Darling! - Patrick Dennis - E-Book

Darling! E-Book

Patrick Dennis

3,0

Beschreibung

Als sein Vater stirbt, soll der zehnjährige Patrick Dennis in die Obhut seiner Tante Mame gegeben werden. So hat der Vater es im Testament verfügt. Aber Tante Mame ist keine typische Tante. Sie ist jung, hübsch und extravagant, feiert die Feste, wie sie fallen, pflegt einen flamboyanten Lebensstil – aber bitte erst ab zwölf Uhr mittags. Nicht ohne Grund ist Mame ein Star der New Yorker Bohème der zwanziger Jahre. Begeistert geht sie ihre neue Aufgabe an, wie alles im Leben. Von klassischen Erziehungsmethoden hält sie jedoch nichts: Patrick bekommt ein Vokabelheft, um seinen Wortschatz zu vergrößern: »Daiquiri«, »nymphoman« oder auch »Ödipuskomplex« sollte man kennen, findet Tante Mame; erste schulische Erfahrungen macht Patrick auf einer FKK-Schule. Mame nimmt Patrick mit zu den wildesten Partys, auf denen er die schillerndsten Persönlichkeiten kennenlernt, und bringt ihn in die verrücktesten Situationen – und doch kann er sich keinen liebenswerteren Menschen vorstellen als seine Tante Mame.

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Kaddy

Nicht schlecht

Das Buch ist nicht schlecht, es gab lustige Szenen und viel Kultur :) Man hat es gern gelesen, aber es reißt einen nicht vom Hocker.
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Patrick Dennis

Darling!

Meine verrückte Tante aus New York

Mit einer Betrachtung zu Patrick Dennis von Paul Rudnick und einem Nachwort von Michael Tanner

Aus dem amerikanischen Englisch von Thomas Stegers

Oktopus

Gewidmet den miserabelsten Maschineschreiberinnen von New York – V.K. und Mme. A

1Tante Mame und der Waisenknabe

Den ganzen Tag über hat es geregnet. An sich macht mir Regen nichts aus, aber ausgerechnet für heute hatte ich versprochen, die Fliegengitter anzubringen und mit meinem Kind an den Strand zu gehen. Außerdem hatte ich mir vorgenommen, in dem Keller, den der Immobilienmakler als »Hobbyraum« bezeichnet hatte, ein paar schnörkelige Schablonenmuster an die Wände zu pinseln und mit dem Ausbau jenes Raums unter dem Dach anzufangen, den der Immobilienmakler als »Mansarde im Rohbau« bezeichnet hatte, »ideal geeignet als Gästezimmer, Spielzimmer, Atelier oder gemütliche Bude«.

Irgendwie wurde ich gleich nach dem Frühstück abgelenkt.

Es fing an mit einer alten Nummer des Reader’s Digest, einer Zeitschrift, die ich selten lese. Ich brauche das nicht, weil ich jeden Morgen im 7:15-Uhr-Zug und jeden Abend im 8:03-Uhr-Zug die Leute über sämtliche Artikel reden höre. In Verdant Greens, einer Ortschaft, die aus zweihundert Häusern besteht, in vier verschiedenen Baustilen, schwört man allgemein auf den Digest, ja, man spricht über nichts anderes.

Die Zeitschrift übt jedoch auch auf mich diese sozusagen halsverrenkende Faszination aus. Geradezu gegen meinen Willen las ich etwas über die Gewalt an unseren Schulen, die Freuden der natürlichen Geburt, darüber, wie es einem Städtchen in Oregon gelang, einen Drogenring zu zerschlagen, und ich las etwas über jemanden, den ein berühmter Schriftsteller – ich habe vergessen, wer – für die außergewöhnlichste Persönlichkeit hält, die er je kennengelernt hat, für einen Menschen, den man nicht vergisst.

Das machte mich stutzig.

Ein Mensch, den man nicht vergisst? Wen konnte dieser Schriftsteller schon kennengelernt haben? Er hatte keine Ahnung, was das Wort Persönlichkeit überhaupt bedeutet. Woher auch? Er war ja meiner Tante Mame nie begegnet. Dennoch gab es bestimmte Parallelen zwischen seiner unvergesslichen Persönlichkeit und meiner. Seine unvergessliche Persönlichkeit war eine reizende kleine, alte Jungfer, die in einem reizenden kleinen Schindelhaus in Neuengland wohnte und eines Morgens die reizende kleine, grüne Haustür aufmachte, in der Hoffnung, draußen den Hartford Courant vorzufinden, und stattdessen einen reizenden kleinen Weidenkorb und darin einen reizenden kleinen Jungen fand. In dem Moment ließ ich den Digest sinken und dachte an die reizende kleine Dame, die mich aufgezogen hatte.

 

1928 erlitt mein Vater einen leichten Herzinfarkt und war für einige Tage ans Bett gefesselt. Neben den Schmerzen in der Brust entwickelte er ein gewisses kosmisches Bewusstsein. Sein Instinkt sagte ihm, dass er nicht bis in alle Ewigkeit leben würde. Da er nichts Besseres zu tun hatte, rief er seine Sekretärin an und diktierte ihr telefonisch sein Testament. Die Sekretärin tippte ein Original mit vier Durchschlägen, setzte ihren Topfhut auf und fuhr mit einem Yellow Cab in das Edgewater Beach Hotel, um sich die Unterschrift meines Vaters zu holen.

Das Testament war sehr kurz und sehr originell. Es lautete:

Im Fall meines Todes gehen alle meine irdischen Güter in den Besitz meines einzigen Kindes Patrick über. Sollte ich vor seinem achtzehnten Geburtstag sterben, bestimme ich hiermit meine Schwester Mame Dennis, wohnhaft Beekman Place 3, New York City, zu Patricks rechtmäßigem Vormund.

Er soll als Protestant erzogen werden und konservative Schulen besuchen. Mame wird verstehen, was ich damit meine. Alles Barvermögen und alle Wertpapiere, die ich hinterlasse, sollen von der Knickerbocker Trust Company, New York City, verwaltet werden. Nicht zuletzt Mame wird einsehen, dass das eine vernünftige Entscheidung ist. Andererseits erwarte ich auch nicht, dass sie sich wegen der Erziehung meines Sohnes ruiniert. Monatlich hat sie Rechnungen für Kost und Logis, Kleidung, Ausbildung, Arztbesuche etc. meines Sohnes vorzulegen. Jedoch bleibt der Trust Company das Recht vorbehalten, jeden Posten, der ungewöhnlich oder exzentrisch erscheint, infrage zu stellen, bevor sie meiner Schwester die Kosten erstattet.

Darüber hinaus vermache ich fünftausend Dollar ($ 5000) unserem treuen Dienstmädchen Norah Muldonn, damit sie sich an dem Ort in Irland, von dem sie immer gesprochen hat, wohl versorgt zur Ruhe setzen kann.

Norah rief mich vom Spielplatz herein ins Haus, und mit zitternder Stimme las mir mein Vater sein Testament vor. Er sagte, meine Tante Mame sei eine eigentümliche Frau, und in ihren Fängen zu sein, wünsche er keinem Hund, aber in der Not dürfe man nicht wählerisch sein, und Tante Mame sei meine einzige Verwandte. Die Sekretärin und der Zimmerkellner bezeugten das Testament.

In der Woche darauf hatte mein Vater vergessen, dass er krank war, und spielte Golf. Ein Jahr später fiel er in der Dampfsauna des Chicago Athletic Club tot um, und ich war Waise.

Von der Beerdigung meines Vaters habe ich nicht viel behalten, außer dass es sehr heiß war und in den Blumenhaltern der Pierce-Arrow-Limousine des Bestattungsunternehmers echte Rosen steckten. Der Trauerzug setzte sich zusammen aus einigen großen, kräftigen Herren, die immerzu davon murmelten, dass sie mindestens neun Löcher schaffen wollten, wenn das hier erst vorbei sei, und natürlich aus Norah und mir.

Norah weinte viel. Ich nicht. In den ganzen zehn Jahren hatte ich kaum ein Wort mit meinem Vater gewechselt. Wir trafen uns nur zum Frühstück, das für ihn aus schwarzem Kaffee, Bromo-Selzer und der Chicago Tribune bestand. Wenn ich doch einmal etwas sagte, hielt er sich den Kopf und ermahnte mich: »Halt die Luft an, Junge, dein alter Herr hat einen Kater«, was ich nie verstand, erst einige Jahre nach seinem Tod. Jedes Jahr zu meinem Geburtstag schickte er Norah und mich zur Vormittagsvorstellung, irgendeine harmlose Unterhaltungsshow mit Joe Cook oder Fred Stone, oder zum Sells-Floto-Circus. Einmal lud er mich zum Essen ein, in ein Restaurant, das sich Casa de Alex nannte, zusammen mit einer schönen Frau, die Lucille hieß. Sie sagte ›meine Süßen‹ zu uns beiden und roch sehr gut. Ich mochte sie gern. Sonst bekam ich ihn kaum zu Gesicht. Ich verbrachte meine Zeit in der Humanistischen Höheren Lehranstalt für Knaben in Chicago oder mit beaufsichtigtem Spielen mit den anderen Kindern, die in dem Hotel wohnten. Manchmal tobte ich auch ganz einfach nur mit Norah in der Hotelsuite herum.

Nachdem er zur letzten Ruhe gebettet worden war, wie Norah sich ausdrückte, begaben sich die großen kräftigen Herren zum Golfplatz, und die Limousine brachte uns zurück ins Edgewater Beach. Norah setzte ihren schwarzen Hut und ihren Schleier ab und sagte mir, ich könnte meinen Serge-Anzug ablegen. Der Partner meines Vaters, Mr. Gilbert, und noch ein anderer Gentleman würden gleich kommen, und ich sollte hierbleiben, weil ich einige Schriftstücke zu unterzeichnen hätte.

Ich ging in mein Zimmer und übte auf dem Briefpapier des Hotels meine Unterschrift, und sehr bald tauchten Mr. Gilbert und der andere Mann auf. Ich hörte sie mit Norah reden, aber ich verstand nicht viel von dem, was da besprochen wurde. Norah weinte ein bisschen und sagte irgendetwas von einem lieben, herzensguten Herrn, der gerade erst unter der Erde sei und allzu großzügig. Der Fremde sagte, sein Name sei Babcock und er sei mein Treuhänder, was ich höchst spannend fand, denn Norah und ich hatten gerade einen Film gesehen, in dem ein ehrlicher Häftling während einer Gefangenenrevolte die Tochter des Direktors rettet und dieser sie ihm dafür zur Frau gibt; »zu treuen Händen«, wie es hieß. Mr. Babcock sprach von einem sehr ungewöhnlichen, jedoch wasserdichten Testament.

Norah sagte, sie verstehe nichts von Gelddingen, aber die genannte Summe sei bestimmt sehr viel Geld.

Mr. Gilbert sagte, ›der Junge‹ solle diesen Scheck im Beisein des Vertreters der Trust Company indossieren und er müsse notariell beglaubigt werden, und dann sei die ganze Transaktion erledigt. Für mich hörte sich das alles ziemlich unheimlich an. Mr. Babcock sagte, hm, ja, das stimme.

Norah weinte wieder und sagte, so ein großes Vermögen für so einen kleinen Jungen, und der Treuhänder sagte, ja, es sei eine stattliche Summe, andererseits, er habe auch Leute wie die Wilmerdings und die Goulds betreut, die richtig Geld hätten.

Wenn es gar nicht um richtiges Geld ging, fand ich, wurde hier ein ziemliches Brimborium veranstaltet.

Dann trat Norah in mein Zimmer und sagte, ich solle kommen und Mr. Gilbert und dem anderen Gentleman die Hand schütteln, wie »ein großer Junge«. Ich gehorchte. Mr. Gilbert sagte, ich nähme es »wie ein guter Soldat«, und Mr. Babcock, der Treuhänder, sagte, er hätte einen Jungen zu Hause in Scarsdale, der sei in meinem Alter, und er hoffe, wir würden einmal »dicke Freunde« werden.

Mr. Gilbert griff zum Telefon und bat, man möge nach einem Notar schicken. Ich unterschrieb zwei Papiere. Der Notar murmelte irgendetwas vor sich hin und stempelte die zwei Papiere ab. Mr. Gilbert sagte, damit sei das erledigt, und er müsse sich sputen, wenn er noch nach Winnetka kommen wolle. Mr. Babcock sagte, er wohne im University Club, und falls Norah noch etwas von ihm wolle, könne sie ihn dort erreichen. Wir schüttelten uns noch mal die Hand, und Mr. Gilbert wiederholte, ich sei ein »guter Soldat«. Dann setzten sie ihre Strohhüte auf und gingen.

Als wir beide allein waren, sagte Norah, ich sei ein braves Kind, was ich davon hielte, wenn wir jetzt hinunter in den Marine Room gingen und lecker zu Abend äßen und uns anschließend einen Vitaphone-Tonfilm ansähen.

Damit war mein Vater endgültig gestorben.

 

Ich hatte nicht viel Gepäck. Unsere Hotelsuite bestand aus einem großen Wohnzimmer und drei Schlafzimmern, die Möbel stellte das Edgewater Beach Hotel. Der einzige Nippes, den mein Vater besaß, war ein Paar silberne Herrenfrisierbürsten und zwei Fotografien. »Hat gelebt wie ein Arraba, dein Vater«, sagte Norah.

So gewöhnt hatte ich mich an die beiden Fotos, dass ich sie nie beachtet hatte. Eines zeigte meine Mutter, die bei meiner Geburt gestorben war. Das andere Foto stellte eine Frau mit blitzenden Augen dar, mit einem Schultertuch aus spanischer Spitze und einer Rose hinterm Ohr. »Ganz die Italljähnerin, wie die aussieht«, sagte Norah. Das war meine Tante Mame.

Norah und Mr. Babcock gingen die persönliche Habe meines Vaters durch. Er nahm alle Dokumente an sich, die goldene Uhr und die Perlenmanschettenknöpfe meines Vaters sowie den Schmuck, der meiner Mutter gehört hatte, um ihn so lange aufzubewahren, bis ich alt genug war, dass ich »etwas damit anfangen« konnte. Die Anzüge meines Vaters bekam der Zimmerkellner. Seine Golfschläger und meine alten Bücher gingen an die Wohlfahrt. Dann nahm Norah die Bilder von meiner Mutter und von Tante Mame aus den Rahmen und schnitt sie zurecht, dass sie in meine Gesäßtasche passten. »Damit du das Antlitz deiner Lieben immer an deinem Herzen trägst«, erklärte sie.

Es war alles getan. Bei Carson, Pirie, Scott’s kaufte Norah mir einen Traueranzug aus leichtem Tuch und für sich einen ausladenden Hut. Mr. Gilbert und »die Firma« trafen alle Vorkehrungen für unsere Reise nach New York. Am dreizehnten Juni waren wir startbereit.

An den Tag unserer Abreise aus Chicago erinnere ich mich deswegen, weil ich noch nie so spät aufbleiben durfte. Die Hotelangestellten veranstalteten eine Sammlung und schenkten Norah einen maßgearbeiteten Reisekoffer aus Krokodilleder, einen Rosenkranz aus Malachitperlen und einen großen Strauß American-Beauty-Rosen. Ich bekam ein Buch, Bibelgestalten, die jedes Kind kennen sollte – Altes Testament. Norah führte mich durchs Haus, damit ich mich von allen Kindern verabschiedete, die im Hotel wohnten, und um sieben Uhr brachte der Zimmerservice – mit den besten Wünschen vom Koch – unser Essen hoch, das aus drei verschiedenen Desserts bestand. Um neun Uhr bat Norah mich, mir noch einmal Gesicht und Hände zu waschen, bürstete meinen neuen Traueranzug ab, steckte eine Sankt-Christopherus-Nadel an meine Unterhose, weinte, setzte ihren neuen Hut auf, weinte, nahm eine letzte kurze Inspektion des Zimmers vor, weinte und nahm in dem Hotelbus Platz.

 

Es war nicht schwer zu erkennen, dass eine Fahrt im Luxusreisezug für Norah genauso ungewohnt war wie für mich. Verschüchtert bewegte sie sich in unserem Abteil, und als ich den Wasserhahn am Waschbecken aufdrehte, kreischte sie kurz auf. Sie las mir alle Warnschilder laut vor, ermahnte mich, dem elektrischen Ventilator nicht zu nahe zu kommen und die Toilettenspülung nicht zu betätigen, bevor der Zug losfuhr. Das Beste sei es, die Toilette überhaupt nicht zu benutzen, führte sie aus – wer weiß, wer vorher darauf gesessen hätte.

Wir hatten einen kleinen Streit darüber, wer in der oberen Koje schlafen sollte. Ich wollte gerne, aber Norah war unerbittlich. Als sie beim Erklimmen des oberen Etagenbettes beinahe gestürzt wäre, freute ich mich hämisch, aber sie meinte, lieber würde sie zu Grunde gehen, als nach einer Leiter zu läuten und sich dem schwarzen Mann in ihrem Nachthemd zu zeigen. Um zehn Uhr setzte sich der Zug in Bewegung, und ich lag in meiner Koje und sah zu, wie die Lichter der South Side vor meinem Fenster vorbeiglitten. Ich war eingeschlafen, noch ehe wir Englewood Station erreichten, es war das Letzte, was ich von Chicago zu Gesicht bekam.

Es war schon ziemlich aufregend, sein Frühstück einzunehmen, während der schwere New-York-Central-Zug durch die Lande raste. Norah hatte ihre Ehrfurcht vor dem Reisen mit dem Zug verloren und unterhielt sich angeregt mit dem farbigen Speisewagensteward.

»Ja«, sagte Norah, »seit dreißig Jahren lebe ich in diesem Land. War noch ein Mädchen, als ich rübergekommen bin, über den großen Teich, und ganz schön grün hinter den Ohren. Bin dann – habe dann meine erste Stellung in Boston, Massachusetts, angetreten, das war in der Commonwealth Avenue – liebe Güte, wenn ich an die Treppe in dem Haus denke! – da war die Mutter dieses Jungen noch ein kleines Mädchen. Dann hat sie geheiratet, und sie hat mich mitgenommen, bis nach Chicago, so weit. Herrjemine, hatte ich eine Angst! Hab ernsthaft damit gerechnet, dass uns Indijaner überfallen. Iss schön deine Eier auf, mein Schatz«, sagte sie zu mir.

»Zuerst starb sie«, fuhr Norah fort, »und ich blieb, um mich um das Kind zu kümmern. Dann verschied Mista Dennis. Klapp, einfach so, im Schporrt-Klub. Und nun habe ich die traurige Pflicht, diesen armen kleinen Jungen zu seiner Tante Mame nach New York zu bringen. Stellen Sie sich vor, erst zehn Jahre alt, und haben tut er weder Vater noch Mutter.« Norah tupfte sich die Augen.

Der Steward sagte, ich sei sehr tapfer.

»Zeig ihm die Fotografie von deine Tante Mame, mein Schatz«, sagte Norah. Es war mir peinlich, aber ich fasste in meine Gesäßtasche und zog das an Carmen erinnernde Bild meiner Tante hervor.

»Sagen Sie, ist Beekman Place ein anständiges Viertel, in dem ein Kind aufwachsen kann? Der Junge kennt nur das Beste.«

»Oh, ja, Ma’am«, sagte der Steward, »eine sehr anständige Gegend. Mein Vetter hat eine Stellung am Beekman Place. Da wohnen fast nur Millionäre.«

Von ihrem gesellschaftlichen Erfolg beim Personal des New York Central angespornt, bestellte Norah noch eine Tasse Tee und bedachte die anderen Passagiere fortan mit herablassender Miene.

Den Rest des Vormittags verbrachten wir in unserem Abteil, das sich auf mysteriöse Weise von einem Schlafzimmer in eine Art Wohnzimmer verwandelt hatte. Norah betete ihren Rosenkranz und fing dann mit ihrer Häkelarbeit an. Nach dem Frühstück hatte sie es fertiggebracht, sich sowohl vor dem Schlafwagenschaffner als auch dem Zugschaffner mit zunehmendem Hochmut darüber zu verbreiten, was für ein sagenhaft bemittelter kleiner Junge ich sei – »genau wie dieser König Soundso von Ruhm Änien« – der bei seiner Tante Mame wohnen werde, einer geheimnisvollen Frau mit Geld, die in einem Marmorhaus am Beekman Place logiere.

Es war sechs Uhr, als wir im Bahnhof Grand Central einfuhren. Trotz ihres affektierten Salonwagengetues von eben geriet Norah in dem Gedränge auf dem Bahnsteig unweigerlich in Angst und Panik.

»Gib mir deine Hand, Paddy«, kreischte sie, »und geh mir um Himmels willen nicht verloren in dieser …« Der Rest der Warnung ging im Lärm unter. Mit der einen Hand an mich geklammert, die andere gegen die Geldbörse in ihrem Korsett gepresst, focht sie einen verlorenen Kampf gegen einen Mann mit roter Schirmmütze, der, ihre Proteste ignorierend, unser gesamtes Gepäck auf einen Handkarren warf und damit abzog. Norah und ich kamen im Laufschritt hinterher.

Nicht, dass er vorgehabt hätte, unsere Habe zu stehlen. Er rief vielmehr ein Taxi herbei und warf erneut unser Gepäck, diesmal auf den Rücksitz. Wir quetschten uns neben die Gepäckstücke in das Taxi, und noch ehe der Mützenträger seine ehrliche Dankbarkeit für die zehn Cent Trinkgeld, die Norah ihm zugesteckt hatte, zum Ausdruck bringen konnte, schlingerte das Taxi hinein in den Straßenverkehr.

»Bringen Sie uns bitte zum Beekman Place drei«, sagte Norah, »und glauben Sie ja nicht, ich wäre die Unschuld vom Land, die man erst mal rumkutschieren kann, um den Fahrpreis hochzutreiben.«

Es war immer noch hell draußen und sehr, sehr heiß. Ich weiß nicht, was ich mir von New York versprochen hatte, jedenfalls war ich enttäuscht. Es war kein bisschen anders als Chicago.

Auf der Park Avenue gab es einen Verkehrsstau, und Norah war außer sich, als sie sah, dass der Gebührenzähler fünf Cents extra berechnete, obwohl der Wagen stillstand. Die Third Avenue stimmte sie trübsinnig, trotz der vielen irisch klingenden Namen; die Second Avenue noch trübsinniger.

»Und wohin, wenn ich fragen darf, bringen Sie uns, guter Mann?«, herrschte Norah den Fahrer an.

»Wohin Sie sagten, Beekman Place drei.«

»Du lieber Himmel, besser als in einem Dubliner Slum sieht es hier ja auch nicht aus«, jammerte sie. Als das Taxi schließlich zum Beekman Place kam, war sie doch ein wenig erleichtert. »Hübsches Hüttchen«, bemerkte sie gönnerhaft. Das Taxi hielt vor einem großen Haus, das sich in nichts von den Häusern am Lake Shore Drive, in der Sheridan Road oder der Astor Street in Chicago unterschied.

»Nicht halb so prächtig wie das Edgewater Beach«, stellte Norah naserümpfend und mit einer dem Mittleren Westen geschuldeten Loyalität fest. »Raus mit dir, mein Schatz, und pass auf, dass du dir deine Frisur nicht versaust.«

Der Portier musterte uns, mehr als oberflächlich interessiert, und sagte frostig, wir hätten uns in den fünften Stock zu begeben.

»Komm mit, Paddy«, sagte Norah, »und dass du dich bei deine Tante Mame benimmst. Sie ist eine sehr ällegannte Lady.«

Im Aufzug warf ich kurz einen letzten Blick auf das Foto meiner Tante, nur so, damit ich mir ihr Gesicht merkte. Ob sie wohl eine Rose im Haar und ein Tuch aus spanischer Spitze trug? Die Aufzugtür öffnete sich, wir traten heraus, die Aufzugtür schloss sich, und wir waren allein.

»Heilige Muttergottes! Der Vorhof zur Hölle!«, rief Norah.

Wir standen in einem Vestibül, das pechschwarz gestrichen war. Das einzige Licht kam von den gelben Augen einer merkwürdigen heidnischen Gottheit mit zwei Köpfen und acht Armen, die auf einem Sockel aus Teakholz ruhte. Es machte nicht den Eindruck, als wohnte hier eine Dame, die spanische Spitze trug, ja, es machte nicht einmal den Eindruck, als wohnte hier überhaupt jemand.

Zwar war ich schon zehn Jahre alt, aber ich nahm Norahs Hand.

»Wie auf der Damentoilette im Oräntallischen Theater, so sieht das hier aus«, hauchte Norah.

Schwungvoll drückte sie auf den Klingelknopf. Die Tür öffnete sich, und Norah stieß einen leisen Schrei aus. »Gott, sei uns gnädig! Ein Chinese!«

Im Türrahmen stand grinsend, kaum größer als ich, ein winziger japanischer Hausdiener. »Sie wünschen?«, sagte er.

Mit schwacher, demütiger Stimme sagte Norah: »Ich bin Miss, das heißt, ich bin Norah Muldoon. Ich bringe den jungen Mister Dennis zu seiner Tante.«

Der kleine Japaner hüpfte wie eine mechanische Puppe rückwärts. »Muss Versehen sein. Will keine kleine Junge heute.«

»Aber«, erwiderte Norah mit mitleiderregender, weinerlicher Verzweiflung, »ich habe doch extra ein Telegramm geschickt, wir würden heute, am ersten Juli, um sechs Uhr ankommen.«

»Nicht wichtig«, sagte der kleine Japaner mit einem Achselzucken schönsten Ostküsten-Gleichmuts. »Junge hier, Haus hier, Madame hier. Madame hat gerade Gesellschaft. Egal. Kommen Sie herein. Warten Sie. Ich holen sie.«

»Sollen wir wirklich?«, flüsterte ich Norah zu. Ich warf noch mal einen Blick auf die schwarzen Wände und den Götzen und drückte Norahs raue alte Hand. Sie zitterte schlimmer als meine.

»Kommen Sie herein. Warten Sie«, sagte der Japaner mit einem finsteren Lächeln. »Kommen Sie herein«, wiederholte er. Es hatte eine hypnotische Wirkung.

Mit bleischweren Schritten betraten wir das Foyer der Wohnung. Auf verwirrende Art war es sogar noch angsteinflößender als die schwarze Eingangshalle. Die Wände waren in einem kräftigen Orange gestrichen. Durch den gelben Pergamentschirm einer riesigen japanischen Laterne aus Bronze schimmerte ein widerliches Licht. Zu beiden Seiten des Foyers befanden sich Tordurchgänge, verdeckt durch einen Wandschirm aus Papier, dahinter viele Leute, die viel Lärm machten.

Der Japaner deutete auf eine lange niedrige Bank, dem einzigen Möbelstück im Raum. »Hinsetzen«, zischte er. »Ich hole Madame. Hinsetzen.«

Hinter der Bank hing eine große Pergamentleinwand. Sie stellte einen Japaner dar, der sich mit einem Samuraischwert den Bauch aufschlitzte.

»Hinsetzen«, wiederholte der Hausdiener kichernd und verschwand hinter einem der Wandschirme.

»Barbarisch«, raunte Norah. Bedenklich knackten ihre Gelenke, als sie sich mit ihrer ganzen Leibesfülle auf der Bank niederließ. »Was hat sich bloß dein armer Vater dabei gedacht?« Das Getöse hinter dem Wandschirm schwoll an, Glas ging zu Bruch. Ich klammerte mich an Norah.

Unsere Kenntnisse über orientalische Ausschweifungen beschränkten sich auf das, was wir im Kino gesehen hatten – grässliche Folterungen; unschuldige Jungfrauen, die betäubt und verkauft wurden, gezwungen zu einem Leben, das schlimmer war als Hungerleiden am Jangtse; blutige Kriege zwischen den chinesischen Geheimbünden – doch Hollywood hatte unmissverständlich klargemacht, was passiert, wenn der Osten auf den Westen trifft.

»Paddy«, schluchzte Norah plötzlich, »man hat uns in eine Opiumhöhle gelockt. Man wird uns töten oder uns noch Schlimmeres antun. Wir müssen hier raus.« Sie erhob sich, zog mich mit sich, sank jedoch gleich wieder mit einem verzagten Stöhnen auf die Bank nieder.

In das Foyer kam jetzt eine japanische Puppenfrau geschlendert. Sie trug einen sehr kurzen Pony mit senkrecht heruntergekämmten Fransen oberhalb der schrägen Augenbrauen; ein langes Kleid aus bestickter goldener Seide lief hinten in einer Schärpe aus. Die Füße steckten in winzigen, mit Juwelen besetzten Pantöffelchen, an den Armen klapperten Reifen aus Jade und Elfenbein. Sie hatte die längsten Fingernägel, die ich je gesehen hatte, jeder war in einem zarten Grün lackiert. Zwischen ihren hellroten Lippen hing träge eine schier endlose Zigarettenspitze aus Bambus. Irgendwie kam mir die Frau bekannt vor.

Norah und mich betrachtete sie mit amüsiertem Erstaunen. »Oh«, sagte sie, »der Mann vom privaten Vermittlungsdienst hat mir nicht gesagt, dass Sie auch noch ein Kind mitbringen. Egal. Er sieht ja wie ein ganz manierlicher Junge aus. Wenn er ungezogen ist, können wir ihn immer noch aus dem Fenster in den Fluss werfen.« Sie lachte, wir nicht. »Sie wissen, was von Ihnen erwartet wird, nehme ich an. Leichte Sklavenarbeit in der Wohnung, und jeden Donnerstag haben Sie natürlich zu Ihrer freien Verfügung.«

Norah sah sie mit weit aufgerissenen Augen an, die Kinnlade hing herunter.

»Sie kommen ein bisschen spät«, sagte die orientalische Dame. »Ich hatte eigentlich damit gerechnet, dass Sie heute Abend dieser Meute aufwarten.« Sie deutete in die Richtung, aus der der Lärm kam. »Aber das ist nicht so tragisch. Ich werde Sie schon mit was Passendem ausstaffieren, wenn Sie keine Sachen dabeihaben.« Sie ging zurück zu der Lärmquelle. »Warten Sie hier. Ito soll Ihnen Ihr Zimmer zeigen. Ito! Ito!«, rief sie und rauschte davon.

»Heil’ge Muttergottes. Hast du gehört, was sie gesagt hat? Diese vielen Wörter! Wie eine richtige Chinesin mit ihrem Singsang. Was sollen wir machen, Paddy? Was sollen wir bloß machen?«

Ein finsteres Paar schlenderte durchs Foyer. Der Mann sah aus wie eine Frau, und die Frau war, abgesehen von ihrem Tweedrock, fast das Ebenbild von Ramon Novarro. »Du hast bestimmt auch schon gehört, dass sie die arme Miriam in die Wüste geschickt haben«, sagte der Mann.

Die Frau antwortete: »Wenn sie sie unbedingt berufsmäßig erledigen wollen, dann ist das genau der richtige Ort für die Schlampe, die Arme.« Sie lachte hämisch, und sie verschwanden hinter dem Schirm gegenüber.

Norah bekam Stielaugen, ich auch. Plötzlich gellte ein Schrei durch die Luft. Wir beide sprangen auf. Über den Lärm hinweg erhob sich eine hysterische weibliche Stimme. »Oh Aleck! Hör auf! Bitte. Du erschlägst mich noch!« Brüllendes Gelächter, dann wieder ein schriller Schrei. Norah packte mich am Arm und klammerte sich fest. Hinter einem Wandschirm tauchten zwei Männer auf. Einer hatte einen hellroten Bart. Sie trugen eine ganz in Schwarz gekleidete Frau, deren Kopf nach hinten übergekippt war, die Augen geschlossen, das lange Haar schleifte über den Boden. Norah schluckte. »Arme Edna«, sagte einer der Männer. »Mir tut sie nicht so leid«, sagte dagegen der Bärtige. »Heute Nachmittag noch habe ich zu ihr gesagt, Edna, habe ich zu ihr gesagt, du unterschreibst dein eigenes Todesurteil, wenn du zu Mittag dieses ganze Giftzeug trinkst. Um sieben Uhr bist du kalt wie eine Makrele. Und jetzt haben wir den Salat, umgekippt ist sie.« Norah bekreuzigte sich.

Ein erneuter Schrei und irres Gelächter. Der kleine Japaner kam hinter einem Schirm hervorgeschossen und hastete quer durchs Foyer, in der Hand ein großes Messer. Norah stöhnte.

»Heilige Maria, Muttergottes, beschütze uns«, betete sie. »Bewahre den kleinen Waisen und mich vorm Abschlachten und vor Schlimmerem in den Händen dieser chinesischen Kehlenaufschlitzer.« Inbrünstig fing sie an, ein langes Gebet zu murmeln, so unzusammenhängend, dass ich nur einige Wörter verstand, weiße Sklaven und Shanghai und Mord und Totschlag.

Wieder durchquerten die männliche Frau und der weibliche Mann das Foyer.

»… Und natürlich ›Der Tod kommt zum Erzbischof‹«, sagte er. »Haben Sie je etwas dermaßen Sensationelles erlebt?«

»Allmächtiger«, rief Norah, »ist denn hier nichts und niemand sicher vor diesem Sündenpfuhl!«

Wieder ertönte ein Schrei, und die hysterische Stimme flehte: »Nicht doch, Aleck! Das ist ja der reinste Mord!«

»Jetzt reicht’s«, sagte Norah, packte meine Hand und zog mich von der Bank. »Wir müssen raus aus diesem Nest von Dieben und Mördern, solange wir noch Luft holen können. Lieber meine Jungfräulichkeit bewahren, als von dem Chinesen in die Sklaverei verkauft werden. Komm, Paddy, wir machen uns aus dem Staub. Gott steh uns bei.« Mit erstaunlicher Behändigkeit stürzte sie zur Tür, mich im Schlepptau.

»Stehen bleiben, bitte.« Wir waren wie versteinert. Es war der kleine Japaner, er grinste grotesk, das Messer noch immer in der Hand. »Hat Madame Sie nicht gefunden?«

»Hören Sie, Sir«, sagte Norah mit dem Mut der Verzweifelten, »ich bin nur eine arme alte Frau, aber ich bin bereit zu zahlen, wenn Sie uns laufen lassen. Auch wenn es nicht so aussieht, aber ich habe Geld dabei. Viel Geld. Fünftausend Dollar, außerdem mein gesamtes Erspartes. Dafür lassen Sie das Kind und mich doch bestimmt laufen. Wir haben nichts Böses getan.«

»Oh nein«, sagte er mit einem unergründlichen Lächeln. »Nicht richtig. Ich hole Madame. Madame schon gefreut auf kleinen Jungen im Haus.«

»Eine Gemeinheit!«, stöhnte Norah.

Zweiter Auftritt der japanischen Puppenfrau. »Ito«, sagte sie. »Ich habe Sie schon die ganze Zeit gesucht. Das ist die neue Köchin, und ich möchte, dass Sie …«

»Nein, Miss Dennis«, sagte er, mit dem Finger wedelnd, »nicht neue Köchin. Neue Köchin in Küche. Das hier Ihr kleiner Junge.«

»Nicht doch!«, quietschte sie. »Dann müssen Sie Norah Muldoon sein!«

»Ja«, hauchte Norah, der es vor Erschöpfung fast die Stimme verschlagen hatte.

»Warum haben Sie mir nicht Bescheid gegeben, dass Sie heute kommen? Ich hätte doch niemals diese Party gegeben.«

»Ich habe Ihnen telegraphiert …«

»Ja, aber Sie schrieben am ersten Juli. Also morgen. Heute ist der einunddreißigste Juni.«

Hasserfüllt schüttelte Norah den Kopf. »Nein, Ma’am, heute ist der erste. Verflucht sei dieser Tag.«

Das Lamettalachen erstarb. »Das ist doch lächerlich! Das weiß doch jedes Kind: Dreißig Tage zählt der September, der April, der Juni und der … Meine Güte!« Für einen Moment herrschte Schweigen. »Ach, Darling!«, rief sie theatralisch. »Ich bin deine Tante Mame!« Sie schlang ihre Arme um mich und küsste mich, und ich wusste, ich war gut aufgehoben.

Als wir Tante Mames höhlenartiges Wohnzimmer, ausgestattet wie der Nachtclub in Our Dancing Girls, erst einmal betreten hatten, stellten wir beruhigt fest, dass die vielen Menschen eigentlich wie normale Männer und Frauen aussahen. Na gut, vielleicht sahen sie nicht alle so aus wie normale Männer und Frauen, aber wenigstens gab es keine bösen Orientalen, außer Tante Mame, die ihr Tuch aus spanischer Spitze abgelegt hatte und sich nun als Japanerin gab.

Die Gäste saßen auf den niedrigen japanischen Diwanen, standen auf der Terrasse oder schauten durch das große Fenster hinunter auf den schmutzigen Fluss. Alle redeten und tranken. Tante Mame küsste mich häufig und stellte mich vielen fremden Leuten vor, einem Mr. Benchley, der sehr nett war, einem Mr. Woollcott, der nicht nett war, einer Miss Charles und noch vielen anderen.

»Das ist der Sohn meines Bruders, und ab jetzt gehört der kleine Junge mir«, wiederholte sie andauernd.

Tante Mame sagte, ich sollte noch ein bisschen »die Runde machen«, danach könnte ich ins Bett gehen. Es täte ihr furchtbar leid, dass ihr wegen des Datums so ein alberner Fehler unterlaufen sei, aber jetzt sei sie mit einigen Leuten zum Dinner im Aquarium verabredet. Ich fand das einen seltsamen Ort, um sich zum Essen zu verabreden, aber aus Höflichkeit fragte ich sie, ob es Fisch zum Dinner gäbe, und alle brüllten vor Lachen.

Sie sagte, es sei bloß eine Flüsterkneipe in den Fifties, und ich tat so, als hätte ich verstanden.

Norah nahm mich an die Hand, und wir »machten die Runde«, aber ich knüpfte kein Gespräch mit anderen Gästen an. Sie benutzten alle so komische Wörter, zum Beispiel »Batik« und »Freud« und »Minderwertigkeitskomplex« und »Abstraktion«. Eine Dame mit roten Haaren sagte, sie hätte eine Stunde bei ihrem Arzt auf der Couch verbracht, und jedes Mal, wenn sie käme, berechne er ihr fünfundzwanzig Dollar. Norah geleitete mich in eine andere Ecke des Raums.

Der kleine Japaner reichte Norah ein Glas und sagte, es sei frisch gelöschte Ladung, und Norah sagte, sie vertrage keine geistigen Getränke – dabei war sie es, die mir immer wieder erzählte, sie sähe Geister und Gespenster –, aber diesmal würde sie sich einen Tropfen genehmigen. Sie wirkte ganz selig, urplötzlich, und kurz darauf bat sie Ito, ihr noch ein Schlückchen nachzugießen.

Wenig später brachen die Gäste auf. Eine Gruppe sagte, sie wollten heute Abend noch dem guten alten Texas einen Besuch abstatten, sie müssten frühzeitig da sein, wenn sie noch eingelassen werden wollten. Ich hatte immer gedacht, Texas sei ziemlich weit entfernt von New York.

Andere standen immer noch draußen in der Vorhalle herum und redeten über Dinge, die ich nicht verstand, Lysistrata, Netsuke und Lapislazuli, und über einen gewissen Karl Marx, den ich für einen Verwandten von Groucho, Harpo, Chico und Zeppo hielt. Dann trat Tante Mame in einem gelben Abendkleid auf, so eins, wie Bessie Love in The Broadway Melody trug. Vorne sehr kurz, hinten sehr lang, und japanisch sah sie auch nicht mehr aus.

»Gute Nacht, Darling«, sagte sie und küsste mich. »Morgen werden wir beide uns mal ausführlich miteinander unterhalten – aber nicht zu früh.« Die Tür fiel ins Schloss, und es war ruhig in der Wohnung.

Sanft nahm mich der japanische Hausdiener an die Hand. »Du Hunger. Komm Abend essen«, sagte er freundlich. »Möchtest du vielleicht vorher auf die Toilette gehen, kleiner Junge?«

Mir wurde heiß und kalt, als ich es mit schrecklicher Gewissheit erkannte.

»Ich, ich war schon«, stotterte ich und sah mit Entsetzen einen dunklen Fleck sich auf meinem neuen sommerlichen Traueranzug ausbreiten.

2Tante Mame und die Kinderstunde

Der Artikel im Digest berichtet des Weiteren, dass die New-England-Jungfer den Findling, den man vor ihrer Haustür ausgesetzt hatte, zunehmend lieb gewinnt. Sie gewinnt ihn nicht nur lieb, mehr noch, sie begeistert sich für Fragen der Kindererziehung und Kinderpsychologie und solcherlei Dinge. Als der Zeitpunkt naht, da der Knabe eingeschult werden soll, kommt es zu schweren Differenzen zwischen Miss Unvergesslich und dem örtlichen Schulausschuss. Der Beamte, der Schulschwänzer verfolgt, ist Tag und Nacht hinter dem Jungen her, aber unsere liebe kleine Jungfer bleibt standhaft und setzt, ganz aus eigener Kraft, radikale Reformen im Schulsystem durch.

Na und? Das ist doch gar nichts. Tante Mame hatte auch originelle Vorstellungen, was das Seelenleben und die Erziehung von Kindern betrifft.

Wenn ich an Tante Mame zurückdenke, an den Wirbelwind, der sie 1929 war, dann muss ich sagen, dass sie die Aussicht, einen ihr völlig fremden zehnjährigen Jungen großzuziehen, sicher ebenso erschreckt hat wie mich, als ich mit großen Augen und verschüchtert zum ersten Mal der orientalischen Pracht ihrer Wohnung am Beekman Place gegenüberstand. Niemals jedoch hätte Tante Mame sich geschlagen gegeben. Meine Tante hatte etwas von dem aufmüpfigen Pfadfindergeist an sich, nach dem Motto: Denen werden wir’s zeigen. Und obwohl ihre Ansichten über Kindererziehung vielleicht als ein wenig unorthodox bezeichnet werden könnten – was eigentlich für alle ihre Ansichten galt, egal über was –, funktionierte Tante Mames einzigartiges System auf seine zwanglose Art doch recht gut.

Unser erstes Gespräch fand an meinem zweiten Tag in New York um ein Uhr mittags in Tante Mames riesigem Schlafzimmer statt. Ich fühlte mich unverstanden, ungeliebt und unerwünscht und schrecklich einsam, während ich gelangweilt durch die große Maisonettewohnung schlenderte, nur Norah leistete mir Gesellschaft. Ito, der kleine japanische Hausdiener, kochte mir ein reichhaltiges Mittagessen und kicherte viel, aber sonst war nichts aus ihm herauszukriegen. Um ein Uhr war ich so frustriert, dass ich anfing, Bibelgestalten, die jedes Kind kennen sollte – Altes Testament zu lesen, da kam Ito in mein Zimmer und sagte: »Du jetzt Madame aufsuchen.«

Tante Mame empfing mich in ihrem Schlafzimmer in der oberen Etage. Es war ein gewaltiges Gemach mit schwarzen Wänden, einem weißen Teppich und einer goldenen Decke. Die einzigen Möbelstücke, die sich darin befanden, waren ein goldenes Bett von üppigem Format, das auf einem Podest stand, sowie ein Nachttisch. Die meisten Menschen hätte so ein Raum vermutlich depressiv gestimmt, nicht so Tante Mame. Sie war munter wie ein Vogel. Ja, in ihrem Nachtjäckchen aus rosa Straußenfedern sah sie sogar aus wie ein Vogel. Sie las Gides Die Falschmünzer und rauchte Melachrino mit einer langen Zigarettenspitze aus Bernstein.

»Guten Morgen, mein kleiner Liebling«, trällerte sie. »Komm her und gib deiner Tante Mame einen Kuss, aber sanft, mein Schatz, Tante Mame fühlt sich abscheulich.« Ich küsste sie so sanft ich konnte. »Das war lieb, Schatz. Eines Tages wirst du eine glückliche Frau noch glücklicher machen. Jetzt setz dich her zu Tante Mame aufs Bett – aber ganz behutsam, Schatz –, und wir verplaudern ein bisschen den Morgen. Damit wir uns kennenlernen.«

Morgens, das fand ich bald heraus, bedeutete ein Uhr mittags für Tante Mame. Frühmorgens, das war elf Uhr morgens, und neun Uhr morgens war mitten in der Nacht.

»Hat diese Reinheit morgens nicht etwas Herrliches!«, sagte sie mit schwungvoller Geste und streute dabei Asche über die schwarzen Seidenlaken.

»Also, Darling«, sagte sie, »wir müssen uns erst noch richtig miteinander bekannt machen. Ich hatte noch nie einen kleinen Jungen bei mir wohnen, und … Hoppla, da kommt das Frühstück.«

»Also, wollen wir mal sehen«, sagte sie, hellwach. Sie kramte in dem Durcheinander von Papieren auf ihrem Nachttisch und fischte eine Abschrift des Testaments meines Vaters hervor, die sie mit etlichen Telefonnummern und hier und da mit einer Einkaufsliste verziert hatte. Auch einen gelben Notizblock und einen dicken schwarzen Bleistift zupfte sie hervor. »Ich bin also dein Vormund. So viel steht fest. In dieser Hinsicht gibt es keinen Klärungsbedarf. Dein Vater sagt weiter, du sollst als Protestant erzogen werden. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, bestimmt nicht, obgleich es wirklich schade ist, dass dir dadurch die exquisiten Mysterien einiger östlicher Religionen vorenthalten werden. Was manche Dinge betrifft, war dein Vater allerdings schon immer ein Banause. Aber ich will nicht schlecht über meinen eigenen Bruder reden. In welche Kirche seid ihr gegangen, Darling?«

»In die Vierte Presbyterianische«, antwortete ich mit einem unguten Gefühl.

»Liebe Güte, Kindchen, soll das heißen, dass es in diesem Chicago vier presbyterianische Kirchen gibt? Na gut, egal. Irgendeine presbyterianische Kirche werden wir hier in der Nähe schon auftun.« Theatralisch verdrehte sie die Augen an die Decke. »Dein Vater hätte sicher keine Bedenken, wenn ich dich Monsignore Malarky vorstelle. Ein ganz reizender Mensch, sehr kultiviert, und Augen hat er, wie Saphire! Irgendwann nächste Woche kommt er mal zum Cocktail vorbei, aber er muss mir auf die Hand versprechen, dass er nicht mit dir fachsimpelt.«

Tante Mame kam wieder zur Sache, auf das Testament. »Damit wäre also deine religiöse Erziehung abgehakt. Kommen wir zur schulischen. Wie weit bist du mit der Schule, mein Schatz?«

»Fünfte Klasse, Humanistische Höhere Lehranstalt für Knaben, Chicago.«

»Fünfte Klasse! Lieber Himmel, bist du nicht gut genug für die erste Klasse? Auf mich machst du jedenfalls einen klugen Eindruck.«

Mit der Geduld eines Zehnjährigen erklärte ich ihr, dass fünfte Klasse fünfte Schulklasse bedeutete.

»Ach so, und wie weit ist man mit zehn Jahren?«

»In der fünften Klasse, aber ich war erst neun, als ich in die Klasse kam.«

»Dann bist du also doch frühreif.«

»Wie bitte?«, sagte ich.

»Frühreif, mein Schatz. Klug für dein Alter. Deinem Alter voraus in der Schule.«

»Ja«, sagte ich. »Das ganze Schuljahr über.«

»Das freut mich wirklich sehr, Darling!«, trällerte Tante Mame und kritzelte etwas auf ihren Block. »Wir waren schon immer eine intellektuelle Familie, obwohl dein Vater alles Mögliche unternommen hat, um diese Tatsache zu verschleiern.«

Sie widmete sich wieder dem Testament. »Dein Vater schreibt hier, du sollst eine konservative Schule besuchen. Das passt zu ihm. Sag mal, war dieses humanistische Dingsda konservativ?«

»Ich verstehe nicht, was du meinst«, sagte ich und wurde rot.

»War sie prüde? Langweilig? Zum Einschlafen? Muffig?«

»Ja, sie war sehr muffig.«

»Kommt ganz nach deinem Vater«, seufzte sie. »Übrigens kenne ich eine ganz himmlische neue Schule, die ein Freund von mir eröffnet hat. Eine gemischte Schule und absolut revolutionär. Der Unterricht wird nackt abgehalten, bei ultraviolettem Licht. Da hat man keine Hemmung mehr nach dem ersten Schuljahr. Dieser Mann ist ganz au courant mit dem Neuesten aus Wien, dieses tödlich langweilige Montessori-System ist nichts für ihn. Er arbeitet viel mit gegenstandsloser Kunst und Eurythmie und Gesprächskreisen, es gibt keine Bücher oder so was. Dahin würde ich dich gerne schicken. Es würde deine Libido gehörig aufmischen.«

Ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon sie redete, aber es hörte sich an, als handelte es sich um eine sehr ungewöhnliche Schule, gelinde ausgedrückt.

Ihr Gesicht nahm einen zärtlichen, verträumten Ausdruck an. »Ich frage mich gerade«, sagte sie, »ob es nicht gut wäre, sich Ralphs Schule einmal anzusehen. Hast du viele Hemmungen? Was meinst du, Schatz?«

Vor Scham lief ich rot an. »Leider verstehe ich viele Wörter nicht, die du benutzt, Tante Mame.«

»Ach, Kindchen, Kindchen«, rief sie, und heftig wedelten die federbesetzten Ärmel übers Bett, »was machen wir denn nur mit deinem Wortschatz? Hat dein Vater denn nie mit dir geredet?«

»So gut wie nie«, gestand ich.

»Ein reicher Wortschatz ist das untrügliche Kennzeichen eines jeden Intellektuellen, mein Lieber. Also« – sie wühlte in dem Wirrwarr auf ihrem Nachttisch und zauberte noch einen Block und einen Bleistift hervor – »jedes Mal, wenn ich ein Wort benutze oder du ein Wort hörst, das du nicht verstehst, schreibst du es auf, und ich erkläre dir dann, was es bedeutet. Du merkst dir das Wort, und so hast du bald einen anständigen Wortschatz beisammen. Ach, wie aufregend«, schwärmte sie, »so einen jungen Menschen zu formen!« Wieder vollführte sie eine schwungvolle Geste, die diesmal verunglückte, denn sie schmiss die Kaffeetasse um, und ich notierte mir gleich sechs neue Wörter, die Tante Mame mich bat auszuradieren und gleich wieder zu vergessen.

Danach las Tante Mame weiter in dem Testament.

»Was die Erstattung durch diese Treuhandgesellschaft betrifft …«

»Wie schreibt man Erstatt…«

»Unterbrich mich nicht! Was die Erstattung durch diese Treuhandgesellschaft betrifft – natürlich bin ich willens und bereit, deinen Unterhalt zu bestreiten.« Ihre Augen verengten sich, und sie sah mich mit einem stechenden Blick an. »Bestimmt ist dir so eine menschliche Rechenmaschine an die Seite gegeben worden, die auf dein Geld aufpasst und mir vorschreiben will, wie ich dich zu erziehen habe.«

»Meinst du meinen Treuhänder?«

»Genau, mein Kind. Was ist das für einer?«

»Er trägt einen Strohhut und Brille und wohnt in einer Stadt, die Scarsdale heißt, und er hat einen Jungen in meinem Alter, und sein Name ist Mr. Babcock.«

»Scarsdale! Hätte man sich denken können.« Tante Mame notierte sich »Knickerbocker Trust« und »Babcock«. »Wie ich das so sehe, wird der die kommenden acht Jahre über für mich wohl eine bête noire sein. Ich trage die Verantwortung, er hat die Macht!«

»Bête noire, das heißt schwarzes Ungeheuer, nicht?« Eine ziemlich gewagte Charakterisierung von Mr. Babcock, wie ich fand.

»Darling!«, sagte sie strahlend und gab mir einen Kuss. »Dein Wortschatz entwickelt sich prächtig. Eigentlich sollten wir zu Hause nur Französisch sprechen.« Fortfahren tat sie allerdings auf Englisch. »Mr. Babcock knöpfen wir uns zu gegebener Zeit vor. In meinem Salon lernst du in zehn Minuten weiß Gott mehr fürs Leben, als du in zehn Jahren bei so einem Vater wie deinem gelernt hast. Kriminell, ein Kind so zu erziehen!« Sie sah auf die Uhr und wedelte mit den Federärmeln. »Ach, du liebe Güte. Ich muss unbedingt noch mit Vera shoppen gehen. Hast du nicht Lust mitzukommen? Außerdem finde ich, dass wir uns fürs Erste genug miteinander bekannt gemacht haben.« Sie musterte meinen schwarzen Traueranzug. »Um Gottes willen, Kind, du siehst ja aus wie eine kranke Vogelscheuche! Hast du nichts anderes zum Anziehen?«

»Doch«, sagte ich.

»Dann zieh dich um, wenn du mitkommen willst. Und vergiss dein Vokabelheftchen nicht.« Gehorsam begab ich mich zur Tür.

»Ach, übrigens, Kind«, sagte sie. Ihre Augen nahmen wieder den stechenden Blick an.

»Ja, Tante Mame?«

»Hat dein Vater jemals etwas gesagt – ich meine, dir von mir erzählt, bevor er starb?«

Norah hatte mir einmal gesagt, dass man umgehend in die Hölle kommt, wenn man lügt, deswegen schluckte ich und platzte heraus: »Er hat nur gesagt, du seist eine sehr eigentümliche Frau, und in deinen Fängen zu sein, wünsche er keinem Hund, aber in der Not dürfe man nicht wählerisch sein, und du seist meine einzige lebende Verwandte.«

Tante Mame schnappte nach Luft. »Diese Drecksau«, sagte sie gleichmütig.

Ich holte mein Vokabelheftchen hervor.

»Das Wort, mein Lieber, war Drecksau«, flötete sie. »Es wird DRECKSAU geschrieben, und es bedeutet: dein verstorbener Vater. Und jetzt raus hier, und zieh dir was Anständiges an!«

 

Meinen ersten Sommer in New York verbrachte ich damit, hinter Tante Mame herzutrotten, das Vokabelheftchen unterm Arm, jeden Nachmittag das »allmorgendliche Plauderstündchen« mit ihr abzuhalten und mich auf ihren literarischen Teegesellschaften, Salons und Cocktailpartys blicken zu lassen. Ich sagte allerdings nur etwas, wenn ich gefragt wurde.

Auch ihre Gäste benutzten viele neue Wörter, und als der Sommer vorbei war, hatte ich mir einen ansehnlichen Wortschatz angeeignet. Noch immer besitze ich einige dieser Listen mit Wörtern, die ich auf Tante Mames Soireen aufgeschnappt habe. Eine, vom 14. Juli 1929, beinhaltet so zufällige Begriffe wie: Tag der Bastille, lesbisch, Hotsy-Totsy-Club, Bandenkrieg, Es, Daiquiri – was ich allerdings falsch schrieb –, Relativität, freie Liebe, Ödipuskomplex – noch ein Wort, das ich falsch schrieb –, mobil, Strandhaubitze – und von da spielte meine Orthographie total verrückt –, narzisstisch, Biarritz, psychoneurotisch, Schönberg und nymphomanisch. Tante Mame erklärte mir alle Wörter, die ich ihrer Ansicht nach kennen sollte, und ließ mich sie dann in Sätze einbauen, die ich mit Ito übte, während er seine japanischen Blumengestecke herstellte und dabei kicherte.

Meine Fortschritte in jenem Sommer 1929 waren bemerkenswert, wenn auch sicher nicht im Sinn der üblichen Eltern- und Familienzeitschriften. Ende Juli wusste ich, wie man einen »lukullischen kleinen Martini« mixte, wie Mr. Woollcott sich ausdrückte, und ich hatte meine Angst vor Tante Mames besonders exaltierten Freunden verloren.

Tante Mame verbrachte ihre Tage in einer schwindelerregenden unaufhörlichen Abfolge von Shopping, Vergnügungen, Partys bei Freunden, Anproben der ausgefallensten Kleidungsstücke überhaupt – wenngleich ihre eigene Garderobe modisch nur schwer zu übertreffen war –, Theaterbesuchen und Abstechern zu den kleinen experimentellen Bühnen, die in ganz New York wie Pilze aus dem Boden schossen, Einladungen zu Dinnern von diversen intellektuellen Gentlemen sowie Herumschlendern in Galerien mit schwer deutbaren Bildern und Skulpturen. Trotz ihres hektischen und oberflächlichen Lebens fand sie immer noch reichlich Zeit, sich meiner anzunehmen. Zu den meisten Ausstellungen, den Einkaufstouren mit ihrer Freundin Vera sowie zu allen Veranstaltungen, die Tante Mame für ein zehnjähriges Kind als »angemessen, stimulierend und erhellend« erachtete, wurde ich mitgeschleppt. Das betraf ein breites Spektrum.

Im Grunde lernten Tante Mame und ich uns innerhalb einer Zeitspanne schätzen und lieben, wie sie kürzer und schmerzloser nicht hätte sein können. Dass diese außergewöhnliche Frau mich anziehen würde, so wie sie Tausende andere in ihren Bann gezogen hat, war selbstredend. Schließlich war sie berüchtigt für ihren ungestümen Charme. Sie gab mir zum ersten Mal das Gefühl, eine richtige Familie zu haben. Aber allein schon die Tatsache, dass sie überhaupt für einen unbedeutenden, uninteressanten zehnjährigen Jungen sorgen konnte, erfreute mich immer wieder aufs Neue, wiewohl es mich erstaunte und mir ein ewiges Rätsel blieb. Dennoch bin ich das Gefühl nicht losgeworden, dass sie trotz ihrer großen Beliebtheit, ihrer Interessen, ihres ständigen Herumgerennes wahrscheinlich auch ein bisschen einsam war. Ihre Kritiker meinten, ich sei für sie einfach nur ein weiterer Klumpen Ton, den sie formen und modellieren und auf den sie nach Gusto einwirken konnte. Es stimmt, Tante Mame konnte nie der Versuchung widerstehen, sich in das Leben anderer Leute einzumischen. Dennoch bewahrte sie sich eine solide, verlässliche Unabhängigkeit. Für uns beide war es Liebe, und meine Erlebnisse mit ihr waren einzigartig.

Indes, recht bald senkte sich eine dunkle Wolke in Gestalt meines Treuhänders über unser Glück. Tante Mame und ich hielten gerade unsere »morgendliche Plauderstunde« ab. Wahre Muttergefühle hatten sie an dem Tag überkommen, und sie las mir Passagen aus In einem anderen Land vor, als ein Eilbrief der Knickerbocker Trust Company unser friedliches Stelldichein mit Hemingway erschütterte.

In dem Brief von Mr. Babcock stand, er habe sich schon seit Langem mit uns treffen wollen, aber die Geschäfte und so weiter und so weiter, und dann führen er und seine Familie in den heißen Sommermonaten immer nach Maine usw., usw., und gerade wären sie zurückgekommen, da sei sein Sohn an einer schweren Mandelentzündung erkrankt, bei der der Arzt usw., usw., aber jetzt, wo alles wieder im Lot usw., usw., und wir hätten doch so viel zu besprechen über Master Patrick usw., usw., ob Miss Dennis nicht mit Mr. Dennis nach Scarsdale kommen wolle, um einmal so richtig wie früher usw., usw., natürlich früh zu Ende, damit die Jungs auch ihren Nachtschlaf bekämen, usw., usw., die Züge vom Bahnhof Grand Central seien zwar nicht die allerbequemsten, aber usw., usw., und Tante Mame möchte den Termin bitte schön bestätigen.

Tante Mame seufzte, reichte mir den Brief und klingelte nach einem Whisky mit Zitrone. »Ach je, Darling«, rief sie, »das bedeutet das Ende. Dieser Treuhänder! Ich sehe es schon deutlich vor mir, so deutlich, wie ich dich jetzt sehe – ein scheußliches Komplott, damit er auftrumpfen und die Pläne, die ich mit dir habe, vereiteln kann.« Ich notierte »auftrumpfen« und »vereiteln« in mein Heft und versicherte ihr, eigentlich sei Mr. Babcock ein ganz netter, ruhiger kleiner Mann.

»Ach, Kindchen«, heulte sie auf, »diese grauen Mäuse, das sind die Schlimmsten. Die schlimmsten Gierschlucker.«

Ihrer lebenslangen Gewohnheit entsprechend, machte sie eine halbe Stunde lang theatralisches Getue, beruhigte sich anschließend wieder und entschied, sich der Herausforderung zu stellen. Mit ihrer aufgesetzten Bildungsbürgerstimme rief sie Mr. Babcock an und sagte ihm, wir beide freuten uns schon riesig, morgen mit seiner Familie in Scarsdale zu Abend zu essen, und er brauchte sich nicht die Mühe zu machen, uns vom Bahnhof abzuholen, da wir mit dem Auto kämen. Ach, war sie vornehm. Danach rief sie ihre beste Freundin Vera an und befahl ihr, alles stehen und liegen zu lassen und sofort herzukommen.

Tante Mames Freundin war eine berühmte Schauspielerin aus Pittsburgh, die sich mit solch ausgeprägter Mayfair-Eleganz ausdrückte, dass man kaum ein Wort verstand. Sie mochte Kinder nicht, was auf Gegenseitigkeit beruhte, aber da Tante Mame in ihr neues Stück investiert hatte, verhielt sich Vera mir gegenüber einigermaßen höflich.

Vera schwebte auf einer Wolke aus weißem Fuchspelz herbei, und sie und Tante Mame mimten erneut »Verzweiflung«. Zum Schluss kam Vera, die Vernünftigere von beiden, zur Sache. Sie bat Ito um eine Flasche Brandy und übernahm mehr oder weniger die Regie.

»Meine Liebe«, sagte sie, »du darfst dich nicht so gehen lassen. Du bist vollkommen hysterisch. Du trinkst jetzt brav einen Schluck hiervon und beruhigst dich, während ich dir ein paar schlichte Wahrheiten sagen werde. Erstens hast du überhaupt nichts zu befürchten. Du siehst gut aus, kommst aus gutem Haus, bist intelligent, du hast Bildung, Geld und eine Position – einfach alles. Vielleicht bist du eine Idee zu extravagant für Scarsdale. Aber ich sage dir, meine Liebe, das ist nur eine Frage der Mäßigung – der vorübergehenden. Als ich die Lady Esme in Eine Sommerlaune spielte …«

»Sommerlaune«, kreischte Tante Mame, »hier geht es um meine Sommerlaune, und du kannst über nichts anderes reden als deine Triumphe! Sag mir, was soll ich machen?« Sie knabberte an ihren gold lackierten Fingernägeln.

»Was ich sagen wollte, meine Lie-hiebe«, fuhr Vera hochmütig fort, »als ich die Lady Esme spielte, ließ ich alle meine Kostüme bei Chanel nähen, und Coco hat zu mir gesagt, ›Chérie‹, – sie nannte mich immer chérie – ›Chérie‹, sagte sie, ›Kleider wirken auf die Stimmung, auf die Person – auf einfach alles.‹ Recht hatte sie. Erinnerst du dich an den letzten Akt, als ich die Treppe hinunterschreite, nachdem sich Cedric gerade erschossen hat? Ich wollte dazu Schwarz tragen, aber Coco meinte, ›Chérie, dazu musst du Grau tragen. Ein grauer Tag, eine graue Stimmung, ein graues Kleid, mit einem Hauch Zobel.‹ Nie werde ich vergessen, wie sich Brooks Atkinson über das Kostüm geäußert hat. Sieh an, schrieb er, es hebt diesen Schmachtfetzen auf eine Stufe mit Shakespeare.«

Mit dem Thema Kleidung hatte man immer Tante Mames ungeteilte Aufmerksamkeit, und umgehend erhellte sich ihre Miene. »Genau, Vera«, sagte sie gedehnt, »du hast ja so recht. Ich sehe es schon vor mir: den kleinen grauen Kimono mit der violetten Stickerei, und dazu vielleicht noch eine blutrote Kamelie über jedem …«

»Mame, meine Liebe«, sagte Vera taktvoll, »die Rede ist nicht von einem japanischen Kostüm für diese – diese Tortur. Du musst in Scarsdale als ein anderer Mensch auftreten – so jemand wie Jane Cowl. Ich hatte eigentlich ein ganz schlichtes Kleid im Sinn. Etwas Weiches, Vornehmes – und alles andere Schwarz. Verstehst du, was ich sagen will, meine Lie-hiebe? Du hast Kummer, trägst jedoch nicht unbedingt Trauer, aber etwas sehr Konservatives. So etwas flößt einem Treuhänder Vertrauen ein.«

Tante Mame war misstrauisch, aber interessiert, und während der Pegel des Brandys – angeblich von der Île de France an Land geschmuggelt – in der Flasche immer tiefer sank, schwang sich Vera mit ihrem bissigen Bild von der kleinen, ehrbaren, unverheirateten Tante zu immer gewagteren Höhenflügen auf. Tante Mame hatte einen Hang zum Dramatischen, und am Ende stöberten die beiden Frauen wie zwei junge Mädchen in ihrer Garderobe.

Während ich aus einem Buch von Elinor Wylie, Angels and Earthly Creatures, Gedichte laut vortrug und Veras Brandyglas nachfüllte, verwandelte sich ein altes Negligé aus grauem Chiffon in ein angemessen tristes Kostüm, welches, zusammen mit Veras großem schwarzem Hut, zart verschleiert, und einem Halsband aus tiefschwarzem Bernstein, Tante Mame die richtige Aura vornehmer Verzagtheit verlieh. Vera förderte außerdem noch einen falschen Zopf zutage, den Tante Mame mal auf einem Künstlerball getragen hatte. In sich geflochten, bildete er ein natürliches, wenn auch wackliges Krönchen auf Tante Mames Bubikopf. Um sechs Uhr war das Kostüm fertig, dann nähte Vera mir noch eine schwarze Armbinde, genehmigte sich den letzten Tropfen Brandy und kippte um.

 

Um neun Uhr am nächsten Morgen – mitten in der Nacht, wie sie sagte – war Tante Mame bereits aufgestanden. Sie sah blass und kränklich aus. In der Küche stellte Ito einen enormen Picknickkorb zusammen, Gurkensandwichs, Champagner und Mandelkuchen. Unten am Beekman Place glänzte unheilvoll Tante Mames Mercedes Benz. Tante Mame brauchte geschlagene zwei Stunden, um sich in ihren Trauerflor zu hüllen, aber sie sagte, es solle alles richtig passen, und obwohl es draußen über dreißig Grad war, legte sie sich, Veras sensationellen Erfolg als Lady Esme im Kopf, ihre Zobelstola um.

1929 brauchte man mit dem Zug etwas über eine halbe Stunde bis nach Scarsdale, jedoch mochte sich Tante Mame der strikten Zeiteinteilung der Eisenbahn nie unterwerfen. Der große Mercedes verließ Beekman Place daher acht Stunden, bevor man uns in Scarsdale erwartete, was vielleicht gar nicht so schlecht war, denn Ito war ein Sonntagsfahrer, bestenfalls, und keiner von uns hatte eine Ahnung, wo oder was Scarsdale war. Tante Mame saß angespannt auf dem Rücksitz, rückte ihr schlecht vertäutes Krönchen zurecht und zupfte an ihrem Zobel. Oft packte sie meine Hand und murmelte: »Ach, mein Lieber, was sollen wir bloß machen?« Das Auto war zwar geräumig, aber auf der Rückbank war es doch recht eng für uns beide, mit dem Picknickkorb, den mit Eis gefüllten Champagnerkühlern, diversen Straßenkarten – die meisten von anderen Landesteilen –, einer Pelzdecke für den Schoß, einem Gedichtbändchen, mit einer zärtlichen Widmung von Sara Teasdale für Tante Mame, und meinem Vokabelheftchen.

Ito, dessen Orientierungssinn noch weniger ausgeprägt war als Tante Mames, fuhr zuerst nach Long Island, dann nach New Jersey und erwischte schließlich doch noch die richtige Route. Nach einer ausgiebigen Mittagspause in Larchmont und einem kleinen Umweg über Rye steuerte Ito mit dem Wagen wieder unser Ziel an, und um halb vier kamen wir in Scarsdale an. »Oh Gott«, stöhnte Tante Mame, »drei Stunden zu früh!« Den restlichen Nachmittag verbrachten wir im Kino, ein Film mit Tom Mix. Ito und mir gefiel er gut, Tante Mame dagegen fand, es sei abstoßend, was man den Leuten so zum Fraß vorwerfe, und der Staat solle doch lieber Filme von zivilisierter Machart fördern.

Punkt halb sieben standen wir vor dem Haus der Babcocks. Es bestand zur Hälfte aus Fachwerk, in einem Stil, den Tante Mame »Pseudotudor« nannte. Sie wirkte jedoch sehr bedrückt.

Die Babcocks waren keine anregende Familie. Der Sohn, Dwight junior, trug Brille und sah aus wie ein in der Waschmaschine geschrumpfter Mr. Babcock. Mrs. Babcock trug auch Brille und unterhielt sich mit Tante Mame über Gartenpflege, Einkochen und Kinderpsychologie.

Einmal erwähnte Tante Mame den Namen Freud, aber besann sich dann eines Besseren. Der Rest der Unterhaltung mit Mrs. Babcock beschränkte sich auf ausdruckslose »Ja« und »Nein« und hin und wieder ein »Ach, tatsächlich?«.

Dwight junior zeigte mir seine Sammlung toter Schmetterlinge und erzählte mir alles Wissenswerte über seine Mandeln und dass es bestimmt ganz prima werde im St. Boniface-Internat.

Mr. Babcock sagte oft »Äh«, Limonade wurde gereicht, und schließlich bat das Hausmädchen zu Tisch.

Es war zum Ersticken in dem mit englischen Stilmöbeln eingerichteten Esszimmer der Babcocks, und das Essen, verbratenes Lamm, Kartoffelbrei, Kürbis, Rüben und Limabohnen – und das nach Itos leichter fernöstlicher Küche – lag mir wie ein Klumpen Zement im Magen. Im Verlauf einer der zahlreichen Gesprächspausen gingen mit Tante Mame die Pferde durch, und sie hielt einen langen und erstaunlich kundigen Vortrag über die Architektur der Tudorzeit, ein wahrlich faszinierender Diskurs, nur entlarvte er jedes Detail im Babcock’schen Esszimmer als Fälschung. Tante Mame jedoch war überaus charmant und führte sich auf wie jemand, dem man sein Kind anvertrauen würde.

Während man den vergammelten Salat zu sich nahm, sprach Mrs. Babcock über das Theater und dass sie Vera Charles förmlich vergöttere. Tante Mames warnenden Blick missachtend, sagte ich, Vera Charles sei Tante Mames beste Freundin und mache vermutlich gerade ein Nickerchen bei ihr zu Hause. Mrs. Babcock war hingerissen. »Sie muss ein wunderbarer, begnadeter Mensch sein«, sagte sie. »Ich möchte sie gerne einmal kennenlernen.«

Nach dem Abendessen sagten Mrs. Babcock und Dwight junior – was sicher sorgfältig einstudiert war –, dass sie jetzt aber unbedingt aufbrechen müssten ins Kino, ein Film mit Tom Mix würde gegeben. Tante Mame würgte, doch sie erhob sich elegant vom Stuhl und dankte ihrer Gastgeberin allzu herzlich für das herrliche Mahl. Der Sohn gab mir seine feuchte Hand und sagte, man sähe sich. Ich hoffte nicht.

Als wir allein waren, räusperte sich Mr. Babcock und sagte, jetzt sei es aber Zeit für »unsere kleine Unterredung«, dafür würden wir in sein Refugium gehen, damit das Hausmädchen nicht lauschen könne. Refugium – das hörte sich interessant an, aber es war bloß ein kleiner Raum voller Bücher über das Bankwesen, und darin war es noch stickiger als in den anderen Räumen im Haus.

Mr. Babcock holte Unmengen Papiere hervor und sagte, Tante Mame könne sich glücklich schätzen, so einen netten kleinen Jungen an der Seite zu haben, als Trost für den – äh – Verlust ihres Bruders. Tante Mame senkte andächtig den Blick. Dann sagte Mr. Babcock, er habe sich meine Zeugnisse angesehen, sie seien ja sehr gut, aber zu der Schulfrage kämen wir später. Tante Mame hielt sich im Zaum.

Danach holte er noch mehr Blätter hervor, voll beschrieben mit Zahlen. Er sagte, ich sei wohlhabend – wohlgemerkt, nicht reich, aber wohlhabend. »Braucht sich nie mehr Sorgen zu machen, woher das Essen auf den Tisch kommt, es sei denn, diese Bolschewiken übernehmen morgen die Regierung.« Er sagte, jeder Penny, den ich besäße, sei sorgfältig investiert, in gute, konservative sichere Aktien und Wertpapiere, und es sei keine gute Zeit, am Markt zu spekulieren. Er zeigte Tante Mame die Papiere, aber sie schien nicht sonderlich interessiert.

»Was nun unseren jungen Freund und seine weitere Schulbildung betrifft«, sagte er schließlich und raschelte dabei mit dem Papier. »Wie Sie wissen, war der verstorbene Vater des Jungen der Ansicht, dass es, äh, klüger sei, wenn ich – im Namen der Treuhandgesellschaft – die vollständige Entscheidungsbefugnis in dieser Angelegenheit bekäme.« Tante Mame richtete sich kerzengerade auf. »Aber, he, he, he, ich glaube nicht, dass es in dieser Hinsicht zu Reibungen kommen wird«, sagte er. »Sie scheinen mir eine ganz patente, vernünftige Person zu sein, Miss Dennis, und ich glaube, wir können uns auf Augenhöhe über dieses Thema verständigen.« Er holte ein dickes rotes Buch hervor, Handbuch der Privatschulen. Von diesem Moment an galt der Kampf offiziell als eröffnet.

Mr. Babcock machte den Anfang mit einigen Vorbemerkungen. Er sagte, er fände es das Beste, ich ginge auf eine gute Tagesschule in Manhattan, damit Tante Mame und ich so viel Zeit wie möglich zusammen verbringen könnten.

»Wunderbar«, sagte Tante Mame herzlich. »Ich hatte genau das Gleiche im Sinn.«

»Also«, sagte Mr. Babcock, »ich habe mir mal, äh, die Mühe gemacht, äh, Informationen über einige der besseren Knabenschulen in der Stadt einzuholen.«

Tante Mame fasste sich behutsam an den Hals und sagte: »Ich persönlich bevorzuge ja Gemeinschaftsschulen. Jungen und Mädchen im zarten Alter zusammenzutun, trägt erheblich zur Verminderung psychosexueller Spannungen bei, finden Sie nicht auch?«

Mr. Babcock war wie vom Donner gerührt, und Tante Mame, rasch wieder in ihre Rolle als unverheiratete Dame schlüpfend, ergänzte ihre Äußerung: »Sie verstehen, was ich damit sagen will. Ich meine, Männer und Frauen leben im richtigen Leben ja auch zusammen – heiraten sogar.«

»Ja, das verstehe ich«, murmelte Mr. Babcock, »das ist eine höchst interessante, äh, Theorie, Miss Dennis. Wahrscheinlich ist da einiges dran. Ich muss sagen, an die gemischten, äh, Institutionen hatte ich bislang nicht gedacht, aber die Buckley-Schule ist bekannt für ihre ausgezeichnete …«

»Bevor wir zur Buckley-Schule kommen, würde ich Ihnen gerne, wenn Sie gestatten, eine Schule vorschlagen, die ein Freund von mir, Ralph Devine, gegründet hat. Ralph ist ein Scha… ein außergewöhnlich gebildeter Mensch. Er kann seinen Freud vorwärts und rückwärts herbeten, kennt Freud sogar persönlich, und er hat ein Erziehungsideal, das Froebel und Montessori um Generationen voraus ist. Das Prinzip dieser Schule ist wirklich revolutionär. Ralph …«