Critical Mass - Daniel Suarez - E-Book
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Critical Mass E-Book

Daniel Suarez

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Beschreibung

Der neue Thriller des Erfolgsautors Daniel Suarez. 2038: James Tighe, ehemaliger Höhlentaucher und nun Weltraum-Pionier, ist zurück auf der Erde, nachdem er mit seiner Crew Rohstoffe auf dem fernen Asteroiden Ryugu abgebaut hat. Doch zwei Kollegen sind noch immer auf der Station im All, und niemand weiß, wie lange sie überleben werden. Der Asteroid wird erst in vier Jahren in erreichbare Entfernung zur Erde gelangen. Vorher bleibt jeder Rettungsversuch ausgeschlossen. Gleichzeitig wächst angesichts der fatalen Folgen des Klimawandels das Interesse globaler Großmächte an der Asteroidenbergbau-Mission. Jede Nation will die erste sein und die Kontrolle über die wertvollen Ressourcen bekommen. In diesem Netz aus politischen Allianzen und Spannungen müssen James Tighe und seine Kollegen unter dem Radar die nächste riskante Mission vorbereiten, bei der es nicht nur um zwei Menschenleben, sondern um die Zukunft der Menschheit geht. Die langersehnte Fortsetzung von «Delta-V» ist ein waghalsiges Weltraum-Abenteuer und zeigt zugleich einen potentiellen Weg aus der Klimakatastrophe.

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Seitenzahl: 723

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Daniel Suarez

Critical Mass

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann

 

Über dieses Buch

Die einzige Chance für die Menschheit

 

2038: James Tighe, einst Höhlentaucher und nun Weltraumpionier, hat mit seiner Crew Rohstoffe vom fernen Asteroiden Ryugu abgebaut. Nun sind sie wieder auf der Erde, doch Isabel und Adedayo mussten auf der Station im All zurückbleiben. Niemand weiß, ob die beiden noch leben, und eine Rückkehr zum Ryugu wird erst in vier Jahren möglich sein. Angesichts der verheerenden Folgen des Klimawandels wollen die Großmächte die Erfolge der Mission für sich beanspruchen und die wertvollen Ressourcen kontrollieren. In einem Netz aus politischen Allianzen und Spannungen müssen James Tighe und die Crew sich auf ihre riskante Mission vorbereiten. Es braucht eine ganze Industrie im Mondorbit, um zwei Menschenleben zu retten – und die Zukunft der Menschheit zu sichern.

 

«Daniel Suarez hat mit seiner großen Erzählkunst einen erstklassigen Thriller über eine realistische Zukunftsvision hervorgebracht.» (Alan Weisman, Autor von «Die Welt ohne uns»)

 

«Hard Science-Fiction hat einen neuen Virtuosen.» (New York Journal of Books)

 

«Eine beeindruckende Hightech-Tour-de-Force, die so lebendig wirkt, dass man sich direkt in den Orbit versetzt fühlt. In Critical Mass erschafft Suarez eine nahe Zukunft bis ins kleinste Detail hinein, als hätte er sie schon erlebt.» (Tess Gerritsen)

 

«Critical Mass regt zum Nachdenken an. Daniel Suarez ist der Meister des Weltraum-Genres des 21. Jahrhunderts, den wir so dringend brauchen.» (Wall Street Journal)

 

«Dieser Roman hat alles, was Leser von Hard Science-Fiction sich wünschen. Er ist packend, anschaulich, mitreißend und voller Nervenkitzel- und Gänsehaut-Momente. Ich konnte die Anspannung nahezu greifen.» (Mystery and Suspense Magazine)

Vita

Bevor Daniel Suarez mit dem Schreiben begann, machte er als Systemberater Karriere und entwickelte Software für zahlreiche große Firmen der Militär-, Finanz- und Unterhaltungsindustrie. Seinen ersten Roman veröffentlichte er 2006 unter Pseudonym im Eigenverlag. Nachdem das Buch die Internet- und Gaming-Community im Sturm erobert hatte, wurde ein großer Verlag darauf aufmerksam. In der neuen Ausgabe avancierte «Daemon» zum Bestseller. Daniel Suarez lebt und arbeitet in Kalifornien.

 

Cornelia Holfelder-von der Tann, geboren 1950, beschloss nach dem Studium (Anglistik, Germanistik, Romanistik) und einem Lehramtsreferendariat, es mit dem literarischen Übersetzen zu probieren, und ist seither hauptberuflich dabei geblieben. 2021 wurde sie mit dem Übersetzerpreis für langjähriges Übersetzen, «Rebekka», ausgezeichnet.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «Critical Mass» bei Dutton/Penguin Random House LLC, New York.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Dezember 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«Critical Mass» Copyright © 2023 by Daniel Suarez

Redaktion Tobias Schumacher-Hernández

Covergestaltung HAUPTMANN & KOMPANIE Werbeagentur, Zürich, nach dem Original von Penguin Random House, US

Coverabbildung iStock; Andrei Cosma/Arcangel

ISBN 978-3-644-01724-5

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Michelle Sites, meinen Leitstern

Gebt mir einen Punkt, wo ich hintreten kann, und ich bewege die Welt.

Archimedes von Syrakus

Prolog

5. März 2038

Adedayo Adisa blickte auf ein holografisches Modell der Erde, das vor ihm schwebte. Mit einer Handbewegung veränderte er eine rote Linie, die die Atmosphäre des virtuellen Planeten streifte, worauf sie steil abwärtsführte und auf der Oberfläche der Modell-Erde endete. Eine weitere Modifikation, und die Linie prallte wieder in den Weltraum zurück. Handbewegung um Handbewegung zeitigte das Gleiche – entweder Verglühen beim Wiedereintritt oder Abprallen zurück ins All. Keine Iteration führte zu einer stabilen Umlaufbahn.

Er hörte Schritte auf den Bodenplatten hinter sich, dann drehte sich das Rad der Drucktür des Habitats, und diese öffnete sich quietschend.

Als er sich umdrehte, sah er Isabel Abarca das Abteil betreten und ihr langes schwarzes Haar lösen. Sie rieb sich die Kopfhaut und seufzte erschöpft. Ihr ausgeblichener blauer Fluganzug war an mehreren Stellen mit Kapton-Klebeband geflickt.

Sie schloss die Drucktür hinter sich wieder luftdicht und sah dann her. «An Sauerstoffgenerator zwei sind Instandhaltungsmaßnahmen nötig. Wir müssen dafür Teile aus Hab 2 ausbauen.» Sie bemerkte das holografische Modell. «Wie sieht’s aus?»

Adisas nigerianischer Akzent war stärker als sonst, was verriet, dass er unter Stress stand. «Ihr Raumfahrzeug ist auf Kurs zur Erdbegegnung in sechsundzwanzig Tagen.»

Sie lächelte. «Du hast es also vollbracht, Ade.» Abarca kam heran und blickte ihm über die Schulter. «Sie schaffen es zurück zur Erde.»

«Ja – aber nur kurz.» Er probierte es mit einer weiteren Flugbahn, wieder ein Fehlschlag.

Abarcas Lächeln verschwand, und sie ließ sich auf einen Sitz neben ihm am Galley-Tisch sinken. Sie blickte jetzt ebenfalls auf das holografische Modell.

Adisa sagte beklommen: «Wegen ihres verspäteten Starts war für die Begegnung mit der Erde eine hohe Geschwindigkeit nötig – was heißt, das Abbremsen wird ein Problem. Auf ihrer jetzigen Flugbahn werden unsere Crewkameraden die Erdatmosphäre mit über 100000 Stundenkilometern streifen. Bei dieser Geschwindigkeit ist der Erdeinfang durch Atmosphärenbremsung schwierig. Es ist wahrscheinlich, dass sie entweder zu tief in die Atmosphäre eintauchen – und verglühen – oder aber geradewegs durch sie hindurchrasen und wieder im tiefen Weltraum verschwinden. Für immer.»

«Wie wahrscheinlich?»

Es dauerte ein Weilchen, bis er antwortete. «Wegen der atmosphärischen Variabilität lässt sich das nicht mit Sicherheit sagen, aber ihre Autopilot-Software wird bei dieser Geschwindigkeit nicht einmal eine Atmosphärenbremsungslösung berechnen. Die erforderliche Verlangsamung könnte tödlich sein. Also werden sie das Fahrzeug manuell durch unbekannte Variablen steuern müssen – und das unter mindestens 10 g. Ein Kunststück, das ich nicht modellieren kann.»

Abarca studierte schweigend das Hologramm, wo das virtuelle Raumschiff ein weiteres Mal verglühte.

«Ich fürchte, indem ich unsere Kameraden auf diese Flugbahn geleitet habe, habe ich sie nicht gerettet, sondern umgebracht.»

«Wir hatten keine andere Wahl, Ade.» Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. «Uns blieb keine Zeit mehr, und dieses zusammengestückelte Antriebssystem war unpräzise. Ohne unsere Kurskorrekturen hätten sie die Erde ganz verfehlt.»

Er blickte auf das Hologramm. «Das war nur nötig, weil ich zu lange gebraucht habe, um die Systeme zu integrieren. Wenn ich rechtzeitig fertig gewesen wäre, hätten wir das Transferfenster zur Erde erwischt und wären alle sicher nach Hause zurückgekehrt. Es ist meine Schuld.»

«Es ist niemands Schuld. Dabei überhastet vorzugehen, hätte zehn andere Probleme verursachen können. Noch mal: Sie hätten die Erde womöglich ganz verfehlt.»

«Spielt ja jetzt keine Rolle mehr.» Er senkte den Kopf. «Soll ich sie kontaktieren? Soll ich es ihnen sagen?»

«Nein. Sie werden ihre Situation früh genug erkennen. Lass ihnen die Hoffnung.»

Er saß eine Weile schweigend da. «Ich habe sie gezwungen loszufliegen.»

«Wir haben sie gezwungen.» Sie beugte sich in sein Blickfeld. «Wenn sie hiergeblieben wären, wären wir alle verhungert.»

Er drehte sich zu ihr. «Dann dürfen wir also überleben, während unsere Freunde sterben?»

Sie sah ihn traurig an. «Ach, Ade. Die Konstantin wird es nicht mehr lange machen. Selbst wenn wir die Ersatzteile hätten – zwei Leute können dieses Schiff nicht instand halten.» Sie blickte wieder auf das Hologramm. «Es war die letzte Chance, dass überhaupt jemand von uns zurückkehrt.»

«Ich musste ja hierbleiben, aber du nicht.»

«Das haben wir doch besprochen. Ein Captain lässt niemanden von seiner Crew zurück. Und wie sich jetzt herausstellt, ist es sowieso egal.»

Adisa nickte.

«Wenn jemand an etwas schuld ist, dann ich. Ich habe euch alle rekrutiert.»

«Dann solltest du die Schuld Nathan Joyce geben – er hat dich rekrutiert.»

Sie lachte bitter. «Es ist anscheinend genug Schuld für alle da.»

«Wir kannten ja die Risiken, aber ich hatte gehofft, wenigstens Priya, James und Han heil nach Hause zurückzubringen. Stattdessen ist jetzt die ganze Expedition gescheitert.»

«Das würde ich nicht sagen.» Abarca deutete auf die gerundete Aluminiumwand des Hab-Kerns, wo jede Menge «Pionierleistungen» mit Permanentmarker graffitiartig festgehalten waren. «Schau dir doch an, was wir hier draußen erreicht haben. Wir waren weiter und länger im tiefen Weltraum als je jemand zuvor. Wir haben den Asteroidenbergbau perfektioniert. Wir haben Tausende Tonnen aufbereitete Rohstoffe auf den Weg in den Mondorbit geschickt, genug, damit die Menschheit den Schritt in den Kosmos tun kann. Ich würde das doch als Erfolg bezeichnen.»

Adisa studierte die an der Wand vermerkten Leistungen – viele davon in der Schrift von Crewmitgliedern, die inzwischen tot waren. «Glaubst du wirklich, was wir hier draußen getan haben, wird so entscheidend sein?»

Abarca wollte gerade antworten, als Alarmhupen ertönten. Eine synthetische Frauenstimme sagte: «Kritischer Alarm: neuer Radarkontakt. Wiederhole: neuer Radarkontakt.» Alarmleuchten an der Decke blitzten auf.

Adisa seufzte. «Wieder Trümmer …» Er wischte das Hologramm der Erde beiseite und öffnete ein virtuelles Fenster, das die Radarkonsole des Schiffs zeigte. Ein Blip leuchtete da, 100 Kilometer querab von ihrer Position am Asteroiden Ryugu. «Halt mal … Das ist was anderes.»

Abarca musterte den Radarschirm. «Ist das die Argo?»

Sie sprach von einem robotischen Mutterschiff, das drei Jahre zuvor ein Milliardär und Konkurrent ihres Bosses Nathan Joyce zum Ryugu entsandt hatte. Mehrere solcher milliardenschweren «Weltraumtitanen» wetteiferten darum, außerirdische Rohstoffe abzubauen, und der Ryugu war weit und breit der vielversprechendste Asteroid im inneren Sonnensystem. Doch anders als die Konstantin war die Argo autonom und befand sich im Ruhezustand, seit ihre Rohstoffabbaufahrzeuge, ein Dutzend an der Zahl, außer Funktion waren – dem hochgradig abrasiven Regolith des Asteroiden erlegen.

Doch nicht, ohne zuvor ein Mitglied der Konstantin-Crew getötet zu haben.

«Nein. Die Argo hat sich nicht bewegt.» Adisa zeigte auf einen anderen Blip mehr als 100 Kilometer weiter draußen und seitlich von ihnen. «Das da ist was Neues.» Er checkte die Telemetriedaten. «Und es korrigiert seinen Kurs genau auf den Orbit des Ryugu.»

Abarca öffnete ein weiteres virtuelles Fenster, den Feed eines optischen Arrays. Sie richtete eine Kamera auf das nahende unbekannte Objekt, und gleich darauf hatten sie ein Visual. Der virtuelle Screen zeigte ein wenig elegantes Raumfahrzeug vor einem Hintergrund von Sternen. «Ich glaub’s nicht …»

Das mysteriöse Raumschiff bestand aus einer Antriebseinheit, angedockt an eine Serie anderer Module – das vorderste eine alte Sojus-Kapsel. Der Raketenantrieb, der von ihnen wegzeigte, brannte lautlos vor sich hin, um den Orbit des Schiffs zu zirkularisieren.

Adisa zoomte das Bild heran. «Keine sichtbare Kennzeichnung. Vielleicht ein robotischer Nachschub-Transporter?»

Sie zeigte mit dem Finger. «Das da sieht aus wie ein Lebenserhaltungsmodul. Ein kleines Zentrifugensegment.»

«Vielleicht ist es ja ein ‹Rettungsboot› für uns.»

«Für eine Rückkehrflugbahn zur Erde ist es zu spät, und außerdem hätte uns die Missionskontrolle Bescheid gesagt.»

Adisa nickte düster und checkte dann das Kommunikationssystem. «Wenn jemand an Bord ist, funken sie uns nicht an.»

Sie stutzte. «Vielleicht ja, weil sie die Crew der Konstantin für tot halten.»

Adisa sah sie an. «Du glaubst also, das Schiff da haben die neuen Eigentümer geschickt?»

«Sprich ihnen nicht so viel Legitimität zu. Sie sind Nathans Gläubiger, mehr nicht.»

«Aber warum sollten sie ein Schiff schicken?»

«Es könnte doch eine Ersatzcrew sein.»

Adisa war verdutzt. «Du glaubst, sie würden tatsächlich Leute hier rausschicken?»

«Es ergibt doch einen gewissen Sinn. Zuerst weigern sie sich, unsere Verträge mit Nathan einzuhalten, obwohl wir all diese Rohstoffe gewonnen haben – und dann schalten sie von fern unsere Lebenserhaltungssysteme ab. Wenn du nicht eine Umgehungslösung gefunden hättest, wären wir alle tot. Vielleicht war es ja die ganze Zeit ihr Plan, uns zu beseitigen und das Schiff bei der nächsten engen Annäherung des Ryugu an die Erde mit ihren eigenen Leuten neu zu bemannen.»

Adisa sah sie entsetzt an. «Wenn es eine Ersatzcrew ist, was passiert dann, wenn sie herausfinden, dass wir noch leben?»

Sie musterte den Screen. «Keine Ahnung.»

Das im Anflug befindliche Schiff setzte sein Zirkularisierungsmanöver fort und kam mit jeder Minute näher.

Abarca sagte, ohne den Blick vom Screen zu wenden: «Wie viele Mules sind noch funktionsfähig?»

«Nur eins. In der oberen Luftschleuse.»

«Verlege es ins Materiallager.»

«Du hast doch wohl nicht vor, sie zu rammen?»

«Nein, aber ich will uns Optionen offenhalten.»

Adisa instanziierte eine virtuelle Befehlskonsole in seiner biphasischen Flüssigkristall-Arbeitsbrille, Crystal genannt. Plötzlich rotierte vor ihm ein AR-3-D-Modell der Konstantin. Sie glich eher einer Ansammlung von Baukränen als einem Raumschiff. Ihr Rückgrat war ein 250 Meter langer Kastenträger aus Carbonfaserstabwerk, von dem nur der Bug über den Horizont des Asteroiden ins Sonnenlicht ragte. Der Mast dort am Bug war mit Solarmodulen, Kommunikationsantennen und einem Lasertransmitter bestückt.

Der Hauptteil der Konstantin lag geschützt im Dauerschatten hinter dem Asteroiden – stationär drei Kilometer über der dunklen Oberfläche des Ryugu. Die obere Luftschleuse des Schiffs befand sich ein ganzes Stück achtern des Solarmasts. Sie hatte vier an den Kompasspunkten angeordnete Andockports; zwei davon belegten arg abgenutzte Mule-Arbeitsfahrzeuge.

Adisa aktivierte das letzte funktionsfähige Mule über die Befehlskonsole, dockte es ab und manövrierte es per Fernsteuerung auf die andere Seite der drei rotierenden Radialarme der Konstantin. Diese 100 Meter langen Arme gingen speichenförmig von einem zentralen Habitat in der Taille des Schiffs aus und bestanden jeweils aus einem Kastenträger, durch den ein enger Tunnel zu einem aufgeblasenen Habitat-Modul am äußeren Ende führte. Die Radialarme rotierten dreimal pro Minute, um in den Hab-Modulen Schwerkraft zu simulieren. Isabel und Adisa saßen in einem dieser Module: Hab 1.

Er steuerte das Mule die Konstantin entlang; es glitt vorbei an leeren Montagegerüsten, an der chemischen Raffinerie, der unteren Luftschleuse und dem Triebwerksraum, der leer war. Die Raketentriebwerke waren ausgebaut worden, um robotische Schlepper anzutreiben, die aufbereitete Rohstoffe in einen Orbit um den Erdmond bringen sollten.

Ohne Haupttriebwerke war die Konstantin jetzt eine Dauereinrichtung am Ryugu.

Während er das Mule fernsteuerte, konnte Adisa eine Reihe kleiner robotischer Raumfahrzeuge sehen, die entlang der Tag-Nacht-Grenze des Asteroiden orbitierten. Sie konzentrierten mithilfe von Parabolspiegeln das Sonnenlicht für das «Optical Mining» in Säcken eingefangener Gesteinsbrocken, die dank der geringfügigen Schwerkraft des Asteroiden von dessen Oberfläche emporgehoben worden waren. Der feine Tanz der Mining-Roboter wurde von Systemen gesteuert, die die Crew während der letzten vier Jahre perfektioniert hatte, und das ganze Verfahren lief jetzt weitgehend automatisch. Es produzierte Tausende Tonnen aufbereiteter Rohstoffe pro Monat und würde es auch weiterhin tun. Dennoch würde es bei diesem Tempo Jahrhunderte dauern, den Ryugu mit seiner Gesamtmasse von 450 Millionen Tonnen aufzubrauchen.

Abarca klickte sich durch virtuelle UIs. «Wir müssen das Kontrollzentrum informieren. Verrät das diesem neuen Schiff unsere Anwesenheit?»

«Nein. Die Langstrecken-Laserkommunikation ist sicher.»

Abarca öffnete den Laserfunkkanal und checkte ihr HUD-Display. «Wir sind gut drei Lichtminuten von der Erde entfernt, das macht über sechs Minuten, bis wir eine Antwort bekommen.» Sie drückte die Sendetaste. «Konstantin an Missionskontrolle. Konstantin an Missionskontrolle. Mayday. Mayday. Wir haben ein im Anflug befindliches unbekanntes, potenziell feindliches Raumfahrzeug, das manövriert, um auf unsere Trajektorie zu kommen und möglicherweise anzudocken. Dies ist ein Notfall. Erbitten Anweisung. Ende.»

Unterdessen parkte Adisa das ferngesteuerte Mule zwischen Blasentanks mit raffiniertem Ammoniak, gefrorenem Wasser und Zylindern mit Silica im nahe gelegenen Materiallager. Inzwischen war das unbekannte Raumfahrzeug angekommen. Sein Raketentriebwerk erlosch nur ein paar Hundert Meter entfernt. Lautlose Gasstöße kamen aus verschiedenen Steuerdüsen, als es genau zur oberen Luftschleuse der Konstantin manövrierte.

Abarca sah auf den Monitor. «Das Ding muss eine Masse von mindestens 30 Tonnen haben.»

Das war nur ein Bruchteil der Masse der Konstantin, aber bei einer Kollision konnte es dennoch die rotierenden Radialarme mit den Habs zerstören. Zum Glück schien das mysteriöse Raumfahrzeug meisterhaft gesteuert zu werden.

Abarca wechselte zu einer Außenkamera, die auf die Andockports gerichtet war. «Das ist nicht ferngesteuert. Nicht über diese Entfernung von der Erde.»

«Es könnte autonom sein.»

«Ich würde mich nicht drauf verlassen.»

Sie rief noch weitere holografische Benutzeroberflächen auf. «Die Konstantin wird nicht auf ihre Fernbefehle reagieren, richtig?»

«Richtig, das verhindert meine Umgehung, aber wer auch immer auf diesem Schiff ist, wird bald misstrauisch werden.»

«Sie könnten es für einen technischen Ausfall halten. Unser Schiff ist ja außen total von Mikrometeoritentreffern gezeichnet.»

Er tippte auf virtuelle Steuerelemente. «Ja, aber das wird sie nicht davon abhalten, manuell anzudocken und die Luftschleuse zu bedienen.»

«Kannst du den Andockport oder die Luken blockieren?»

«Nein. Die Konstantin wurde nicht dafür konzipiert, Leute auszusperren.»

Sie zog eine Grimasse. «Und sie werden in der Überzahl sein.»

«Acht Leute, wenn es eine Standardcrew ist. Ich sehe keine Möglichkeit, sie daran zu hindern, die physische Kontrolle über die Konstantin zu übernehmen.» Er sah sie an. «Sollten wir auch James, Priya und Han anfunken, um ihnen zu sagen, dass wir möglicherweise geentert werden?»

Abarca dachte darüber nach. «Würde das unsere Anwesenheit verraten?»

«Gut möglich. Der Funktransmitter ist nicht sicher.»

«Dann nicht. Außerdem würde es sie sowieso nur beunruhigen.»

Abarca und Adisa verfolgten auf dem Monitor, wie das unbekannte Schiff andockte. Es geschah so weit von ihnen entfernt, dass sie keine Erschütterung spürten und auch kein Aneinanderschlagen von Metall hörten.

«Wer auch immer das ist, sie können was.»

Abarca wechselte zu einer Kamera in der oberen Luftschleuse der Konstantin, 100 Meter weiter auf der Leichtbaustabwerk-Suprastruktur des Schiffs. Kurz darauf deutete sie mit dem Finger auf das Bild. «Da …»

Die Überwachungskamera zeigte, wie die Luke aufging und dann vier Personen in plumpen hellgrauen Raumanzügen nacheinander in der Mikrogravitation durch den Andockport schwebten. Vier weitere folgten wenig später. Was ein freudiger Anblick hätte sein sollen – die Ankunft einer Crew von der Erde nach vier langen Jahren –, war vielmehr höchst beunruhigend.

«Veraltete EVA-Anzüge. Orlan-Ms.» Adisa drückte auf der Kommunikationskonsole herum.

«Kostensparend. Sieht ganz nach Joyce’ Gläubigern aus.»

«Ich kann ihren internen Sprechfunk nicht abhören. Er ist offenbar verschlüsselt. Könnten sie Militärs sein?»

Die Eindringlinge kommunizierten offensichtlich miteinander, aber ihre Gesichter waren hinter reflektierenden Visieren verborgen, ihre Funkäußerungen nur Knattern. Die Neuankömmlinge waren sichtlich erregt, weil sie nichts auf der Konstantin kontrollieren konnten. Sie versuchten wiederholt, virtuelle Kontrollelemente zu bedienen, die mit einem Schiff verbunden waren, das nicht existierte. Nach ein paar frustrierenden Minuten drangen die meisten von ihnen weiter in die Konstantin vor und betraten den Zwei-Meter-Durchmesser-Mikrogravitationstunnel, der längs durch das Schiff verlief.

Unterdes öffneten zwei von ihnen die nicht belegten Andockluken und verließen die Konstantin zu einem Raumspaziergang. Sie hängten Sicherungsleinen an einer Außenhalteschiene ein und hangelten sich den Solarmast der Konstantin entlang – sie kannten sich eindeutig aus.

Adisa wechselte zu einer Außenansicht durch die fernen Kameras des Mule und zoomte auf die beiden Raumspaziergänger. «Sie wollen zum Kommunikationsarray, um ihre Langstreckenfunkverbindung wiederherzustellen. Sie werden meine Umgehung entdecken.»

Abarca öffnete den Laserkommunikationskanal. «Konstantin an Missionskontrolle, wir sind von acht unbekannten Personen geentert worden – möglicherweise eine feindliche Ersatzcrew. Sie sind jetzt auf dem Weg, unsere Kommunikationsverbindung zu kappen. Ich werde diesen Kanal so lange wie möglich offen halten. Wiederhole …»

Während Abarca weiter sendete, erreichten die beiden Raumspaziergänger den Kommunikationsmast und entdeckten Adisas Modifikationen, darunter auch die Kabel, die zur Abdeckung seiner Umgehung führten. Gleich darauf rissen sie die Kabel heraus.

«Das war’s.» Er sah sie an. «Wir haben die Verbindung zur Missionskontrolle verloren.»

Entsetzt sahen sie zu, wie die Raumspaziergänger daran arbeiteten, die ursprüngliche Verkabelung des Lasertransmitters wiederherzustellen – und sie so wieder feindseligen Maßnahmen von der Erde her auszusetzen.

Adisas Gehirn arbeitete fieberhaft, und er rief eine virtuelle Shell-Konsole auf. «Ich kann ihren Transmitter lahmlegen – auf der Betriebssystem-Ebene des Schiffs. Sie würden die Ursache wahrscheinlich nicht finden.»

Sie nickte. «Tu’s. Verschaff uns etwas Zeit.»

Adisa schrieb rasch ein Shell-Script, das alle Transmitterports blockierte. Dann schleuste er das Script in mehrere Kerndienste ein, die beim Systemstart automatisch mitliefen. Er war nach wenigen Minuten fertig. «Ich habe ihren Transmitter lahmgelegt.»

«Gut.» Sie war auf die Überwachungsmonitore konzentriert. Die Fremden im Schiff selbst bewegten sich jetzt auf das Zentral-Hab zu – die Verbindungsstelle aller drei Radialarme und der Zugänge zu den Habs an ihren Enden.

Abarca wechselte von Kamera zu Kamera, um ihr Vorankommen zu verfolgen. «Wir könnten die Luke zu diesem Hab physisch blockieren. Sie brauchen mindestens fünf Minuten, um sich durch den Hab-Tunnel abzuseilen, und wir haben immer noch die Sysadmin-Kontrolle über die Konstantin.»

«Aber sie haben jetzt die physische Kontrolle über den Computerkern, Isabel. Sie könnten das ganze Betriebssystem des Schiffs neu installieren und uns dann über Überwachungskameras ausfindig machen.»

Sie nickte. «Und unsere Luft ablassen. Wie letztes Mal. Wir sitzen in der Klemme, Ade.»

«Glaubst du, sie werden uns töten?»

«Ihre Arbeitgeber haben es schon einmal versucht, und die haben sie schließlich geschickt.»

Adisa zeigte auf einen Überwachungsmonitor. «Schau. Sie haben den Fernen Stern gefunden …»

Auf dem Screen hob jetzt einer der Eindringlinge einen funkelnden Diamanten von der Größe einer Kiwi von seiner Konsole an der Wand des Zentral-Hab. Er hielt ihn hoch, um ihn den anderen zu zeigen, und sie schienen zu jubeln. Es war ein Diamant von 250 Karat, den James Tighe bei einer Schürfoperation entdeckt hatte. Nicole Clarke, ursprünglicher Captain und Bordgeologin der Konstantin, hatte ihn zu einem makellosen birnenförmigen Juwel geschliffen, dem sie dann den Namen Ferner Stern gaben – bevor Clarke an Krebs gestorben war. Der Stein war auf der Erde mehrere Millionen wert und stand zweifellos auf einer Liste von Dingen, die die neue Crew sicherstellen sollte.

«Sie wussten genau, wo sie ihn suchen mussten.» Sie sah Adisa an. «Und als Nächstes werden sie vermutlich nach unseren Leichen suchen. Hier in den Habs.»

Zwei Eindringlinge öffneten die Drucktür, um an den Computerkern der Konstantin zu kommen, während die anderen offenbar jeweils zu zweit «hinunter» in die Rotationsgravitationssenken der Habitatmodule wollten. Das dritte Modul – die Werkstatt, genannt Fab Hab – hoben sie sich für zuletzt auf.

Zwei der Eindringlinge kamen jetzt in ihre Richtung.

«Was sollen wir tun, Isabel?»

«Ich überlege ja.» Sie studierte die Überwachungsbilder, auf denen zwei der Eindringlinge sich in das Windenseil einhängten und langsam den luftleeren Einhundert-Meter-Tunnel zu ihrem Hab hinabließen.

«Sie sind nur zu zweit. Wir haben das Überraschungsmoment auf unserer Seite.» Adisa stand auf und rannte in den Wohnbereich. Gleich darauf tauchte er mit einer Eisaxt wieder auf.

«Was hast du damit vor?»

«Wir müssen uns doch wehren können.»

Sie nahm ihm die Eisaxt aus den Händen. «Mit meiner Kletteraxt bringst du niemanden um.»

«Was tun wir dann? Uns in unser Schicksal ergeben?»

Sie standen stumm da und sahen sich an. Adisas Gedanken rasten, während die Sekunden vorübertickten, aber ihm fiel kein Ausweg ein.

Dann hörten sie Stiefel auf der Decke des Hab aufsetzen, direkt über sich. Sie blickten hinauf.

Er flüsterte: «Sie sind da.»

Abarca betrat den Hab-Kern und blickte zur Luftschleusenluke in der Decke empor. Adisa trat neben sie. Der Luftschleusenzyklus lief schon.

Sie lehnte die Eisaxt neben sich an die Wand, wo sie nicht gleich ins Auge fiel. «Was auch passiert, es war mir eine Ehre, mit dir in einer Crew zu sein, Adedayo Adisa.»

Er nickte. «Gleichfalls, Isabel Abarca.»

Sie umarmten sich und blickten dann wieder an die Decke, als die ratternde Atemluftpumpe verstummte.

Der Öffnungshebel glitt zur Seite, dann sprang die Luke mit einem lauten Knarzen auf, ein Zeichen jahrelanger Abnutzung. Sekunden später erschien ein grau bestiefelter Fuß und tastete nach der obersten Leitersprosse. Ein zweiter Stiefel folgte, und der Eindringling begann, wacklig in die volle Rotationsschwerkraft des Wohnbereichs hinabzusteigen. Ein klobiger Raumanzug mit einem Lebenserhaltungsrucksack wurde sichtbar. Ein zweites Paar Stiefel folgte dicht darauf.

Abarca und Adisa blieben stumm stehen.

Der Eindringling setzte die Füße auf das Deck und drehte sich in dem sperrigen Raumanzug schwerfällig um. Das reflektierende Visier kam in Sicht.

Der Eindringling fuhr jäh zusammen – erschrocken beim Anblick von Abarca und Adisa.

Und sie erkannten jetzt auf der Brustplatte des Raumanzugs deutlich den Aufnäher mit der Fahne Nordkoreas.

Erster TeilErdgebunden

Kapitel 1Kalkulation

14. Juli 2038

Erika Lisowski saß im leeren Wartebereich des Untergeschosses 2B im strahlend neuen FBI-Hauptquartier in Washington, D.C. Nicht lange, und eine mürrische Frau am Empfangstresen winkte sie heran. Lisowski ging zu ihr.

Die Frau zeigte auf eine Wand mit nummerierten Fächern. «Legen Sie alle elektronischen Geräte, die Sie bei sich haben, in ein freies Fach.»

Lisowski wurde klar, dass sie im Begriff war, einen SCIF zu betreten – einen Hochsicherheitsbereich. Keine Elektronik erlaubt, was bedeutete, dass die Räumlichkeiten auch funkabgeschirmt waren. Solche Einrichtungen waren in D.C. keine Seltenheit, wohl aber in Lisowskis Tätigkeitsfeld als NASA-Ökonomin. Was auch immer hier gleich besprochen werden würde, sollte also nicht über diese Wände hinausdringen. Das war aufschlussreich.

Lisowski schaltete ihr Telefon aus, verstaute es in einem der Fächer und nahm einen Zettel mit der Nummer entgegen. Dann folgte sie dem ausgestreckten Zeigefinger der Rezeptionistin zu einem Mann im Anzug, der neben einer geschlossenen Tür stand. Er hielt einen Stabscanner hoch. «Arme bitte seitlich ausstrecken.»

Sie tat, wie ihr geheißen, und er fuhr mit dem Scanner ihren Körper ab. Dann scannte und inspizierte er ihre Handtasche.

Als er fertig war, öffnete er die Tür.

Sie trat ein, und die Tür schloss sich sofort hinter ihr. Sie war in einem mittelgroßen Konferenzraum mit einer amerikanischen Fahne an einem Mast in der Ecke. In der Mitte stand ein langer Tisch, an dem auf einer Seite ein Dutzend ernste Männer und Frauen im Anzug und zwei in Militäruniform saßen. Es hatte etwas von einem Gerichtssaal. Niemand von ihnen trug ein Namensschild, und auf dem Tisch standen auch keine. Zwei Beamtinnen flankierten Lisowski, und eine zog den einsamen Stuhl auf der freien Tischseite ab.

Wie es aussah, würde sie auf sich allein gestellt sein – eine Situation, die sie gewohnt war. Lisowski stellte ihre Handtasche auf den Boden und setzte sich.

Ihr direkt gegenüber blätterte ein pedantisch und verkniffen aussehender Mann in einem frisch gebügelten anthrazitfarbenen Anzug in einer dicken Akte. Er sah auf und blickte ihr eindringlich in die Augen. «Dr. Lisowski, wissen Sie, warum Sie heute hierherbestellt wurden?»

Sie sagte ruhig: «Nein.»

«Dies ist eine geheime Disziplinaranhörung, einberufen, um zu beurteilen, ob Ihr Verhalten die sofortige Beendigung Ihres Beschäftigungsverhältnisses bei der NASA rechtfertigt.»

Sie verarbeitete diese Information. «Verstehe. Warum sind wir dann im FBI-Hauptquartier und nicht bei der NASA?»

«Weil Sie, wenn dieses Gremium Ihre Entlassung für gerechtfertigt erachtet, nach Titel 18 des Bundesstrafrechts verhaftet und der Spionage angeklagt werden.»

Das also war die Taktik. Einschüchterung. Eine schlechte Wahl. Weil es auf Verzweiflung schließen ließ.

«Das Erstaunliche ist, dass Sie offenbar geglaubt haben, Ihre Aktivitäten würden unbemerkt bleiben.»

«Welche ‹Aktivitäten›?» Sie überflog die Gesichter der anderen Panelmitglieder. Wer von ihnen hatte hier wirklich das Sagen? Vermutlich nicht der, der mit ihr sprach.

Er fuhr fort: «Wir haben eindeutige Beweise für Ihre Beteiligung an zahlreichen gravierenden Verstößen gegen den Ethikcode der NASA, von Bundesgesetzen ganz zu schweigen. Ihnen drohen nicht nur die Entlassung aus der NASA und der Entzug Ihrer Pension, sondern auch Jahrzehnte in einem Bundesgefängnis. Verstehen Sie den Ernst Ihrer Lage?»

«Ich verstehe.» Lisowski ließ einen Moment verstreichen. «Aber wenn Sie mich hätten verhaften wollen, hätten Sie es getan. Warum also sparen wir uns nicht den Bullshit und kommen zum eigentlichen Thema?»

Ihr Befrager war verblüfft und sortierte erst einmal seine Papiere.

Einer der Uniformierten schmunzelte.

Eine der Frauen am Tisch ergriff das Wort. «Okay, Erika – sparen wir uns den Bullshit. Vor drei Monaten verglühte ein kleiner Asteroid über Europa und erhellte den Nachthimmel über Millionen Menschen. Sie haben vielleicht Videos davon im Internet gesehen.»

Lisowski sagte nichts.

«Nun ja, es war kein Asteroid und ist auch nicht verglüht. Es war ein unbekanntes Raumfahrzeug, das von jenseits des Mondes mit über 65000 Meilen pro Stunde auf die Erde zuschoss und eine kontrollierte Atmosphärenbremsung durchführte – kein leichtes Manöver. Zwei Tage später kehrte dasselbe Raumfahrzeug wieder und zirkularisierte in einen erdnahen Orbit – bevor es einen Funknotruf absetzte. Seine Crew sagte, sie seien ein Rettungsboot von dem unter luxemburgischer Flagge operierenden Asteroidenbergbauschiff Konstantin. Haben Sie je von einem solchen Raumschiff gehört – der Konstantin?»

Lisowski dachte über die Frage nach. «Ich weiß, dass Nathan Joyce –»

«Der Tech-Milliardär.»

«Ja. Joyce plante den Bau eines Asteroidenbergbauschiffs, aber in den Nachrichten hieß es, es sei alles Schwindel gewesen. Nur ein Schneeballsystem, um aus seinen Schulden herauszukommen.»

Die Frau sah Lisowski mit hartem Blick an. «Und günstigerweise beging Mr. Joyce Selbstmord, bevor er wegen Veruntreuung und Steuerhinterziehung festgenommen werden konnte.»

«Ich nehme an, für Mr. Joyce war es nicht so günstig.»

«Und dennoch wissen Sie, dass das nicht die ganze Wahrheit ist.»

Lisowski sagte nichts.

Die Frau fuhr fort: «Die Chinesen retteten die Crew des Rettungsboots im erdnahen Orbit. Einer der drei Insassen war ein ehemaliger Taikonaut, Sohn eines der reichsten Männer Chinas – eines Industriellen, der zudem ein hochrangiges Mitglied der Kommunistischen Partei Chinas ist. Die KPC konfiszierte das Raumfahrzeug im LEO unter Berufung auf das Bergungsrecht. Bilder und Spektralanalysen deuten darauf hin, dass die aerodynamische Außenhaut des Raumfahrzeugs aus einem einzigen nahtlosen Stück Kobaltstahl gefertigt wurde – geschätzt auf eine Masse von über 50 Tonnen. Das ist mal ein Rettungsboot! Und es gibt keine Unterlagen darüber, dass je ein solches Raumfahrzeug von der Erde gelauncht wurde.»

Ein Mann sagte: «Wir haben Grund zu der Annahme, dass die Chinesen hinter dieser bemannten Deep-Space-Mission stecken – und dass das Ganze irgendwie mit Ihnen und dem verstorbenen Nathan Joyce zu tun hat.»

Lisowski lachte bitter. «Das ist so vorhersehbar.»

«Sie finden das amüsant?»

«Nein. Ich finde es erbärmlich. Dieses Rettungsboot wurde nicht in China gebaut – was zweifellos der Grund ist, warum die Chinesen es an sich gebracht haben. Tatsächlich wurde es gar nicht auf der Erde gebaut. Es wurde im tiefen Weltraum gebaut, von der Crew, die es geflogen hat.»

«Dann geben Sie also zu, dass Sie von der Existenz dieses Raumfahrzeugs wussten?»

«Ja.»

«Und was wissen Sie über das Asteroidenbergbauschiff Konstantin?»

Lisowski holte tief Luft. Sie bewahrte dieses Geheimnis seit Jahren, aber jetzt war das nicht mehr möglich. Also gut. «Ich habe Nathan Joyce dabei beraten, die Konstantin – ein 346-Tonnen-Rotationsgravitationsschiff für den Asteroidenbergbau – 2032 im Mondorbit zu bauen. Ziemlich genau so, wie in seinen veröffentlichten Plänen dargestellt.»

Mehrere Panelmitglieder machten jetzt eifrig Notizen.

«Aber es war kein in Planung befindliches Raumschiff, er baute es tatsächlich. Stückweise. Heimlich. Die Konstantin verließ den Mondorbit am 13. Dezember 2032 zu einer nicht genehmigten Asteroidenbergbau-Mission mit einer kommerziellen Crew von acht Personen – und sie befindet sich bis heute in unmittelbarer Nähe des erdnahen Asteroiden Ryugu. Und wichtiger noch, ihre Crew hat bereits Tausende Tonnen aufbereitetes Wasser und Eis, Eisen, Nickel, Kobalt, Ammoniak, Stickstoff und Silica in den cislunaren Raum zurückgeschickt – Ressourcen, die an Masse mehr als der Hälfte all dessen gleichkommen, was die Menschheit je in den Orbit gelauncht hat. Aber ich nehme ja auch an, dass diese Ressourcen der eigentliche Grund sind, warum ich heute hierherbestellt wurde.» Sie studierte die Gesichter der Panelmitglieder auf verräterische Hinweise.

«Warum haben Sie Ihre Vorgesetzten nicht über die Existenz von Joyce’ illegalem Raumschiff informiert?»

Lisowskis Gesicht blieb regungslos. «Nathan selbst hat es auf Schritt und Tritt öffentlich verkündet. Seine Videos sind überall im Internet.»

«Was ich meine, ist: Warum haben Sie Ihren Vorgesetzten nicht mitgeteilt, dass Joyce das Raumschiff tatsächlich baute – mit Finanzmitteln aus fragwürdigen Quellen?»

«Weil es, wenn ich das getan hätte, nicht gebaut worden wäre.»

«Wer noch innerhalb der NASA oder der US-Regierung wusste vom Bau der Konstantin im Mondorbit?»

Lisowski zuckte die Achseln. «Ich habe keine Ahnung. Ich kann nur für mich sprechen.»

Ihr Befrager schien mit dieser Antwort nicht zufrieden. «Sie hatten keine Helfer oder Komplizen?»

Ein anderer sagte: «Sie haben sich ja bereits der kriminellen Verschwörung schuldig bekannt.»

Lisowski musste daran denken, wie ihr Großvater immer im Garten zu den Sternen hinaufgeblickt hatte – nachdem seine Träume für die Menschheit vor Jahrzehnten zunichtegemacht worden waren. Sie nahm sich fest vor, nicht nachzugeben. «Wir sind im Jahr 2038, und wir etablieren gerade mal eine ständige Präsenz auf dem Mond. Unterdessen zerlegt der Klimawandel die Zivilisation. Er wird nicht darauf warten, dass wir uns endlich am Riemen reißen. Die Menschheit ist ein halbes Jahrhundert hinter dem zurück, was sie hätte erreichen müssen.»

Ein paar Panelmitglieder nickten zustimmend. Sie merkte sie sich.

Ein anderes Panelmitglied sagte: «Ihre kleine Weltraummission hat zum Tod von mindestens drei – und möglicherweise fünf – Crewmitgliedern geführt, mal ganz abgesehen von der Veruntreuung von vierundzwanzig Milliarden Dollar.»

Lisowski entgegnete dem Mann: «Unsere ‹kleine Weltraummission› hat 1000 Pionierleistungen zu verzeichnen und die Menschheit im Weltraum erheblich vorangebracht. Was die Finanzierung angeht, hat Nathan mich in die Beschaffung der Mittel nicht einbezogen. Aber über die Hälfte davon wurde Diktatoren, kriminellen Organisationen und steuerhinterziehenden Konzernen abgenommen und meiner Meinung nach produktiveren Zwecken zugeführt.»

«Sie sagen, diese Asteroidenschürfer hätten Pionierleistungen vollbracht. Wo sind die harten Daten, die diese Mission geliefert hat?»

Diese Wende des Gesprächs erfreute Lisowski. Sie wollten also etwas von ihr. Damit hatte sie immer noch ein Druckmittel. «Ich habe sämtliche wissenschaftlichen, telemetrischen und physiologischen Daten der Expedition in meinem Besitz. Tägliche medizinische Berichte der Flugmedizinerin des Schiffs – eine Fundgrube an Daten zum menschlichen Überleben im tiefen Weltraum, insbesondere kosmische Strahlung, Strahlenschutz und Rotationsgravitation betreffend. Natürlich müssen diese Daten der Wissenschaftswelt zukommen.»

Mehrere Panelmitglieder notierten auch das.

Ihr ursprünglicher Befrager war nicht beschwichtigt. «Das waren unethische und gesetzwidrige Menschenversuche.»

«Die Crew der Konstantin war sich der Risiken, die sie einging, voll bewusst. Wir hindern doch Bergsteiger nicht daran, hier auf der Erde ihren Hals zu riskieren. Warum also sollten wir sie daran hindern, Berge im Weltraum zu besteigen? Den Steuerzahler hat diese Expedition nichts gekostet. Die Beteiligten waren Privatleute aus mehreren Staaten, also stellt das Ganze wohl kaum eine geostrategische Bedrohung dar.»

«Das zu entscheiden, ist nicht Ihre Sache.»

Der verkniffene Mann schob ein Papier über den Tisch. «Dr. Lisowski, das Justizministerium ist bereit, Ihnen Immunität vor Strafverfolgung zu gewähren, vorausgesetzt, Sie kooperieren mit Ermittlern und legen alles offen, was Sie über das Raumschiff Konstantin, seine Crew, seine Finanzierung und seine Erbauer wissen. Außerdem liefern Sie detaillierte Informationen über die in den Mondorbit zurückgeschickten Rohstoffe. Wenn Sie uns nichts vorenthalten, können Sie immer noch einer Gefängnisstrafe entgehen.»

Lisowski hob eine Augenbraue. «Immunität vor Strafverfolgung. Wie überaus großzügig von Ihnen.» Sie zog das Papier zu sich und studierte es. «Und ich bin ohne Anwalt hier.»

«Dies ist kein Verhandlungsgespräch.»

Die Frau sagte: «Sie werden natürlich heruntergestuft – von GS-15 Stufe 5 auf GS-14 Stufe 1, von Direktionsebene auf Programm-Management –, und weil Sie Ihre Befugnisse missbraucht haben, werden Sie dem neuen Programmdirektor für Emerging Space berichtspflichtig sein. Außerdem sind die Existenz der von den Asteroidenschürfern zurückgeschickten Ressourcen wie auch die Existenz der Konstantin selbst aus Gründen der nationalen Sicherheit als geheim eingestuft. Jeder Verstoß Ihrerseits gegen die Geheimhaltungspflicht stellt einen Bruch dieser Vereinbarung dar.»

Lisowski überflog das Dokument. «Die Regierung errichtet also ein weiteres Exzellenzsilo, in dem das hier eingebunkert wird.»

Die Frau sprach weiter: «Unterschreiben Sie das Dokument, Erika, und Sie können Ihre juristischen und beruflichen Probleme hinter sich lassen. Ihre Karriere neu aufbauen.»

Lisowski sah auf. «Warum verlangen Sie nicht, dass ich kündige?»

«Es gibt bei der NASA viele Leute, die die Verdienste Ihrer Familie um das Apollo-Programm respektieren. Niemand möchte den guten Ruf Ihrer Familie oder der Weltraumbehörde beflecken.»

«Dann werde ich Ihnen antworten, was mein Großvater geantwortet hätte …» Sie schob das Papier wieder zurück. «Zum Teufel damit. Ich werde das nie unterschreiben.»

Es herrschte angespannte Stille.

Ein älterer Mann am Ende des Tischs, der bisher den Mund noch nicht aufgemacht hatte, sagte: «Sie werden die Herabstufung akzeptieren und Ihr Wissen über die Konstantin geheim halten oder aber Entlassung, Verhaftung und Strafverfolgung in Kauf nehmen. Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, wir stehen im geopolitischen und astropolitischen Kampf mit einer rivalisierenden Macht.»

Lisowski wandte sich ihm zu. Sie kannte den Mann nicht – aber sie kannte ja auch sonst niemanden hier. Verteidigungsministerium? Geheimdienst? Exekutive? Unmöglich zu sagen. Aber er war eindeutig der, der hier das Sagen hatte. «Sie haben mich hierherzitiert, weil Sie nicht wollen, dass 5000 Tonnen strategischer Ressourcen im tiefen Weltraum den Chinesen in die Hände fallen.»

Der Mann feuerte zurück: «Wir haben Sie hierherbestellt, Dr. Lisowski, weil Ihre extrakurrikularen Aktivitäten schon weit genug gegangen sind – und wir wissen beide, dass die Konstantin 11000 Tonnen zurückgeschickt hat, nicht 5000.»

Sie versuchte, mit keiner Wimper zu zucken.

«Wir brauchen weder Ihre Kooperation noch die Kooperation Ihrer Asteroidenschürfer, um an diese Rohstoffe zu kommen. Die USA haben seit über zehn Jahren die volle Lagekenntnis im cislunaren Raum. Die Bahnelemente der robotischen Schlepper sind uns bereits bekannt, und wir werden diese, egal, was Sie tun oder nicht tun, für die USA sicherstellen, bevor die chinesische Regierung sich ihrer bemächtigen kann. Die einzige Frage ist, ob Sie ins Gefängnis wandern wollen.»

Sie blickte ihn weiter unverwandt an. «Sie glauben, diese Rohstoffe zu konfiszieren, wird Ihnen helfen?»

«Es ist erklärte Doktrin der Kommunistischen Partei Chinas, die USA bis spätestens 2045 als dominierende Weltraummacht zu überholen. Und sie sind auf bestem Weg, genau das zu tun. Diese Ressourcen im Mondorbit verschieben die Gewichte.»

Lisowski beschloss, die Sache voranzutreiben. «Die USA nehmen also die Ressourcen in Besitz – und dann?»

Einer der Uniformierten antwortete: «Wir werden sie dafür benutzen, eine strategische Reserve an Treibstoff und mineralischen Rohstoffen für Multi-Orbit-Logistikzwecke anzulegen, um einer möglichen chinesischen Aggression im tiefen Weltraum zu begegnen.»

Lisowski ließ nicht locker. «Eine Reserve? Diese Ressourcen vor dem Zugriff der KPC zu bewahren, ist nicht das Ziel. Sie zu nutzen, ist das Ziel. Diese Rohstoffe müssen als Sprungbrett dienen, um mehr Rohstoffe zu gewinnen – für die gesamte Menschheit. Und zwar verdammt schnell. Sie sollten dafür genutzt werden, die Völker der Erde in dem Unterfangen zu einen, eine komplette cislunare Infrastruktur aufzubauen. Den Führungsverantwortlichen der ganzen Welt Mittel an die Hand zu geben, den Klimawandel zu bekämpfen. Zugang zu unbegrenzter, nachhaltiger und sauberer Energie zu ermöglichen. Sie sollten nicht für irgendein Was-wäre-wenn-Szenario gehortet werden, das letztlich in den Untergang führt. Zuletzt sterben ist keine Zukunftsvision.»

«Dr. Lisowski –»

«Was die Welt braucht, ist eine neue Frontier – einen Raum für die kreativen Ambitionen der nächsten Generation. Ein Land für Pioniere, das neue Ressourcen und Energie liefern kann, ohne Konflikte oder Umweltschäden zu verschlimmern. Das der gesamten Erde zu Wohlstand verhelfen kann. Der Weltraum ist dieses Pionierland, und wenn man eine Weltraumkultur will, die Demokratie, Wirtschaft und die Geltung von Recht und Gesetz fördert, dann muss man sie selbst begründen – und man muss sie zuerst begründen.»

Die Panelmitglieder wechselten Blicke. «Und Sie halten sich dafür für qualifizierter als uns?»

«Nein, es geht nicht um mich. Lassen Sie die Asteroidenschürfer die Verantwortung für diese Rohstoffe im Mondorbit übernehmen.»

Er sah finster drein. «Sie wollen, dass wir ein entscheidendes strategisches Gut einer Handvoll leichtsinniger Abenteurer überlassen – von denen nur einer Amerikaner ist?»

«Diese ‹leichtsinnigen Abenteurer› haben diese Rohstoffe überhaupt erst beschafft. Und ihre Herkunft ist kein Nachteil, sondern ein Vorteil. Sie hilft, eine weltweite Opposition gegen einen rein amerikanischen oder rein chinesischen Vorstoß in den tiefen Weltraum abzuwenden.»

«Und wofür das Ganze?»

«Um eine komplette außerirdische Ökonomie ohne staatliches Kapital aufzubauen.»

Wieder wechselten sie Blicke.

«Diese Tausende Tonnen von Asteroidenrohstoffen oberhalb der Gravitationssenke der Erde kann die Saat sein, aus der sich ein Zweites Zeitalter der Entdeckungen entwickelt. Mit ihnen können wir die erste internationale Warenbörse im Weltraum begründen und dadurch den Demokratien der Welt eine enorme Softpower verschaffen, von der wir nicht wollen, dass andere sie über uns ausüben. Daraus könnte ein Weltraum-Anleihenmarkt entstehen – und Liquidität für massive Weltraum-Infrastrukturprojekte. Was genau das ist, was wir brauchen, um die Zivilisation hier auf der Erde zu retten. Und indem wir die menschliche Zivilisation retten, bleiben wir unentbehrlich. Wir können uns Sicherheit im einundzwanzigsten Jahrhundert nicht erbomben. Wir müssen sie vielmehr erbauen – und zwar auf neuen Gebieten.»

«Die KPC wird alldem nicht untätig zuschauen.»

«Das macht nichts. Freie Menschen haben im Grenzland einen natürlichen Vorteil. Untertanen autoritärer Systeme warten auf Erlaubnis, aber freie Menschen handeln und sind innovativ. Sie können die menschliche Präsenz im cislunaren Raum rasch ausdehnen – bevor sich totalitäre Mächte der L-Punkte bemächtigen und sie gegen uns benutzen.»

Der ältere Mann schien unbeeindruckt. «Sie überbewerten die Macht freier Märkte im Weltraum, Dr. Lisowski. Unsere milliardenschweren Weltraumtitanen haben es nicht geschafft, ökonomisch auf einen grünen Zweig zu kommen. Jack Macys und George Burkettes wiederverwendbare Raketen wären ohne Milliarden an staatlichen Subventionen überhaupt nicht profitabel, und ich sehe Macy bislang den Mars nicht kolonisieren, trotz seines ganzen Geredes.»

Lisowski konterte: «Wiederverwendbare Raketen könnten nie Millionen Tonnen in den Orbit heben – nicht, ohne die Umwelt massiv zu schädigen. Bedenken Sie doch mal, was es brauchen wird, um uns wirklich im tiefen Weltraum zu etablieren …» Sie zählte an den Fingern ab. «In-Space-Fertigung, brauchbare Langzeit-Habitate, Rohstoff- und Energiegewinnung vor Ort, verlässlichen Strahlenschutz, Eindämmung und Vermeidung von Weltraumschrott. Für sich genommen hat jede dieser Technologien nur eine begrenzte kommerzielle Amortisationsfähigkeit, aber indem er alles auf einmal in Angriff nahm, hat Nathan Joyce einen gewaltigen Sprung ermöglicht. Alles, was wir brauchen, ist der Mut, die Möglichkeit zu nutzen, die er uns eröffnet hat.»

Das ganze Panel blickte auf den älteren Mann.

Er funkelte Lisowski böse an.

Sie wagte sich in das Schweigen vor. «Hier auf der Erde breitet sich das Chaos aus. Immer wieder wird der Ruf nach Grenzmauern laut, um Millionen Klimaflüchtlinge fernzuhalten. Da sind Haushaltsdefizite. Instabile Märkte. Gesellschaftliche Spaltung. Hier in den USA wächst die gravierende Armut. Sie werden in Washington nicht den politischen Willen mobilisieren können, das zu tun, was im Weltraum getan werden muss. Es wird zu weit weg von dem erscheinen, was das Wahlvolk interessiert. Die Asteroidenschürfer haben den Willen. Sie sind die, die diese Rohstoffe im tiefen Weltraum abgebaut haben. Lassen Sie sie handeln.»

Der ältere Mann am Ende des Tischs sagte: «Und wenn Ihre Asteroidenschürfer scheitern, werden wir einen entscheidenden strategischen Vorteil eingebüßt haben.»

Sie blieb fokussiert. «Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, damit sie nicht scheitern.»

Ein anderes Panelmitglied bemerkte: «Bis jetzt hat sie es ja ziemlich gut gemacht, Sir.»

«Und ohne Kosten für den Steuerzahler», ergänzte ein anderer.

Der ältere Mann ließ das auf sich wirken. «Vergessen wir nicht, dass einer dieser überlebenden Asteroidenschürfer chinesischer Staatsbürger ist. Tatsächlich hat er sogar enge Verbindungen zur Führung der KPC.»

Ein Panelmitglied schlug eine Akte auf. «Captain Jin Hua Han, Ex-Kampfpilot und Taikonaut, zweiundvierzig. Sohn des Industriellen und Multimilliardärs Jin Longwei. Er wurde von der Nationalen Raumfahrtbehörde Chinas als psychisch untauglich entlassen – wegen Autoritätsverweigerung und Neigung zum Eingehen übermäßiger Risiken.»

Einer der Offiziere sagte: «Er hat mit diesem Rückkehrfahrzeug einen Wahnsinnsflug hingelegt, Sir.»

Der ältere Mann sagte: «Was ist mit seinem Vater? Der Mann ist ein hohes Parteimitglied.»

«Sie haben sich entzweit, keine bekannten finanziellen Verflechtungen.»

«Und die anderen beiden Asteroidenschürfer?»

Das Panelmitglied schlug eine andere Seite auf. «James Tighe – Amerikaner, ebenfalls zweiundvierzig. Er war vor der Konstantin-Expedition ein umherziehender Höhlentaucher. Kein Studium. Jugendstrafen. Keine nennenswerte Erwerbsbiografie. Ein Video mit ihm ging vor ein paar Jahren im Internet viral – etwas mit Höhlenrettung. Aber das ist auch so ziemlich alles.»

«Hmpf. Und die Frau?»

«Priya Chindarkar – indische Staatsbürgerin, vierzig. Robotikerin. Von ihrer Familie in Mumbai offiziell verstoßen.»

«Weswegen?»

«Hat sich geweigert, eine arrangierte Ehe einzugehen. Bekam ein Vollstipendium an der University of Colorado. Machte dann den Doktor in Robotik am Indian Institute of Technology. Arbeitete für die indische Weltraumforschungsorganisation ISRO an der Entwicklung von Rovern, bis sie sich der Konstantin-Expedition anschloss.»

«Und was machen die drei, seit sie wieder auf der Erde sind? Wo sind sie jetzt?»

«In der EU, Sir – Luxemburg. Wir haben sie unter Beobachtung. Die Chinesen und die Russen überwachen sie ebenfalls, wahrscheinlich in der Hoffnung, an die Bahnelemente dieser Asteroidenrohstoffe zu kommen. Mithilfe ihres Anwalts haben die Schürfer Nathan Joyce’ altes Unternehmen, Catalyst Corporation, neu gestartet, und sie versuchen, privates Kapital einzuwerben, um in den Orbit zurückzukehren.»

«Dann müssen wir sie aufkaufen, bevor es die Chinesen tun.»

«Die Schürfer verkaufen nur einen kleinen Anteil – für die nötige Liquidität, um in den Orbit zurückzukehren und, wie wir vermuten, den Versuch zu machen, zwei Crewmitglieder zu retten, die sie am Ryugu zurückgelassen haben.»

«Inwiefern leistet die Rettung ihrer Freunde irgendetwas von dem, was Sie beschrieben haben, Dr. Lisowski?»

Sie antwortete prompt. «Weil diese aufbereiteten Asteroidenrohstoffe am Rand der Schwerkraftsenke der Erde platziert wurden – in einem entfernten rückläufigen Mondorbit. Was heißt, die Schürfer werden ihr Rettungsschiff dort draußen bauen müssen, und dafür müssen sie industrielle Infrastruktur im tiefen Weltraum erschaffen – Habitate, elektrische Energieerzeugung, Maschinen. Und sie müssen es schnell tun, denn die nächste enge Annäherung des Ryugu an die Erde ist in nur vier Jahren.»

Der ältere Mann sah ungläubig drein. «Diese zurückgelassenen Crewmitglieder – wissen wir, ob sie noch leben?»

Der Offizier sagte: «Nein, Sir. Jede Kommunikationsverbindung mit der Konstantin ist abgerissen.»

«Welcher Nationalität waren sie?»

Das Panelmitglied blätterte wieder in der Akte. «Isabel Abarca, die Fliegerärztin, ist eine sehr bekannte argentinische Bergsteigerin, inzwischen fünfundvierzig. Sie ist berühmt dafür, alle höchsten Berge der Welt bestiegen zu haben, im Alpinstil.»

«Was heißt das?»

«Es bedeutet, ohne Fixseile und ohne zusätzlichen Sauerstoff.»

«Das Sauerstoffverbot dürfte sie ja im Weltraum gelockert haben.»

Leises Schmunzeln in der Runde.

«Das andere Crewmitglied, Adedayo Adisa, ist ein Satellitenhacker aus Nigeria, noch in den Zwanzigern. Gehörte zu einer Orbit-Ransomware-Gang in den Slums von Lagos.»

«Eine Adrenalinsüchtige und ein Satellitendieb – solche Leute wollen unsere Schürfer retten, und Sie erwarten von uns, dass wir uns von denen abhängig machen, Doktor?» Der ältere Mann wandte sich wieder an das andere Panelmitglied. «Und von wem beschaffen sich die Schürfer das Kapital? Burkette? Macy?»

«Nicht von Weltraumtitanen, nein. Hauptsächlich von Öko-Risikokapitalfonds. Tech-Investoren. Keine Verbindungen zu kriminellen Vereinigungen oder staatlichen Investoren.»

«Und diese Kapitalgeber wissen von den Asteroidenrohstoffen im Mondorbit?»

«Ja. Die Konstantin-Expedition hat sich in gewissen Raumfahrtkreisen herumgesprochen. So beschaffen sie sich das Kapital.»

Die Frau, die vorhin mit Lisowski gesprochen hatte, fragte: «Wer weiß sonst noch, was diese Schürfer im Weltraum vollbracht haben? Irgendwelche Medien?»

«Es gehen Gerüchte um. Lange wird es nicht dauern, bis die Sache publik wird – ob Dr. Lisowski Geheimhaltung wahrt oder nicht.»

Der ältere Mann am Ende des Tischs schüttelte den Kopf. «Das geht nicht. Wir können nicht zulassen, dass diese Asteroidenbergleute Helden werden. Helden sind zu schwer zu kontrollieren.»

«Früher oder später werden Videos kursieren. Wir können das nicht eindämmen.»

«Brauchen wir auch nicht.» Ein Panelmitglied, das noch nichts gesagt hatte, ein Mann in den Dreißigern, beugte sich vor. «Entschuldigen Sie, Sir, aber Nathan Joyce hat sich doch in der Öffentlichkeit gezielt als großmäuliger Entertainer inszeniert, um nicht ernsthaft unter die Lupe genommen zu werden. Kurzum: Niemand glaubte doch, dass er zu etwas wie dem hier wirklich fähig wäre, und die Öffentlichkeit hält ihn immer noch für einen Schwindler. Damit können wir doch arbeiten. Dass die Asteroidenschürfer mit Joyce assoziiert waren, sollte es leicht machen, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass sie nur Gauner sind, die es darauf anlegen, Investoren zu betrügen. Wir können ja eine Psyops-Kampagne aufziehen, um sie so zu diskreditieren, dass die Leute glauben, sie seien nie auf dem Ryugu gewesen. Selbst wenn sie Videomaterial haben, das beweist doch heutzutage gar nichts.»

Lisowski war schockiert. «Aber diese Asteroidenschürfer haben Geschichte geschrieben. Warum sollte man so etwas tun?»

Der alte Mann wandte sich ihr zu. «Damit sie abhängig von uns sind, um wieder in den Orbit zu kommen.» Er sah den anderen Mann an. «Tun Sie’s. Es darf in der Öffentlichkeit keinen Zweifel daran geben, dass diese Asteroidenbergleute Schwindler sind. Sie dürfen nicht zu Helden werden. Nicht, bevor wir sicher sind, dass sie unsere Helden sind.»

Lisowski fühlte Wut in sich aufsteigen, bezwang sie aber. Es stand zu viel auf dem Spiel, um persönlichen Gefühlen stattzugeben. Schon gar nicht jetzt, wo sie so kurz vor dem Sieg stand.

Der alte Mann sah in die Runde. «Wir müssen mit diesen drei Schürfern reden – um sicherzustellen, dass sie wissen, was von ihnen erwartet wird und unter welchen Bedingungen wir ihnen gestatten werden, in den Weltraum zurückzukehren.» Er sah Lisowski an. «Sie haben doch Kontakt zu ihrem Anwalt, diesem Lukas Rochat?»

Lisowski antwortete: «Ja, er war Nathan Joyce’ Protegé. Er ist jetzt CEO der neuen Catalyst Corporation.»

«Sorgen Sie dafür, dass er ein Meeting arrangiert.»

«Ich kann eine Videokonferenz vereinbaren.»

«Nein. Ich will nicht, dass etwas aufgezeichnet oder übertragen wird.» Er tippte mit dem Zeigefinger auf den Tisch. «Ein persönliches Treffen. Hier in den USA, in einem SCIF.»

Lisowski runzelte die Stirn. «Ich kann nicht versprechen, dass sie da mitmachen. Jin Han ist ein ehemaliger Pilot der chinesischen Luftstreitkräfte. Er wird nicht so leicht in die Staaten einreisen können. Nicht beim gegenwärtigen politischen Klima.»

Der ältere Mann blieb unbeirrt. «Wir werden ihm ein Sondervisum ausstellen und seinen Pass nicht abstempeln.» Er sah Lisowski nachdrücklich an. «Meinen Sie, Sie können ein solches persönliches Meeting mit unseren Asteroidenschürfern arrangieren, Doktor?»

Lisowski nickte. «Ich kann es versuchen.»

«Wenn Sie nicht ins Gefängnis wollen, sollten Sie mehr tun als es nur versuchen.»

Lisowski nahm die Verständigungsvereinbarung vom Tisch. «Dafür benötige ich meine alte Position und dieselben Befugnisse wie bisher.» Sie hielt seinem Blick stand.

Der alte Mann seufzte. «Gut. Sehen Sie zu, dass Sie es erledigt bekommen.»

Lisowski knüllte die Vereinbarung zusammen und warf sie dem Mann im anthrazitfarbenen Anzug hin. Dann nahm sie ihre Sachen und ging zur Tür.

Kapitel 2Prognose

10. August 2038

James Tighe saß in einem Untersuchungszimmer und trommelte ungeduldig mit den Fingern. Seit er aus dem Weltraum zurück war, hatte er ständig das Gefühl, dass das ganze Sonnensystem eine einzige große tickende Uhr und er immer spät dran war.

Als er sich umsah, musste er plötzlich an Isabel Abarcas Krankenstation auf der Konstantin denken. Die war so viel kompakter als dieses Untersuchungszimmer. So vollgepackt mit medizinischer Ausrüstung. Er erinnerte sich an die speziellen Gerüche und Geräusche auf der Konstantin, und mächtige Emotionen überkamen ihn.

Sie und Adedayo Adisa waren jetzt gestrandet, allein, zig Millionen Kilometer – und bald Hunderte Millionen Kilometer – von der Erde. Unendlich weit weg, bis der Asteroid Ryugu auf seiner Bahn wieder vorbeikommen würde. Vorher war ihre Rettung nicht möglich, und doch galt es bis dahin zahllose Hindernisse zu überwinden, wenn überhaupt die Chance auf ein Rendezvous mit dem Asteroiden bestehen sollte. Würden sie überhaupt noch am Leben sein, wenn Tighe und seine Mitstreiter zu ihnen gelangen konnten? Waren sie jetzt noch am Leben?

Diese Gedanken waren mehr, als er im Moment verkraften konnte. Also stand er auf und blickte durchs Fenster auf die Skyline von Luxemburg, wo Lukas Rochat ihr Unternehmen angesiedelt hatte. Die gesamte kommerzielle Raumfahrt schien derzeit Büros hier in Luxemburg zu haben, aus rechtlichen Gründen. Oder politischen Gründen. Oder steuerlichen Gründen. Tighe wusste es nicht mehr genau. Vielleicht aus all diesen Gründen. Support-Personal von Catalyst hatte ihm eine sterile Firmenwohnung wenige Blocks von Catalyst entfernt zur Verfügung gestellt, und zum ersten Mal im Leben hatte er plötzlich eine richtige Postadresse. Tighe hatte so viele Jahre auf Höhlentauchexpeditionen und später dann im Weltraum verbracht, dass er kaum noch wusste, wie normales Leben ging. Er wollte nur wieder die nötige Ausrüstung beschaffen und zurück in den Weltraum. Aber wie, das war die Frage.

Es klopfte leicht an der Tür, und ein Arzt im Laborkittel trat ein – bebrillt, gut aussehend. Er hatte einen Ordner unterm Arm und nickte grüßend. «Guten Tag, Mr. Teeg.» Er sprach Englisch mit einem leichten französischen Akzent.

«Es spricht sich ‹Tie› aus, wie der Schlips.»

«Verzeihung.» Der Arzt machte eine Notiz in dem Ordner.

Tighe nahm wieder Platz.

Der Arzt setzte sich auf einen hohen Hocker. «Ich habe Sie hergebeten, damit wir Ihre Untersuchungsergebnisse besprechen können. Sind Sie mit dem Auto hier?»

Tighe schüttelte den Kopf. «Nein. Warum, machen wir noch eine Biopsie?»

«Nein, nein.» Der Arzt legte die Hand auf die Akte. «Ich muss Ihnen sagen, dass die Laborergebnisse positiv sind. Die Gewebemasse in Ihrer Leber ist eine maligne Neoplasie – ein sehr ernster Krebs.»

Tighes Hauptemotion bei dieser Nachricht war schlicht Enttäuschung. Offenbar hatte ihn die kumulative Strahlenexposition im tiefen Weltraum doch eingeholt. Er erinnerte sich an ein Gespräch vor Jahren mit einem von Joyce’ Rekrutierern auf der Insel Ascension darüber, warum sie Asteroidenbergbau-Kandidaten in den Dreißigern und Vierzigern bevorzugten: Die meisten von Ihnen werden an Altersschwäche sterben, bevor sie schwere Krebserkrankungen entwickeln.

Auch das ein Irrtum.

«Wir wissen noch nicht, ob er sich ausgebreitet hat, und um das festzustellen, sind weitere Untersuchungen nötig. Aber es ist wichtig, dass Sie wissen: Dieser Krebstyp ist, wenn man ihn in diesem Stadium entdeckt, nicht unbedingt terminal.» Der Onkologe sah Tighe in die Augen. «Durch ein rigoroses Behandlungsschema aus Chemo und Strahlentherapie besteht die Wahrscheinlichkeit der Eindämmung. Vielleicht sogar der vollständigen Remission.»

Tighe nickte. Er fühlte eine seltsame Distanz, fast, als sähe er das Ganze im Fernsehen.

«Verstehen Sie, was ich Ihnen erkläre, Mr. Tighe?»

«Ja. Sie sagen, ich muss mich einer Chemotherapie unterziehen.»

«Richtig. Dem, was wir eine neoadjuvante Therapie nennen, als Vorbereitung zur nachfolgenden Strahlentherapie. Es geht darum, den Tumor zunächst zum Schrumpfen zu bringen.»

«Wie lange würde die Chemo gehen?»

Der Arzt schrieb etwas in den Ordner. «Ich möchte Sie auf einen monatlichen Zyklus von zwei Chemositzungen im Abstand von zwei Wochen setzen und dann, je nach Erfolg, in zwei Monaten den Beginn der Strahlenbehandlung anstreben.»

Tighe verzog das Gesicht. «Ich weiß nicht, wo ich in zwei Monaten bin.»

«Ich schlage vor, Sie räumen Ihren Terminkalender frei.»

«Und was sind die Nebenwirkungen der Chemo?»

«Häufig sind Müdigkeit, Erbrechen, Haarausfall, Neigung zu blauen Flecken, Appetitverlust. Manchmal allerdings können die Nebenwirkungen auch hinderlicher sein – in dem Fall würden wir Ihre Medikation ändern. Aber auf jeden Fall sollten Sie darüber nachdenken, Ihre Arbeitszeit zu reduzieren oder, wenn möglich, Urlaub zu nehmen.»

Tighe schüttelte bereits den Kopf. «Das geht nicht. Ich muss für meine Arbeit reisen.»

«Reisen ist ganz schlecht. Die Chemotherapie unterdrückt Ihr Immunsystem und macht Sie anfällig für Viren und sonstige Infektionen.»

«Aber ich muss arbeiten.»

«Mr. Tighe, Ihre Gesundheit sollte für Sie absolut im Mittelpunkt stehen. Ist Ihr Job wichtiger als Ihr Leben?»

Tighe stellte sich vor, wie Han und Priya ohne ihn versuchen mussten, in den nächsten vier Jahren eine Rettungsmission im tiefen Weltraum finanziert und organisiert zu bekommen – rechtzeitig für die nächste enge Begegnung des Ryugu mit der Erde. Er stand in Adisas und Abarcas Schuld. Wie oft hatten die beiden sein Leben gerettet? Die nächsten Monate würden entscheidend sein. War seine Arbeit wichtiger als sein Leben? «In gewisser Weise ja. Ist er.»

Der Arzt schien zutiefst irritiert. «Es mag sich so anfühlen, aber ich bezweifle, dass es wirklich der Fall ist.»

«Ich kann jetzt nicht arbeitsunfähig sein.»

«Durch ein aggressives Chemotherapie-Programm können wir die Größe Ihres Tumors reduzieren und eine reelle Chance der Remission durch Strahlentherapie schaffen.»

«Und wie lange wäre ich außer Gefecht?»

«Sechs Monate. Vielleicht ein Jahr. Aber Sie würden wahrscheinlich überleben.»

«Aber ohne Garantie.»

«Eine Garantie gibt es nie. Jeder Krebs ist anders. Ihre Behandlung könnte eventuell nicht zum Erfolg führen, aber diese Vorgehensweise ist die mit der größten Erfolgswahrscheinlichkeit.»

«Und wenn meine Chemo-Medikamente reduziert würden – um Nebenwirkungen zu vermeiden?»

Der Arzt runzelte die Stirn. «Es könnte die Strahlentherapie impraktikabel machen. Dieser Krebstyp ist aggressiv und würde sich wahrscheinlich ausbreiten. Ihre Krankheit könnte dann terminal werden.»

«Aber wie lange hätte ich noch? Sprechen wir von Jahren?»

«Ohne Chemo? Vielleicht ein Jahr.»

«Könnte ich diese Frist mit einer reduzierten Chemo ein bisschen ausdehnen? Und dabei die meiste Zeit auf den Beinen sein?»

Jetzt wirkte der Arzt erschrocken. «Das ist eine sehr unkluge Überlegung.»

«Ist mir klar, aber ist es möglich?»

«Ich … Haben Sie Familie, Mr. Tighe?»

«Nein. Keine Frau, keine Kinder.»

«Brüder? Schwestern? Eltern?»

Er starrte kurz ins Leere. «Keine, die mir nahestehen.»

«Was machen Sie beruflich?»

«Ich arbeite in der Weltraumindustrie.»

«Und ist Ihre Arbeit körperlich anstrengend?»

«Das kann man sagen.»

«Dann ist das unvernünftig. Sie brauchen Chemotherapie und Bettruhe, nicht Reisen und Anstrengung.»

«Die Arbeit, die ich mache, entscheidet für andere über Leben oder Tod. Verstehen Sie? Ich muss reisen, und ich muss funktionieren.»

«Ihre Arbeitskollegen könnten sich nicht auf Sie verlassen.»

«Im Weltraum nicht, nein. Aber vorher. Das ist alles, was ich brauche.»

Der Arzt sah offenbar die Entschlossenheit in Tighes Augen. Er klopfte mit dem Stift auf den Ordner und seufzte. «Ist Ihnen klar, dass dadurch Ihr Krebs wahrscheinlich fortschreitet?»

«Ich werde alle Medikamente nehmen, die ich einigermaßen verkrafte – bis die Nebenwirkungen das Arbeiten zu schwer machen.»

Der Arzt machte Notizen in dem Ordner. «Ich rate Ihnen entschieden von diesem Vorgehen ab.»

«Ja, ich weiß, und ich weiß es zu schätzen. Wirklich.»

«Sind Sie sicher, dass Sie es sich nicht noch mal überlegen wollen, Mr. Tighe?»

«Ja, ich bin sicher. Danke, Doktor.»

 

Trotz der drückenden Hitze nahm Tighe nicht die Straßenbahn zurück ins Büro. Vielmehr spazierte er gedankenverloren den Boulevard Franklin Delano Roosevelt entlang. Komisch, dass mehrere Straßen in Luxemburg nach amerikanischen Präsidenten hießen. Rührte das vom Zweiten Weltkrieg her? Vom Kalten Krieg? Zweifellos hatten historische Persönlichkeiten prägende Bedeutung für diese Stadt gehabt, aber wie bei allem verblassten die Details nach und nach zum Hintergrund des Alltagslebens – die Betreffenden waren einfach nur noch jemandes Postadresse. Er dachte an die bedeutenden Ereignisse, die er selbst miterlebt hatte: die erste bemannte Weltraumreise über den Erdorbit hinaus, die längste Reise in den tiefen Weltraum, die erste außerirdische Rohstoffgewinnungsmission in industriellem Maßstab. Vielleicht würde ja Tighes Name eines Tages eine Antwort in Geschichtstests für gelangweilte Teenager sein.

Es war ein weiterer sengend heißer Tag in Luxemburg – fast vierzig Grad. Er vermutete, dass der Klimawandel das irgendwann zum neuen Normalsommer in Europa machen würde, aber jetzt passte das quälende Wetter zu seiner Stimmung.

Tighe ging eine Zeit lang ziellos dahin. Er wollte mit niemandem reden, nicht, bevor er die Diagnose verarbeitet hatte. Er dachte daran, wie Nicole Clarke, erster Captain der Konstantin, gestorben war – oder vielmehr, wie er ihr auf ihren Wunsch Sterbehilfe geleistet hatte. Im tiefen Weltraum. Bevor ihr Krebs unerträglich geworden wäre. Vielleicht würde er ja das Gleiche für sich selbst tun, wenn es so weit war. Sie war friedlich gegangen. Statt gekränkt zu sein, sollte er wohl akzeptieren, dass an Altersschwäche zu sterben, nie seine Bestimmung gewesen war. Tatsächlich war die Hälfte der Leute, die ihm etwas bedeuteten, nicht mehr unter den Lebenden. Eine Galerie erinnerter Gesichter löste heftigen Verlustschmerz in ihm aus.

Aber was sollte er Chindarkar und Jin über seinen Zustand sagen? Sie würden mit Sicherheit auf einer kompletten Chemotherapie bestehen. Und auf der Strahlenbehandlung. Dann wäre er so gut wie das ganze nächste Jahr außer Gefecht. Und vielleicht sogar eine Belastung für sie.

Nicht, wenn sie nichts von meinem Krebs wissen.

Aber was, wenn die Krankheit ihn unzuverlässig machte und das andere gefährdete? Nun ja, damit war wohl nicht zu rechnen, solange sie noch nicht wieder in den Weltraum starteten, und bevor das überhaupt geschehen konnte, galt es noch 1000 Hürden aus dem Weg zu räumen. Also war noch Zeit, bis er ihnen reinen Wein einschenken musste.

Mit solchen Gedanken beschäftigt, ging er den Chemin de la Corniche entlang und dann durch eine gewundene Kopfsteinpflastergasse zur Alzette hinab. Dort mäanderte er durch die malerischen Sträßchen des Stadtteils Grund, die wegen der Hitze weitgehend menschenleer waren. Das mittelalterliche Viertel schien Jahrhunderte entfernt von der privaten Raumfahrtindustrie, deren Investoren und Astropreneure dem Rest der Stadt einen Wirtschaftsboom gebracht hatten.

Es war seltsam tröstlich, an eine mittelalterliche Welt zu denken, in der nicht ständig eine rasende technologische Entwicklung stattfand, sondern die Menschen vielmehr mit Überleben beschäftigt waren. Aber das war natürlich Unsinn. Die Welt damals war in den Köpfen der Leute voller Dämonen und Hexen. Klimawandel hin oder her, das einundzwanzigste Jahrhundert hatte seine Vorteile.

Unter anderem Chemotherapie.

Tighe ging an Läden und Wohnungen vorbei und sah Menschen, verwurzelt in ihrem Alltag. All das, wofür er sich nie entschieden hatte. Wie oft war er mit 17000 Meilen pro Stunde im Orbit über diese Stadt hinweggezogen? Zu hoch, um diese menschlichen Momente zu sehen.

Sicher war, dass seine Zeit im tiefen Weltraum mehr mit ihm gemacht hatte, als nur seine DNA zu schädigen – sie hatte auch seine Einstellung zum Leben verändert. Tighe erinnerte sich nicht, vor der Konstantin-Expedition je so etwas wie ein Ziel gehabt zu haben, aber jetzt war dieses Ziel alles, woran er denken konnte. Das war doch immerhin etwas, um sich daran festzuhalten.