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Daniel Suarez

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Beschreibung

James Tighe, kurz JT, ist ein Glücksritter und der beste Höhlentaucher der Welt. Eines Tages lädt ihn der Milliardär Nathan Joyce auf seine private Insel, um ihm ein Angebot zu machen. Es geht um ein so visionäres wie hochgeheimes Projekt: Von einer Station im All soll ein riesiger Asteroid wirtschaftlich erschlossen werden. Denn die Menschheit des Jahres 2030 ist für ihr Überleben auf Rohstoffe angewiesen. Zusammen mit Ex-Soldaten, Astronauten, Wissenschaftlern soll JT zu einem Team verwachsen, das extreme Situationen bestehen muss. Ungeheure Reichtümer locken. Es droht auch jederzeit der Tod. Und sehr spät erst begreifen die Mitglieder von Delta-v, dass Nathan Joyce ein doppeltes Spiel treibt …

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Seitenzahl: 669

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Daniel Suarez

Delta-v

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann

 

Über dieses Buch

Ein Planet ist nicht genug.

 

James Tighe, kurz J.T., ist ein Glücksritter und der beste Höhlentaucher der Welt. Eines Tages lädt ihn der Milliardär Nathan Joyce auf seine private Insel, um ihm ein Angebot zu machen, das er nicht abschlagen kann. Es geht um ein so visionäres wie hochgeheimes Projekt: Von einer Station im All soll ein riesiger Asteroid wirtschaftlich erschlossen werden. Denn die Menschheit des Jahres 2030 ist für ihr Überleben auf Rohstoffe angewiesen.

Zusammen mit Ex-Soldaten, Astronauten, Wissenschaftlern soll J.T. zu einem Team verwachsen, das extreme Situationen bestehen muss. Ungeheure Reichtümer locken. Es droht auch jederzeit der Tod. Und sehr spät erst begreifen die Mitglieder von Delta-v, dass ihr Auftraggeber ein sinistres Spiel betreibt …

 

Ein neues phantastisches Abenteuer vom «Jules Verne des digitalen Zeitalters». (Frank Schirrmacher)

 

«Dieser sehr beeindruckende Roman verschmilzt Realität und Science-Fiction – eine neue Richtung und eine neue Hoffnung für das Genre.» (The Wall Street Journal)

Vita

Bevor Daniel Suarez mit dem Schreiben begann, machte er als Systemberater Karriere und entwickelte Software für zahlreiche große Firmen der Militär-, Finanz- und Unterhaltungsindustrie. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 2006 unter Pseudonym im Eigenverlag. Nachdem das Buch die Internet- und Gaming-Community im Sturm erobert hatte, wurde ein großer Verlag darauf aufmerksam. In der neuen Ausgabe avancierte «Daemon» zum Bestseller; eine Verfilmung ist in Vorbereitung. Daniel Suarez lebt und arbeitet in Kalifornien.

Zum Gedenken an Carl Sagan

Einen Abgrund kann man nicht mit zwei kleinen Sprüngen überwinden.

David Lloyd George

Prolog

James Tighe brach durch die Oberfläche eines Höhlensees, riss sich die Atemmaske herunter und rang nach Luft. Während er abwechselnd hustete und hastig atmete, beleuchteten seine Helm-LEDs das verschlammte Wasser um ihn herum. Jenseits dieser Lichtinsel lag endloses Dunkel.

Als die Verwirrung und das Herzrasen der Hypoxie nachließen, bohrte sich die Dekompressionskrankheit wie ein Dolch in seine Gelenke.

Aber der Schmerz hielt ihn bei Bewusstsein.

Er hatte wegen Luftnot mehrere Dekompressionsstufen überspringen müssen und wartete erst mal, bis sich abzeichnete, dass er überleben würde. Noch immer von Gelenkschmerzen gepeinigt, blickte er sich schließlich um.

Die Helmlampe erhellte eine Steilwand aus braunem Kalkstein wenige Meter vor ihm. Hinter sich hörte er ferne, hallende Rufe – dann Schreie. Tighe drehte sich um und beleuchtete eine felsige Wasserlinie, etwa zehn Meter entfernt. Sie sah anders aus als bei seinem Aufbruch vor acht Stunden. Staubwolken hingen in der Luft, und frisch fragmentierte, mächtige Kalksteinboulder lagen auf dem ansteigenden Höhlenboden dahinter.

Die schiere Größe der Gebiya-Kammer sprengte alle Maßstäbe. Sie war fast einen Kilometer lang, und ihre gewölbte Decke verlor sich 200 Meter über Tighe im Dunkel. Wäre dieses Dunkel nicht sternenlos gewesen, hätte Tighe sich schon fast einreden können, er sei im Freien statt tief unter der Erde in einer der größten Kalksteinhöhlen der Welt.

Fern am Hang sah er mehrere winzige Lichter, ungefähr dort, wo Camp 3 gewesen war. Das Terrain hatte sich verändert. Ein weiteres, helleres Licht erschien plötzlich näher am Ufer, bewegte sich über Felsbrocken auf ihn zu.

Tighe rief: «Chris!» Seine Stimme hallte wider. «Chris, bist du das?»

Das in Bewegung befindliche Licht antwortete: «Hier, J.T.!»

Tighe schwamm aufs Ufer zu. Als er im Flachen war, watete der dänische Höhlentaucher Christen Lykke ins Wasser und streckte ihm eine behandschuhte Hand hin, um ihm auf das Ufersims zu helfen. Sie trugen beide Trockenanzüge und Kreislauftauchgeräte.

Tighe sah, dass das ansteigende Steinufer mehrere Meter weit nass war. Er zog die Flossen aus und stand jetzt in seinen Tauchstiefeln da. «Wie schlimm ist es?»

In Lykkes Gesicht stand Schmerz. «Das Camp ist verschüttet. Sam ist eingeklemmt, und vier andere sind vermisst. Es gibt immer wieder Nachbeben.»

Von fern kam wieder ein gepeinigter Schrei.

«Ich glaube nicht, dass Sam es schafft. Unser Erste-Hilfe-Material ist größtenteils weg.» Lykke starrte aufs Wasser. «Wo ist Richard?»

Tighe blickte ebenfalls auf das Bassin. Er rang um Beherrschung. «Richard ist tot.»

Lykke sank in die Knie und raufte sich das Haar, kämpfte mit seinen eigenen Emotionen. «Ich habe versucht, zu euch zu kommen.» Er sah auf. «Meine Reserveflaschen sind verschüttet, J.T. Ich konnte nicht runtergehen –»

Tighe fasste Lykke an der Schulter und hockte sich neben ihn. «Du hättest nichts tun können, Chris. Gar nichts.» Tighe wandte sich in Richtung der Schreie. «Jetzt geht es darum, den anderen zu helfen.»

Lykke nickte grimmig.

Tighe ging durch das Boulderfeld hangaufwärts. «Wo ist Yuen?»

Lykke folgte ihm. «Sucht nach Überlebenden.»

Gleich darauf, als Tighe einen mächtigen Boulder umgangen hatte, sah er Chang Fu Yuen, den Expeditionsleiter, mit bloßen Händen an Gesteinsbrocken zerren. Changs schlammverdreckter orangefarbener Caving-Anzug und der weiße Helm waren blutbespritzt. Er sah zu Tighe empor. «Fass mit an!»

Tighe und Lykke begannen, Steine beiseitezuräumen.

Tighe fragte: «Nach wem graben wir?»

«Pell und Nakamura. Sie haben irgendwo hier gefilmt.»

«Hast du sie gehört?»

Chang schüttelte den Kopf.

Tighe inspizierte das Geröllfeld genauer. «Wenn sie da drunter sind, sind sie wahrscheinlich tot, Yu.»

«Sie könnten in einem Hohlraum sein.»

«Bist du sicher, dass du sie hier gesehen hast?»

Chang hielt inne, blickte sich dann um, offenbar unsicher. Die Kollapszone war riesig. Ab und zu stürzten Gesteinsbrocken aus dem Dunkel herab und kullerten den Hang hinunter.

«Hattest du schon Kontakt nach draußen?»

Chang schüttelte wieder den Kopf. «Die Telefonleitung ist unterbrochen.»

«Wir müssen das Basislager kontaktieren. Wie viele Überlebende gibt es in Camp 3?»

Chang ging umher, inspizierte das jetzt unvertraute Terrain. «Pell stand genau –»

Tighe packte Chang an den Schultern. «Wie viele Überlebende haben wir in Camp 3?»

Lykke antwortete an seiner Stelle: «Sechs. Sieben mit Sam.»

«Hier kommt zu viel Steinschlag runter.» Tighe wandte sich in Richtung der Lichter. «Wir müssen die Übrigen nach Camp 2 evakuieren. Vielleicht funktioniert ja dort die Verbindung nach draußen noch.»

Chang sagte: «Wir können hier nicht weg. Cobbett ist eingeklemmt.»

Lykke sagte ausdruckslos: «Er wird nicht überleben.»

Chang sah ihn finster an. «Du bist kein Arzt, Christen.»

«Sein halber Körper ist zerquetscht. Man muss kein Arzt sein, um –»

Tighe trat zwischen sie und sagte zu Chang: «Wir beide können ja bei Sam bleiben. Alle anderen müssen hier weg.»

Chang begann wieder, mit den Händen zu graben. «Wir bleiben zusammen.»

«Schau dich doch um.» Tighe blickte ins Dunkel hinauf. «Diese Karstkammern sind in sich instabil. Wenn die Decke runterbricht, wird das ganze Team verschüttet.»

Ein plötzliches Grollen, zu tief, um hörbar zu sein, ließ Tighes Brustkorb vibrieren.

Lykke kauerte sich zusammen und presste sich an den nächsten Boulder. «Nachbeben!»

Ferne Schreie hallten durch die Kammer, als Chang und Tighe neben Lykke in Deckung gingen.

Plötzlich begann der massive Fels um Tighe herum sich zu wellen und zu verschieben und dabei zu reißen. Ein naher Knall betäubte Tighe, und der steinerne Boden warf ihn einen Meter in die Luft. Er schlug hart auf, und Dutzende Boulder und Gesteinsbrocken rollten und sprangen im Schein seiner Helmlampe hinab zum Höhlenbassin, wo sie ins schwappende Wasser klatschten und Zehn-Tonnen-Wellen gegen die jenseitige Wand schleuderten.

Das Beben ließ nach und hörte schließlich auf. Noch eine Weile hagelte es riesige Brocken, und dem ohrenbetäubenden Bumm ihres Einschlags folgten jeweils Dutzende von Sekundäreinschlägen.

Tighe rappelte sich auf, packte Chang und zog ihn hangaufwärts. «Du musst die anderen anweisen, sich in Sicherheit zu bringen.»

Lykke folgte ihnen.

Chang blickt dorthin zurück, wo Pell und Nakamura verschwunden waren.

«Sie sind tot! Hilf den Überlebenden.»

Wasserrauschen war plötzlich in der riesigen Höhlenkammer zu hören, hallte von fernen Wänden wider. Sie blieben alle drei stehen und horchten. Das Geräusch schwoll jäh zu einem Tosen an, das vom oberen Ende der Kammer kam.

Lykke taumelte rückwärts, Entsetzen im Gesicht. «Der Fluss.»

Tighe sagte: «Er hat seinen Lauf geändert.»

Chang überschrie das immer noch anschwellende Tosen. «Jetzt können wir nicht mehr zurück!»

«Aber hierbleiben können wir auch nicht!»

Lykke sah sie beide an. «Was sollen wir tun?»

Tighe ging weiter auf die Lichter zu. «Wir befreien Sam, nehmen an Material mit, was wir können, und klettern dann.»

Chang fasste Tighe an der Schulter. «Klettern wohin?»

Tighe zeigte nach oben. «In der Decke gibt es ein halbes Dutzend unerforschte Gänge – Nebenarme des ursprünglichen Flussbetts. Einer davon könnte zum Ausgang zurückführen.»

«Wenn wir das tun, weiß der Rettungstrupp nicht, wo er uns suchen soll.»

«Niemand kann unter diesen Umständen eine Rettungsaktion starten. Wir müssen uns selbst retten.» Tighe schaltete seine Helmlampe aus. «Batterie sparen. Jeder Zweite macht seine Lampe aus. Wir werden jede Minute Licht brauchen, um einen neuen Rückweg zu finden.»

Chang starrte ins Leere.

«Geh vor, Yu.»

Nach einigen Sekunden nickte Chang und ging los, in Richtung der Lichter. «Mir nach.»

1. KapitelBaliceaux

Einen Monat später – 6. November 2032

James Tighe folgte einem von Tiki-Fackeln erhellten Weg durch ein Gewimmel von gutgekleideten Partygästen. Livriertes Personal patrouillierte mit Tabletts umher, bot Kaviar-und-Krabben-Brioches oder eingelegte Austern mit Gurke an.

Überall standen lachende, attraktive Menschen, Drink in der Hand. Tighe war mindestens zehn Jahre älter als sie alle. Auf der anderen Seite der Bucht tanzten Leute zu Algorave unter einem mondhellen karibischen Himmel, den jemand durch Laserstrahlen aufpeppen zu müssen glaubte. Würziger Sativa-Geruch wehte vorüber. Schwarze Kleider mit Spaghettiträgern, perfekt sitzende Jacketts zum weißen Hemd, Handmade-Chronometer an den Männerhandgelenken. Tighe fühlte sich wie ein Alien.

Im Vorübergehen bekam er Gesprächsfetzen mit.

«Tarantelkäse.»

«Wie in aller Welt machen sie den?»

«Haben ein Blockchain-Nonprofit gegründet.»

«Wie sieht ihr Exitplan aus?»

Eine schöne junge Frau zog an einem Bling-Bling-Verdampfer und beäugte Tighe.

Sein Aussehen hatte ihm immer den Weg geebnet. Dank seiner athletischen Statur und seinem jungenhaften Charme war er den gravierenderen Folgen seiner schlechten Lebensentscheidungen stets entgangen. Und hier und jetzt, in Maßjackett, Chinos und weißem Hemd, wirkte er auf lässige Art reich.

Was natürlich gelogen war.

Mit siebenunddreißig besaß er kein einziges respektables Outfit. Dieses hier war bei seiner Ankunft auf der Insel für ihn geschneidert worden. Das Jackett fiel perfekt über die Schultern. Der Hemdstoff war geschmeidig wie Flüssigkeit.

In dieser Verkleidung studierte Tighe die soziale Szenerie. Hunderte Gäste verschiedenster ethnischer Zugehörigkeit, mit weißen Zähnen, reiner Haut und der entspannten Haltung von Leuten, deren Zukunft gesichert ist.

Sie schienen ihn als einen der ihren zu akzeptieren. Andere Gäste nickten ihm zu, als würden sie ihn kennen.

Ein Mann patschte ihm auf den Arm. «Sind Sie James Tieg?»

Tighe nickte. «Es spricht sich ‹Tai› aus. Nennen Sie mich J.T.»

Ein anderer Mann schüttelte den Kopf. «J.T.! Super, Mann!»

Jemand klopfte ihm auf den Rücken. «Gut gemacht, Yank.»

Eine Generation-Alpha-Frau in einem hautengen Minikleid rief: «O! Mein! Gott!» Sie zog ein Handy, schneller als jeder Revolverheld seinen Colt. Im nächsten Moment machte sie neben ihm ein Duckface, während ihr Handy – Blitz! – ein Selfie schoss. Kurze Inspektion. «Noch eins.» Ein Instant-Lachen und diesmal eine hochgezogene Augenbraue und ein drolliges Lächeln neben seinem verdutzten Gesicht. Blitz. «Hab’s.» Sie ging ohne ein weiteres Wort davon, den Kopf gesenkt, das Handy mit den Daumen bearbeitend.

Tighe musste an die Kayapó in Brasilien denken. Sie hassten es, fotografiert zu werden. Er fühlte sich ihnen auf einmal verwandt, weil er um seine Social-Media-Seele fürchtete – bis ihm einfiel, dass er ja keine hatte.

Jemand drückte Tighe ein kaltes Red Stripe in die Hand. «Cheers, Mann!»

Umstehende Gäste erhoben ihre Gläser und Bierflaschen. Einer war ein Schauspieler, den Tighe aus dem amerikanischen Fernsehen kannte. Der Weg vor ihm war voll von Models, Entrepreneuren, Künstlern und Talkshow-Experten. Und hier war er, Tighe, mitten unter ihnen, und badete in seinen fünfzehn Minuten Internet-Ruhm. Vom Rand ins Zentrum befördert, fühlte er sich mehr denn je als Außenseiter.

In dem Moment übertönte ein Zischen den Algorave. Ein vielstimmiges «Ah!» kam aus der Menge. Finger zeigten himmelwärts. Bald schon entpuppte sich das Zischen als das Geräusch von Jettriebwerken.

Tighe folgte dem kollektiven Aufwärtsblick und sah hoch droben eine einzelne Gestalt vor dem Licht wirbelnder Laserstrahlen – ein Mensch, der auf einem Jet-Board durch den Nachthimmel carvte. Der Lärm wurde ohrenbetäubend, als der Mensch, das Board wie ein Surfer steuernd, mitten über der Party Kurven und Parabeln flog. Triebwerkswind zerzauste Palmen und hob Röcke, während das Publikum begeistert brüllte. Der behelmte Jet-Boarder im weißen Fluganzug jagte über die Leute hinweg und forderte, indem er die Arme triumphierend hochriss, noch mehr Applaus. Auf seinem Anzug prangte der stilisierte Namensschriftzug «Joyce» über die gesamte Länge.

Die Menge tobte, und der Düsenlärm wurde leiser, als der Jet-Boarder nordwärts entschwand, in Richtung des Herrenhauses auf der anderen Seite der Insel. Der Algorave war wieder zu hören, im Verein mit aufgeregtem Geschnatter.

Eine Frau in Tighes Nähe: «Heilige Scheiße! War das wirklich Nathan?»

«Hier …» Ein Mann hielt sein Handy hoch, um den Beweis für das zu erbringen, was sie alle gerade gesehen hatten.

Nathan Joyce. Ihr milliardenschwerer Gastgeber.

Tighe war erleichtert, dass sich die Aufmerksamkeit nicht mehr auf ihn richtete. Stattdessen erzählten sich die Umstehenden jetzt, was gerade passiert war – anhand ihrer Handyvideos von Joyces Überflug, die sie sich gegenseitig vorspielten.

«Schick es mir!»

«Ich lade es gerade hoch!»

Warum bin ich hier? Diese Frage wiederholte sich in Tighes Kopf. Nathan Joyces Einladung hatte dazu nicht viel gesagt.

«Mr. Tighe?»

Tighe drehte sich um und erblickte einen würdevollen Filipino in einem weißen Jackett mit schwarzer Fliege. Er hatte seinen Nachnamen richtig ausgesprochen. Tighe nickte.

«Mr. Joyce ist gerade von Mustique gekommen, Sir, und würde Sie gern unter vier Augen sprechen, wenn Sie einen Moment Zeit hätten.»

Einen Moment? Sehr witzig. Tighe war um die halbe Welt hierhergeflogen worden. Von Moment konnte wohl nicht die Rede sein. «Klar.»

«Folgen Sie mir bitte.»

Tighe stellte sein Bier ab und ging hinter dem Butler her durchs Partytreiben. Schließlich bestiegen sie beide einen wartenden autonomen Golfcart, der sofort den Hauptweg der Insel entlangschnurrte – in Richtung des Herrenhauses, das eine halbe Meile entfernt lag.

Tighe wusste über Nathan Joyce nur, was er im Internet gefunden hatte – einen Haufen nette, anekdotische Geschichtchen, die es in der Suchmaschinenoptimierung nach oben geschafft hatten, während die eigentlichen Informationen sechzehn Seiten tief vergraben waren. Gleichermaßen bewundert und geschmäht – oft von denselben Leuten –, predigte Joyce das Evangelium des Wagnisses, und sein Glaube war weltweit auf dem Vormarsch.

Aus durchschnittlichen Verhältnissen kommend, hatte es Joyce schon in jungen Jahren zum Milliardär gebracht, zuerst mit Kryptowährungen und dann durch eine ganze Serie von Tech-Start-ups, die (ohne dass Tighe je von ihnen gehört hatte, geschweige denn wusste, was sie machten) von Tech-Giganten gekauft worden waren.

Jetzt, mit Ende dreißig, besaß Joyce die Kontrollmehrheit Dutzender eng gehaltener Unternehmen in den Bereichen Neue Medien, Immobilien, Biotechnologie, Luft- und Raumfahrt und erneuerbare Energien. Er machte oft Schlagzeilen durch die Verkündigung grandioser, impraktikabel klingender Geschäftspläne. Joyces Nettovermögen war schwer zu beziffern, aber geschätzt wurde es auf einige bis zig Milliarden Dollar.

Baliceaux sagte etwas über Joyces Modus Operandi aus. Jahrhundertelang war es ein zu den Grenadinen gehöriges unbewohntes 130-Hektar-Inselchen gewesen. Seine schroffe Topographie machte die Erschließung zu teuer für Hotelanlagen und Ferienwohnungen, aber Joyce sah, was andere nicht sahen: die nötige Höhe, um dem Anstieg des Meeresspiegels durch den Klimawandel standzuhalten.

Jetzt, da die Strandvillen der Prominenten auf den Exumas regelmäßig überschwemmt wurden, war Baliceaux eine der wertvollsten Privatresidenzen der Welt. Selbst wenn der Meeresspiegel um fünf Meter stieg, würde hier die Party weitergehen.

Der autonome Golfcart hielt unter einem begrünten Vordach am Eingang des Herrenhauses.

Der Filipino-Butler stieg aus. «Hier entlang bitte.»

Er führte Tighe durch ein mit Schnitzereien verziertes Holzportal, vorbei an grimmigen, Anzug tragenden Sicherheitsleuten. Das Interieur war rustikal tropisch, das Raumklima so weit heruntergekühlt und entfeuchtet, dass es in etwa dem norwegischen Sommer entsprach. Hier drinnen war es erstaunlich friedlich in Anbetracht der riesigen Open-Air-Disco ganz in der Nähe.

Nachdem er Tighe durch den Hauptflur geführt hatte, öffnete der Butler eine zweiflügelige Tür und ließ ihn in ein geräumiges Arbeitszimmer, voll mit Andenken und Antiquitäten aus aller Welt: Beinschnitzereien, Sextanten, einem großen Messingfernrohr auf einem Stativ, Modellen von Segelschiffen, Rennflugzeugen, Raketen, gerahmten alten Karten und regalweise Büchern.

Es hätte ein gemütliches Refugium sein können, wäre da nicht der 120-Zoll-8K-Flachbildschirm an der Wand überm Kamin gewesen – mit Tighes dreckverschmiertem Gesicht in kristallklarer Videoqualität, überlebensgroß, in Ich-Perspektive von jemandes Helmkamera gefilmt.

Eine Gestalt saß auf dem Sofa und betrachtete das Video. Selbst von hinten erkannte Tighe am strubbeligen braunen Haar und den breiten Schultern Nathan Joyce, der immer noch den weißen Fluganzug trug.

Die Tür des Arbeitszimmers schloss sich hinter Tighe.

Im Video rief Tighe in die Kamera: «Wir können hier nicht bleiben!» Das tiefe Grollen reißenden Gesteins erschütterte das Arbeitszimmer mit Hilfe beeindruckender Lautsprecher.

Jemand schrie etwas im Off. Die Helmkamera drehte sich hin – und zeigte einen Mann im orangefarbenen Caving-Anzug und Helm. Er klammerte sich an eine Felswand, die um ihn herum in Stücke brach. Ein Seil führte vom Gurt des Mannes am Fels herüber.

Eine Stimme: «Lass los, John! Die Decke kommt runter! Lass los!»

Jetzt sah man Tighe, wie er seine eigene Sicherung ausklippte, dann ohne zu zögern durchs Dunkel sprang, den anderen Caver packte – und ihn vom Fels wegriss, obwohl der Mann nicht loslassen wollte. Sekunden nachdem sie an dem Seil zurückgeschwungen waren, brach die gesamte Felsfront weg, und eine große Partie der Decke stürzte mit ohrenbetäubendem Dröhnen herab. Die Kamera fing Tighe und den Caver ein, aneinander festgeklammert, ein menschliches Pendel über dem Nichts.

Tighe hängte sich in den Gurt des Cavers ein und blickte in die Kamera. «Hol uns rauf, Lars.»

Das Bild fror ein.

Der Zähler rechts unten zeigte an, dass das Video über zweiunddreißig Millionen Mal gesehen worden war.

Ohne sich umzudrehen, sagte Joyce: «Ganz schön riskant, um einen Mann zu retten, den Sie kaum kannten.»

Tighe wusste nicht, was er davon halten sollte. «Er hatte Batterien bei sich, die wir brauchten.»

Joyce ließ das einen Moment auf sich wirken. «Verstehe.» Er stand auf und drehte sich zu Tighe um. «Sie waren nach dem Beben vier Tage in der Tianxing-Höhle eingeschlossen.»

Tighe sagte immer noch nichts, während Joyce um das Sofa herumkam.

«Vier Tage. Keine verlegten Seile und keine Telefonverbindung mehr. Verwundete zu transportieren, kaum Proviant, ständige Nachbeben, eingestürzte Gänge, Überflutungen. Null Hoffnung auf baldige Rettung.»

Tighe sagte nichts.

«Und doch haben Sie zehn von sechzehn Mann lebend nach draußen gebracht – und Sie waren noch nicht mal der Expeditionsleiter.»

«Ich hatte keine Wahl.»

«Oh, doch. Sie hatten ständig die Wahl. Sie mussten dauernd Entscheidungen treffen, Entscheidungen auf Leben und Tod unter extremer Belastung.» Joyce musterte Tighe. «Das da ist der einzige Clip, der es ins Internet geschafft hat, aber es gibt noch über zweihundert Stunden Material von den Helmkameras der Expedition. Ich habe jede Minute gesehen.»

Tighe verengte die Augen. War Joyce wirklich an das Videomaterial der Expedition gekommen? Das hatte nicht mal er selbst gesehen.

«Organisationspsychologen werden diese Aufnahmen jahrelang studieren. Im einschlägigen Vortragszirkus könnten Sie gutes Geld verdienen.»

«Haben Sie mich deshalb eingeladen?»

Joyce lachte. «Himmel, nein, das wäre wirklich Vergeudung.» Er streckte Tighe die Hand hin. «Ich bin Nathan Joyce.»

Tighe zögerte, gab ihm dann die Hand. «Alle nennen mich J.T.»

«J.T.» Joyce war groß und schlank, mit intensivem Blick und festem Händedruck. Um seine Augenwinkel spielte ein Lächeln. «Danke, dass Sie den weiten Weg hierher gemacht haben. Ich glaube, unser Vorhaben wird Sie interessieren.»

Tighe hörte in der Ecke einen Stuhl knarzen und merkte plötzlich, dass da noch ein Mann an einem runden Tisch saß – Südasiate, in den Sechzigern, mit gepflegtem grauem Bart und teuer aussehender Brille. Der Mann trug Jackett und Sommerhose, war aber nicht annähernd so stylish gekleidet wie die Partygäste am Pool.

«Darf ich vorstellen, Sankar Korrapati, Wirtschaftsnobelpreisträger. Sankar, das ist J.T., der Höhlentaucher, von dem ich Ihnen erzählt habe.»

Der Wirtschaftswissenschaftler kam heran und drückte Tighe kräftig die Hand.

Tighe fühlte sich deplatziert. «Von Wirtschaft verstehe ich gar nichts, aber es ist mir eine Ehre.»

«Mr. Tighe. Die Ehre ist ganz meinerseits. Sie sind ein sehr mutiger Mann.»

Darauf gab es keine angemessene Antwort, also nickte Tighe nur.

Joyce deutete aufs Sofa. «Setzen Sie sich. Können wir Ihnen etwas zu trinken anbieten?»

«Nein. Danke.» Tighe setzte sich, innerlich auf der Hut. Irgendwas war hier im Gang, er wusste nur nicht was.

Der Ökonom fischte eine kleine Fernbedienung von einem Sideboard und drückte darauf. Der Fernseher ging aus, und stattdessen erschien über dem Couchtisch ein Hologramm. Es bestand aus drei Wörtern in weißen 3D-Lettern.

Was ist Geld?

Tighe war verdutzt. Er hatte noch nie eine freischwebende Holoprojektion live gesehen.

Joyce bemerkte seine Reaktion. «Ganz schön cool, was? Softwaredefiniertes Licht. Ich war Angel Investor in der Firma, die es entwickelt hat.»

Tighe starrte auf die Wörter Was ist Geld?. Jetzt erst drang ihre Bedeutung zu ihm durch. Irgendwie kam ihm das Ganze vor wie der Auftakt zur aufwendigsten Time-Share-Werbeveranstaltung der Welt. «Mr. Joyce –»

«Nathan, bitte.»

«Okay, Nathan, danke für die Einladung –»

«Aber warum Sie hier sind? Ich werde es Ihnen erklären. Zuerst aber möchte ich, dass Sie sich einen kleinen Vortrag anhören, den Sankar derzeit in gewissen Kreisen hält.» Als Tighe etwas sagen wollte, setzte er hinzu: «Tun Sie mir den Gefallen.» Joyce wandte sich an den Ökonomen. «Wenn Sie so nett wären, Professor.»

«Natürlich.» Korrapati trat neben das leuchtende Hologramm und sah Tighe eindringlich an. «Können Sie mir sagen, wo das Geld herkommt, Mr. Tighe?»

Tighe blickte von dem Wissenschaftler zu Joyce und wieder zurück. Offenbar war das ihr gemeinsames Ding. «Ich … ich nehme an, aus einer Münzanstalt.»

«Um das klarzustellen: Mit ‹Geld› meine ich nicht die physischen Mittel – die Scheine und die Münzen –, sondern die Werteinheit, die das Geld repräsentiert. Wie entsteht eine gegebene Geldeinheit?»

Tighe wollte antworten, stellte aber überrascht fest, dass er es nicht wusste.

«Das braucht Ihnen nicht peinlich zu sein. Viele MBAs wissen es auch nicht.»

Die holographischen Wörter morphten zu einer Ein-Dollar-Note.

«Tatsächlich werden nur 5 Prozent allen Geldes von Regierungen in Form von umlaufendem Bargeld erschaffen.»

Der holographische Dollar schrumpfte vor einem Hintergrund von scrollenden Datenbanksätzen zu einem winzigen Rechteck.

«Die übrigen 95 Prozent des Geldes werden von Geschäftsbanken erschaffen, und zwar jedes Mal, wenn sie einen Kredit vergeben.»

Tighe sah Joyce fragend an. Joyce bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, weiter aufzupassen.

Das Hologramm verwandelte sich jetzt in ein Haus mit einem «Verkauft»-Schild im Vorgartenrasen.

«Wenn zum Beispiel eine neue Hypothek begründet wird, kommt dieses Geld nicht aus einem Banktresor. Vielmehr wird das Geld durch die Kreditvergabe erschaffen. Die Bank stellt es dem Kreditnehmer als Bankkredit zur Verfügung, und der Kreditnehmer verspricht, die Darlehenssumme in der Zukunft plus Zinsen zurückzuzahlen. Die neue Schuld wird bei einer Zentralbank dem Konto der Geschäftsbank gutgeschrieben, und diese darf jetzt neue Kredite in Höhe eines Vielfachen dieses Darlehens vergeben – gewöhnlich im Verhältnis von zehn oder mehr zu eins. Je mehr Geld die Bank also verleiht, desto mehr Geld steht ihr zur Verfügung, um es zu verleihen.»

Tighe runzelte die Stirn. «Moment mal. Wie kann das sein?»

«Weil in der modernen Welt Geld keine realen Werte repräsentiert – Geld repräsentiert Schulden. Und je mehr Schulden in der Welt geschaffen werden, desto mehr Geld gibt es.»

Tighe sah wieder Joyce an.

Joyce bedeutete Korrapati fortzufahren.

«Nur der Klarheit halber: Es ist sehr wichtig, dass die Bank das virtuelle Geld, das sie verleiht, zurückerhält – und zwar mit Zinsen –, oder die Bank geht insolvent. Aber solange Darlehen zurückgezahlt werden, kann eine Bank immer weiter neues Geld in Form von Kredit erschaffen.»

Das Hologramm zeigte jetzt ein Säulendiagramm mit einem Pfeil, der beständig anstieg.

«Und so geht es immer weiter, es wird immer neues Geld erschaffen, weil immer mehr Leute, Unternehmen, Staats- und Gebietskörperschaften Kredite aufnehmen. Aber das System hat einen Schwachpunkt …»

Eine weitere Linie erschien im Diagramm. Sie war mit Fällige Rückzahlungen beschriftet und begann ein ganzes Stück über und kurz hinter der ansteigenden Schuldenlinie – und jagte sie bergauf.

«Banken verleihen nur den Kapitalbetrag. Zurückgezahlt werden muss er jedoch plus Zinsen – und bei langfristigen Krediten wie Hypothekenkrediten übersteigen die Gesamtzinsen den Kapitalbetrag bei weitem. Wenn die Gesamtgeldmenge nicht immer weiter wächst, wird nicht genug Geld da sein, um alle Kapitalbeträge plus Zinsen zurückzuzahlen.

Deshalb ist ‹Wachstum› das Mantra der Finanzwirtschaft. Deshalb werden die Konsumenten dazu gedrängt, immer mehr zu konsumieren, und deshalb steigen die Preise beständig – weil neue Schulden die immer weiter wachsenden Zinsforderungen bedienen müssen.

Am schockierendsten für den Laien ist die Tatsache, dass die Rückzahlung von Krediten Geld vernichtet. Wenn die meisten Kreditschulden zurückgezahlt würden, würde das der Wirtschaft keineswegs nützen, es würde sie im Gegenteil lähmen. Keine Schulden hieße kein Geld.»

Das Hologramm morphte zu eine Schlange von abgerissen aussehenden Menschen, die vor einer Suppenküche anstanden.

«Denken Sie an die Große Depression, Mr. Tighe. Zwischen 1929 und 1932 verringerte sich die Gesamtgeldmenge in den USA um fast ein Drittel. Da faule Kredite abgeschrieben wurden, gab es insgesamt weniger Geld, um Zinsverbindlichkeiten zu bedienen, was zu einer Kaskade von Pleiten führte.»

Das Hologramm verwandelte sich jetzt in Cartoon-Bankgebäude, die umfielen wie Dominosteine.

«Die Große Depression war kein Fall von Überschuldung. Sie war ein Fall von Unterschuldung.»

Tighe runzelte verwirrt die Stirn.

Erneut erschien das virtuelle Diagramm mit der ansteigenden Schuldenlinie.

«Schulden sind der Motor der modernen Wirtschaft, weshalb sie ständig wachsen müssen. Je höher die Schulden, desto größer die Geldmenge und desto mehr wirtschaftliche Aktivität – aber auch desto mehr Zinsen, die bezahlt werden müssen, um das System am Laufen zu halten.»

Korrapati sah finster drein. «Das heißt, auch jetzt, da der Klimawandel die menschliche Zivilisation zu vernichten droht, zwingt uns unser Wirtschaftssystem, immer größeres Wachstum anzustreben – was irgendwann unmöglich sein wird.»

Die holographische Fällige-Rückzahlungen-Linie überholte schließlich die Schuldenlinie – und beide Linien stürzten jäh ab.

«Mein Finanzmodell sagt vorher, dass beim derzeitigen Verlauf diese Schuldenblase innerhalb der nächsten zehn Jahre platzen wird, was den Zusammenbruch der Weltwirtschaft bedeutet – und damit das Potenzial für Weltkonflikte, Massenhungersnöte und vielleicht sogar das Ende der modernen Zivilisation, wie wir sie kennen.»

Tighe war sprachlos.

«Allerdings gibt es einen Ort, wo praktisch unendliche Expansion möglich ist – ja, wo sie bereits erfolgt. Wo unser gegenwärtiges schuldenbasiertes Finanzsystem noch Millionen von Jahren ungestört expandieren kann.» Korrapati zeigte nach oben. «Den Weltraum.»

Korrapati betätigte die Fernbedienung, und das Hologramm verschwand.

«Die kommerzielle Nutzung unseres Sonnensystems erlaubt es, die menschliche Ökonomie über die Erde hinaus auszuweiten und das Problem der akkumulierten Schulden in unserem Wirtschaftssystem anzugehen, indem sie die Gesamtmenge an Rohstoffen und Energie steigert, ohne die CO2-Emissionen zu erhöhen und den Klimawandel zu beschleunigen. Das ist der einzig sichere Weg, den baldigen globalen Wirtschaftskollaps zu vermeiden.»

Tighe war erst einmal wie erschlagen, blickte dann in Korrapatis erwartungsvolles Gesicht. «Versteh ich’s richtig? Sie wollen sagen, die Menschheit muss sich in den Weltraum ausdehnen – nicht um der Wissenschaft oder Forschung willen, sondern damit die Banken nicht pleitegehen?»

«Um der Erhaltung der Zivilisation willen.»

«Wäre es da nicht einfacher, das Geldsystem anders zu gestalten?»

«Das Finanzsystem zu verändern ist schwieriger, als Sie glauben – zumal die Profiteure des gegenwärtigen Wirtschaftssystems ihre ganze Macht daransetzen werden, den Status quo aufrechtzuerhalten. Und Kryptowährungen haben ihre eigenen energie- und klimapolitischen Schattenseiten.»

Joyce räusperte sich.

Tighe sah den Milliardär an.

«Ein Schlüsselwort, J.T.: Asteroidenbergbau.»

«Asteroidenbergbau.»

«Ich habe Dr. Korrapatis Finanzmodell studiert. Und meine Mitinvestoren auch. Wir sind überzeugt, dass, wenn sich nichts ändert, unsere Portfolios binnen zehn Jahren wertlos sind.»

«Hören Sie, ich weiß ja nicht, warum Sie mich hierhergeholt haben, aber da muss irgendein Irrtum vorliegen.» Tighe stand auf. «Ich bin kein Investor.»

«Es liegt kein Irrtum vor, J.T. Ich habe ein Asteroidenbergbau-Unternehmen gegründet, und wir suchen die Crew für unsere erste bemannte Expedition. Ich hätte Sie gern dabei.»

Tighe setzte sich langsam wieder hin.

«Asteroidenbergbau wird eine gefährliche Sache sein. Ein Job für Wagemutige.» Joyce zeigte auf den Bildschirm. «Ich habe gesehen, wozu Sie fähig sind. Wir übernehmen die gesamten Trainingskosten, und es gibt einen Signing-Bonus – den Sie behalten dürfen, auch wenn Sie es nicht in die Endauswahl schaffen.»

«Sie wollen Menschen losschicken, um Asteroidenbergbau zu betreiben?»

«Ja.»

«Im Weltraum.»

«Richtig.»

«Gibt es nicht schon Unternehmen, die das mit Robotern machen?»

«Es gibt mehrere, die in der Vorbereitungsphase sind, ihre Technologie ist noch unerprobt. Wir glauben, dass uns die Entsendung von Menschen zusammen mit Robotern, trotz der erheblichen Mehrkosten, einen Konkurrenzvorteil verschafft – in erster Linie die Fähigkeit, Technik iterativ vor Ort zu entwickeln, um Innovation zu beschleunigen. Wie Dr. Korrapati aufgezeigt hat, ist Zeit ein zentraler Faktor.»

Tighe ließ das auf sich wirken. «Okay. Ich sehe da zwei Probleme …» Er zählte sie an den Fingern ab. «Erstens, ich habe keine Ahnung von Asteroiden, und zweitens, ich habe keine Ahnung von Bergbau.»

«Das ist mir bewusst. Diese ganze neue Industrie ist noch so spekulativ, dass niemand weiß, wie schwierig die Sache wird. Wir haben natürlich unsere Vorstellungen, aber es ist wohl mit vielen Überraschungen zu rechnen. Aus diesem Grund wird die Hauptqualifikation unserer Crewmitglieder die Fähigkeit sein, in Krisensituationen kreativ zu denken – und die haben Sie ja schon reichlich unter Beweis gestellt.»

Tighe zeigte auf den dunklen Bildschirm. «Sie glauben, ich hätte dort in Tianxing keine Angst gehabt? Ich hatte einen Mordsschiss.»

«Aber Sie waren immer noch fokussiert und haben effektiv gehandelt. Wir wollen Leute, die das Unerwartete beflügelt.»

Tighe lachte bitter. «Leute, ‹die das Unerwartete beflügelt›? Ich komme kaum mit dem Erwarteten klar. Das werden Sie schnell merken. Ich meine, mein Privatleben ist eine einzige Katastrophe. Ich würde nicht mal eine Bonitätsprüfung bestehen, geschweige denn einen Psychotest. Ich bin nicht das, was man einen vernünftigen Menschen nennt.»

Joyce musterte Tighe. «Ich will keine vernünftigen Leute – ich will verlässliche Leute.»

«Warum in aller Welt halten Sie mich für verlässlich?»

«Weil jeder Caver, mit dem wir gesprochen haben, sagt, er würde Ihnen sein Leben anvertrauen.»

Tighe war erstaunt, dass Joyce so gründliche Nachforschungen über ihn angestellt hatte.

«Tatsache ist, dass manche Menschen im Alltag nicht so gut funktionieren, unter extremen Bedingungen aber Überragendes leisten. Ich halte Sie für einen dieser Menschen.»

Tighe wollte den Kopf schütteln, ließ es aber bei genauerem Nachdenken bleiben.

Joyce insistierte: «‹Vernünftige› Menschen meiden unnötige Risiken. Sie hingegen riskieren regelmäßig Ihr Leben, nur um irgendwohin zu gelangen, wo noch nie jemand war. Wenn Sie ein vernünftiger Mensch wären, J.T., würden wir dieses Gespräch nicht führen. Und andersherum, wenn ich ein vernünftiger Mensch wäre, wäre ich nicht reich.»

Tighe begegnete Joyces eindringlichem Blick.

«Warum tun Sie’s?»

«Tue ich was?»

«Höhlentauchen ist eine der gefährlichsten Aktivitäten überhaupt. Es erfordert Mut, Können, Intelligenz, körperliche Belastbarkeit. Und doch tun Sie es auf eigene Kosten und ohne auf Rettung hoffen zu können. Warum?»

So dargestellt, klang es selbst für Tighe verrückt. «Ist schwer zu erklären.»

«Versuchen Sie’s.»

Tighe suchte nach Worten. «Wenn ich eine unerforschte Höhle ertauche, ist es kein Nervenkitzel. Eher im Gegenteil. Ich fühle mich total zentriert. Es ist ein gesteigertes Realitätsgefühl – wie man sich vielleicht fühlen würde, wenn jetzt ein Tiger hier in diesen Raum spaziert käme, man wäre ganz und gar im gegenwärtigen Moment. Vergangenheit und Zukunft gäbe es nicht mehr.»

Joyce dachte über Tighes Worte nach. «Die buddhistischen Mönche in Kopan nennen das Mindfulness – ein meditativer Zustand, der selbst für Erleuchtete schwer zu erreichen ist.»

«Ein guter Freund von mir, Richard Oberhaus, hat mal gesagt, Höhlentauchen befreie einen von dem ganzen hinderlichen Kram des Lebens. Vielleicht ist das ja das Gleiche wie Meditation. Ich weiß es nicht.»

«‹Hinderlicher Kram›, das gefällt mir.» Joyce nickte anerkennend. «Also, wenn Sie ein ‹gesteigertes Realitätsgefühl› suchen, das kann ich Ihnen liefern wie kein anderer – und was Sie noch von mir haben können, ist gutes Geld, mal ganz abgesehen von einem Arbeitsplatz mit einer Wahnsinnsaussicht …» Bei diesem Wort machte Joyce eine Handbewegung, und ein leuchtendes Hologramm der Milchstraße erschien zwischen ihnen in der Luft.

Das Licht im Raum dimmte herunter, was das Leuchten der Sterne noch intensivierte.

Die gesamte Milchstraße funkelte vor Tighe, als schwebte er bereits im Weltraum. Ihm gegenüber stand der Mann, der ihn dorthin schicken wollte.

Aber Tighe würde sich nicht durch Hightech-Zaubertricks ködern lassen. «Glauben Sie wirklich, dass Asteroidenbergbau mit Menschen Sinn macht?»

«Wenn die Menschen je eine Raumfahrerspezies werden sollen, müssen wir hinaus in den Weltraum – und nicht nur besuchsweise. Es gilt, dort Wirtschaftsstrukturen aufzubauen. Roboter werden uns dabei helfen, aber sie sind nicht das Endziel. Wir müssen die menschliche Präsenz in unserem Sonnensystem ausweiten – nur so erreichen wir exponentielles Wachstum.»

Tighe dachte kurz nach. «Warum Asteroiden? Warum nicht mit dem Mond anfangen?»

«Geopolitische und juristische Komplikationen. Überlegen Sie mal, der Mond spielt in der menschlichen Kultur von jeher eine prominente Rolle – in Liedern, in Poesie und Prosa. Auf seiner Oberfläche kann niemand so leicht eine Bergbauindustrie etablieren. Meine Berater meinen, es würden jahrelange Rechtsstreitigkeiten anfallen, ehe kommerzieller Mondbergbau profitabel möglich wäre.»

Joyce ließ das Hologramm der Galaxie mit einer Handbewegung verschwinden. «Außerdem enthalten bestimmte erdnahe Asteroiden Hunderte Millionen Tonnen Wasser, Eisen, Stickstoff und Ammoniak. Und sie sind mit weniger Energieeinsatz zu erreichen als unser guter Mond. Und wichtiger noch: Einige dieser Asteroiden bedeuten eine tödliche Gefahr für die Menschheit, sollten sie je die Erde treffen. Was heißt, es wird wohl niemand für ihren Schutz vor Gericht ziehen.»

«Und die Rohstoffe bringen Sie wohin?»

«Was den Wert von Asteroidenrohstoffen ausmacht, ist vor allem ihre Bewegungsbahn – über der Gravitationssenke der Erde, und da sollen sie auch bleiben. Dort, im Cislunarraum, plane ich die Errichtung von Kraftwerken, CO2-intensiven Industrien und einer Weltraum-Warenbörse – die Anfänge einer ganzen cislunaren Ökonomie, die das praktisch unbegrenzte Wachstum ermöglicht, das Dr. Korrapati beschrieben hat, und dabei noch den Klimawandel bremst.»

Tighe sah sich um und stellte fest, dass Korrapati irgendwann diskret den Raum verlassen hatte. Sie waren jetzt allein.

«Gewonnene Rohstoffe von erdnahen Asteroiden in einen entfernten retrograden Mondorbit zu bringen, ist mit einem niedrigeren Delta-v möglich, als man es bräuchte, um dieselbe Masse von der Mondoberfläche zu heben.»

Tighe warf ein: «Delta-v? Ich weiß nicht, was das ist.»

«Der griechische Buchstabe Delta ist das mathematische Standardsymbol für Differenz. Delta-v bezeichnet eine Änderung der Geschwindigkeit. Alle Himmelsobjekte sind in Bewegung – was heißt, man muss entweder beschleunigen oder verlangsamen, um sie zu erreichen. Je höher das Delta-v, desto größer der Energieverbrauch – und desto höher die Kosten. Wenn es um Weltraumwirtschaft geht, J.T., ist Delta-v der Unterschied zwischen Profit und Verlust. Mit anderen Worten: Delta-v ist alles.»

Tighe konnte kaum glauben, dass er dieses Angebot in Erwägung zu ziehen begann. «Mr. Joyce –»

«Nathan.»

«Nathan, ich habe Jahre gebraucht, um zu lernen, in Höhlen 200 Meter tief zu tauchen. Über Raumfahrt weiß ich nichts. Meine mangelnden Kenntnisse könnten andere das Leben kosten.»

Joyce trat näher an Tighe heran. «Unsere Crewmitglieder werden gründlich ausgebildet. Mit Ihrer Sachkenntnis, was Atemgasgemische und Druckverhältnisse betrifft, sind Sie den meisten Kandidaten voraus – sogar vielen der Ex-Astronauten.»

Tighe überlegte, was es noch an Einwänden geben könnte. In den Weltraum zu fliegen, war ihm nie in den Sinn gekommen – es war eine Kinderphantasie. Aber das Erdbeben in Tianxing hatte sein Leben aus den Fugen gerüttelt. Warum nicht auch seine Zukunft? Trotzdem, es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis sie merkten, dass er nicht dem entsprach, was sie in ihm sahen.

Und auch nicht das, was Richard Oberhaus in ihm gesehen hatte.

Schließlich sah Tighe auf. «Sie haben was von einem Signing-Bonus gesagt?»

«Fünfundzwanzigtausend US-Dollar – vorausgesetzt, Sie bestehen die körperliche Aufnahmeuntersuchung. Das Geld können Sie auch dann behalten, wenn Sie das Trainingsprogramm nicht abschließen. Wir bezahlen sämtliche Reise- und Unterbringungskosten.»

«Wie lange geht das Trainingsprogramm?»

«Die erste Phase der Kandidatensichtung dauert neunzig Tage. Für die Ausgewählten schließt sich ein sechsmonatiges strenges Ausbildungsprogramm an, gefolgt von zwei Wochen Training im niedrigen Erdorbit. Wenn ich recht informiert bin, haben Sie momentan keine Expeditionen anstehen.»

Niedriger Erdorbit. Tighe überlegte. «Und wenn ich mir’s anders überlege?»

«Behalten Sie den Signing-Bonus. Ich betrachte ihn als eine billige Versicherung gegen ungeeignete Kandidaten. Besser – und weniger kostspielig –, man entdeckt sie hier auf der Erde.» Joyce setzte sich auf die Armlehne des Sofas. «Also, was sagen Sie, J.T.? Wenn Sie ein echter Entdecker sind, ist das die ultimative Expedition.»

Tighe blickte zu dem dunklen Bildschirm. «Das Helmkamera-Video aus Tianxing – ich hätte gern eine Kopie.»

«Natürlich. Wenn jemand ein Recht darauf hat, dann Sie.»

Tighe holte tief Luft. «Ich habe zwar keine Ahnung von Wirtschaft oder vom Weltraum, aber ich habe noch nie eine Expedition abgelehnt, die eine echte Herausforderung ist. Ich bin mit von der Partie.»

Joyce lächelte und schüttelte Tighe die Hand. «Sie haben die richtige Entscheidung getroffen. Meine Leute kommen morgen mit dem Papierkram in Ihrem Bungalow vorbei. Einstweilen viel Spaß heute Nacht!»

Die seltsame Begegnung endete genau in dem Moment, als Joyce bekommen hatte, was er wollte. Die zweiflügelige Tür öffnete sich, und der weißbejackte Butler stand wartend da.

Im Hinausgehen bemerkte Tighe gleich neben der Tür eine umwerfend aussehende Frau, ungefähr in seinem Alter und mit langem schwarzem Haar. Bei ihr stand eine weißbejackte Butlerin. Die Frau musterte Tighe durchdringend. Er nickte ihr zu, aber sie ging bereits auf Joyce zu, und die beiden begrüßten sich.

Tighe hielt sie für ein Supermodel oder sonst irgendeine Celebrity. So sah Joyces Leben aus.

Tighe blickte sich noch einmal um, ehe er dem Butler den Flur entlang folgte. Bevor sich die Tür des Arbeitszimmers schloss, sah er, wie die Frau ihm ihrerseits hinterherblickte.

2. KapitelDie Milliardärsflüsterin

Der Unterausschuss für die Bewilligung von Senatsmitteln für Wirtschaft, Justiz, Wissenschaft und damit verbundene Behörden hielt seine Hearings in einem hohen, mit Holz und Marmor ausgekleideten Raum im Dirksen Senate Office Building in Washington. An der Stirnseite des Raums befand sich ein holzvertäfelter, halbkreisförmiger Podiumstisch mit neunzehn Lederstühlen und Blick hinab auf einen breiten Holztisch mit einem Mikrophon. Im Rücken dieses Tischs gab es eine bescheidene Galerie für Presse und Senatsmitarbeiter. Eine schon etwas betagte Videokamera, die auf einem Stativ saß wie ein Maschinengewehr auf einem Dreibein, war genau auf die Anzuhörenden gerichtet.

Heute war ihr Objekt Erika Lisowski.

Drei Senatsmitglieder waren offenbar planlos über die neunzehn Stühle verteilt – bis auf den Ausschussvorsitzenden, der in der Mitte saß, ein bärbeißig aussehender Mann in den Siebzigern. Er ordnete Papiere und sprach in sein Mikrophon, ohne aufzublicken.

«Willkommen, Ms. Lisowski. Würden Sie sich bitte dem Ausschuss vorstellen.»

«Ja, ich bin Dr. Erika Lisowski, Programmleiterin für Emerging Space am NASA-Hauptsitz hier in Washington.»

«Ms. Lisowski, alles, was Sie heute hier aussagen, geht in die Video-Aufzeichnung des Hearings ein. Beginnen wir also.»

Der Vorsitzende setzte eine Lesebrille auf und studierte ein Schriftstück in seiner Hand. «Bei der Prüfung des Budgetentwurfs der NASA für das Fiskaljahr 2033 geht es uns um die Eliminierung von Verschwendung und Doppelaufwendungen im Rahmen von NASA-Programmen unter gleichzeitiger Wahrung der amerikanischen Weltrauminteressen und der nationalen Sicherheit.» Er sah auf. «Vielleicht erklären Sie uns kurz Ihre Aufgaben als Programmleiterin für …» Er verlor den Faden.

«Programmleiterin für Emerging Space. Natürlich. Meine Aufgabe ist die fortlaufende ökonomische Analyse emergenter privater Weltraumunternehmen – dessen, was wir ‹New Space› nennen – mit Blick darauf, die Industrie zu Investitionen in cislunare Vorhaben zu ermutigen.»

«Cislunar? Was ist das?»

«Der Cislunarraum ist der Raum zwischen der Erdatmosphäre und einem Punkt etwa 65000 Kilometer jenseits des Monds. Man könnte sagen, unsere nähere himmlische Nachbarschaft.»

«Und welche Art ‹Vorhaben› fördern Sie dort?»

«Eine nachhaltige und wachsende weltraumbasierte Wirtschaft, die einen kosteneffizienteren Unterstützungsrahmen für künftige NASA-Missionen bilden könnte.»

«Diese Weltraumwirtschaft stünde unter der Schirmherrschaft der Vereinigten Staaten?»

Sie zögerte. «Nicht ausdrücklich, Senator, obwohl die USA zweifellos eine zentrale Rolle spielen werden. Jede Weltraumökonomie würde sich mit erdbasierten internationalen Wirtschaftssystemen – wie dem, das sich derzeit in Luxemburg entwickelt – überschneiden. Der herkömmliche Fachausdruck hierfür ist ‹Verschränkung›, will heißen, es geht um die Erschaffung eines Marktes, der für alle offen ist, sodass alle Staaten ein Eigeninteresse an seinem erfolgreichen Funktionieren haben.»

Der jüngere Senator weiter außen beugte sich an sein Mikrophon. «Sie sagten ‹New Space›. Was ist der Unterschied zu ‹Old Space›?»

«New-Space-Bewegung ist ein inoffizieller Ausdruck für das Aufkommen privater Raumfahrtunternehmen, die kommerziell ausgerichtet sind, statt sich als Staatszulieferer zu verstehen.»

Der Vorsitzende fragte: «Aber die Unternehmen, um die Sie sich kümmern, müssen doch wohl in einem gewissen Maß dem nationalen Interesse der USA verpflichtet sein?»

«Nicht mehr als kommerzielle Firmen im Silicon Valley oder an der Wall Street.»

«Dann sehe ich nicht, wie dieses Programm dazu beitragen soll, die amerikanische Vorherrschaft im Weltraum aufrechtzuerhalten.»

«Senator, ich glaube, wir müssen anerkennen, dass eine absolute amerikanische Vorherrschaft im Weltraum nicht mehr existiert. Die Entwicklung von Startsystemen schreitet weltweit rapide voran, und die Zahl nationaler und internationaler Raumfahrtbeteiligter wächst dramatisch. Laut Statistik von 2031 beträgt die Zahl der im Erdumlauf befindlichen operativen Satelliten 14312, und davon gehören nur 1004 den USA. Der Rest gehört zum allergrößten Teil privatwirtschaftlichen Unternehmen.»

Der Vorsitzende las in seinen Papieren, während er sagte: «Die meisten dieser Unternehmen haben ihren Sitz in den USA oder verbündeten Staaten, ist das richtig?»

«Momentan ja.»

«Und warum, Ms. Lisowski, brauchen wir dann eine ganze NASA-Abteilung zur Förderung der privaten Raumfahrtindustrie? Sie scheint doch von selbst zu florieren.»

«Meine Funktion ist es nicht, die private Raumfahrtindustrie zu ‹fördern›, sondern wirtschaftliche Investitionen in Technologien und Ressourcen zu stärken, die die Wissenschafts- und Forschungsmissionen der NASA vorantreiben und zugleich Steuergelder sparen werden. Wenn wir in andere Welten vordringen wollen –»

«Verzeihung, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihre Zuversicht teile, dass die Erschaffung eines ‹für alle offenen› Marktes im Weltraum dort für geopolitische Stabilität sorgen wird. Woher wissen wir, Ms. Lisowski, dass ein ausländisches Raumfahrtunternehmen nicht nur ein Deckmäntelchen dafür ist, Waffen einer rivalisierenden Nation im Orbit zu positionieren?»

Sie taxierte seine strenge Miene. Lisowski wusste, der Senator war früher Manager einer Rüstungsfirma gewesen und davor General der Air Force. «Ich bin keine Verteidigungsanalystin, Senator, aber aufgrund der Geschwindigkeiten, mit denen wir es hier zu tun haben, ist im Orbit praktisch alles eine potenzielle Waffe. Eine Schraube, die ein Astronaut bei Außenreparaturen fallen lässt, könnte einen ganzen Satelliten zerstören. Aus diesem Grund gäbe es bei Konflikten im niedrigen Erdorbit grundsätzlich keinen Sieger. Die Trümmer, die schon geringfügige Feindseligkeiten hinterließen, würden wahrscheinlich andere Satelliten treffen und sie in Wolken von tödlichem Schrott verwandeln, der wiederum weitere Satelliten zerstören würde. Das könnte schließlich zum sogenannten Kessler-Syndrom führen – einem Zustand, in dem der erdnahe Weltraum so dicht mit Schrott angefüllt ist, dass über Generationen gar keine Raumfahrt mehr möglich ist.»

«Dann sind Sie also der Meinung, Amerika sollte seine Vorherrschaft im Weltraum nicht behaupten?»

«Ich will nur sagen, Senator, dass jede Nation der Erde ein legitimes Interesse am Weltraum hat und dass die Entwicklung eines internationalen Handels dort die größte Chance auf eine stabile, friedliche Zukunft darstellt. Die USA sollten bei diesem Vorhaben führend sein, aber wenn wir es nicht sind, werden andere Staaten diese Rolle übernehmen.»

Der Vorsitzende und die anderen Senatsmitglieder machten sich Notizen. Die Senatorin sprach kurz mit einem Mitarbeiter. Dann sah der Vorsitzende auf. «Die Projektion, bitte.»

Eine Leinwand wurde heruntergelassen, und von irgendwo hinten im Raum kam ein Projektorstrahl. Plötzlich erschien ein Bild.

«Hier sehen wir ein Foto aus der Ausgabe der Zeitschrift Rolling Stone vom Juni 2028 …»

Das Bild zeigte eine Gruppe von Leuten beim – wie Lisowski sofort erkannte – Weltwirtschaftsforum in Davos, und die Unterschrift lautete «Die New-Space-Titanen». Ein Dutzend Lichtgestalten standen mit Drinks vor einer Alpenkulisse und unterhielten sich. Es wirkte alles sehr opulent. Lisowski erkannte die Szene auf dem Foto deshalb, weil sie mittendrin stand. Ein roter Punkt erschien auf dem Gesicht des Mannes neben ihr.

«Die Öffentlichkeit ist fasziniert von privaten Raumfahrtunternehmen und den Menschen, die dahinter stehen. Können Sie mir sagen, wer das da ist?»

«Das ist Nathan Joyce, Senator.»

«Und wer ist Nathan Joyce?»

«Er ist Tech-Milliardär und Angel Investor in New-Space-Unternehmen, CEO sowohl der Catalyst Corporation als auch der Asterisk Holdings.»

Der Punkt bewegte sich auf ihre andere Seite, markierte jetzt das Gesicht eines Mannes südasiatischer Abstammung. «Und können Sie uns auch sagen, wer dieser Herr ist?»

«Dr. Sankar Korrapati, ein Ökonom.»

«Ein Nobelpreisträger für Ökonomie. ‹Dr. Doom› wird er wohl auch zuweilen genannt.»

Leises Lachen ging durch die Galerie.

Dann wanderte der Punkt mitten auf Lisowskis Stirn – wie der Zielpunkt eines Scharfschützen. «Und diese Person?»

«Das bin ich, Senator.»

«In dem Artikel steht, Sie hätten Dr. Korrapati in Davos mit Mr. Joyce bekannt gemacht – und seither seien die beiden dicke Freunde. Nennt man Sie deshalb die Milliardärsflüsterin, Ms. Lisowski?»

Sie betrachtete das Foto einen Moment. «Dieser Artikel ist ein Klickköder. Es war eine rein zufällige Begegnung. Wir standen nebeneinander, und ich habe die Herren einander höflichkeitshalber vorgestellt.»

«Woher kannten Sie Dr. Korrapati?»

«Ich hatte seine Preisrede in Stockholm gehört.»

«Dann waren Sie also bei der Nobelpreiszeremonie und beim Wirtschaftstreffen in Davos?»

«Ich war zur Nobelpreisverleihung eingeladen, ja.»

«Von wem?»

Lisowski zögerte. «Von der schwedischen Königin.»

«Der schwedischen Königin? Ich muss sagen, für eine Regierungsbeamtin sind Sie eine ganz schöne Jetsetterin.»

«Senator, um in Kontakt mit New-Space-Leadern zu kommen, muss ich in deren Welt präsent sein. Das sind keine asketischen Menschen, und sie kommen nicht gern nach Washington, wenn sie’s vermeiden können.»

Wieder Lachen von der Galerie.

Sie zeigte auf die Leinwand. «Sie tätigen ihre Geschäfte an exotischen Orten, also muss ich dorthin, um mit ihnen zu sprechen.»

«Ganz schön anspruchsvoller Job, den Sie da haben. Und was ist bei diesen ‹Besprechungen› bisher herausgekommen?»

«In den letzten acht Jahren hat die NASA milliardenschwere Public-Private-Partnerships im Cislunarraum initiiert und fast die Hälfte ihres Budgets für Deep-Space-Projekte freigemacht – worunter auch die jüngsten Mondlandungen fallen. Wir haben Orbitalindustrien ermutigt wie Lichtwellenleiter-Druck, pharmazeutische und metallurgische Forschung, Weltraumtourismus, Nanosatelliten und kommerzielle Logistik für die Lunar Gateway Station, die sich infolgedessen jetzt in einer nahezu geradlinigen Halo-Umlaufbahn um den Mond befindet. Wir können solche Deals in die Wege leiten, weil wir die Sprache der Entrepreneure sprechen.»

«Wie hat man sich Ihrer Meinung nach kommerzielle Konkurrenz um den Weltraum vorzustellen, global gesehen?»

«Noch mal, ich würde nicht von Konkurrenz um den Weltraum sprechen. Wir sollten die Etablierung eines gemeinsamen Marktes dort als ein Ziel der gesamten Menschheit sehen.»

«Nicht alle Nationen haben dasselbe Wertesystem wie die USA, Ms. Lisowski. Was tragen beispielsweise chinesische Unternehmer zu diesem ‹gemeinsamen Ziel› der Expansion in den Weltraum bei?»

«Die chinesische Regierung übt strikte Kontrolle über ihre Weltraum-Start-ups aus, was zur Folge hat, dass diese konservativ agieren – sie meiden größere Risiken. Daher gibt es dort bislang keine bemannten kommerziellen Startsysteme.»

«Und die russischen Raumfahrt-Entrepreneure?»

Lisowski dachte über die Frage nach. «Ich glaube nicht, dass wir dort irgendwelche privaten Raumfahrtinvestitionen sehen werden, die der Kreml nicht will – und momentan haben die Russen Haushaltsprobleme, die China nicht für sie gelöst hat.»

«Und was ist mit europäischen, japanischen und indischen Start-ups?»

«Die ESA investiert weiter in unbemannte Sonden, aber der kommerzielle Bemannte-Raumfahrt-Sektor ist in Europa noch nicht sehr weit. Japanische Unternehmen entwickeln erstaunliche Industrieroboter für den Einsatz im Weltraum. Indien und Neuseeland machen kommerzielle Satelliten-Launchs, LEO und GEO, aber kommerziell ausgerichtete Deep-Space-Systeme sind dort wohl noch ziemlich weit weg.»

«Also noch keine kommerziellen bemannten Raumfahrtsysteme im Ausland?»

Sie nickte. «Die Einzigen, die die Mittel und den Willen haben, kommerzielle bemannte Raumfahrtprojekte zu verfolgen, sind momentan amerikanische oder in den USA lebende Entrepreneure.»

«Und die in den USA lebenden Milliardäre mit den nötigen Mitteln – wie schätzen Sie deren jeweilige persönliche Ziele ein?»

Jetzt hörten alle im Saal gespannt zu – vor allem der einzige anwesende und bisher gelangweilte Journalist.

Lisowski nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. Ihr war klar, dass es jetzt heikel wurde. Als NASA-Beamtin konnte sie Fragen bei einem Senatshearing schlecht ignorieren, aber andererseits gab es da diverse Vertraulichkeitsvereinbarungen. «Ich bin keine Psychologin, Senator.»

«Sie bewegen sich ja unter diesen Milliardären wie eine der ihren, sehr zu Lasten des Steuerzahlers. Da erwarte ich doch, dass Sie ein paar Erkenntnisse darüber gewonnen haben, was diese Leute antreibt. Jack Macy zum Beispiel.»

«Der Mars. Macys Ziel ist die Kolonisation des Mars durch den Menschen – unsere Entwicklung zu einer multiplanetaren Spezies. Alles, was er tut, dient seiner geplanten Marsmission. Selbst seine Mondprojekte sind hauptsächlich eine Zwischenbasis für den Mars. Er hätte schon ein Raumschiff zum Mars geschickt, wenn es da nicht politische Widerstände gäbe.»

«Und die anderen?»

«George Burkett ist ruhiger, abwägender, aber er investiert seit Jahrzehnten Milliarden in die Raumfahrt. Er konzentriert sich auf Schwerlastraketen, wiederverwendbare Raketen, aber auch auf kommerzielle Logistiksysteme im Cislunarraum, um seine Mondbergbau-Ambitionen zu stützen. Als reichster Mann der Welt hat Burkett das Geld, um die Sache durchzuziehen, aber er geht nach dem Langsam-aber-sicher-Prinzip vor.»

«Und Halser?»

«Raymond Halser, Hoteltycoon. Hat in Sachen Weltraumtourismus geliefert, indem er aus seinen aufblasbaren Hab-Modulen das Hotel LEO in der alten ISS-Umlaufbahn gebaut hat. Aber unsere strategischen Investitionen in seine Aufblasbare-Wohneinheiten-Technologie haben sich ausgezahlt, als wir das NASA Lunar Gateway gebaut haben. Ähnliche Hab-Einheiten sind auch als Komponenten des wiederverwendbaren NASA-Raumschiffs Deep Space Transport vorgesehen. Von all diesen Milliardären ist Halser gegenwärtig der einzige, der erhebliche Profite im Weltraum macht.»

«Und dieser Brite, Morten?»

«Sir Thomas Morten. Sein Unternehmen macht in Suborbital-Technologie – eher für Touristenflüge als für ernsthafte Raumfahrt. Ich würde sagen, er spielt nicht in derselben Liga wie die anderen New-Space-Titanen.»

«Und Ihr Davoser Freund – der mit dieser Partyinsel?»

«Nathan Joyce. Er ist kein traditioneller Luft- und Raumfahrtinvestor, das stimmt, aber ich glaube, er hat vor, in den nächsten zehn Jahren erhebliche Investments im New-Space-Sektor zu tätigen.»

«Es fällt schwer, ihn ernst zu nehmen, wenn er Crowdfunding-Kampagnen startet, um eine bemannte Asteroidenbergbau-Mission zu finanzieren. Klingt für mich doch sehr ähnlich, wie die Brooklyn Bridge zu verkaufen.»

Mitarbeiter und andere auf der Galerie lachten.

Lisowski richtete sich auf. «Wir von der NASA bestärken Wagemutige und Träumer in der Privatwirtschaft, wo immer wir können, in der Hoffnung, dass es uns gelingt, ihre Aktivitäten zum Wohl aller zu koordinieren.» Sie beugte sich ans Mikrophon. «Aber ich würde Nathan Joyce nicht unterschätzen, Senator. Er ist ernstzunehmender, als die meisten Leute glauben.»

3. KapitelLetzte Dinge

13. Dezember 2032

Nathan Joyce stand im orangefarbenen Fluganzug, Helm unterm Arm, auf einem Rollfeld und lächelte in die Kamera. «Es ist Zeit, dass die Menschheit nicht mehr nur mit der bemannten Erkundung des tiefen Weltraums flirtet, sondern sich tatsächlich daranmacht – also habe ich die Catalyst Corporation gegründet, mit dem Ziel, eine Gruppe außergewöhnlicher Menschen auf eine Rohstoffabbau-Mission auf einem erdnahen Asteroiden zu schicken. Um das zu realisieren, bin ich bereit, alles, was diese Crowdfunding-Kampagne an Kapital einbringt, zu verdoppeln …»

Archiv-Videoaufnahmen zeigten einen länglichen Asteroiden, der vor dem Hintergrund der Erde dahinzog. «Wir erinnern uns alle an 2029, als der Asteroid Apophis die Erde nur um 20000 Meilen verfehlte. Das machte deutlich, welche Gefahr Asteroiden für die Menschheit darstellen. Doch dieselben Asteroiden enthalten die Rohstoffe, die wir benötigen, um neue, weltraumbasierte Industrien aufzubauen.»

Schnitt zu einer Nahaufnahme von Joyce. «Dein Beitrag kann helfen, das Weltraumzeitalter, von dem wir alle schon so lange träumen, Wirklichkeit werden zu lassen. Für deine Zusicherung auf der 200-Dollar-Stufe erhältst du diesen Catalyst-Corporation-Hoodie mit –»

James Tighe klickte das Video weg und senkte sein Handy. Er fragte sich, worauf er sich da eingelassen hatte. Einen einzigen riesigen Werbegag vermutlich.

Und doch bestand ein Teil dieses Werbegags darin, dass Joyce achtzehn Plätze in kommerziellen Startsystemen von Burkett und Macy gekauft hatte – angeblich für «In-Orbit-Training». Das hieß, achtzehn Leute würden definitiv in den Weltraum fliegen, auf Joyces Kosten. Tighe hoffte, einer von diesen Leuten zu sein.

Er ging inmitten sonnenverbrannter Touristen durch den Orlando International Airport und checkte noch mal die Anweisungen auf seinem Handy. Dank der Hinweisschilder fand er ein Shuttle zum «General Aviation»-Terminal. Das war ein kleineres, freundlicheres Abfertigungsgebäude mit kürzeren Sicherheitskontrollschlangen. Binnen weniger Minuten war er an seinem Gate und checkte die Uhrzeit – einundzwanzig Uhr dreißig.

Er war früh dran, und es gab da noch ein Telefonat, das er nicht länger hinausschieben konnte. Er trat an den Rand des Stroms von Geschäftsreisenden, scrollte durch seine Kontakte, zögerte kurz und tippte dann auf den Namen.

Es klingelte zweimal, dann wurde abgenommen – im Hintergrund Kinderstimmen. «Wow, Jim. Bist das wirklich du?» Der singende Wisconsin-Akzent war unüberhörbar.

«Yeah. Hi, Ted.»

«Frohe Weihnachten. Ich hoffe, es ist alles okay?»

«Alles bestens. Dir auch frohe Weihnachten.»

«Du sitzt nicht irgendwo im Ausland fest?»

Tighe musste zugeben, dass die Befürchtung nicht aus der Luft gegriffen war.

«Ist denn aus dieser Doku-Sache was geworden, oder …»

«Unter anderem deshalb rufe ich an.»

Wieder laute Kinderstimmen im Hintergrund. Ins Off gesprochen: «Leise bitte. Daddy telefoniert!» Dann war er wieder dran. «Ich würde ja fragen, wo du die ganze Zeit gesteckt hast, aber die Antwort würde bestimmt eine Stunde dauern. Wo bist du denn jetzt gerade?»

«Ich bin hier in den Staaten. Orlando.»

«Bist du dort, um in diesen Kalksteinhöhlen zu tauchen? Wie heißen die noch mal? Cetotes?»

«Cenotes. Nein. Ich habe heute Abend einen Fernflug von hier. Wie geht’s Jill und den Kids?»

«Ach, na ja. Uns geht’s gut. Jills Anwaltspraxis floriert. Letztes Jahr waren wir in der Karibik, alle zusammen. Mom auch. So eine Disney-Kreuzfahrt.»

«Ach?»

«Das war echt toll. Ich hab die Fotos auf Facebook gestellt. Weiß nicht, ob du sie gesehen hast.»

Tighe hatte keinen Facebook-Account.

«Diese Wahnsinnsbüfetts! Wir haben uns fast totgefressen.»

Tighe fühlte schon den Strudel, der ihn einzusaugen drohte. «Meine Mom war mit? Das überrascht mich.»

«Aber klar. Sie hat sich sogar von Jill dazu einladen lassen, kannst du dir das vorstellen? Um mit ihren Enkeln zusammen zu sein.»

Tighe sah auf die Uhrzeit auf der Anzeigetafel. «Hör zu, Ted. Ich will dir Geld überweisen – eine Teilrückzahlung.»

Kurzes Schweigen am anderen Ende. Dann: «Echt?»

«Ich weiß, es hat lange gedauert.»

«Äh … ja. Ich … Ehrlich gesagt, ich dachte nicht – Teilrückzahlung. Und … wie viel wäre das denn?»

«Zwanzigtausend. Ich habe die Kontonummer, die du mir gegeben hast, als du –»

«Das 9360-Konto?»

Tighe sah auf den Kontakteintrag auf seinem Handy. «Genau. Bank of the West.»

«Das ist das richtige. Zwanzigtausend! Ehrlich? Ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk. Und du überweist das Geld heute noch?»

Tighes Daumen verharrte über seiner Banking-App – und klickte dann auf «Senden». «Hab’s gerade abgeschickt. Müsste in den nächsten Minuten bei dir eingehen.»

«Also, das ist echt ’ne Überraschung, Jim.» Dann ruderte er zurück. «Nicht dass … ich will damit nicht sagen – und es ist ja nicht die ganze Summe – vor allem, wenn man die Zinsen mitrechnet. Du weißt doch noch – die Zinsen?»

«Vierzehn Prozent.»

«Dürfte stimmen.»

«Es stimmt.»

«Okay, das ist echt super. Ich rechne den neuen Stand aus und schick ihn dir dann.» Blättern am anderen Ende. «Wie ist deine aktuelle E-Mail-Adresse?»

«Immer noch dieselbe, aber ich checke meine Mails nur selten.»

«Facebook-Account oder …»

«Wie gesagt, ich bin schon so gut wie außer Landes – ich muss sogar rennen, um meinen Flieger zu kriegen.»

«Und diese Telefonnummer?»

«Ich bin die nächsten neunzig Tage mindestens nicht zu erreichen. Schick’s einfach an meine alte E-Mail-Adresse. Ich krieg’s schon.»

«Drei Monate. Wow, was hast du vor?»

«Nur wieder eine Expedition.»

«Okay. Pass auf dich auf. Aber hey!»

Tighe hätte beinah trotzdem aufgelegt. Dann hob er das Handy doch wieder ans Ohr. «Yeah, Ted?»

«Du solltest deine Mutter anrufen. Es ist doch Weihnachten, und sie hat lange nichts von dir gehört. Du bist immer noch ihr Sohn. Sie beklagt sich die ganze Zeit.»

«Sie will gar nicht, dass ich anrufe. Sie will den Leuten erzählen, dass ich nie anrufe.»

«Aber du rufst ja auch nie an.»

«Ich weiß nicht, wozu das gut sein sollte.»

«Wir sind eine Familie. Es muss zu nichts gut sein.»

«Hör zu, ich muss jetzt meinen Flieger kriegen. Sag meiner Mutter schöne Grüße. Und Jill auch.»

«Okay, Jim, falls du –»

Tighe legte auf und steckte das Handy ein. Er ging zu seinem Gate. Im Dunkel hinter den hohen Fenstern war die Bugnase einer nicht gekennzeichneten weißen Boeing 787 erkennbar – eine Maschine, deren Flugziel nur Joyce kannte.

Nur eine Passagierin stand vor Tighe am Check-in, eine schlanke, schick gekleidete Asiatin in den Dreißigern. Tighe blickte auf sein T-Shirt und seine verwaschenen Jeans hinab und fragte sich, ob er sich hätte bemühen müssen, einen besseren Eindruck zu machen. In den Anweisungen stand, Kleidung werde am Zielort gestellt.

Dann war er dran. Er trat vor den jungen Mann im Joyce-Airlines-Polohemd hinter dem Check-in-Schalter. Zwei Männer im Anzug und mit Ohrhörer standen in der Nähe und beobachteten Tighe genau. Einige weitere Personen – ältere Männer und Frauen – in Business Casual standen im Wartebereich herum. Auch sie musterten ihn.

Der Mann am Schalter nickte. «Guten Abend.» Er zeigte auf einen Irisscanner auf dem Schaltertisch. «Bitte blicken Sie mit dem rechten Auge ins Okular.»

Bei der Vertragsunterzeichnung in Baliceaux hatten Joyces Leute Irisscans, Blutproben und Fingerabdrücke von Tighe genommen. Das hatte ihn zwar stutzig gemacht, aber der Signing-Bonus hatte es glatter runtergehen lassen.

Tighe beugte den Kopf auf den Scanner.

Der junge Mann beobachtete das Display, bis das Gerät eine wohlklingende Tonfolge von sich gab, und winkte Tighe dann durch zum Boarding.

Tighe ging über die Boardingbrücke und wurde an der Flugzeugtür von einer Frau mittleren Alters empfangen, die ebenfalls Joyce-Airlines-Uniform trug.

Sie blickte auf ein Tablet und sagte dann lächelnd: «Mr. Tighe, guten Abend.»

«Guten Abend.»

«Bitte folgen Sie mir.»

Tighe folgte ihr durch den Galley-Bereich. Er bemerkte, dass die Erste-Klasse-Kabine auf der linken Seite hinter einer Trennwand mit geschlossener Tür lag. Die Frau führte ihn durch ein Spalier von weiteren Männern und Frauen in Kakihosen und Polohemden; alle hatten Tablets in den Händen und musterten ihn, als er an ihnen vorbeiging.

Während er den nähergelegenen der beiden Gänge entlanggeführt wurde, warf Tighe verstohlene Blicke auf die – wie er vermutete – anderen Kandidaten, die alle weit auseinander saßen. Sie wirkten durchweg körperlich fit und waren wohl zwischen Mitte dreißig und Mitte vierzig. Die Jüngsten im Flugzeug schienen die Mitglieder des Bordpersonals zu sein. Die Kandidaten waren ethnisch divers, alle Hautfarben und Herkunftskontinente schienen vertreten. Es waren offenbar auch gleich viele Männer und Frauen. Es wirkte wie ein Charterflug in ein olympisches Dorf für reifere Athleten.

Seine Begleiterin brachte ihn zu einer leeren Sitzreihe und zeigte mit dem Finger. «Sie haben 21A.»

Ein Fensterplatz, wäre da nicht ein Detail gewesen. Er blickte die Kabine entlang, zuerst in die eine Richtung, dann in die andere. «Keine Fenster.» Die Maschine wirkte wie ein umgebautes Frachtflugzeug.

Sie musterte ihn. «Macht Ihnen die Fensterlosigkeit Angst?»

Etwas an der Art, wie sie fragte, ließ bei Tighe die Alarmglocken läuten. «Nein. Nicht im Geringsten.»

«Gut.» Sie nickte und bedeutete ihm, sich hinzusetzen. «Bitte unterlassen Sie es, mit Ihren Mitreisenden zu sprechen. Es wird ein langer Flug. Es gibt Mahlzeitenservice, aber kein Bord-Entertainment, kein Internet und keinen Handy-Empfang. Ich hoffe, Sie haben etwas dabei, um sich zu beschäftigen. Die Waschräume befinden sich hinter Ihnen, aber noch mal, bitte sprechen Sie mit niemandem. Haben Sie noch Fragen?»

Tighe ließ seine Reisetasche auf den Sitz neben seinem fallen. Er schüttelte den Kopf. «Nein. Danke.»

Sie ging.

Tighe sah sich wieder um und wechselte Blicke mit ein paar anderen Kandidaten, die sich ebenfalls umsahen. Ein Südasiate zog eine Grimasse, als wollte er sagen: Ganz schön merkwürdig, was?

Tighe drehte sich wieder nach vorn und konnte nicht umhin zu bemerken, dass getönte Dome-Kameras in der Deckenmitte saßen. Er beschloss, sich geduldig zu geben.

Schließlich nahm das Personal seine Plätze ein, und eine Lautsprecherstimme verkündete, dass die Maschine jetzt startbereit sei und die Passagiere ihre Sicherheitsgurte schließen sollten. Es fühlte sich seltsam befreiend an, nicht die ganzen obligatorischen Sicherheitsanweisungen zu bekommen.

Er atmete tief durch, als die Triebwerke aufdrehten. Er hatte keine Ahnung, wo es hinging.

 

Nachdem er etwa eine halbe Stunde still dagesessen hatte, beugte sich Tighe zu seiner Reisetasche hinüber. Er suchte in den Seitenfächern und förderte schließlich ein kleines Plastik-Case mit einer MicroSD-Karte zutage. Das Case war mit «Tianxing-Exped. Vid.» beschriftet. Joyces Leute hatten es ihm gegeben. Vier Terabyte XHD-Video – insgesamt über zweihundert Stunden. Er klopfte nervös mit dem Zeigefinger auf das Case. Er hatte sich das Videomaterial schon die ganzen letzten Wochen ansehen wollen, aber vielleicht war er ja doch stärker traumatisiert, als er dachte. Irgendwie war er nie dazu gekommen. Aber er musste es sich anschauen, und jetzt hatte er definitiv Zeit.

Er setzte sich kabellose Ohrhörer ein, nahm die winzige Speicherkarte vorsichtig aus der Schutzhülle und steckte sie in sein Handy. Gleich darauf navigierte er durch Thumbnails von Videoclips.

Da waren Hunderte von numerischen Dateinamen ohne ersichtliches Muster. Die Erstelldaten der Dateien halfen auch nicht weiter, da alle zum selben Zeitpunkt vor ein paar Wochen kopiert worden waren. Er musterte die einzelnen Thumbnails und versuchte zu erraten, was die jeweilige Datei enthalten könnte.

Schließlich sortierte er sie einfach nach den Dateinamen in aufsteigender Reihenfolge und klickte dann die erste an, die dem Thumbnail nach Menschen rund um einen orangefarbenen Lichtschein zeigte.

Sein Handy-Display füllte sich mit einem Bild des Caving-Teams von Tianxing: Die Mitglieder, überwiegend Männer, standen in relativ sauberen, orangefarbenen Caving-Anzügen und ohne Helm