ranch

29 Verbrannte Erde

30 Quarantäne

31 Vernichtung

32 Der brennende Mann

33 Fiasko

34 Kalte Realität

35 Infiltration

36 Downtime

37 Logische Bombe

38 Deus ex machina

39 Endgame

40 Exit-Strategie

Lektüretipps

Dank

Für die Generation Y

Hinter der sichtbaren Regierung sitzt auf dem Thron eine unsichtbare Regierung, die dem Volk keine Treue schuldet und keine Verantwortlichkeit anerkennt. Diese unsichtbare Regierung zu vernichten, diesen gottlosen Bund zwischen korruptem Geschäft und korrupter Politik zu lösen, das ist die Aufgabe des Staatsmannes.

 

Theodore Roosevelt, 1906

Erster Teil

Dezember

Gold:

$ 1057/Feinunze

Bleifreies Benzin:

$ 3,58/Gallone

Arbeitslosigkeit:

16,3 %

US-Dollar/Darknet-Credits:

3,9

1 In der Dunkelheit

InvestorNet.com

 

Profite in Millisekunden – «Algorithmischer Aktienhandel ist die Zukunft des Finanzwesens», erklärt Wall-Street-Titan Anthony Hollis, dessen Tartarous Group mittels ausgeklügelter Software in Millisekunden mit Käufen bzw. Verkäufen auf Kursänderungen reagiert. Dank der außerordentlichen Profitabilität steigerte der automatische Wertpapierhandel, wie ihn Hollis praktiziert, seinen Anteil am Gesamtvolumen des Börsenhandels von 14 Prozent im Jahr 2003 auf 73 Prozent im Jahr 2009.

 

Kritiker wenden allerdings ein, dass hochfrequenter Handel, bei dem ein und dieselbe Aktie viele Male pro Stunde gehandelt werden kann, lediglich die Volatilität erhöht, aber keinen Wert schafft.

Ein älterer Mann trat aus der Menge hervor und richtete einen Revolver genau auf Anthony Hollis’ Gesicht. In dem Moment, als der dicke alte Arbeiter den Abzug betätigte, fuhr Hollis im Dunkeln hoch.

Er sah auf den Wecker auf seinem Nachttisch: 03:13. Bewegungslos lauschte er seinem eigenen Herzklopfen.

Er beruhigte sich etwas, als er sich im Schlafzimmer umsah. Die einzige Lichtquelle waren eine Reihe großer Flachbildschirme an der gegenüberliegenden Wand, auf denen die Börsenkurse von Tokio, Shanghai und Seoul durchliefen. Im Grunde genommen war diese Visualisierung gar nicht mehr nötig. Aber sie spendete ihm Trost.

Hollis atmete nochmal tief durch und versuchte den Albtraum abzuschütteln. Er wollte sich gerade wieder hinlegen, als von irgendwo draußen das unverkennbare Knattern von MP-Feuer hereindrang.

Er setzte sich auf.

Das Telefon neben seinem Bett klingelte. Er riss es aus der Station. «Was ist los, Metzger?»

Die ruhige Stimme von Rudy Metzger, seinem Security-Chef, sagte: «Wir haben einen Vorfall an der Lieferanteneinfahrt. Er wird gerade eingedämmt.»

«Was für ein Vorfall, verdammt nochmal? Wer zum Teufel schießt da?»

Neben ihm im Bett blinzelte seine momentane Freundin verschlafen. Sie war ein Drittel so alt wie er. «Was ist?»

Statt ihr zu antworten, versuchte er Metzger zuzuhören.

«Mr.Hollis, nur zur Vorsicht sollten Sie schnellstmöglich Ihren sicheren Raum aufsuchen.»

«Ist die Polizei unterwegs?»

«Sir, die externen Leitungen sind gekappt, Handys und Funkgeräte gestört. Momentan sind wir abgeschnitten. Bitte gehen Sie in Ihren Sicherheitsraum, beeilen Sie sich, aber bewahren Sie Ruhe. Ich rufe Sie über die Hausleitung an. Haben Sie mich verstanden?»

Hollis rekapitulierte innerlich, was Metzger gesagt hatte, und verspürte jetzt tatsächlich Angst. «Ja, ich verstehe.» Er stellte das Telefon wieder in die Basis und schaute sich einen Moment im Zimmer um. Auf den Monitoren an der gegenüberliegenden Wand schneite es jetzt nur noch.

«Was ist los, Tony?»

Kidnapper? Attentäter? Vor zwei Monaten hatte ihn in Chicago ein ehemaliger Arbeiter aus der Automobilindustrie umzubringen versucht. Metzgers Männer hatten den Mann vortreten sehen und zu Boden geworfen, bevor er abdrücken konnte. Irgend so ein Kerl, der Rache für seine geplatzte Altersversorgung wollte. Das jetzt klang ernster.

«Tony!»

Er wandte sich dem Mädchen zu. «Kein Grund zur Aufregung. Ein Einbruchsversuch.» Hollis stieg aus dem Bett, fuhr in Hausschuhe und Bademantel.

«Wo willst du hin? Du sollst mich nicht allein lassen!»

«Nerv nicht rum. Sie haben den Kerl schon. Ich muss nur pissen.» Er ignorierte ihren ängstlichen Gesichtsausdruck und ging ins Bad.

Er drückte die Tür hinter sich zu, machte Licht und tappte über die italienischen Marmorfliesen zu dem begehbaren Kleiderschrank. Er öffnete die Tür und betrat einen nicht gerade kleinen Raum, wo sich Anzüge von H. Huntsman und Leonard Longsdail reihten, darunter ordentlich nebeneinander ein gutes Dutzend Edward-Green- und Berluti-Schuhe.

Hollis mied jeden Blick in die umlaufenden Spiegel, während er die Tür hinter sich zumachte. Ja, sein Gewissen regte sich leise, aber andererseits – er kannte dieses Mädchen gar nicht wirklich. Er hatte sie noch nicht überprüfen lassen und würde sie ganz bestimmt nicht in seinen sicheren Raum mitnehmen. Sie konnte schließlich ein U-Boot sein. Für Geld waren die Leute zu allem fähig.

Hollis ging rasch zur gegenüberliegenden Wand und klappte die Abdeckung eines digitalen Thermostaten herunter. Darunter befand sich eine Tastatur, in die er seinen alphanumerischen Sicherheitscode eingab – den exakten Betrag seines ersten Investments. Ein Stück der Holzwand glitt zur Seite. Dahinter lag ein Raum, in dem automatisch Licht anging. Die Tür bestand aus zehn Zentimeter dickem massivem Stahl – die Stahlbetonwände der Kammer waren sogar noch dicker.

Er betrat den sicheren Raum und drückte einen roten Druckschalter neben der Tür. Das Wandstück glitt wieder zu und verriegelte sich mit einem dumpfen Geräusch. Am anderen Ende des Raums erwachte über einem Steuerpult eine Monitorwand zum Leben. Darauf konnte er alles, was auf dem Anwesen vor sich ging, über Dutzende von Überwachungskameras verfolgen. Außerdem waren da noch ein spezielles Notfalltelefon, eine Funkbasisstation und ein Hausapparat. Es gab ein Sofa, eine Bar und einen Flachbildfernseher; im hinteren Bereich Regale mit Notproviant und eine schmale Tür, hinter der sich eine spartanische Toilette befand.

Hollis hatte alles, was er brauchte, um ganz in Ruhe auf Rettung zu warten.

Der Hausapparat klingelte, und er drückte die Freisprechtaste, während er die Monitore durchklickte, um die Kameras an der Lieferanteneinfahrt zu finden. «Ich höre.»

Metzgers Stimme kam über Raumklang. «Kriegen Sie auf Ihrem Notfalltelefon ein Freizeichen?»

Hollis nahm das Notfalltelefon ab und hielt sich den Hörer ans Ohr. Nichts. Reflexhaft drückte er mehrmals auf den Gabelumschalter. «Es ist tot. Das ist doch angeblich eine Erdleitung. Woher wussten die, wo sie verläuft, Metzger?»

Hollis hörte im Hintergrund Stimmen. Dann war Metzger wieder dran. «Darüber reden wir später. Im Moment habe ich gerade Bewegungsmelderalarm auf dem gesamten Anwesen. Ich ziehe meine gesamten Leute in den Umkreis der Master-Suite zurück.»

«Wie sind diese Leute durch die Tore gekommen?» Einer der Überwachungsmonitore zeigte das Haupttor des Anwesens, das weit offen stand.

«Ich weiß es nicht.»

«Es ist Ihr Job, das zu wissen! Es hieß doch, ich würde diesen Raum hier überhaupt nie brauchen.» Er schäumte kurz vor sich hin, sagte dann: «Schicken Sie jemanden rauf, Mary holen.»

«Sie ist nicht bei Ihnen?»

«Ich kann sie hier nicht mit reinnehmen. Stecken Sie sie einfach in einen Schrank oder so. Und lassen Sie sich was einfallen, um die Polizei zu benachrichtigen. Von mir aus Rauchsignale, verdammt nochmal!» Er legte auf und klickte wieder die Überwachungskameras durch. Er hatte ein Vermögen für Sicherheitstechnik ausgegeben, aber die Investition zahlte sich offenbar nicht besonders aus. Wenn das hier vorbei war, würde er das gesamte Security-Team feuern – mit Metzger angefangen.

Hollis ging die einzelnen Kameras durch, etwa ein Dutzend Einstellungen – Mehrfachgarage, Pool-Patio, Barraum, Esszimmer, Einfahrt …

Er erstarrte. Mitten in der Einfahrt lag einer von Metzgers anzugtragenden Sicherheitsleuten in einer Blutlache, die Hand noch immer um eine Maschinenpistole gekrallt. Der Kopf fehlte.

«Verdammte Scheiße!» Hollis riss das Haustelefon aus der Station und wählte Metzgers Nummer. Es tutete ein paarmal, dann ging die Mailbox dran. Hollis versuchte es über das Funkgerät, hörte aber nur Rauschen.

Dann fiel der Strom aus.

Hier im sicheren Raum sprang sofort der Notstrom an, aber auf den Überwachungsmonitoren sah er die meisten Lampen auf dem Anwesen ausgehen. Nur die Notbeleuchtung im Haus brannte noch. Draußen war alles schwarz.

Hollis klickte sich durch die Überwachungskameras im Inneren des Hauses. Da – im Foyer sah er zwei Sicherheitsleute und Metzger, der gerade das prächtige Hauptportal der Zweieinhalbtausend-Quadratmeter-Villa verriegelte. Metzger rannte die Treppe hinauf. Er gestikulierte und brüllte, um Männer am oberen Ende der Treppe in Stellung zu bringen. Das Obergeschoss sollte offensichtlich ihr Fort Alamo werden.

Da barsten plötzlich die Flügel des Portals auf: Metallteile, Holzsplitter und Glas spritzten lautlos auf den polierten Steinboden. Etwas Motorradgroßes war mit hohem Tempo durch die Tür gebrochen und gegen die Rückwand geprallt, nachdem es den großen antiken Tisch im Foyer zerlegt hatte. Rauch breitete sich aus.

Die Überwachungskamera zeigte Security-Leute, die von der Galerie oben das Feuer eröffneten. Schon rasten weitere dunkle Schemen zum Portal herein. In der Schummerbeleuchtung und dem Rauch konnte Hollis kaum etwas erkennen. Sie bewegten sich schnell – durchs Foyer und die breite Treppe hinauf. Im Nu waren sie aus dem Bild. Hollis klickte hektisch herum, um eine Kamera zu finden, die ihm zeigte, was geschah.

Auf einem Monitor sah er jetzt sein eigenes Schlafzimmer – diese Kamera hatte er zur Vorbeugung gegen Scherereien wegen angeblicher sexueller Nötigung installieren lassen (man wusste ja nie, welche Vergewaltigungsszenarien sich junge Frauen im Nachhinein zusammenphantasierten). Das Sicherheitsteam konnte die Kamera nicht aufrufen, aber Hollis sah jetzt, wie Metzger Mary am Arm packte und aus dem Bett zog. Sie war nackt und schrie, doch den muskulösen Deutschen beeindruckte das nicht. Auf dem Monitor brüllte Metzger sie lautlos an und deutete unter das Bett, ließ dann ihren Arm los, um auf irgendetwas draußen im Flur zu reagieren.

Metzger richtete die Waffe auf die Türöffnung, während Mary hinter ihm unters Bett kroch, und im nächsten Moment feuerte der Sicherheitschef kurze Garben. Durch die dicken Betonwände hörte Hollis das dumpfe Rattern keine zehn Meter weiter in seinem Schlafzimmer. Eine Flammenklinge schoss aus Metzgers Waffe und erhellte sein angespanntes Gesicht – aber nur ganz kurz, dann raste ein dunkles Etwas ins Bild und vollführte mit Zwillingsklingen eine blitzschnelle Bewegung, die Metzger in drei Teile zerlegte: Kopf, Rumpf und Beine. Die Klingen fuhren wieder hin und her, unmenschlich schnell, und schnitten die Stücke wiederum in Stücke. Metzgers Körper wurde zerteilt wie ein geschlachtetes Rind, und blutiger Brei spritzte durchs Zimmer.

Hollis starrte entsetzt auf den Monitor.

Das dunkle Etwas bewegte sich weiter ins Zimmer hinein. Dabei ließ es die Zwillingsklingen rotieren, um das Blut loszuwerden, und verwandelte die Wände in eine makabre Galerie moderner Kunst.

Was die Kamera jetzt im Schummerlicht der Notbeleuchtung zeigte, war eine Maschine – vertraut und fremdartig zugleich. Ein schweres Rennmotorrad – aber ohne Fahrer, es gab nur eine Reihe Peitschenantennen und Sensoren. Die ganze Maschine war mit Klingen überzogen, die an beiden Seiten wie Flossen hervorstanden. Wo normalerweise der Lenker gewesen wäre, saßen Zwillingsschwerter auf mechanischen Armen. Das Motorrad war von vorn bis hinten blutverschmiert, als hätte es auf dem Weg hierher Hollis’ gesamtes Sicherheitsteam zerstückelt. Und in jedes Fleckchen der metallenen Oberfläche schienen Symbole und Schriftzeichen eingraviert – es sah aus wie ein kultischer Gegenstand irgendeiner Hightech-Religion.

Die Maschine stand jetzt auf hydraulischen Seitenständern, die sie ausgefahren hatte. Als die Klingen durch die schnelle Rotation gesäubert waren, klappte sie sie ein und ließ sie hinter der zerschrammten Frontverkleidung verschwinden. Zwei weitere baugleiche Maschinen kamen ins Schlafzimmer gerollt.

Hollis sank auf den Stuhl am Steuerpult und starrte verständnislos auf den Monitor. Was er da sah, ergab keinen Sinn.

Rotierende grüne Laserstrahlen kamen aus den Scheinwerfergehäusen der Maschinen. Das Ganze hatte etwas von einer Lasershow, als die Strahlen durch den Rauch von Metzgers MP-Feuer drangen und über die Wände und die im Schattendunkel stehenden Möbelstücke glitten – offensichtlich suchend.

Ohne Vorwarnung preschte eins der Motorräder ins Badezimmer. Hollis konnte im Spiegel sehen, wie es durch die dünne Tür des Ankleideraums barst. Die gab nach wie Papier, und jetzt hörte Hollis live das gedämpfte Grollen eines starken Zweiradmotors unmittelbar hinter der Tür seines Sicherheitsraums.

Das Ding wusste, wo er war.

Er schwang mit seinem Stuhl herum und starrte auf die massive Stahltür drei Meter vor sich. Nur diese Tür war noch zwischen ihm und einem grässlichen Tod. Sein Herz hämmerte so heftig, dass sein ganzer Kopf dröhnte. Hollis kramte hektisch in der Schreibtischschublade und zog eine Sig Sauer P220 Super Match heraus. Er lud durch und warf wieder einen Blick auf den Monitor der Schlafzimmerkamera.

Die anderen beiden Motorräder hatten mit ihren Schwertarmen das Bett umgekippt und die nackte, hilflose Mary entblößt. Zusammengekrümmt und lautlos wimmernd lag sie unter den grellen Laserstrahlen.

O Gott. Nein …

Aber vielleicht würde sie das ja zufriedenstellen.

Die Motorräder standen nur da und beobachteten, wie Mary beim Anblick von Metzgers zerhackten Überresten vor Entsetzen schrie.

Hollis beschloss, etwas für Marys Familie zu tun, wenn das hier vorbei war. Er würde mehr über die Kleine in Erfahrung bringen. Er würde ihren Leuten helfen.

Aber die Maschinen griffen nicht an. Sie sahen nur zu, wie Mary sich aufrappelte und aus dem Zimmer floh.

Vielleicht war sie ja doch an dem Ganzen beteiligt  …

Hollis drückte Kontrolltasten, holte den Ankleideraum jenseits der Stahltür auf den Schirm. Dort sah er die dritte Maschine warten. Sie schien genau zu wissen, wo die Geheimtür war. Aus den Gebäudeplänen? Wer auch immer hinter dieser Sache steckte, verfügte offensichtlich über enorme Ressourcen. Für jemanden, der sich solche Kampfmaschinen leisten konnte, war es natürlich kein Problem gewesen, ein Telefonsystem und die Hauselektrik auszuforschen. Sein sicherer Raum hatte ihn gerettet, und die Stahltür war nicht mit der Gebäudesteuerung verbunden. Einmal verriegelt, konnte sie nur von innen manuell geöffnet werden.

Plötzlich klingelte der Hausapparat vor ihm auf der Konsole. Hollis zuckte erschrocken zurück. Er sah wieder auf den Monitor. Die blutverschmierte Maschine stand reglos da, noch immer genau auf die Geheimtür ausgerichtet.

Das Telefon klingelte wieder. Hollis starrte es an. Vielleicht war es ja jemand vom Security-Team? Er drückte die Freisprechtaste. «Hallo?»

Kurz war Stille in der Leitung – doch dann hörte er über Raumklang seine eigene Stimme. Sie sprach schnell, wie es Hollis bei geschäftlichen Telefonaten zu tun pflegte …

«Selbst wenn die US-Märkte crashen, machen wir Geld. Bewegung ist alles, was wir brauchen – ob aufwärts oder abwärts, ist egal …»

Es war eindeutig seine Stimme. Jemand hatte sein Telefon angezapft. Sofort folgte ein weiterer Gesprächsschnipsel …

«Was ein Unternehmen tut, ist irrelevant. Was ein Unternehmen herstellt, ist irrelevant. Der Markt ist ein mathematisches Rätsel, das wir durch Value Extraction lösen.»

Irgendjemand hatte das mitgeschnitten. Aber warum?

Wenn er die gnadenlose Killermaschine da draußen sah, konnte er sich nicht recht vorstellen, dass sie von Menschenrechtsaktivisten losgeschickt worden war. Wer dahintersteckte, war entschieden gefährlicher.

Wieder ertönte seine Stimme, diesmal lachend. «Wir haben es legalisiert. Unsere Leute haben die Gesetzesvorlage für den Kongress geschrieben.»

Auf dem Überwachungsmonitor rollte jetzt eine andere Sorte Motorrad ins Schrankzimmer. Diese Maschine war nicht mit Klingen bestückt, sondern mit Leitungsschläuchen und Druckbehältern. Die anderen machten ihr Platz. Das Motorrad pflanzte sich mit Hydraulikständern fest vor der Tür des Panikraums auf. Statt der beiden Klingen entfaltete sie einen Roboterarm mit einer Düse, der durch Schläuche mit einem halben Dutzend Druckbehältern verbunden war. Ein Funke blitzte auf, dann schoss jäh eine weiße Flamme aus der Düse – und verwandelte die Holztäfelung draußen in eine einzige Feuerwand.

Angstgelähmt starrte Hollis die Maschine auf dem Monitor an. Was das war, wusste er. Er hatte in den neunziger Jahren Stahlwerksaktien gehalten. Es war ein Plasmaschneider. Jemand hatte ihn auf diese Schreckensmaschine montiert, und jetzt stand er da draußen vor der Tür seines Bunkers und pustete die Holztäfelung weg, als wäre sie aus Pappe. Die Reihen der teuren Anzüge und Schuhe loderten bereits, als der fünfundzwanzigtausend Grad heiße Schneidkopf durch die Stahltür drang wie ein Messer durch Modellierton.

Die Sprinkleranlage sprang an und berieselte den Ankleideraum mit Wasser, das jedoch von der Hitze des Feuers sofort verdampfte. Die Überwachungskamera zeigte, wie die gnadenlosen Maschinen ungerührt in den Flammen standen, doch es dauerte nicht lange, bis die Kamera schmolz. Das Monitorbild wurde körnig, dann schwarz.

Hollis trafen ein Druckstoß und ein ohrenbetäubender Knall, als der weißglühende Plasmastrahl durch den Stahl brach und eine Schmelzfuge die Tür hinabzuziehen begann. Das Sofa in Türnähe und die Getränkebar daneben gingen schlagartig in Flammen auf, das Glas des Flachbildfernsehers zersprang – und das Gerät klappte langsam zusammen, als wäre es aus Wachs. Blaue Funken von geschmolzenem Stahl stoben über den Betonboden. Die Sprinkler des Panikraums fuhren aus und beregneten das Ganze vergeblich.

Während Hollis in katatonischer Starre dasaß, von eiskaltem Sprinklerwasser durchnässt, kam immer noch seine eigene Stimme über Raumklang.

«Reine Mathematik beschert uns unbegrenzten Profit.»

Der Plasmaschneider hatte sein Werk an der Tresorstahltür vollendet. Ein Riesenstück fiel heraus und ließ den Betonboden erbeben. Die Ränder des Stahls glühten immer noch rot. Hollis drehte sich um und betrachtete das alles so distanziert wie jemand, der unter Morphium steht.

Als er gerade trotz des Sprinklerwassers die Hitze der Flammen zu spüren begann, kam eine der anderen Maschinen in den Raum gerollt und entfaltete rasch und präzise ihre Schwertklingen. Das Motorrad war mit eingebrannten Blutresten und verkohltem Fleisch verkrustet. Der Metallrahmen dampfte.

Hollis setzte sich die Pistole an den Kopf, als die Killermaschine auf ihn zuhielt. Sie hob ihre Klingen genau so, wie sie es bei Metzger getan hatte.

Es gab kein Entkommen. Hollis drückte ab.

Nichts passierte. Die Waffe war noch gesichert.

Das Letzte, was er hörte, während sein Daumen den Sicherungshebel suchte, waren seine eigenen Worte …

«Und das Schönste ist: Sie können es sich nicht leisten, uns das Spiel zu verderben …»

2 Operation Exorcist

Reuters.com

 

Prominentenmorde schockieren Finanzwelt – Anschläge, denen bereits Dutzende von Führungskräften im Finanzsektor zum Opfer gefallen sind, erschüttern den exklusiven Club der Milliardäre. Sicherheitsdienste in den USA, Großbritannien, Japan und China halten noch immer Details von einundsechzig fast gleichzeitig verübten Morden zurück, die Teil einer koordinierten Aktion zu sein scheinen und an das Spammer-Massaker vom letzten Jahr erinnern.

 

Bisher hat sich niemand zu den Anschlägen bekannt. Aber die Morde werfen ein Schlaglicht auf die wachsende Empörung über unverhältnismäßige Manager-Boni in Zeiten explosionsartig ansteigender Arbeitslosenzahlen.

Das Überwachungsvideo zeigte einen Mann, der schrie, während ihn ein Robotermotorrad mit zwei Schwertklingen in Stücke schnitt.

Eine Stimme im Dunkeln sagte: «Wer war dieser Mann?»

«Anthony Hollis – leitete einen höchst erfolgreichen Hedgefonds.»

«War sein Name in den Medien präsent?»

«Ja. Jede Menge kritische Stimmen in der Wirtschaftspresse. Vierhundertsechs negative Erwähnungen allein im letzten Jahr.» Kurze Pause. «Sie glauben, das Daemon-Botnet steckt dahinter?»

«Nochmal die Aufnahme. Langsam.»

Die Videoszene lief noch einmal in Extremzeitlupe, Einzelbild für Einzelbild. Ein über und über mit Klingen bestücktes Motorrad rollte auf den in die Enge getriebenen Mann zu. Das Bild blieb stehen, zoomte dann ein. Trotz der Bewegungsunschärfe war die Klinge mitten im Streich eingefroren: Sie zielte auf den Hals des Mannes, während rotierende Laser im Scheinwerfergehäuse der Maschine sein entsetztes Gesicht erhellten.

«Unbemanntes Fahrzeug. Wie eine Art Predator-Drohne am Boden. Die Daemon-Agenten nennen die Dinger ‹Razorbacks›. Derselbe Typ, wie ihn Dr. Philips in ihrem Bericht über den Angriff auf Gebäude 29 beschreibt.»

«Dann engagiert sich der Daemon jetzt also im Klassenkampf?»

«Das glaube ich nicht. Diese Leute haben alle eine bestimmte Art von Finanzgeschäften betrieben.»

«Sobol hat doch gesagt, sein Daemon würde ‹Parasiten des Systems eliminieren›. Könnte er Hollis und die anderen als Parasiten eingestuft haben?»

Eine dritte Stimme mischte sich ein. «Mit Verlaub, diese paar Morde lenken uns doch nur ab vom eigentlichen Problem.»

«Mag sein, aber sie verraten uns auch etwas über die Ziele des Daemon. Machen Sie bitte Licht.»

Es wurde hell im Raum. Um den runden Konferenztisch in Gebäude OPS-2B des NSA-Hauptquartiers saßen die Leiter so ziemlich aller amerikanischen Bundesbehörden. Anwesend waren laut den Schildchen auf dem Tisch NSA, CIA, FBI, DARPA, DIA sowie mehrere Gäste aus dem privaten Nachrichten- und Sicherheitssektor: anzugtragende Manager der Computer Systems Corporation (CSC) und der CSC-Unterfirmen EndoCorp und Korr Military Solutions plus einem Vertreter der Lobbying-Firma Byers, Carrol und Marquist (BCM).

Der Hausherr der Nationalen Sicherheitsbehörde blickte in die Runde.

NSA: «Der verstorbene Matthew Sobol hat mit seinem Daemon einen Computervirus erschaffen, der auf digitale Nachrichtenmeldungen reagiert. Der Daemon aktivierte sich vor zwei Jahren, als Sobol-Nachrufe durchs Netz gingen, und verbreitet sich seither in der ganzen Welt. Er zweigt von diversen Wirtsunternehmen Gelder ab und finanziert damit ein Netzwerk menschlicher Agenten, die ihn manuell weiterverbreiten und schützen. Diese Agenten hat er auch bereits benutzt, um die Datenbanken inklusive sämtlicher Backups von Unternehmen, die den Daemon zu entfernen versuchten, zu vernichten. Die Frage ist: Wie bringen wir Sobols Virus zur Strecke, ohne einen digitalen Weltuntergang heraufzubeschwören?»

DIA: «Genau das ist das Dilemma. Wenn wir agieren, wird der Daemon reagieren und die von ihm infiltrierten Firmennetzwerke zerstören.»

DARPA: «Aber wir können nicht einfach abwarten und Däumchen drehen. Er startet immer weiter Angriffe. Denken Sie nur mal an die Vernichtung unserer Daemon-Taskforce in Gebäude 29 oder diese jüngsten Exekutionen.»

NSA: «Weltweit gab es bereits Tausende Tote – darunter auch Dutzende Beamte unserer Bundesbehörden. Und ich muss mich doch fragen, wie ein Software-Konstrukt mit der Intelligenz eines Bandwurms so etwas hinbekommen kann. Der digitale Vernetzungswahn in der freien Marktwirtschaft hat uns verwundbar gemacht.»

BCM: «Digitalisierung bedeutet Effizienzsteigerung. Und Sie können vom Markt kaum erwarten, dass er ineffizient operiert. Effizienz macht unser modernes Leben doch erst möglich.»

NSA: «Ja, aber wir müssen vielleicht doch mehr Gewicht auf Stabilität legen.»

CSC (auf den Videoschirm deutend): «Wir sollen das Gesamtsystem in Frage stellen, weil es ein paar Tote gegeben hat? Militärisch gesehen, sind diese Maschinen irrelevant. Es sind bessere Spielzeuge.»

NSA: «Ich spreche nicht von Häuserkampf, sondern von Netzwerksicherheit – aber diese Razorbacks werden allmählich auch ein ernsthaftes Öffentlichkeitsproblem. Es gibt Augenzeugen, die solche Maschinen nachts auf Highways gesehen haben. Leute stellen Videos ins Netz.»

BCM: «An dem Problem mit den Clips arbeiten wir und versuchen, die Verbreitung so gut es geht einzudämmen.»

NSA: «Was ich sagen will, ist, dass uns vielleicht bald schon nichts anderes übrigbleibt, als die Öffentlichkeit von der Existenz des Daemon in Kenntnis zu setzen.»

BCM: «Das dürfte schwierig werden, Herr Direktor – zumal wir uns solche Mühe gegeben haben, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass der Daemon ein Hoax ist. Wie wollen Sie erklären, dass Peter Sebeck für ein Verbrechen hingerichtet wurde, das nie stattgefunden hat?»

FBI: «Das war nicht unser Werk.»

BCM: «Trotzdem. Wenn herauskäme, dass der Daemon die Kontrolle über Tausende von Unternehmensnetzwerken erlangt hat, würde das eine Panik am Aktienmarkt auslösen.»

CSC: «Herr Direktor, wir können Ihnen versichern, dass es keiner dieser Razorback-Clips jemals in die Mainstream-Nachrichten schaffen wird.»

NSA: «Aber die Bilder sind im Internet. Millionen Menschen haben sie bereits gesehen.»

EndoCorp: «Das ist ein handhabbares Problem.»

NSA: «Was heißt handhabbar?»

EndoCorp: «Wir haben uns die Rechte sichern lassen, die Razorbacks sind jetzt offiziell unser Produkt.»

NSA: «Und was zum Teufel soll das bringen?»

EndoCorp: «Wenn die Dinger unser geistiges Eigentum sind, haben wir auch das Recht an ihren Abbildungen. Wir streuen die Information, dass diese Clips Teil einer viralen Marketingaktion für ein demnächst erscheinendes Videospiel sind.»

CSC: «Was heißt, dass die breite Öffentlichkeit sie nicht ernst nehmen wird.»

NSA: «Wessen Idee war das?»

CSC: «Wir wollen uns nicht in Details verlieren. Es kommt aus unserer Abteilung für Psychologische Operationen. Für die Generation der Millennials sind diese Razorbacks einfach nur Guerilla-Marketing.»

CIA: «Aber Menschen haben diese Maschinen mit eigenen Augen gesehen. Menschen wurden getötet. Wie erklären wir das?»

BCM: «In so einem Fall geht es nicht um Fakten oder Fiktion, sondern um glaubwürdige Präsentation. Und zum Glück hat die Realität keinen Werbeetat.»

EndoCorp: «In Internetforen konnten wir Augenzeugen neutralisieren, indem wir sie als Werkzeuge der Flüsterpropaganda für das Spiel geflamet haben. Außerdem haben wir 3D-Modelle und fiktive Making-of-Videos erstellt, um zu ‹beweisen›, dass die Überwachungsclips und Handyvideos Fakes sind.»

BCM: «Das heißt, die Öffentlichkeit weiß von den Razorbacks, aber sie weiß nicht, was sie weiß.»

FBI: «Dann übernehmen wir also Sobols eigene Tricks?»

BCM: «Vielleicht erweist sich unser Videospiel ja sogar als Goldgrube?»

CIA (kopfschüttelnd): «Wenn ich dieses Zeug höre, verstehe ich allmählich, warum uns Sobol attackiert.»

FBI: «Solche Scherze sind hier nicht angebracht.»

CIA: «Also gut, Sie wollen uns also ganz im Ernst erzählen, dass Ihre Strategie gegen den Daemon darin besteht, ein Videospiel über ihn zu entwickeln? Wenn Sobol noch am Leben wäre, würde er sich kaputtlachen.»

CSC: «Sie haben doch selbst gesagt, kurzfristig können wir den Daemon nicht aus den infizierten Netzwerken entfernen, ohne katastrophale Datenverluste auszulösen. Bis wirksame Gegenmaßnahmen gefunden sind, bleibt uns nur eins, um Panik in der Bevölkerung und weitere Turbulenzen an den Kapitalmärkten zu verhindern: Wir müssen dafür sorgen, dass alle den Daemon für Fiktion halten.»

NSA: «Und was ist, wenn das Heer von Daemon-Anhängern zu noch aggressiveren Aktionen übergeht?»

CSC: «Dann nennen wir sie Terroristen – auf gar keinen Fall ‹Daemon-Anhänger›. Aber wir können es nicht riskieren, direkt gegen den Daemon vorzugehen, ehe wir nicht Mittel und Wege gefunden haben, die Unternehmensnetzwerke zu schützen.»

NSA: «Darin zumindest sind wir uns einig.»

DIA: «Der US-Dollar ist bereits auf Talfahrt. Woher wissen wir, dass die Sache nicht schon zu Schlüsselinvestoren durchgesickert ist?»

DARPA: «Früher oder später wird durchsickern, dass der Daemon wirklich existiert – oder aber ausländische Mächte werden das Ragnorok-Modul des Daemon entschlüsseln und ihn als ökonomische Waffe gegen uns einsetzen. Was machen wir dann?»

EndoCorp: «Sie haben die Antwort doch schon selbst gegeben: Das Ragnorok-Modul ist der Schlüssel zur Vernichtung des Daemon. Zur Lähmung seines Kommando- und Kontrollsystems.»

EndoCorp: «Es gibt Schwachstellen in Sobols Code. Schwachstellen, an denen wir ansetzen können. In einigen Monaten müssten wir über wirksame Maßnahmen gegen den Daemon verfügen. Aber wir dürfen ihn auf keinen Fall provozieren, ehe wir so weit sind.»

NSA: «Und Sie meinen wirklich, so lange sollten wir nichts gegen die Razorbacks und die menschlichen Daemon-Agenten unternehmen?»

BCM: «Meine Herren, vergessen wir doch nicht, was hier auf dem Spiel steht. Ja, es ist bedauerlich, dass Menschen ums Leben gekommen sind und vermutlich weitere ums Leben kommen werden. Aber hier geht es um den Schutz des Herzstücks unserer Zivilisation – der Wirtschaft. Und die braucht Kapital. Das bedeutet heute nicht mehr Goldbarren, die irgendwo in einem Tresor rumliegen, sondern Einsen und Nullen in einer Datenbank. Die rein finanziellen Transaktionen, die täglich auf den globalen Märkten vollzogen werden, überwiegen die Transaktionen an realen Gütern und Dienstleistungen im Verhältnis zwanzig zu eins, und dieses Geld bewegt sich automatisch und augenblicklich über sämtliche Grenzen hinweg. Durch Eingriffe ins weltweite Finanzsystem könnte der Daemon das Vertrauen der Anleger zerstören. Er könnte innerhalb von Minuten globales ökonomisches Chaos erzeugen. So gesehen, sind die Manifestationen des Daemon in der realen Welt – wie diese Razorbacks und die menschlichen Daemon-Anhänger – kaum eine Bedrohung. Wir müssen den digitalen Kern des Daemon vernichten, denn damit werden auch seine physischen Manifestationen verschwinden. Darauf ist Operation Exorcist angelegt, und deshalb wird sie Erfolg haben, wo die staatlichen Bemühungen fehlgeschlagen sind.»

DARPA: «Niemand hat je ein Botnet erfolgreich ausgeschaltet.»

EndoCorp: «Formal ist das richtig, aber was wir beabsichtigen, ist die Unterbrechung seiner zentralen Befehlswege, um es wehrlos zu machen. Insbesondere die Ausschaltung der Destroy-Funktion des Ragnorok-Moduls. Sprich: der Logik, die gegebenenfalls eine Unternehmensdaten-Zerstörungssequenz aktiviert.»

NSA: «Damit wären dem Daemon die Krallen gezogen …»

BCM: «Genau.»

DIA: «Es ist doch interessant, dass Sobol Onlinespielwelten designt hat. Welten, in denen Millionen von Spielern virtuelle Objekte kaufen und verkaufen. Mir war gar nicht klar, wie ähnlich diese virtuelle Ökonomie unserer tatsächlichen ist.»

BCM: «Der Hauptunterschied ist, dass unsere Welt real ist – mit realen Konsequenzen. Und wenn wir das Vertrauen in die Kapitalmärkte nicht aufrechterhalten, kommt jede ökonomische Aktivität zum Erliegen. Die Gesellschaft versinkt in Anarchie. Millionen Menschen würden das mit ihrem Leben bezahlen.»

Es war still im Raum, während die anderen diese Argumente verdauten. Schließlich ergriff der Hausherr das Wort.

NSA: «Es gibt noch etwas, das wir besprechen müssen. Eine neue Entwicklung.»

Er nahm eine Fernbedienung und schaltete den Monitor aus.

NSA: «Nicht alle Unternehmen wollen den Daemon bekämpfen.»

BCM: «Was heißt das?»

NSA: «Gestern haben sechzehn Daemon-infizierte multinationale Unternehmen Klage bei Bundesbezirksgerichten eingereicht.»

Jetzt herrschte auf der Privatwirtschaftsseite des Tischs erst einmal Sprachlosigkeit.

BCM: «Welche Unternehmen sind das?»

NSA (eine Liste über den Tisch reichend): «Sie klagen gegen die US-Regierung. Ihre Anwälte behaupten, der Daemon habe ein verfassungsmäßiges Existenzrecht nach dem Grundsatz des Unternehmens als eigenständiger Akteur.»

CSC: «Das darf doch nicht wahr sein …»

BCM: «Der Daemon hat Anwälte?»

NSA: «Und Auftragslobbyisten. Wir bearbeiten gerade die Gerichte, diese Rechtssachen unter Verschluss zu halten, aber wir können nicht sicher sein, wie die Judikative entscheidet.»

BCM: «Das ist doch verrückt. Der Daemon ist ein Computervirus, kein Unternehmen.»

NSA: «Aber es ist ja nicht der Daemon, der Klage einreicht. Es sind die Multis, die den Daemon in ihrem Netzwerk beherbergen. Ihr Management sieht es so, dass ihnen der Daemon Vorteile bringt.»

BCM: «Was für Vorteile?»

NSA: «Überlebensvorteile beispielsweise. Sie meinen, dass der Daemon ihnen helfen kann, eine zu befürchtende Chaosperiode zu überstehen.»

BCM: «Das ist Erpressung. Der Daemon wird ihre Daten vernichten, wenn sie sich ihm nicht fügen. Das fällt unter das RICO-Gesetz zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens. Und auf dieser Liste hier sehe ich mehrere Unternehmen, an denen Klienten von uns erhebliche Aktienanteile halten.»

NSA: «Aber keine Kontrollmehrheit?»

BCM: «Das ist egal. Das Management dieser Firmen hat kein Recht, den Daemon zu verteidigen.»

NSA: «Die Unternehmen berufen sich auf den Status der ‹juristischen Person› laut einem Urteil des Obersten Gerichtshofs von 1886 in Auslegung des vierzehnten Verfassungszusatzes …» (blättert in Unterlagen) «… Santa Clara County gegen Southern Pacific Railroad. Sie sind doch Jurist. Sagen Sie mir, ob die Gerichte das abschmettern werden.»

EndoCorp: «Diese Anwälte sind Agenten des Daemon – einer erwiesenermaßen terroristischen Organisation.»

NSA: «Mag sein. Aber vielleicht befolgen diese Anwälte auch einfach nur Anweisungen aus der Chefetage. Das wissen wir noch nicht. In jedem Fall sollten wir die Gerichte doch dazu bringen können, ein Schlupfloch aus dem neunzehnten Jahrhundert zu schließen, wenn es im einundzwanzigsten Jahrhundert unvorhergesehene Folgen zeitigt.»

BCM: «Das ist eine komplexe Angelegenheit. Es gibt ein ganzes Korpus von Präzedenzfällen zum Personenstatus von Organisationen, das berücksichtigt werden muss. Lassen Sie uns also nichts überstürzen. Wir sollten diesen Rechtssachen ihren Lauf lassen. Ehe sie zur Verhandlung kommen, haben wir den Daemon längst neutralisiert, und dann sind diese Unternehmen wieder auf Linie.»

CIA: «Gibt es da irgendetwas an dieser Entscheidung von 1886, das wir wissen sollten?»

BCM: «Wir wollen doch jetzt keine Präzedenzfälle durchkauen. Das Ganze ist doch auch nur ein Versuch des Daemon, Chaos zu stiften.»

CIA (macht sich Notizen): «Wie hieß diese Rechtssache nochmal?»

BCM: «Das hier zeigt doch perfekt, warum der Staat nicht beweglich genug ist, mit dem Daemon fertigzuwerden. Der Daemon kehrt unsere eigenen Gesetze und Institutionen gegen uns. Um uns auseinanderzudividieren. Wir sollten uns gegenseitig helfen.»

NSA: «Augenblick. Niemand dividiert hier irgendwen auseinander. Bedeutet der Personenstatus von Unternehmen eine Gefahr für uns?»

BCM: «Darum geht es nicht. Was ich sagen will, ist: Im Kampf gegen dieses Ding können wir uns nicht mit juristischen Feinheiten aufhalten. Wir dürfen keine Schwäche zeigen. Auf keinen Fall.»

Die Unternehmensseite des Tischs konferierte kurz unter sich, dann wandte sich der Lobbyist wieder den Behördenleitern zu. Er schlug jetzt einen ruhigeren Ton an.

BCM: «Hören Sie, die derzeitige Wirtschaftskrise hat die Staatsregierungen geschwächt. Staaten verflüssigen ihre Vermögenswerte, um ihren Haushalt auszugleichen. Sie outsourcen Dienstleistungen und verkaufen ihre Highways, Brücken und Gefängnisse.»

NSA: «Und?»

BCM: «Wir kaufen sie. Wir investieren in Amerika. Wir – und die Vorsitzenden der Geheimdienstfinanzierungsausschüsse von Repräsentantenhaus und Senat – hoffen, dass Sie unsere legitimen Interessen schützen, während wir Amerika durch diese schwierigen Zeiten helfen.»

NSA: «Natürlich werden wir das tun, das wissen Sie doch.»

BCM: «Wir brauchen einen weiten Handlungsspielraum, um gegen diese Gefahren anzugehen. Ich denke doch, wir sind uns einig, dass es im Interesse der Nation ist, uns alle notwendigen Instrumente an die Hand zu geben.»

Beide Seiten musterten sich über den Tisch hinweg.

BCM: «Ich hoffe doch, wir können auf Ihre Unterstützung zählen, Herr Direktor …»

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Was die Legende Roy Merritt ausmacht, ist vor allem die überraschende Eigendynamik ihrer Entstehung. Merritt war nur ein Artefakt auf den Überwachungsvideos von der Belagerung des Sobol-Anwesens, aber sein erfolgreicher Kampf gegen das Übermächtige hat ihn als den Brennenden Mann unsterblich gemacht.

 

PanGeo****/2194  Level-12-Journalist

«Roy Merritt repräsentierte das Beste in uns. Deshalb ist sein Verlust so schwer zu ertragen.» Der Geistliche, der vor dem Sarg mit der darübergebreiteten Fahne stand, sprach laut, um den kalten Wind von Kansas zu übertönen. «Ich kannte Roy seit seiner Kindheit. Ich kannte seine Eltern. Ich sah ihn heranwachsen, sah, wie er ein liebender Ehemann, fürsorglicher Vater und geachteter Bürger wurde. Er hat sein Leben dem Dienst an der Allgemeinheit gewidmet, und er hörte nie auf, an die Menschen zu glauben. Ja, Roy wurde nicht selten zum Mentor für ebenjene schwierigen Jugendlichen, mit denen er im Polizeidienst zu tun hatte. Wegen der Ruhe und des Mutes, die ihm eigen waren, wurde er oft mit der Aufgabe betraut, kritische und gefahrvolle Situationen zu lösen, um uns zu schützen. Und bei einem solchen Einsatz hat er sein Leben gelassen. Auch wenn es uns schwer erscheint, ohne ihn weiterzumachen, glaube ich doch, dass wir gerade wegen Roy zum Weitermachen fähig sein werden.»

Der eisige Wind zerrte an Natalie Philips’ Mantel, während der Geistliche redete. Sie starrte unverwandt auf den Sarg vor ihr. Sie war so in Gedanken, dass sie die Kälte gar nicht spürte.

Special Agent Roy Merritt und dreiundsiebzig weitere Männer waren durch ihre Schuld umgekommen – bei einer streng geheimen Operation, die sie geleitet hatte. Einer Operation, die im Desaster geendet hatte, an einem Ort, an den sie nicht zurückdenken wollte: Gebäude 29. Gebäude 29 war jetzt verschwunden, pulverisiert. Aber sie würde immer wieder durchleben, was dort geschehen war. Niemand sonst hier wusste von dieser Operation.

Inzwischen war der Geistliche mit seiner Ansprache fertig, und Männer in Uniform hatten die amerikanische Fahne feierlich zusammengefaltet. Sie übergaben sie einem Generalmajor des Marine Corps, der sie wiederum Merrits junger Witwe reichte.

«Ma’am, im Namen des Präsidenten der Vereinigten Staaten, des Direktors des FBI und einer dankbaren Nation bitte ich Sie, diese Fahne als Zeichen der Würdigung dessen entgegenzunehmen, was Ihr Mann für unser Land getan hat.»

Merritts Witwe nahm die Fahne stoisch an. Ihr Gesicht war tränennass, und ihre beiden kleinen Töchter klammerten sich an sie.

Das Bureau hatte der Witwe einen Memorial Star überreicht und Merritt posthum die Tapferkeitsmedaille verliehen. Philips fragte sich, ob es irgendjemand hier seltsam fand, dass ein Marine-Corps-General der Witwe eines FBI-Agenten eine Fahne übergab. In Wahrheit war Merritt nämlich ein viel größerer Held, als seine Familie und seine Mitbürger je erfahren würden.

Das war nicht gerecht. Aber alle, die unter Philips’ Kommando gestanden hatten, waren ebenfalls tot oder vermisst – ihre gesamten Arbeitsergebnisse vernichtet. Das größte Geheimdienstfiasko seit vierzig Jahren, und sie, Natalie Philips, war dafür verantwortlich. Da hätte sie auch gleich mit ihren Leuten sterben können.

Philips atmete tief durch und ließ den Blick über die riesige Menge schweifen, die sich zu Merritts Beisetzung versammelt hatte. Gut zweitausend Menschen standen zwischen den Grabsteinen des Friedhofs von Jackson County nördlich von Topeka, die Köpfe gesenkt. Zweihundertvierzehn Streifenwagen und FBI-Limousinen säumten die Friedhofsstraße hinter ihnen und sogar noch den County Highway draußen.

Sie wusste die Zahl ganz genau. Es war ihr Fluch, solche Dinge immer zu wissen. Ihr Gehirn sammelte alles, was sie sah, und vergaß nichts. Das war ihr großes Plus in der Kryptographie-Abteilung der NSA gewesen, aber es war auch zunehmend ein Kreuz, das sie zu tragen hatte. Dieser schreckliche Tag und die Tage, die ihm vorausgegangen waren, liefen wie ein IMAX-Film in ihrem Kopf ab, wenn sie abends vergeblich einzuschlafen versuchte.

Merritts Witwe drückte ihre Töchter eng an sich. Die Ältere vergrub das Gesicht im Mantel ihrer Mutter, die Jüngere hingegen, die erst vier war, sah sich um, musterte die anderen Erwachsenen und versuchte herauszubekommen, was da geschah. Als sich ihre Blicke trafen, fühlte Philips, wie ihr hinter ihrer getönten medizinischen Wrap-around-Brille Tränen in die Augen stiegen.

Sie war an allem schuld.

Sie konnte dem Blick der Kleinen nicht standhalten. Also wandte sie sich ab und ging zwischen den Grabsteinen und den Trauernden hindurch weiter nach hinten. Philips liefen die Tränen über die Wangen, während sie sich zwischen den Lebenden und den Toten bewegte und sich fragte, ob ihr Gehirn überhaupt vergessen konnte.

Eine Ehrenwache feuerte drei Salven ab, was Philips erschreckte und Erinnerungen an das verzweifelte Abwehrfeuer in Gebäude 29 weckte. Sie fühlte Panik in sich aufsteigen und ging weiter durch die Menge. Leute machten ihr Platz. Beamte der Staatspolizei von Kansas in Ausgehuniform, Männer und Frauen in Militäruniform, Leute hier aus der Stadt, Kinder – Menschen, in deren Leben Merritt eine Rolle gespielt hatte. Manche waren Tausende von Meilen angereist. Beim Trauergottesdienst am Vorabend waren hundert Leute ans Pult gegangen, um herzerwärmende Geschichten von Roys Mut, Mitgefühl und Humor zu erzählen.

Einige dieser Leute erkannte sie im Vorbeigehen wieder. Ein geläuterter Verbrecher. Ein Paschtu-Dolmetscher aus Belutschistan, der jetzt kurz davor war, amerikanischer Staatsbürger zu werden. Merritts Ausbilder in seiner Anfangszeit bei der Staatspolizei. Ein Banker aus Mexico City, dessen Tochter Merritt bei einem tollkühnen Kommandounternehmen aus den Händen von Entführern gerettet hatte – und so weiter und so fort.

Als Agent beim Elite-Geiselrettungsteam des FBI war Merritt kreuz und quer durch die Welt gereist, von einer Gefahrensituation zur nächsten. Aber überallhin hatte er die Werte mitgenommen, die er in dieser Kleinstadt erworben hatte. Endgültig nach Hause zurückgebracht hatte ihn erst der Tod.

Philips ging weiter zwischen den Trauergästen umher. Ein junger Priester. Repräsentanten der Stadt. Eine gutgekleidete Frau mit Sportbrille.

Philips blieb jäh stehen. Sportbrille. Ihrem Gehirn entging kein Detail. Sie erinnerte sich an die Momente unmittelbar vor dem Angriff. Merritt war in ihr Labor gekommen, um ihr erbeutetes Daemon-Equipment aus São Paulo, Brasilien, zu bringen. Es war eine Sportbrille gewesen – eine Brille, die in Wirklichkeit ein raffiniertes Head-up-Display (HUD) gewesen war, mit dem man in eine virtuelle Dimension blicken konnte. In eine erweiterte Realität, die der Daemon über das GPS-Gitter gelegt hatte. Sportbrillen waren die Benutzerschnittstelle zum Daemon.

Sie drehte sich nach der Frau um, die langsam und konzentriert durch die Menge ging, als suchte sie etwas. Philips machte kehrt, um ihr zu folgen, kam aber gleich darauf an einem weiteren Trauergast vorbei, einem Mann mittleren Alters im schwarzen Anzug, der eine ähnliche Brille trug. Die dicken Bügel und das ungewöhnliche Design dieses Modells hätte man leicht als spleenige neue Mode abtun können, aber das hier war mit Sicherheit kein Zufall. Der Mann sah sie flüchtig an und ging dann weiter, ebenfalls so, als suchte er etwas. Heiße Furcht überschwemmte Philips.

Daemon-Agenten.

Konnten sie wirklich so unverschämt sein, auf Merritts Beerdigung zu erscheinen? Philips zog ihr abhörsicheres L3 SME Smartphone heraus und ging energisch weiter, um ein Stück von den Daemon-Agenten wegzukommen. Ehe sie drei Meter zurückgelegt hatte, sah sie wieder einen Mann mit HUD-Brille. Philips trat hinter einen hohen Grabstein und sah sich nach einem Ort um, wo sie unbemerkt telefonisch Hilfe rufen konnte. Am Rand der Menge entdeckte sie eine verwitterte Familiengruft. Die steuerte sie an.

Auf dem Weg dorthin entdeckte sie immer noch mehr Daemon-Agenten, die sich durch die Trauergäste bewegten und offensichtlich die Menge nach etwas absuchten. Es waren ebenso viele Frauen wie Männer, junge Leute und gestandene Erwachsene bis in die Fünfziger. Ein Standardprofil schien es also nicht zu geben. Philips zählte mehrere Dutzend.

Als Philips hinter die Granitgruft trat, zog sie ihr Handy aus der Tasche, aber dann wurde ihr klar, dass sie gar nicht wusste, wen sie anrufen sollte. Roy Merritt wäre ihre erste Wahl gewesen. Doch praktisch jeder, der ihr einfiel, war jetzt tot oder vermisst. Zwar waren Hunderte Polizeibeamte und FBI-Agenten auf der Beerdigung, aber die hatten keine Ahnung, wie gefährlich diese Leute waren. Und all die Unschuldigen in der Menge? Wollte sie wirklich eine Konfrontation herbeiführen? Aber die Daemon-Agenten waren aus einem bestimmten Grund hier. Sie musste etwas tun.

Da erst bemerkte Philips, dass ihr Handy keinen Empfang hatte.

«Es gehört sich nicht, auf einer Beerdigung zu telefonieren.»

Philips blickte auf und sah einen Mann in den Zwanzigern: dunkler Anzug, Mantel und schwarze Handschuhe. Aus seiner Brusttasche hing eine FBI-Marke, was ihn wie einen übereifrigen Nachwuchsbeamten aussehen ließ. Sie erkannte ihn sofort. Mit seinem kurzgeschorenen Haar unterschied er sich nicht von einem Dutzend anderer junger FBI-Agenten in der Menge, und er trug auch keine Brille. Aber seine Pupillen hatten einen Perlmuttschimmer – offenbar Kontaktlinsen.

Es war der Kerl, der das Hauptquartier der Daemon-Taskforce zerstört und ihre gesamten Leute umgebracht hatte. Es war Roy Merritts Mörder. Der hochrangigste bekannte Daemon-Agent.

«Loki.»

Er kam ruhig auf sie zu, ließ dabei den Blick über die Menge schweifen. «Soweit ich weiß, hatte Roy nicht viel Familie. Wer zum Teufel sind all diese Menschen?»

«Es war ein Fehler von Ihnen hierherzukommen.»

«Schauen Sie doch – echte Tränen auf den Gesichtern. Ich glaube nicht, dass Sie oder ich so viele Leute mobilisieren würden, Doctor. Was ist nur an diesem Roy Merritt, das alle dermaßen beeindruckt?»

Philips funkelte ihn wütend an. «Es hat mit dem Dienst an anderen zu tun – klar, dass Sie das nicht verstehen.»

Er schwieg einen Moment. «Ich diene einem höheren Ziel.»

«Sie sind ein Massenmörder, der sich einem toten Irren zu Füßen wirft.»

«Ach ja?» Er bemerkte, dass sie immer noch auf den Tasten ihres Handys herumdrückte. «Sparen Sie sich die Mühe. Es wird gejammt.»

Philips ließ die Hand mit dem Handy sinken. «Warum sind Sie mit Ihren Leuten hier?»

«Es sind nicht meine Leute. Sie sind von sich aus hergekommen. Aufnahmen von der Beerdigung gehen per Simultanübertragung raus ins Darknet. Weltweit verfolgen Hunderttausende dieses Event.»

«Warum? Um sich an ihrem Sieg zu weiden?»

Er sah sie von der Seite an. «Werden Sie nicht sarkastisch, Doctor. Das war kein Sieg. Für sie ist Roy Merritt der berühmte Brennende Mann. Ein würdiger Gegner, dessen Ruhm sich viral verbreitet hat. In einem Netzwerk passieren unvorhersehbare Dinge. Die Leute sind hier, um ihm die letzte Ehre zu erweisen – und um seinen Mörder zu finden.»

Sie dachte zuerst, er wolle sich über sie lustig machen, aber er wirkte ernst. «Wenn dem so ist, wie werden sie dann reagieren, wenn sie dahinterkommen, dass Sie Roy getötet haben?»

Er lächelte grimmig. «Die wissen alle, was passiert ist. Die Einzige, die keine Ahnung hat, sind Sie.» Er musterte sie, zeigte dann auf ihre getönte Brille. «Was ist mit Ihren Augen, Doctor? Hornhautschaden? Sie müssen ganz schön dicht dran gewesen sein.»

Die Anspielung auf das Inferno von Gebäude 29 erfüllte sie mit Wut. «Um uns herum sind Hunderte Polizeibeamte. Diesmal entkommen Sie nicht.»

«Dachten Sie, ich verstecke mich? Haben Sie das erwartet? Wissen Sie, Doctor, ich habe es nicht mehr nötig, mich zu verstecken. Außerdem wäre es doch eine Schande, Roy Merritts Andenken zu beschmutzen, indem man seine Beerdigung in einem Massaker enden ließe.»

Sie musterte sein Gesicht und befand, dass er nicht bluffte. «Wir werden Ihnen das Handwerk legen.»

«Sie können doch nicht mal Kids daran hindern, Musik zu klauen. Wie wollen Sie mir das Handwerk legen? Feds übernehmen sich immer. Und selbst wenn Sie mir das Handwerk legen könnten?» Er zeigte auf die Daemon-Agenten, die sich weiter durch die Menge bewegten. «Die würde das nicht aufhalten.»

«Früher oder später werden wir die Schwachstelle des Daemon finden und ihn vernichten. Wenn Sie mir helfen, werde ich dafür sorgen, dass Sie mildernde Umstände kriegen.»

«Sie haben wirklich keine Ahnung, was läuft, hm? Sie sind wie Merritt. Unerschütterlich im Glauben. Sie hätten auf Jon Ross hören sollen: Traue nie einer Regierung.»

Er bemerkte den schockierten Gesichtsausdruck, den sie einen Moment lang nicht unterdrücken konnte. «Sie wussten doch, dass der Major Sie bespitzelt? Ich brauchte nur sein Überwachungssystem anzuzapfen, um alles mitzukriegen, was in Ihrer Taskforce vor sich ging. Einschließlich Ihrer Privatgespräche mit dem illustren Mr.Ross.»

Philips fühlte sich doppelt gedemütigt und suchte nach einer Entgegnung.

«Ich habe die Videoaufzeichnungen sämtlicher Kameras in Gebäude 29 vor der Zerstörung.» Er hielt kurz inne. «Apropos, Sie und Jon Ross hätten einfach ficken sollen, und fertig.»

Philips war machtlos gegen den schmerzhaften Stich, den ihr diese Worte versetzten. Es verging keine Stunde, ohne dass sie an Jon Ross dachte – und daran, wie er ihr das Leben gerettet hatte. Sie durchlebte noch einmal den Moment ihres Abschieds. Dann sah sie Loki direkt ins Gesicht. «Kommen Sie zur Sache.»

«Habe ich da an etwas gerührt? Ich hätte nicht gedacht, dass Sie auf den kriminellen Typ stehen, Doctor.»

«Jon Ross ist tot.»

«Das habe ich auch gehört.» Loki griff in seine Innentasche. «Vielleicht interessiert Sie ja diese kleine Auswahl aus meinen Überwachungsvideos.» Er zog einen Metallgegenstand heraus, der aussah wie eine Schriftrolle, und reichte ihn Philips.

Sie zögerte.

«Wenn ich hier wäre, um Sie zu töten, Doctor, würde ich meine Zeit nicht damit vergeuden, zuerst noch mit Ihnen zu reden. Öffnen Sie’s einfach.»

Sie nahm den länglichen Gegenstand und zog die beiden verbundenen Röhrchen auseinander: Zum Vorschein kam ein glänzender, flexibler Videoscreen, der bereits elektrisch glomm.

«Sie verstehen nicht, was der Daemon ist. Sie halten ihn immer noch für etwas, dem wir wie Roboter gehorchen. Aber das ist er ganz und gar nicht. Das Daemon-Darknet ist nur die Widerspiegelung der Menschen, die es bilden. Es ist eine neue Gesellschaftsordnung. Eine, die immun gegen Bullshit ist.»

Sie hielt den flexiblen Videoscreen vor sich. Darauf lief jetzt ein Überwachungsvideo aus Gebäude 29 – gefilmt, kurz bevor der ganze Gebäudekomplex durch eine gigantische Sprengladung vernichtet worden war. Im Bild waren Philips, Ross, ein Mann, den sie nur als den «Major» kannten, und mehrere schwarzuniformierte Korr-Sicherheitsleute, die neben Leichensäcken in der Gaming-Arena standen. Der Major war offiziell der Verbindungsmann der Taskforce zum Verteidigungsministerium gewesen – obwohl er auch mit dem Special Collections Service des FBI zu tun gehabt hatte. Momentan wollte keine der beiden Institutionen auch nur einräumen, dass es ihn gab, und seine Identität war nach wie vor geheim, selbst für sie.

Im Video richtete der Major eine 9-mm-Glock auf Philips’ Gesicht. Jon Ross trat schnell dazwischen.

Es zerriss sie fast: Ross’ ansprechendes Gesicht, seine Bereitschaft, sich schützend vor sie zu stellen.

In der realen Welt machte Loki eine kurze Bewegung mit der behandschuhten Hand, und das Bild blieb stehen. Er zeigte auf den Major. «Sie erinnern sich an dieses Arschloch?»

Sie nickte.

Loki zog mit dem Handschuh leere Luft zu sich, und das Bild zoomte ein. Der angebliche Pentagon-Verbindungsmann trug ein beiges Sportsakko über einem dunkelgrünen Button-down-Hemd. «Eine Menge Leute haben ihn auch nicht vergessen.»

Eine weitere Handbewegung, und auf dem Screen zeigte jetzt ein HD-Video den tödlich verwundeten Roy Merritt, mitten auf einer Straße in einem Industriegebiet liegend. Sein Körper war voll Blut. Er atmete hechelnd und starrte auf zwei kleine Fotos in seinen Fingern. In der Tür eines Hubschraubers in einiger Entfernung blitzte etwas auf, und Merritts Kopf explodierte.

Philips zuckte entsetzt zurück. Wieder überschwemmten sie Schuldgefühle. Sie sah Loki hasserfüllt an. «Das wollten Sie mir zeigen? Sind Sie so pervers, dass Ihnen das Spaß macht?»

«Es sind Aufnahmen der Autokamera meines AutoM8. Die Kameras sind Teil des Navigationssystems. Ich habe diese Aufnahmen ins Darknet gestellt, und die Leute draußen hatten die Antwort bald gefunden.» Er zog wieder mit der behandschuhten Hand leere Luft zu sich, und das Bild auf dem Videoscreen in Philips’ Händen zoomte ein, genau auf den Schützen in der Hubschraubertür. In dieser Vergrößerung war das HD-Bild körnig, aber die Gestalt war deutlich genug zu erkennen. Der Schütze trug ein beiges Sportsakko und ein dunkelgrünes Button-down-Hemd. Loki machte wieder eine Handbewegung, und der Screen teilte sich: auf der einen Seite der Major, wie er die Pistole auf Philips’ Kopf richtete, auf der anderen der Schütze im Hubschrauber. Die Kleidung stimmte überein. Es war dieselbe Person.

Philips senkte den flexiblen Screen und starrte ins Leere. «Der Major.»

«Ja. Der Major. Haben Sie sich nicht gefragt, warum kein zweiter Hubschrauber kam, um Sie da rauszuholen? Auch Sie sollten jetzt nicht mehr am Leben sein, Doctor.»

Sie nickte geistesabwesend. «Die wollen den Daemon gar nicht stoppen. Sie wollen ihn kontrollieren.»

«Womit Sie so ziemlich die Einzige sind, die ihn noch zu stoppen versucht. Und nicht mal Ihr eigenes Lager will, dass Sie es schaffen.» Er deutete mit dem Kinn zu Merritts Sarg hinüber. «Und sie wollten nicht, dass Roy den wirtschaftlichen Weltuntergang auslöste, bevor sie ihre Investments umschichten konnten.»

«Der Major … hat Roy erschossen …» Sie brachte die Worte kaum heraus.

«Und Sie sind auch noch dran.» Er nahm ihr den Screen aus den Händen. «An Ihrer Stelle würde ich öfter mal einen Blick über die Schulter werfen.»

Sie sah abrupt auf. «Warum erzählen Sie mir das, Loki?»

«Wo ist der Major?»

«Ich weiß es nicht.»

«Finden Sie’s raus.»

«Er ist mein Problem, nicht Ihres.»

Loki steckte den Rollscreen in seine Innentasche. «Da irren Sie sich. Der Major ist jedermanns Problem.»

Philips deutete auf die Daemon-Agenten zwischen den Trauergästen. «Sind die deshalb hier?»

«Wie ich schon sagte, sie sind nicht mit mir hergekommen. Aber eine Million Darknet-Agenten wollen Rache für den Brennenden Mann. Wenn Sie mich fragen, werden sie Himmel und Erde auseinandernehmen, um ihre Rache zu bekommen. Für den Major ist eigens ein Thread mit hoher Priorität eingerichtet worden. Wir haben seine biometrischen Daten aus dem Security-System von Gebäude 29. Seine Fingerabdrücke. Seinen Iris-Scan. Seine Stimme. Seinen Gang. Wir werden ihn finden, Doctor. Aber wenn Sie mir helfen, werde ich dafür sorgen, dass Sie mildernde Umstände kriegen.»

Jetzt machte er sich eindeutig über sie lustig. «Ich will nichts mit Ihnen zu tun haben. Es gibt in diesem Land Gesetze, und ich gedenke alles dafür zu tun, dass der Major sich Recht und Gesetz stellen muss. Und dass Sie sich Recht und Gesetz stellen müssen.»

«Recht und Gesetz? Wie sieht es denn damit aus, wenn die Ihnen ein Disziplinarverfahren anhängen?»

Wieder fühlte Philips Wut in sich aufsteigen. Sie wusste nicht, ob er nur spekulierte oder wirklich etwas wusste. Das Desaster in Gebäude 29 war in der Tat ihr angelastet worden. Der Major wurde in keinem der Berichte erwähnt. Es war, als hätte es ihn nie gegeben.

Loki drehte sich wieder in Richtung der Beisetzungsfeierlichkeiten. «Wenn Sie den Major finden, lassen Sie mich’s wissen, dann wird sich der Schwarm um ihn kümmern.»

«Sie wissen, dass ich das nie tun würde.»

«Vielleicht werden Sie ja noch staunen, was Sie alles tun. Besonders, wenn Sie dahinterkommen, was die mit Ihren Gesetzen gemacht haben.» Loki verfolgte mit halb zugekniffenen Augen irgendetwas in der Ferne.

Philips folgte seinem Blick zum Rand der riesigen Trauergemeinde, wo jetzt irgendein Gerangel im Gange war. Über die Distanz von einem halben Footballfeld erkannte sie schließlich, dass dort mindestens eine Person von Zivilbeamten ergriffen wurde.

Lokis perlmuttfarben schimmernde Augen blickten unverwandt hin. «Enttäuschen einen doch nie, die Jungs, was? Hauen Sie ab, solange es noch geht, Doctor.»

«Tun Sie’s nicht, Loki. Hier sind Hunderte unschuldiger Menschen.»

Doch er manipulierte bereits unsichtbare Darknet-Objekte mit seinen behandschuhten Händen. «Sie konnten einfach nicht widerstehen …»

Sie schob sich zwischen Loki und den fernen Tumult. «Das gibt ein Blutbad. Bitte, Loki! Tun Sie’s nicht!»

Er blickte durch sie hindurch und fuhr mit seinen hektischen Handbewegungen fort: «Wussten Sie, Doctor, dass Ihr Freund Jon Ross kürzlich dem Daemon-Darknet beigetreten ist? Ich dachte, das interessiert Sie vielleicht.»

Sie starrte ihn an – unsicher, ob sie ihm glauben sollte. Diese Eröffnung traf sie wie ein Schlag. Sie wich ein Stück zurück und versuchte, ihre Emotionen in den Griff zu bekommen. Zuerst verlor sie Merritt, dann auch noch Ross. Sie hatte das Gefühl, niemandem mehr trauen zu können. Tränen brannten ihr in den Augen. Nicht Jon.

Loki sprach mit einer unsichtbaren Person. «Nichts da warten! Ich habe Engelszähne abgeworfen. Alle sofort das Areal räumen.» Pause. «Das ist mir scheißegal.»

Philips rannte los, auf den Tumult zu. Loki machte keine Anstalten, sie aufzuhalten. Fünfzig Meter weiter, zwischen Grabsteinen, versuchten Männer in Anzügen mehrere Personen zu überwältigen, bei denen es sich offenbar um Daemon-Agenten handelte. Einer der Feds hielt eine Sportbrille hoch, während weitere FBI-Leute herbeieilten. Sie sicherten bereits den Ort des Geschehens ab.

Die Trauergäste, an denen Philips vorbeirannte, wandten sich neugierig dem Handgemenge zu. Sie bemerkte, dass viele Leute kleine Kinder dabeihatten, und rief: «Sofort den Friedhof räumen!»

Binnen dreißig Sekunden hatte Philips sich zu einem Mann im dunklen Anzug mit Headset durchgearbeitet. Er gehörte zu dem Sicherheitskordon um das Knäuel von zwei Dutzend Männern.

Philips zeigte ihren NSA-Ausweis vor und sagte ruhig, aber bestimmt: «Ich bin Beamtin der Sicherheitsbehörde. Sie müssen diesen Friedhof so schnell wie möglich räumen lassen. Die Leute hier sind in großer Gefahr.»

Der stiernackige Agent würdigte Philips’ Ausweis keines Blicks. Er sah sie nur an und sagte: «Gehen Sie zurück, Ma’am.»

«Verdammt, lassen Sie mich mit dem leitenden Agenten sprechen! Ich weiß aus erster Hand, dass hier gleich ein Angriff stattfindet!»

Er lächelte ausdruckslos und sagte mit einem undefinierbaren Akzent: «Wir haben alles unter Kontrolle. Danke.»

Plötzlich knallten Schüsse durch die kalte Luft. Leute in der Menge schrien auf und duckten sich. Die Trauergemeinde flüchtete wie eine erschrockene Schafherde – bis auf die zahlreichen Polizisten, die Pistolen zogen und sich dorthin bewegten, wo die Schüsse herkamen. Philips wusste, es waren FBI-, DSS-, DEA- und ATF-Agenten sowie Beamte der Bundesstaats- und der Kommunalpolizei. Sie näherten sich zu Dutzenden, die Grabsteine als Deckung benutzend.

Philips trat ihnen entgegen und hielt den Dienstausweis hoch. «Zurückbleiben! Sie sind in Gefahr!»

Die ersten Leute waren bereits bei ihr, die Schusswaffen durchgeladen und entsichert. Ein distinguierter Anzugträger in den Fünfzigern, selbstsicher und ohne Waffe, trat auf Philips zu. «Was zum Teufel ist hier los?»

Noch bevor Philips antworten konnte, löste sich ein adrett aussehender, schwarzgekleideter Mann aus dem Tumult und kam auf sie zu. Er hielt ihnen einen Ausweis mit einem vertrauten Logo entgegen – Korr Security International.

«Dies ist eine streng geheime Operation im Auftrag des Verteidigungsministeriums, meine Herren.»

Der ältere FBI-Agent runzelte die Stirn und studierte den Ausweis des Korr-Mannes. «Ich bin leitender Special Agent beim FBI in Kansas City. Ich nehme von privaten Sicherheitsfirmen keine Anweisungen entgegen.» Er rückte weiter vor, gefolgt von Dutzenden weiterer Bundesbehörden-Agenten und Beamten der örtlichen Polizei, alle noch immer mit schussbereiter Waffe.

Sie bahnten sich ihren Weg durch zwei Dutzend Sicherheitskräfte in Zivil mit Headsets und emporgerichteten Maschinenpistolen.

«Himmelherrgott, wer zum Teufel hat denn einen Zugriff inmitten Hunderter Zivilisten autorisiert?»

Philips hielt sich eng an den hochrangigen FBI-Agenten.

Korr-Leute stellten sich ihnen entgegen. «Sir! Sie können hier nicht durch!»

«Ich leite das FBI-Büro von Kansas City, und solange ich keine Dienstmarken von Bundesbehörden sehe, gehe ich verdammt nochmal, wohin ich will!»

Der Schwarm von Polizeibeamten und Bundesagenten drang ins Zentrum des Korr-Teams durch. Was sie dort erwartete, war für alle ein Schock.

Sechs Personen lagen in einer dampfenden Blutlache auf dem gefrorenen Grasboden, und benachbarte Grabsteine waren blutbespritzt. Eine der Personen war ein verwundeter Korr-Mann, der nach Luft rang und von seinen Kollegen erstversorgt wurde. Die anderen schienen Daemon-Agenten zu sein – darunter eine junge Frau. Sie starrten mit blicklosen Augen in den Himmel. Philips bemerkte, dass der Boden ringsum zertrampelt war, was auf einen heftigen Kampf schließen ließ.

Dem leitenden Special Agent blieb der Mund offen stehen. «Heilige Muttergottes …»

Ein großer, kräftiger Korr-Mann kam auf ihn zu und zeigte seinen Dienstausweis. «Sir, dies ist eine streng geheime militärische Operation. Sie müssen –»

Plötzlich war da ein hohes Pfeifen, gefolgt von einem scharfen Twack. Alle starrten entsetzt auf eine stilettartige Stahlspitze, die jetzt aus der linken Wange des Korr-Mannes ragte. Blut lief ihm aus der Nase. Der Flugkörper, der ihn getroffen hatte, sah aus wie ein überdimensionaler antennenbestückter Dartpfeil. Der Korr-Mann wankte, Überraschung im Gesicht.

Servomotoren surrten und justierten die Dart-Flights in Reaktion auf die Bewegungen des Mannes – offenbar das Lenksystem der Waffe.

Der Mann brach zusammen, während ihn die anderen schockiert anstarrten – und dann hektisch auseinanderstoben.

Im Rennen blickte Philips hinauf in den klaren Himmel und sah mehrere metallisch blitzende Objekte herabsausen. Sie warf sich hinter einen Grabstein und hörte, wie Stahlspitzen klirrend vom Stein abprallten. Gellende Schmerzensschreie folgten, und als sie sich umdrehte, sah sie inmitten der flüchtenden Menge einen Korr-Mann straucheln und stürzen, dann einen zweiten – von den tödlichen Flugkörpern niedergestreckt. Die ferngesteuerten Darts fällten die Sicherheitskräfte einen nach dem anderen. Philips sah, wie ein Verwundeter wieder auf die Beine zu kommen versuchte, nur um gleich von neuen Spitzen in den Rücken getroffen zu werden.

Ein Korr-Mann, den die Flugkörper ins Visier genommen hatten, warf seine MP-5 weg und wollte sich in eine Gruppe anderer Korr-Leute flüchten. Seine Kollegen versuchten panisch von ihm wegzukommen, als wäre er ein Aussätziger.

Es gab nirgends einen Unterstand mitten auf diesem riesigen Friedhof, also rannte der Mann im Zickzack zwischen den Grabsteinen umher, während Stahlspitzen auf Stein klirrten und sich hinter ihm ins Gras bohrten.

Schließlich traf ein Dart den Mann in die Schulter und riss ihn zu Boden. Während er wegzukriechen versuchte, wurde er gnadenlos von weiteren Spitzen durchbohrt.

Ein Kansas State Trooper in Ausgehuniform packte Philips am Arm. «Zurückbleiben, Miss!»

Sie blickte über den Friedhof und sah in der Ferne weitere Korr-Leute – erkennbar daran, dass sie allein oder zu zweit im Slalom zwischen den Gräbern herumrannten, nur um einer nach dem anderen von den blitzenden Lenkgeschossen zur Strecke gebracht zu werden.

Philips blickte zu der Stelle zurück, wo Loki gestanden hatte, aber wie zu erwarten, war er verschwunden. In weiter Ferne sah sie Hunderte Trauergäste zu ihren Autos flüchten. Sie wusste, dass es praktisch unmöglich war, Loki unter ihnen zu finden.

4 Ende der Spur

 

«Wissen Sie, wem Sie ähnlich sehen? Diesem Mann, der die ganzen Cops getötet hat und den sie dann hingerichtet haben.»