Das 51. Paar Schuhe - Jürg Arquint - E-Book

Das 51. Paar Schuhe E-Book

Jürg Arquint

4,4

Beschreibung

Für alle völlig unerwartet ruft der Verwaltungsrats-Präsidenten der Magazine Terra die Familie zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Er verkündet, dass der Besitzer der größten Konkurrenz-Warenhaus-Gruppe seine Firma veräußern wolle, veräußern müsse, weil sie in ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten geraten sei. Soll die Familie auf dieses Angebot eingehen? Wäre ihr kurz vor der Pensionierung stehender Generaldirektor in der Lage, diese entscheidende Vergrößerung der Magazine Terra zu bewältigen? Das 51. Paar Schuhe erzählt die bewegte Geschichte eines großen Schweizer Warenhaus-Konzerns mit Filialen in der gesamten Schweiz, für welchen die letzten Jahre vor dem Jahrtausend-Wechsel sehr turbulent verlaufen.

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für Misa

„Wir sind es gewohnt, jederzeit in die Welt eines Warenhauses eintauchen zu dürfen und erachten es als Selbstverständlichkeit, dass wir hier alle nur erdenkliche Ware erwerben können. Das Warenhaus-Geschäft ist aber vielschichtiger, als es von aussen wahrgenommen wird. Noch komplexer wird die Sache, wenn man sich überlegt, wofür ein Warenhaus heute noch steht. In einem Warenhaus werden mehrheitlich Dinge angeboten, die in unserer Überfluss-Gesellschaft weder überlebensnotwendig noch wirklich sinnvoll sind. In einem Warenhaus versucht man demjenigen Kunden, der bereits fünfzig Paar Schuhe besitzt, schmackhaft zu machen, sich das 51. Paar zu erwerben“

Jürg Arquint, Scuol/San Gimignano, Juni 2015

Inhaltsverzeichnis

In diesem Buch verwendete Namen

Prolog – 1999, 10. Juni

1997, Juli-September

1997, Oktober

1997, November – Dezember

1998, August – Oktober

1998, November – Dezember

1998, Dezember

1999, März

1999, April – Juni

Epilog – 1999, Juni

Die wichtigsten, in diesem Buch verwendeten Namen

Magazine Terra

Grosser Warenhaus-Konzern mit Filialen in der gesamten Schweiz

Magazine Barlano

Warenhaus-Konzern mit Filialen in der gesamten Schweiz, erwirtschaftet weniger Umsatz als Terra

Comsuisse

Zweitgrösste Detailhandels-Kette der Schweiz

Philippe Burger

Familienmitglied der Besitzerfamilie der Magazine Terra

Theresa Burger-Binder

Mutter von Philippe Burger

Jachen Vital

Anwalt der Familie Burger-Binder

Dr. Rudolf Binder

Onkel von Philippe Burger, Bruder von Theresa Burger-Binder, VR-Präsident der Magazine Terra

Renate Ahregger

Sekretärin von Rudolf Binder

Alfred Binder

Onkel von Philippe Burger, jüngerer Bruder von Rudolf Binder

Michel Stohler

Cousin von Philippe Stohler

Dorothea Stohler-Binder

Mutter von Michel Stohler, ältere Schwester von Theresa Burger-Binder

Frank Stohler

Vater von Michel Stohler

Roswita Ley

Verkaufsleiterin der Magazine Terra

Carlo Knetemann

CEO der Magazine Barlano

Amadeo Barlano

Inhaber der Magazine Barlano

Jürg Frei

Generaldirektor der Magazine Terra

Lotti Liechti

Sekretärin von Jürg Frei

Dieter Engelmann

IT-Chef Magazine Terra

Holger Unger

Stellvertreter von Dieter Engelmann

Sabrina Wittler

Einkäuferin Hartwaren

Florence Moreau

Rayon-Chefin Hartwaren des Warenhauses Terra an der Zürcher Bahnhofstrasse

Irina Stoikovic

Stellvertreterin von Florence Moreau

Heinz Bächtold

Geschäftsführer des Warenhauses Terra an der Zürcher Bahnhofstrasse

Beat Sondermann

Chef der Logistik Magazine Terra

Margerite Bleiker

Personal-Chefin Magazine Terra

Samuel Mischler

Marketing-Chef Magazine Terra

Edith Müller

Chefin der Telefon-Zentrale und des Empfangs der Zentrale von Terra

Yasmin Ritter

Einkäuferin Wein

Remo Vögeli

CFO Magazine Terra

Peter Göldi

Externer Berater McKellogs

Steven Storm

Chef von Peter Göldi

Sergio Lüdi

Kollege von Peter Göldi

Ruedi Fischer

Inhaber der grössten Schweizer Verkaufskette für mobile Kommunikation

Xavier Querbert

Besitzer und CEO Comsuisse

Jaqueline Querbert

Enkelin von Xavier Querbert

Prolog

1999

10. Juni

 

Roswita Ley trat voll auf die Bremse, als der Mercedes mit deutschem Kennzeichen sich anschickte, auf ihre Spur zu wechseln. Einen Wimpernschlag lang hatte sie sich auf das soeben beendete Gespräch in der Filiale, anstatt auf den permanent stockenden Verkehr mitten in Zürich konzentriert. Hätte sie nur einen Bruchteil einer Sekunde später reagiert, sie hätte den Münchner gerammt. Obwohl der Feierabend-Verkehr noch nicht eingesetzt hatte, stand sie bereits wieder, wenige Meter vor dem Lichtsignal an der Löwenstrasse in Richtung Bahnhof. Der Blick auf die Ampel in etwa fünfzig Meter Entfernung bestätige ihr, dass diese bereits wieder auf Rot gewechselt hatte. Sie schätzte ihre Situation kurz ab. Die nächste Grün-Phase würde nicht ausreichen, das Lichtsignal zu überwinden. Mindestens eine Minute Wartezeit. Danach nur einige Sekunden lang das kurze Aufflackern von Grün, schikanös kurz, ausreichend für maximal drei oder vier Fahrzeuge, welche das Lichtsignal passieren könnten. Und danach wieder für eine endlos lange Zeit Rot. Rot wie die Zürcher Stadt-Regierung, die mit ihrer seltsamen Verkehrspolitik die Autos aus der Stadt verbannen wollte, dabei aber das Gegenteil erreichte. Roswita Ley wusste, dass sie mit dem Tram rascher wieder in die Zentrale zurück gelangt wäre, aber sie genoss diese Fahrt in ihrem komfortablen Citroën CX. Das war ihr Rückzugsort. In ihrem Auto gelang es ihr, einige Minuten für sich alleine zu sein, ihre Batterien wieder etwas aufzutanken. In letzter Zeit, an so Tagen wie an diesem, fragte sie sich, weshalb sie sich das alles antat. Als Verkaufs-Chefin im Range einer Vizedirektorin, bei Terra, dem wohl bedeutendsten Warenhaus-Konzern der Schweiz, hatte sie einen gesellschaftlichen Status erreicht, welcher kaum eine andere geschiedene Frau wie sie je erreichen konnte. Ihr Gehaltskonto erklomm Monat für Monat neue Gipfel. Roswita verdiente viel mehr, als sie für sich selbst benötigte und es ihr materiell an nichts mangelte. Aber diese Leere, die sie seit einiger Zeit immer wieder verspürte, dieses ausgelaugt sein, diesen übervollen Terminkalender, diese Fremdbestimmung durch Verpflichtungen gegenüber der Konzernleitung, gegenüber ihren Mitarbeitern, zur Besitzerfamilie. War es das wert? Lag es an ihrem fortgeschrittenen Alter, das sie das immer mehr in Frage stellte? In drei Jahren würde sie die magische Grenze überschreiten, die fünfzig, ein halbes Jahrhundert. Nein, das alleine konnte es nicht sein. Roswita hielt sich fit, mit Biken, mit Tennis, im Winter mit Skifahren und Besuchen im Fitness-Center in Schlieren. Sie achtete auf eine gesunde Ernährung, sogar über Mittag, wenn Sitzungen durchgezogen und immer dieselben Brötchen mit öligem Lachs oder glänzender Salami gereicht wurden. Sie war dann jeweils die einzige am Sitzungstisch, welche sich mit einer Frucht begnügte. Sie trank nur wenig Alkohol. Ja, das Rauchen, ihr einziges Laster, das konnte sie nicht lassen. Aber zehn, manchmal fünfzehn Zigaretten pro Tag, das liess Roswita sich nicht nehmen. Heute Morgen, als sie nackt aus der Dusche vor den Spiegel getreten war, musste sie sich eingestehen, dass sie mit ihrem Ebenbild immer noch sehr zufrieden sein durfte. Sie sah eine grossgewachsene Frau mit langen, schwarzen Haaren. Ausser Nicole, ihrer Coiffeuse, wusste niemand, dass sie schon seit vielen Jahren mit einer ganz speziellen Tinktur nachhalf, dieses glänzende Schwarz zu erhalten. Ihr Körper aber war immer noch makellos. Ihre mittelgrossen Brüste waren wohl geformt, ihr Po straff. Einzig an ihrem Hals hatte Roswita einige Fältchen entdeckt, welche sie seither manchmal geschickt mit einem purpurnen Seidenschal verdeckte. Nachdem sie sich heute Morgen sorgfältig geschminkt und angekleidet hatte, sah sie eine elegante Frau in anthrazitfarbenem Deux-Piece im Spiegel. Sie wusste, dass sie wieder Blicke auf sich ziehen würde, die sie immer noch genoss. Das war heute nicht anders, als damals, als sie vor fast acht Jahren hatte feststellen müssen, dass Roland sie regelmässig betrogen hatte, mit viel jüngeren Frauen. Damals schon hatte sie ihre gesamte Energie in Terra gesteckt. Wie oft hatte sie auch samstags gearbeitet, fast immer. Terra stand auch an diesem Wochentag bis um siebzehn Uhr seinen Kunden zur Verfügung. Als Regionalleiterin mit Verantwortung für sieben Filialen musste sie mit gutem Beispiel voran schreiten, auch am Samstag-Nachmittag noch ihre Präsenz an der Front markieren. Am Sonntag, einmal in der Woche, schlief Roswita aus, teilweise bis mittags. Bereits spätnachmittags am Tage des Herrn startete ihre Arbeitswoche wieder, mit der Planung für die kommenden sechs oder sieben Tage. Roland hatte sich nie beklagt, wenn Roswita jeden Abend erst spät und müde zu Hause eintraf und kaum noch Kraft verspürte, ihn zu begrüssen. Er hatte auch nie gejammert, wenn Roswita sonntags fast nie etwas mit ihm unternahm, immer zu Hause bleiben wollte. Dann aber, eines Sonntag-Mittags, sie hatte wieder einmal ausgiebig ausgeschlafen, war sie ins Bad getorkelt, immer noch etwas schlaftrunken. Da hatte sie den Zettel am Spiegel entdeckt. Nachdem sie die kurze Botschaft von Roland gelesen hatte, war sie nackt in sein Schlafzimmer gestürzt, in das von ihrem Zimmer getrennte. Sie hatte alles fein säuberlich aufgeräumt vorgefunden, das Bett frisch bezogen, die Schränke leer. Roland war ausgezogen, für immer. Roswita konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie lange sie damals, immer noch im Evakostüm auf der Bettkante gesessen und geweint hatte. Erst als sie bemerkt hatte, dass sie im Zimmer nichts mehr erkennen konnte, weil es draussen dunkel geworden war, hatte sie sich aufgerafft und sich angekleidet. Von da an hatte sie sich erst recht in ihre Arbeit gestürzt, hatte berufliche Erfolge feiern können, welche mit der Beförderung zur Verkaufs-Chefin gegipfelt hatten. Mit vierundvierzig Jahren hatte man ihr die Verantwortung über zweiundzwanzig Filialen übertragen, für fast viertausendfünfhundert Mitarbeiter in drei Sprachregionen, über einen Umsatz von fast eins Komma vier Milliarden Franken. Ein Privatleben existierte seither für Roswita praktisch nicht mehr. Sie war nur noch mit der Firma, mit Terra verheiratet. Das einzige, was sie noch wahrnahm, waren schmachtende Blicke einiger ihrer viel jüngeren Mitarbeiter. Obwohl diese Blicke in ihr so etwas wie das Blasen in eine Glut auslösen konnten, reagierte sie äusserlich konträr darauf. Sie setzte ihre gefürchtete, eisige Maske auf, welche eine Aura von Unnahbarkeit sicherstellte, ihre Ritterrüstung, in welche sie niemanden eindringen liess. Immer wieder betonte sie bei den halbjährlich stattfindenden Filialleiter-Treffen, wie wichtig es sei, sich mit allen Mitarbeitern identisch korrekt zu verhalten, niemanden zu bevorzugen. Wie schnell und wie einfach konnte ein neidischer Mitarbeiter, eine verliebte Mitarbeiterin einen Chef ins Verderben stürzen, erst recht, seit die neuen Gesetze zur sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz einige spektakuläre Fälle an die Öffentlichkeit gespült hatten. Aber heute, ja heute war es mit Roswita wieder einmal so weit. Seit über einem Jahr hatte sie sich geweigert Ferien zu beziehen. Seit Wochen hatte sie praktisch durchgearbeitet. Sie ertrug es einfach nicht mehr, dieses unreife Gejammer von erwachsenen Männern, wie gerade eben von Heinz Bächtold, dem Filialleiter der grössten und wichtigsten Filiale von Terra hier in Zürich, die sie soeben besucht hatte. Erstmals seit vielen Jahren hatte sie die Stimme erhoben, hatte sie ihn zu Recht gewiesen, hatte sie ihm erklärt, dass er mit den vorhandenen Mitteln haushalten müsse und nicht von Investitionen träumen solle, die nie bewilligt würden. Auch sie wusste, dass die Eigentümer viel zu viel Geld aus Terra herausnahmen und viel zu wenig Mittel für dringend notwendige Investitionen der Firma zur Verfügung stellten. Sie hatte Bächtold trotzdem barsch an den Kopf geworfen, dass dies nun mal so sei und sie es auch nicht ändern könne. Eine Antwort, die sie von ihrem eigenen Chef nie akzeptiert hätte. Ihre Gegensprechanlage meldete einen Anruf: Bächtold. Was wollte der noch? Einen Herzschlag lang überlegte Roswita, ob sie den Anruf ignorieren sollte. Pflichtbewusst nahm sie ihn dennoch entgegen, obwohl die Ampel vor ihr gerade auf Grün gesprungen war:

„Ja, Heinz, was gibt es noch“ begrüsste sie ihn unfreundlich, immer noch aufgewühlt durch das vorher unbefriedigend beendete Gespräch mit ihm.

„Hast Du‘s auch gehört?“ gab er zurück.

„Was gehört?“ gab Roswita immer noch genervt zurück, wieder bremsend, weil sie nach der Kurve am Bahnhofplatz bereits wieder auf eine stehende Kolonne aufgefahren war.

„Sie haben es eben im Radio gebracht“ rief Bächtold viel zu laut in sein Telefon.

Hatte Roswita da so etwas wie Panik in seiner Stimme gehört. Sie rückte etwas näher an ihr Lenkrad.

„Was haben sie im Radio gemeldet?“

„Wir wurden verkauft!“ schrie Bächtold „die Schweinehunde haben Terra verkauft und wir erfahren das am Radio“

Roswita hörte, dass Bächtold verzweifelt weiter in sein Telefon schrie, nahm aber nicht mehr wahr, was er sagte. In ihrem Kopf hallten nur noch die drei Worte nach „…wir wurden verkauft!“. Ihr wurde schwarz vor den Augen.

1997

Juli-September

 

„Oh, bin ich zu früh, zu spät oder sind wir alle für die selbe Sitzung aufgeboten worden?“ fragte Sabrina Wittler in die Runde, als sie ins Vorzimmer von Jürg Frei, dem Generaldirektor der Terra Warenhäuser, getreten war.

Erstaunt musste sie feststellen, dass bereits drei andere Personen auf der Wartebank sassen, aufgereiht wie auf einer Perlenschnur. Dieter Engelmann, der Informatik-Chef, sass rechts neben der Türe zu Freis Büro. Wie immer hatte er einen Stapel Papiere dabei, welcher einem Arbeitspensum von mindestens einem Jahr entsprach. Scheu und etwas verlegen gab dieser kichernd zurück:

„Du kennst ihn ja“ und nickte mit seinem Kopf zur Türe des Büros des Chefs.

„Ich musste von Spreitenbach her anreisen, damit ich wieder einmal mehr als eine halbe Stunde lang herumhängen darf“ maulte Beat Sondermann, der Logistik-Chef, welcher Engelmann zur Linken sass „bist Du auch dabei?“

Sabrina Wittler schaute kurz auf ihre poppige Swatch, die exakt elf Uhr zeigte.

„Auf welche Zeit wurdest Du den aufgeboten?“ fragte sie zurück.

„Auf halb elf, aber dann wollte der Master of the Universe auch Dich dabei haben und liess Dich auf elf antraben“ gab Sondermann respektlos zurück, seinen Ärger nicht verheimlichend.

Engelmann hingegen duckte sich merklich und warf einen verstohlenen Blick zu Lotti Liechti, der Sekretärin von Frei, hinüber. Bevor Sabrina antworten konnte, mischte auch diese sich in das Gespräch ein und meinte mit mürrischem Blick hinter ihren Bildschirm hervorguckend:

„Zuerst ist noch Johannes dran, wegen der Budgets für die Romandie“

„Waaas, das glaub‘ ich nicht“ begehrte Sondermann vollends auf und an Johannes gewandt meinte er „Du bist nicht bei derselben Sitzung dabei?“

„Keine Ahnung“ gab Johannes Probst, der Controller für die Filialen der welschen Schweiz zurück „Lotti hat mich vor einer Dreiviertelstunde angerufen, ich solle umgehend mit den neuesten Zahlen beim Chef vorsprechen.

Johannes Probst rückte seinen Stuhl etwas nach vorne und schob seine Hornbrille tiefer auf seine Nase. Danach rückte er mit einer fahrigen Bewegung seine schlecht sitzende Krawatte zurecht und fuhr sich mit derselben Hand durch sein ungepflegt wirkendes, etwas zu langes Haar, um zu ergänzen:

„Und seither warte ich hier neben Dieter“

„Du sitzt auch schon so lange hier?“ wollte Sondermann von Engelmann wissen „ich dachte, Du seist erst gerade vor mir eingetroffen. Was glaubt der eigentlich, wir seien seine Sklaven?“

Engelmann schaute betreten zu Sabrina hinüber, so als würde er sich für Sondermanns Äusserung schämen.

„Ich weiss nicht, wieso Du Dich jedes Mal so aufregst“ gab Sabrina stattdessen zurück und setzte sich neben den hageren Controller.

Sie wusste, dass dieser sie heimlich verehrte, sich aber nie trauen würde, sie anzusprechen. Sabrina war sich bewusst, dass ihre Anwesenheit nicht nur Johannes betörte. Sie war es sich gewohnt, dass ihre Gegenwart viele Männer verwirren konnte. Mit ihrer unbekümmerten Art, immer ihr bezauberndes Lächeln auf den Lippen, ohne Berührungsängste, konnte sie in einer Männerrunde rasch einmal für Schweissausbrüche sorgen. Als Blondine war sie es gewohnt, dass man sie bei der ersten Begegnung unterschätzte. Sabrina hatte deshalb vor Jahren einmal aus einer Laune heraus beschlossen, daraus ein Spiel zu entwickeln, welches sie in der Zwischenzeit meisterlich beherrschte. Den Marilyn-Monroe-Schalk, den sie damals aufs Parkett gelegt hatte, schlug so ein, dass sie diesen Spaß mit der Zeit immer weiter perfektionierte. Sie liess Männerherzen höher schlagen, gab ihnen aber auch zu verstehen, dass sie die Spielregeln bestimmte. Berühren verboten! Ihr Auftreten war so bestimmt, gleichzeitig aber auch so erotisch und doch so klar abweisend, dass Männer sich gar nicht trauten, sich ihr zu nähern, obwohl Sabrina sie teilweise mit einer Erektion im Regen stehen liess. Auf ihre Karriere wirkte sich ihr Verhalten ebenfalls positiv aus. Gerade als Einkäuferin für Hartwaren waren Verhandlungen ihr tägliches Brot. Das lief bei Sabrina immer nach demselben Muster ab. Erst bezirzte sie ihr Gegenüber und markierte das doofe Blondchen. Darauf, wenn sie ihren Lieferanten an der Angel hatte, schlug sie erbarmungslos zu und holte bei den Verhandlungen bestmögliche Konditionen für Terra heraus. Johannes erging es jetzt nicht anders, erst recht nicht, als Sabrina ihn auch noch sanft an seiner Schulter berührte, um sich auf den Stuhl zu setzen. Obwohl Johannes überhaupt nicht ihr Typ war, begann sie mit ihm zu flirten. Sie schenkte ihm ihr erotischstes Lächeln, verschob ihren Stuhl einige Millimeter in seine Richtung, streifte mit ihrem Knie das seine. Dabei blickte sie ihm mit ihren grossen, dunklen Augen direkt ins Gesicht. Bereits bildeten sich erste Schweisstropfen auf Johannes‘ Stirn. Johannes, ungefähr in Sabrinas Alter, also knapp über dreissig, erstarrte auf seinem Sessel. Neben den beiden grummelte Sondermann weiterhin etwas von „so eine Frechheit“. Sabrina beachtete ihn nicht, sondern schaute gebannt auf Johannes Stirn, meinte aber zu Sondermann:

„Ach hör‘ doch auf zu jammern! Du kannst doch ins Ta-ges-Büro hinüber gehen und dort arbeiten. Soviel ich weiss, steht es leer. Lotti wird Dich rechtzeitig rufen, wenn er für Dich bereit ist“ und zu Johannes gewandt ergänzte sie noch „immer überheizt, diese Büros, nicht?“

Dabei fasste sie sich auf Brusthöhe an ihre Bluse und zog mehrmals flatternd am dortigen Knopf, so als wolle sie sich Luft zu wedeln. Dabei liess sie Johannes einen kurzen Blick auf ihren Büstenhalter erhaschen, um ihn danach wieder anzulächeln. Erst jetzt sah sie, dass auch Engelmann sie begehrend angeblickt hatte. Das war für sie das Signal, ihr Spiel auf die Spitze zu treiben. Sie griff in ihre Handtasche und zog ein Papiertaschentuch hervor. Ohne die anderen im Raum zu beachten, legte sie ihre Linke in Johannes‘ Nacken und begann mit dem Taschentuch seine Stirn abzutupfen. Dabei fuhr sie sich mit der Zunge über ihre Lippen und stiess einen leisen Seufzer aus. Verschämt schaute Engelmann weg, auf seinen vor ihm liegenden Papierstapel. Lotti Liechti, welche hinter ihrem Bildschirm die Situation nicht überschauen konnte, erlöste Johannes, indem sie den Telefonhörer auflegte und meinte:

„Du kannst jetzt reingehen, Johannes, er ist bereit“

Im selben Augenblick öffnete sich die Türe und Margerite Bleiker, die Personal-Chefin von Terra, erschien, eine Duftwelle von abgestandener Luft in das Vorzimmer wehend.

„Hallo miteinander“ meinte sie unverbindlich und zu Lotti Liechti gewandt „der Chef will mich nächste Woche um dieselbe Zeit wieder sprechen, trägst Du mich bitte ein?“

Sondermann konnte es nicht lassen, Lotti Liechti spitz murmelnd zu entgegnen:

„Vielleicht bestätigst Du ihr besser einen Termin mindestens eine Stunde früher. Sie würde bestimmt gerade rechtzeitig für ihn eintreffen, oder“

Als er in der Runde keine bestätigenden Blicke erntete, ergänzte er, aber erst nachdem Johannes Probst sich fast panisch ins Büro des Chefs geflüchtet und die Türe knallend ins Schloss fallen gelassen hatte:

„Ist doch war, wir vergeuden hier wertvolle Ressourcen, sitzen hier wie die Deppen im Wartezimmer. Ich würde ja nichts sagen, wenn wir ansonsten nichts zu tun hätten“

Sabrina, welche ihr Spiel durch den abrupten Abgang von Johannes unterbrechen musste, begann sich wieder auf das Gemaule von Sondermann zu konzentrieren. Sie wusste, dass ihre erotische Wirkung bei ihm nicht funktionierte. Die Abneigung beruhte auf Gegenseitigkeit. Hier musste sie nicht die dumme Blondine markieren. Bei Sondermann halfen nur abschätzige Bemerkungen, vorgetragen im selben Tonfall, wie er das immer tat.

„Hast Du Dir schon mal überlegt, ob Du nicht besser kündigen solltest?“ gab sie ihm dreist zurück.

Als dieser sie nur baff anglotzte, anstatt zu antworten, ergänzte sie:

„Ist doch eine Überlegung wert, oder. Ich meine, so wie Du immer über ihn, über Terra, über die unfähigen Einkäufer, über das idiotische System klagst, frage ich mich, weshalb Du überhaupt noch bei uns arbeiten willst“

Sabrina hatte mit ihrer Kurzanalyse ins Schwarze getroffen. Sondermann, Herr über ein riesiges Zentrallager, eine halbe Stunde entfernt von der Schaltzentrale rund um Jürg Frei, beklagte sich permanent. Sein Logistik-Zentrum war zu fast hundert Prozent von einem funktionierenden System abhängig, einem Computer-System, welches von Einkäufern mit Daten gefüttert werden musste. Wenn Einkäufer die Artikel nicht sauber erfassten, löste das in seinem Zentrallager Umtriebe aus. Sondermann hasste Umtriebe. Er hasste es auch, seinen Mitarbeitern, die aus dreiunddreissig Ländern stammten, völlig logische Abläufe wieder und wieder erklären zu müssen, nur weil Einkäufer, wie diese arrogante Wittler, ihren Job nicht so erledigten, wie das für das System nötig war. Sondermann verachtete aber auch die Programmierer, welche permanent an seinem System herumschraubten und Abläufe veränderten, von welchen sie keine Ahnung hatten. Dieter Engelmann nahm seine Leute in Schutz, obwohl dieser ganz genau wusste, dass seine neurotischen Halbwilden dauernd Scheisse bauten. Wie oft war es in den vergangenen Wochen vorgekommen, dass Sondermann am Morgen um sieben Uhr in seinem Büro den verhassten Anruf von Dieter Engelmann erhalten hatte, mit den gesäuselten Worten: „Ähm, Beat, ähm…, kannst Du vielleicht einmal schauen, ob Dies oder Das funktioniert?“ Wie meistens hatte es eben nicht funktioniert, hatte Sondermann den Schrott ausbaden müssen, den Dieters Idioten ihm eingebrockt hatten. Ja, die dreiste Frage von Sabrina war gar nicht so unberechtigt. Aber wollte er sich das von ihr bieten lassen? Keinesfalls, nicht von dieser…, dieser mit ihren Titten wedelnden Schlampe. Gerade als er zu einer ebenso spitzen Erwiderung ansetzen wollte, hörte er hinter dem Bildschirm Lotti Liechti mit völlig unaufgeregter Stimme sagen:

„Sabrina, ich denke, das reicht jetzt!“

Ja, man mochte über Lotti Liechti hinter vorgehaltener Hand abschätzig sagen, sie sei nur die Sekretärin des Chefs. Damals nannte man diese Damen, welche im Vorzimmer des Chefs sassen, noch nicht Assistentinnen oder Managerin für Irgendwas. Das war sie aber, aber ohne das Wort <nur>. Gewisse Stimmen behaupteten gar, dass Liechti die heimliche Chefin von Terra sei. Frei würde sich jeden Morgen mit ihr beraten, lange bevor die ersten Einkäufer zur Arbeit eingetroffen waren, welche auf demselben Stockwerk residierten. Wenn Lotti etwas nicht befürwortete, hätten auch Konzernleitungs-Mitglieder keine Chance, sich bei Frei zu diesem Punkt durch zu setzen. Die biedere, immer in grau gekleidete Lotti Liechti und Jürg Frei waren bereits seit über fünfundzwanzig Jahren ein eingespieltes Team. Sie hatte schon für Frei gearbeitet, als er noch Einkäufer, später Chef-Einkäufer gewesen war. Bei jeder Beförderung hatte er seine Lotti Liechti in seine neue Funktion mitgeschleppt. Er vertraute ihr blind. Sie wiederum ignorierte alle seine Macken und zog ihr Ding durch. Sie war die einzige im Betrieb, welche ihrem Herr Frei - auch nach einem Viertel-Jahrhundert duzte man sich nicht - schonungslos ihre Meinung kundtun konnte. Dabei konnte Lotti auch den einen oder anderen Kraftausdruck wie „…das ist doch Scheisse…“ oder „… so ein Quatsch…“ verwenden. Aber alle anderen im Betrieb kuschten vor Frei. Typen wie Sondermann, welche in Anwesenheit anderer hinter Freis Rücken über ihn lästerten, verhielten sich wie Hunde, die bellen. Sobald Sondermann vor Jürg Frei stand, verhielt auch er sich wie ein Lämmchen, und biss nicht. Es war daher nicht aussergewöhnlich, dass sich immer wieder einzelne Personen, oder wie eben ganze Gruppen im Vorzimmer bei Lotti Liechti auf dem Wartebänklein einfanden und darauf warteten, dass ihr Chef ihnen eine Audienz gewährte. Lotti Liechti hatte es sich schon vor langer Zeit abgewöhnt, den Wartenden anzubieten, wieder in ihre Büros zurückzukehren, um sie wieder zu rufen, wenn der Chef frei geworden war. Das hätte einerseits die allgemeine Wartezeit für Termine beim Chef zusätzlich verlängert, weil zwischen den Sitzungen noch Er-ist-jetzt-frei-kommst-Du-jetzt-Pausen entstanden wären. Andererseits hatte sie feststellen dürfen, dass die Wartenden sich schlicht nicht trauten, ihren Chef warten lassen zu müssen. So wie jetzt konnten die Wartenden auf die Türklinke starren und umgehend aufspringen, wenn diese heruntergedrückt wurde. Ja, man konnte sogar noch einige Sekunden früher aufstehen und sich bereit halten, wenn wie gerade eben bei Johannes Probst, Lotti dem Wartenden das Signal ihres Chefs verkündete, welches dieser bei ihr blinken liess, sobald er ein Meeting beendet hatte. Egal wie lange der Chef einen warten liess, man trat schliesslich erleichtert in sein Büro ein, welches selten gelüftet wurde, obwohl Frei Kettenraucher war, um auch nach einer Stunde Wartezeit endlich sein Anliegen vorbringen zu können. Man beschwerte sich ja beim Doktor ebenfalls nicht, wenn dieser einen im Wartezimmer schmoren liess. Sabrina Wittler, durch Lotti Liechtis Bemerkung zurückgestutzt, hatte sofort verstanden, dass sie wieder einmal zu weit gegangen war. Eine solche Zurechtweisung liess sie sich nur von Lotti gefallen, weil sie intuitiv erfasste, dass Lotti erst dann eingriff, wenn die Situation zu eskalieren drohte. Aber so Schlappschwänze wie Sondermann regten bei ihr ganz einfach eine Art Angriffslust. Überhaupt, gab es in diesem Betrieb den einen richtigen Mann, einen, der diesem demütigenden Getue des Chefs ein Ende setzen würde? Diejenigen, die Sabrina kannte, und Sabrina kannte nahezu jede Person des anderen Geschlechtes im Betrieb, hatten einfach nicht das nötige Format. Der Chef war der Chef. Keiner machte ihm den Job streitig. Widerspruch hatte Sabrina noch nie in Sitzungen mit dem Chef gehört. Sie fragte sich, wie Frei wohl reagiert hätte, wenn einmal jemand mitten im Meeting gesagt hätte: „ähm, Herr Frei, dass sehe ich nicht so…“. Sabrina überlegte kurz. Nein, an eine solche Aussage konnte sie sich nicht erinnern, obwohl sie bereits sieben Jahre für Terra arbeitete und dabei immer wieder an Sitzungen mit Jürg Frei teilgenommen hatte. Es schien ganz einfach klar, das was der Chef sagte, die einzig richtige Aussage sein konnte. Dieter Engelmann war in solchen Situationen derjenige, welcher solchen Äusserungen noch mehr Gewicht geben wollte, indem er die Meinung des Chefs vehement wiederholte und gegenüber den anderen im Raum vertrat. Heuchlerisch, kriecherisch, Ekel erregend. Nein, hier im Betrieb würde Sabrina wohl nie einen ebenbürtigen Mann kennen lernen. Sie schaute hinüber zur Türe, danach wieder auf ihre Swatch. Elf Uhr zwanzig. Einfach unmöglich. Es geschah nicht oft, dass Sabrina Wittler beim Chef vorsprechen musste. Jetzt aber war Budget-Zeit. Die Planung für das kommende Jahr stand an. Jürg Frei wollte dazu mit jedem einzelnen Einkäufer sprechen, mit ihm die geplanten Aktivitäten seines Rayons diskutieren, die von ihm erarbeiteten Budgets durchgehen. Dafür konnte man ja als Einkäuferin einmal pro Saison eine halbe Stunde im Vorzimmer warten, was soll’s. Wie aber gingen andere im Betrieb damit um, Leute wie dieser Engelmann beispielsweise, oder auch Margerita, die soeben das Büro verlassen hatte? Leute, die mehrmals wöchentlich mit Jürg Frei zusammen trafen? Wenn Sabrina die Aussage von Sondermann kurz analysierte, stellte sie fest, dass Engelmann bereits über eine Stunde hier sitzen musste, immer noch mit diesem dümmliche Lächeln auf seinen Lippen. Sie sah vor ihrem geistigen Auge bereits jetzt, wie Engelmann beim Öffnen der Türe als erster aufspringen, sich mit seinen zehn Kilo Papier im Arm auf den Chef stürzen und ihn herzlichst begrüssen würde. Dabei würde er etwas vor Frei einknicken, ihn mit viel zu hoher Stimme ansprechen, einige Worte übers Wetter äussern, um sich danach hinter seinen Stuhl am Sitzungstisch zu stellen und zu warten, bis Frei sich als erster hinsetzte. Dieter Engelmann würde aber niemals eine Bemerkung anbringen, dass er schon seit mehr als einer Stunde im Vorraum gesessen sei, so ein Weichei. Sabrina begann sich zu langweilen. Sondermann neben ihr war ebenfalls verstummt. Hinter ihr hörte sie Lotti Liechti auf der Computer-Tastatur herumhämmern. Wieso schlug diese so hart auf diese armen Tasten ein? Lottis Telefon begann zu läuten. Sie nahm den Anruf entgegen:

„Ja, ich sage es ihm“ und nach einer kleinen Pause meinte sie noch „sicher, sofort“

Lotti Liechti war ungewöhnlich rasch aufgesprungen. Sie liess sich ansonsten nicht so rasch aus der Ruhe bringen. Jetzt aber ging sie raschen Schrittes an ihnen vorbei und trat ohne zu klopfen in Freis Büro. Wenige Sekunden später, wieder eine Welle abgestandener Luft herüber wehend, kam sie heraus und kehrte, ohne die Wartenden anzusehen, an ihr Pult zurück. Sabrina war nicht entgangen, dass Lottis Blick etwas gehetzt wirkte, auch wenn Lotti sich wieder cool an ihren Schreibtisch gesetzt hatte. Was war da los? Sabrina schaute zu Engelmann hinüber, welcher die Veränderung bei Lotti Liechti nicht wahrgenommen hatte. Auch Sondermann schaute ähnlich mürrisch im Raum herum wie vorher. Gerade, als Sabrina wieder ihren Gedanken aufnehmen wollte, öffnete sich die Türe und ein etwas verdatterter Johannes Probst trat in den Raum, nochmals zurückblickend, als Frei ihm noch etwas zurief. Einen Augenblick lang streckte Johannes seinen Kopf wieder zurück ins verrauchte Büro des Chefs, danach hörte Sabrina ihn antworten:

„Ja, Herr Frei, ich sag‘ es Frau Liechti“

Immer noch verstört trat er auf Lotti Liechtis Pult zu und stotterte:

„Ähhm, Lotti, der Chef musste unterbrechen, wegen des Telefonanrufes des Präsidenten. Du sollst mir einen neuen Termin für Morgen geben“

Dem Gesichtsausdruck von Lotti Liechti entnahm Sabrina, dass etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein musste. Sich gegenüber Johannes beherrschend, hakte Lotti aber nach:

„Warum erst Morgen, Morgen ist sein Tag bereits ziemlich ausgebucht?“

Johannes schaute verschämt auf seine Papiere, welche er in der Hand hielt und meinte nur:

„So, wie ich Herr Frei verstanden habe, wird er heute keine Zeit mehr haben“

Aus dem Augenwinkel heraus vernahm Sabrina, dass auch Sondermann und Engelmann wieder aktiv wurden. Sondermann tuschelte etwas zu Engelmann, dieser nuschelte etwas zurück. Sabrina beobachtete, wie Lotti sichtlich nervös im Terminkalender ihres Chefs herumblätterte und Johannes mit einer Bemerkung entliess, die Sabrina nicht hören konnte. Im selben Augenblick, als Johannes das Vorzimmer verlassen hatte, öffnete sich die Türe zu Freis Büro. Die Welle der ihnen zuwallenden Luft nahmen sie dieses Mal nicht wahr. Sie sahen nur in die greisen Augen ihres Chefs, seinen ungesunden Gesichtsausdruck, seine niedergeschlagene Körperhaltung. So hatte Sabrina ihren Chef noch nie gesehen. Ja, er schien gealtert, seit einigen Monaten schon und jetzt gerade erst recht. Sie hatte auch noch nie gesehen, dass Lotti Liechti Emotionen zeigen konnte. Lotti war aufgesprungen und hatte ihre Augen geweitet:

„Was…?“ hatte sie noch besorgt ausrufen können, bevor Frei meinte:

„Können Sie rasch zu mir ins Büro kommen, Frau Liechti…“

Darauf drehte er sich mit einer resignierten Bewegung in sein Büro zurück, verharrte aber einen Augenblick auf der Schwelle und wandte sich schliesslich doch noch an die Wartenden:

„Es tut mir leid, aber ich muss…“

Wieder kehrte er sich in Richtung seines Büros um, verharrte nochmals, drehte sich noch einmal zu den Wartenden um:

„Frau Liechti wird Sie nachher kontaktieren, um mit Ihnen einen neuen Termin zu vereinbaren“

Ohne ein weiteres Wort trat er wieder in sein verrauchtes Büro, gefolgt von einer sichtlich aufgewühlten Lotti Liechti, welche die Türe hinter sich sehr leise schloss.

Moreau

Florence Moreau war heute wieder viel früher in der Terra an der Bahnhofstrasse in Zürich eingetroffen, als alle anderen Mitarbeiter. Vor wenigen Monaten war sie zur Rayon-Chefin befördert worden. Acht Personen musste sie von diesem Zeitpunkt an betreuen, viel zu wenige für die viele Arbeit, die zu erledigen war. Sie hatte es heute Morgen kaum geschafft, aus dem Bett zu steigen. Sie hätte noch locker zwei bis drei Stunden Schlaf anhängen können. Viel Zeit für die Toilette benötigte Florence normalerweise nicht. Mit ihrem Kurzhaar-Schnitt konnte sie einmal mit ihren fünf Fingern durch ihre Mähne streichen und war bereits frisiert. Sie hasste Schminke, was bei ihr aber nicht sonderlich auffiel, da sie sowieso den eher faden Typ darstellte. Helle Augen, fast weisse Haut, kaum Augenbrauen, hellbraunes Haar. Der Kleidung schenkte Florence hingegen grosse Beachtung. Ihr Chef bestand darauf, dass alle Mitarbeiterinnen in einem ähnlichen Look im Laden erschienen. Dafür durfte man als Angestellte von Terra zwei Mal pro Jahr mit einem sensationellen Rabatt so viele Kleider kaufen, wie man wollte. Im Geschäft trug man weisse Bluse und schwarzen Jupes, kein Jeans-Stoff. Niemals, wirklich niemals durfte man das kleine Täfelchen vergessen, welches über der rechten Brust auf der Bluse angebracht werden musste, in Form eines <T> für Terra. Dieses Täfelchen zeigte auch den Namen der Person, welche es trug, Vor- und Nachnamen. Florence fand, dass gerade dieses Täfelchen bei ihrem übergrossen Busen nicht so vorteilhaft wirkte, aber wo sonst hätte sie es anbringen sollen? Auch bei den Schuhen legte die Führung von Terra grossen Wert auf Qualität und Sauberkeit. Nur schwarze, flache Schuhe waren erlaubt, welche immer geputzt sein mussten. Auch diese durfte Florence zwei Mal pro Jahr mit dem Sonderrabatt erwerben, was sie mit viel Enthusiasmus tat und sich auch noch weitere Exemplare in anderen Farben erstand. Erst kürzlich hatte sie eine Ermahnung von Heinz Bächtold an die Adresse von Alina Schwarzer, eine Mitarbeiterin der Kinderabteilung mitbekommen. Die Arme, welche sich immer über ihre Probleme mit ihrem Halux beklagte, war kürzlich mit schwarzen Turnschuhen zur Arbeit erschienen. Bächtold hatte sie vor versammelter Belegschaft getadelt und sie nach Hause geschickt, damit sie ihre Schuhe wechseln könne. Die dadurch verlorene Arbeitszeit musste Alina nachholen. Obwohl Florence am Morgen wenig Zeit für ihr Äusseres verschwendete, war sie schon früh morgens gehetzt. Sie schlang ihr lieblos angerichtetes Müsli herunter, raste immer etwas zu spät die drei Stockwerke zur Tram-Haltestelle hinunter, setzte sich im Tram nie für die vier Stationen bis zur Arbeit und verliess die Strassenbahn immer im Eilschritt. Die letzten Stufen zum Personaleingang nahm sie immer im Duo und trat meist laut pustend in die Garderobe ein. Die Haupteingänge des Warenhauses waren zu dieser Zeit noch verschlossen, aber auch während der Öffnungszeiten war es dem Personal nicht erlaubt, das Haus durch diese Eingänge zu betreten oder zu verlassen. Heute war Florence Moreau besonders früh erschienen. Die Indien-Aktion würde am Freitag anlaufen. Nur gerade drei Wochen lang würde Terra diese Produkte im ganzen Haus anbieten, welche im Subkontinent südlich des Himalayas von allen Einkäufern vor längerer Zeit schon erworben worden waren. Das Rayon von Florence Moreau war von dieser Aktion besonders betroffen. Im Hartwaren-Bereich des Warenhauses wurden während dieser Zeit nicht nur kleinere Gegenstände feilgeboten, sondern auch Möbel und grössere Gegenstände aus dem Aktions-Gebiet. Gestern waren vom Zentrallager drei Mal so viele Container für ihr Rayon eingetroffen als sonst, welche ihren gesamten Lagerplatz versperrten. Da Stauraum in einem Warenhaus von den Verantwortlichen mehr als notwendiges Übel, den als logistischer Faktor betrachtet wurde, war dieser für Florences Rayon viel zu klein konzipiert. Entsprechend mühsam gestaltete sich die Auspackerei dieser Sonderware für Florence und ihr Team. Aber es ging nicht anders. Normale Ware musste von der Verkaufsfläche verschwinden und der neuen weichen. Aber wohin damit? Rückführungen nach Spreitenbach wurden nur unter strengsten Bedingungen erlaubt. Der dafür vorgesehene Prozess mit dem administrativen Aufwand war bewusst schikanös aufwändig organisiert, damit man sich im Laden auch wirklich erst dann darum bemühen würde, wenn es nicht mehr anders ging. Florence Moreau hatte gestern gemeinsam mit ihrem Chef die ankommende Ware studiert. Auch er schien aufgebracht, was bei ihm selten vorkam. „Viel zu viel!“ hatte er geschrien. „wohin sollen wir mit all dem Zeug? Diese Wittler füllt uns wieder den Laden mit ihrem Plunder. Schau‘ mal dieser Paravent, aus purem Eisen, mindestens zweihundert Kilo schwer. Und diese Holz-Elefanten und das Bast-Zeug, diese riesigen Vasen. Wer will den diesen Mist? Nach drei Wochen werden wir das ganze Zeug wieder zusammenpacken und zurück ins Zentrallager schicken“. Florence hatte erst einmal eine solche Gross-Aktion mitgestaltet, damals noch als Verkäuferin. Der Aufwand für die Verkaufs-Mitarbeiter damals war enorm. Das grösste Problem dieser hausumfassenden Aktionen bestand darin, dass alles auf einen Stichtag hin bereitgestellt werden musste. Die Ware durfte erst präsentiert werden, wenn die gesamtschweizerische Werbung angelaufen war. Wie hätte das ausgesehen, wenn Kunden durch die Werbung in den Laden geströmt, die Waren aber bereits ausverkauft gewesen wären? Am Schluss, beim Abräumen einer solchen Aktion, konnte man sich dafür etwas mehr Zeit gönnen, aber auch nur drei oder vier Tage. Meist aber wurde die eine Aktion bereits durch die nächste abgelöst, sodass eine solche Drei-Tages-Aufräumerei eher selten vorkam. Bei Terra wurde der Kundschaft immer wieder etwas Neues geboten, ohne Rücksicht auf das überlastete Personal. Florence hatte sich an diesem Morgen vor dem schweren Paravent aufgestellt, welches gestern den Unmut ihres Chefs ausgelöst hatte. Der musste weg hier. Man konnte den hinteren Teil des Lagers nur betreten, wenn man sich neben diesem Unding durchquetschte. Florence hatte es gerade eben versucht, aber wegen ihrer übermässigen Körbchen-Grösse nicht geschafft. Verärgert zerrte sie an diesem Ungetüm, brach aber die Übung bereits nach zwei Sekunden wieder ab. Ihr Chef hatte es gestern ja erwähnt: „…viel zu schwer!“. Was hatte sich die Einkäuferin überlegt, als sie dieses Monstrum für diese Aktion ins Sortiment aufgenommen hatte? Diese Wittler, der Star der Einkäufer! Diese durfte das Geld mit beiden Händen zum Fenster rausschmeissen, für diesen psychedelischen Plunder. Florence aber musste jede zusätzliche Arbeitsstunde ihres Teams gegenüber der Geschäftsleitung rapportieren und begründen. Das war einfach nicht fair. Als Florence Moreau anlässlich ihrer Beförderung zur Rayon-Chefin an einem Besuch des Zentrallagers in Spreitenbach teilnehmen durfte, war ihr die Abteilung von dieser Sabrina Wittler speziell aufgefallen, nicht nur, weil Florence deren Ware in ihrem Rayon verkaufen musste. Florence war sauer aufgestossen, welche Mengen aus früheren Aktionen dort lagerten, von der Toscana-Aktion, von der Irland-Aktion, von der Thousand-Island-Aktion, von der letztjährigen Indien-Aktion, von der Bergfieber-Aktion oder wie all diese Aktivitäten genannt wurden. Tausende Artikel standen dort sauber aufgereiht in den Gestellen, bis in sechs Metern Höhe. Florence hatte noch keinen einzigen dieser Artikel auf ihren Bestellblättern gesehen. Ihr Rayon war ja mit regulären Artikeln ausreichend ausgestattet. Egal wo und wann man aber über die Ware von Sabrina Wittler diskutierte, immer wurde deren Feingespür für Farbkombinationen gelobt, ihr Flair für Ästhetik, ihr Blick für das ganzheitlich Bild im Rayon hervorgehoben. Aber wo war sie denn jetzt? Seit Florence Chefin über ihr kleines Reich geworden war, hatte sich diese arrogante Wittler noch nie bei ihr blicken lassen, in der wichtigsten Filiale von Terra, an der weltberühmten Bahnhofstrasse, mitten in Zürich. Nein, sie weilte vermutlich wieder einmal auf einer Einkaufsreise, irgendwo im Süd-Pazifik oder in Ost-Anatolien, um für eine weitere, sündhaft teure Aktion einzukaufen, drei oder vier Wochen lang, nur in den besten Häusern übernachtend und in den vornehmsten Restaurants speisend. Florence spürte, dass sie sich wieder einmal aufregte.

„Stopp!“ sagte Florence laut, so wie sie es im kürzlich besuchten Seminar zur persönlichen Zeitplanung gelernt hatte.

„Sagen Sie <Stopp>, laut und deutlich, wenn sie wieder einmal merken, dass sie über ihr Schicksal hadern“ hatte der gutaussehende Kursleiter gesagt und dabei speziell sie angesehen „es bringt nichts, immer nur zu jammern. Sie haben immer drei Handlungs-Alternativen, immer!“ hatte er weiter erklärt und Florence immer noch angesehen, zu lange, hatte Florence damals gedacht. Er hatte darauf seine Linke erhoben und mit seiner rechten begonnen die Finger abzuzählen: „Sie können sich der Situation stellen und alles daran setzen, diese zu ändern, mit Ihrer ganzen Kraft, mit Ihrer ganzen Energie“ Darauf hatte er den zweiten Finger berührt und war weiter gefahren „Sie können die Situation auch akzeptieren, aber nur, wenn Sie es von ganzem Herzen tun. Sie müssen hundert prozentig überzeugt sein, das Richtige zu tun. Sie müssen sagen können: es ist nun mal so und ich freue mich, dass ich diese Situation so und genau so angehen darf“ Der Kursleiter hatte darauf den dritten Finger abgezählt, aber einer anderen Person in die Augen geblickt. Florence hatte gespürt, dass ihr Herz mindestens doppelt so rasch geschlagen hatte als normalerweise, als sie noch nicht im Fokus des Vortragenden gewesen war „Drittens, und das ist die schwierigste aller Alternativen, weil man diese immer wieder verdrängt, diese aber ebenso gültig ist, wie Nummer eins und zwei“. Der Kursleiter hatte eine kurze Sprechpause eingelegt, bei welcher ihn alle Kursteilnehmer gebannt angesehen hatten. Darauf hatte er gesagt: „Drittens, sie können die Situation verlassen, kündigen, weggehen, sich trennen…“ Das hatte sie alle sehr beeindruckt, Florence im Speziellen. Er hatte nochmals ergänzt „aber jammern und beklagen hilft gar nie“. Gerade als Florence wieder dieses warme Gefühl in sich aufwallen spürte, als sie ihr <Stopp> ausgerufen hatte und sie den kräftigen Kursleiter vor ihrem geistigen Auge sah, hörte sie hinter sich eine Männerstimme fragen:

„Was soll den stoppen?“

„Ohh!“ wusste Florence nur als Antwort und drehte sich erschrocken um.

„Habe ich Sie erschreckt?“

Vor ihr stand ein Mann, welcher kaum einen Meter fünfundsechzig gross war. Florence mass eins achtundsechzig. Ihr erster Gedanke war: Napoleon! Weshalb sie das sofort gedacht hatte, wusste sie nicht. Seine Haltung zeugte von einer gewissen Arroganz, vermutlich weil er sein Kinn übermässig anhob, vielleicht um sich grösser zu präsentieren als er war. Da Florence Kleider über alles liebte, bemerkte sie sofort, dass er einen teuren Anzug trug, massgeschneidert, vielleicht italienisch, eventuell sogar Brioni. Seine Krawatte sass tadellos. Er hatte sich mit seiner Rechten am Gestell beim Eingang abgestützt und musterte sie schamlos. Er verströmte eine Aura von Autorität. Florence Moreau war verwirrt. Sie hatte diesen Mann noch nie gesehen, spürte intuitiv, dass er nicht einfach so bereits vor Ladenöffnung hier sein durfte. Nachdem er sie einen Herzschlag zu lange angeschaut hatte, ergänzte er noch:

„Das wollte ich nicht, speziell nicht bei einer so…“ er unterbrach und trat einen Schritt auf Florence zu.

Sie war umgehend so durcheinander, dass sie sich zu rechtfertigen begann und die Hausordnung völlig vernachlässigte, die besagte: sprich jeden Fremden an und frage ihn, ob Du ihm helfen kannst, speziell ausserhalb der Ladenöffnungszeiten:

„Ach wissen Sie, normalerweise haben wir keine so schweren Dinger hier, aber für diese Indien-Aktion…, dieses Ding hier…, ich weiss nicht, wie ich in den hinteren Teil des Lagers…“

„Aber wieso dieses <Stopp>?“ unterbrach der mysteriöse Herr sie mit ruhiger Stimme.

Florence war vollends aus dem Konzept geraten und bemerkte daher nicht, dass er ihr weiterhin ungeniert auf ihren Busen starrte. Stattdessen erklärte sie weiter:

„Mit dem Stopp will ich aufhören, mich aufzuregen, aber jetzt merke ich, dass ich mich immer noch ärgere. Was soll dieses Ungetüm hier? Wer soll denn das kaufen? Auch diese übergrossen Holz-Elefanten, diese kitschigen Vasen…“

Der Unbekannte hatte sich wieder mit seiner Rechten am Gestell abgestützt, musterte sie aber weiter lächelnd und ungeniert:

„Ich habe gar nicht gewusst, dass Ihr Rayon so grosse Dinger im Sortiment führt?“ gab er geschäftsmässig und etwas zweideutig zurück.

Ob er damit ihre Brüste oder den Paravent meinte, bemerkte Florence nicht. In ihr klingelte aber eine Ahnung, da er mehrere professionelle Ausdrücke erwähnt hatte: Rayon, Sortiment, die Tatsache dass ihr Rayon nur kleinere Artikel führte. Wer war das? Sie erklärte deshalb ohne zu überlegen:

„Das ist normalerweise auch so, aber für diese Indien-Aktion scheint der Einkauf auch grosse Produkte erworben zu haben“

„Ach, so!“ antwortete er und liess das Gestell wieder los „hat den die Wittler dieses monströse Teil bei Ihnen schon in Natura gesehen?“

Die Wittler? Woher wusste er, dass Sabrina Wittler für den Einkauf ihrer Abteilung verantwortlich zeigte? In Florence wallte wieder das Gerechtigkeitsgefühl auf, welches sich in punkto Wittler bei ihr nicht in der Waage hielt. Ohne zu überlegen, ohne an die mahnenden Worte des Kursleiters zu denken, begann sie sich zu beklagen:

„Sicher nicht! Seit ich hier für das Rayon verantwortlich bin, hat sie sich noch nie bei mir gezeigt, nicht mal telefonisch gemeldet. Ich weiss, unser Job ist es, die Ware zu verkaufen, die uns zur Verfügung gestellt wird, aber so was hier…“ sie zeigte auf das neben ihr aufragende Monster.

Er lächelte weiter und stützte sich zum dritten Mal gegen das Regal. Jetzt erst nahm Florence Moreau wahr, dass er ihr zwar zugehört und sogar geheimnisvoll geantwortet, sie aber eingehend gemustert und vor allem auf ihre Brüste gesehen hatte. Einerseits musste er ein Insider sein, andererseits schien er sehr locker und mehr an ihr, als an der Sache interessiert. Florence wusste nicht mehr weiter. Im selben Augenblick blitzte in ihr die Mahnung ihres Chefs auf, Fremde anzusprechen. Scheu wechselte sie das Thema:

„Ähh, übrigens“ begann sie „weshalb sind Sie hier, kann ich Ihnen helfen?“

Der Kleine stiess sich abrupt vom Gestell ab und kam einen weiteren Schritt auf sie zu:

„Sehen Sie, ich habe Sie doch erschreckt, vorhin. Diese Frage hätten Sie mir viel früher stellen sollen, oder?“ dabei setzte er ein etwas verzerrtes Lächeln auf „ich könnte doch irgend ein Unberechtigter hier im Warenhaus sein“

Er war nur noch eine Armlänge von Florence entfernt. Er streckte seine Rechte aus und sagte:

„Mein Name ist Burger, Philippe Burger“

Sein Grinsen wurde noch breiter, als er Florences erblassten Gesichtsausdruck wahrnahm. Sie fuhr mit der Linken zu ihrem Mund und reichte Burger ihre Rechte:

„Der Philippe Burger?“ wusste sie nur als Antwort, wobei sie das <e> des ersten Wortes dehnte.

Philippe Burger, Mitbesitzer der Terra-Warenhäuser in der dritten Generation und gleichzeitig Einkaufs-Chef, lachte hart auf:

„Ach, es ist immer dasselbe, wenn ich meinen Namen irgendwo in einem unserer Häuser nenne. Ich würde viel lieber Inkognito mit dem Personal sprechen“

Florence lief es augenblicklich kalt über den Rücken. Sie hatte Philippe Burger vor sich und hatte sich wenige Sekunden vorher über eine Einkäuferin beklagt. Mein Gott! Sofort begann sie sich wieder zu rechtfertigen:

„Ach, wissen Sie, normalerweise funktioniert das mit Sabrina Wittler…“

Burger liess sie nicht ausreden, sondern legte ihr seine Rechte auf die Schulter und meinte nur:

„Genau das will ich nicht hören, Frau…“ er schaute ihr auf das Namenstäfelchen, oder hatte er wieder ihren Busen begutachtet, bevor er weiterredete „…Frau Monreau. Ich will die Wahrheit über die Leistungen meiner Mitarbeiter erfahren, kein Gesäusel“

„Moreau!“ antwortete Florence verwirrt.

„Was, Moreau?“ stutzte Burger kurz.

„Mein Name. Ich heisse Florence Moreau und nicht Monreau“

Wieder setzte Burger ein etwas schiefes Lächeln auf und antwortete:

„Vielleicht habe ich bei Ihrem Anblick mehr an Marilyn Monreau gedacht und deshalb Ihren Namen falsch gelesen“ dabei blickte er ihr wieder, dieses Mal etwas schlüpfriger auf den Busen.

Florence spürte, wie sie errötete. Hoffentlich sah das Burger nicht im schlecht beleuchteten Lagerraum. Bevor sie etwas sagen konnte, meinte er:

„Ich weiss, dass man in der Firma sehr unterschiedlich über die Wittler urteilt. So wie ich das mitbekommen habe, hat sie bei Frei einen Stein im Brett. Im Verkauf, also hier an der Front, sind die Meinungen geteilt. Machen Sie sich daher keine Gedanken, wenn Sie dem Einkaufs-Chef die Wahrheit sagen“ und nach einer zu langen Pause, immer noch seine Hand auf ihrer Schulter „das ist gut so! Ich mag Mitarbeiterinnen, die eine eigene Meinung vertreten“

Florences Gefühlswelt geriet in eine akute Unordnung. Ein attraktiv gekleidetes Mitglied der Familie stand mit ihr ganz alleine im schummrig beleuchteten Lagerraum und lobte ihr Verhalten. Gleichzeitig spürte sie seine warme Hand durch ihre dünne Seidenbluse an ihrem linken Oberarm. Burger schaute sie…, ja wie schaute er sie an? Er schob sich nochmals einige Zentimeter näher an sie heran, auch seine zweite Hand erhebend und sie an der anderen Schulter berührend. Dabei murmelte er leise:

„…besonders, wenn sie so attraktiv…, hm…, ja so sexy aussieht“

Florence fühlte eine wohlige Wärme in sich aufsteigen. Was geschah da?

„Ohh, Du bist bereits am Arbeiten?“ rief eine Stimme hinter Burger „ohh, Herr Burger, schön Sie schon wieder in unserer Filiale begrüssen zu dürfen“

Frühaufsteher Heinz Bächtold war unbemerkt im Lager erschienen und stand nur drei Schritte von ihnen entfernt beim Eingang.

Engelmann

Dieter Engelmann hatte noch kurz mit Sondermann und der Wittler darüber philosophiert, was diese Episode eben bedeuten sollte, war danach aber wieder in sein Büro zurück gekehrt. Der Chef war gealtert, bedenklich rasch, in den vergangenen Wochen gar ultrarasch. Früher war Frei der dynamische Antreiber der Firma, der Taktgeber, der glasklare Analytiker, das Energiebündel. Wehe demjenigen, der zauderte, der seine Ziele nicht klar genug verfolgte, der sein Anliegen unklar oder unvollständig formulierte. Jürg Frei konnte diesen mit wenigen, messerscharfen Worten zur Schnecke machen. Das hatte Dieter auch schon erlebt und sich seither geschworen, er würde nie mehr mit Frei eine Sitzung abhalten, ohne perfekt vorbereitet zu sein. Frei konnte endlos lang konzentriert bei einem Thema verweilen, alles hinterfragen, wieder und wieder. Wenn alle anderen in der Runde erste Ermüdungserscheinungen zeigten, blühte Frei erst auf. Sitzungen, welche bis nach neun Uhr abends dauerten, waren keine Seltenheit. Frei hatte einmal erwähnt, dass er jede Sitzung abbrechen würde, die um zehn Uhr noch nicht abgeschlossen worden sei. Zu späterer Stunde sei man ganz einfach nicht mehr produktiv. Damals hätte Dieter ihn für diese Aussage erwürgen können. So ein Idiot! Arbeitsschluss war normalerweise um siebzehn, vielleicht um achtzehn Uhr. Frei aber sah auch noch spätabends aus, als sei er eben zur Arbeit erschienen. Er hatte sie alle extrem auf Trab gehalten, seit Jahren, damals noch. Aber in den vergangenen Monaten - wann hatte es begonnen? – schien Frei zu altern, zu ermüden, enorm rasch zu ermüden. Bereits in der Frühe, nach der ersten Sitzung, begann Frei mitten in der Sitzung Dinge aufzubringen, die nicht zum Thema passten. Das war neu. Im Gegenteil, wenn ein Sitzungsteilnehmer früher Dinge ansprach, welche nicht zum Traktandum passten, war Frei der erste, der diesen zurechtwies: „Bleiben Sie bitte bei der Sache, Herr Engelmann, wir reden hier von…“ war sein gefürchteter Ausspruch. Seit einigen Monaten geschah dasselbe aber bei Frei. Auch diese immer schlimmer werdenden, unerträglichen Zeitüberschreitungen der Sitzungen mit ihm, das war nicht immer so. Diese Macke hatte bei Frei zwar schon früher begonnen, vielleicht vor drei Jahren, aber in den vergangenen Wochen hatte Dieter mehrmals auf der Wartebank im Vorzimmer bei Lotti Liechti überlegt, wie lange er das noch akzeptieren sollte. Sondermann lag mit der heutigen Maulerei völlig richtig, nur nicht damit, wie er es angebracht hatte. Was brachte das, wenn er es mit ihm und der Wittler ansprach? Viel besser wäre es gewesen, er hätte es Frei direkt ins Gesicht gesagt. Aber dazu hatte Sondermann nicht den Mumm. Bei diesem Gedanken kamen in Dieter ungute Gefühle auf. Auch Dieter hatte sich, bisher feige, nicht zu dieser untragbaren Situation geäussert. Im Gegenteil, Dieter hatte Frei weiterhin in Schutz genommen. So wie Dieter ihn früher fast verehrt hatte, so bemitleidete er Jürg Frei heute, seinen raschen Verfall erkennend. Aber was sollte man tun? Sollte er vielleicht eine höhere Instanz ansprechen, jemanden der Familie? Sollte er vielleicht Burger ins Vertrauen ziehen? Ja, Philippe Burger, das Familienmitglied, welches sich hierarchisch unter Frei als Einkaufs-Chef einordnen musste, weil sein Onkel, Rudolf Binder, der Konzernleiter, das so wollte. Burger sollte erst einmal im Betrieb die Sporen abverdienen, bevor er vielleicht einmal das Ruder übernehmen dürfte. Philippe Burger war gewissermassen ein Kollege von Dieter Engelmann, ebenfalls nur Geschäftsleitungsmitglied. Burger musste diesen körperlichen und geistigen Verfall von Frei ebenfalls wahrnehmen. Weshalb reagierte Burger nicht, als Familienmitglied? Vielleicht war das gerade das Problem. Wie hätte Burger das gegenüber seinem Onkel vorbringen sollen? Der Konzernleiter hätte das vielleicht als plumpen Versuch werten können, Burger wolle sich so den Chef-Job angeln, indem er Frei mit falschen Anschuldigungen aus dem Weg räumen würde. Skrupellos genug wäre Burger ja, aber hätte Rudolf Binder das seinem Neffen auch abgenommen? Oder, war das eben eingetroffene Ereignis, die Situation vorhin im Büro von Frei, der Start für genau so etwas, weil die Konzernleitung bereits reagiert hatte? Dieter Engelmann schüttelte den Gedanken von sich. Er hatte ganz andere Probleme zu lösen. Die Ablösung des alten Systems stand in wenigen Wochen an. Immer noch waren viele Knacknüsse zu lösen, der Terminplan drohte ernsthaft zu kippen. Sein Stellvertreter, Holger Unger, der potthässliche, aber ungemein zuverlässige Holger, hatte vor wenigen Tagen um ein persönliches Gespräch gebeten. Holger hatte Dieter Engelmann dringend geraten, die Umstellung auf PAM 6.0, auf das viel effizientere, sicherere, zuverlässigere System, zu verschieben. Zu viele Situationen seien noch nicht ausreichend geklärt, nicht genügend getestet worden. Zu viele Mängel seien in den ersten Tests aufgetaucht und noch nicht behoben worden. Zu viel stünde auf dem Spiel, wenn die Umstellung im Herbst scheitern sollte. Dieter hatte entgegnet, dass der Point-of-no-return überschritten sei und sie vorwärts schauen müssten. Holger hatte argumentiert, dass es immer Lösungen gebe, solange man noch nicht definitiv umgestellt hätte. Das alte System PAM 3.8 sei zwar am Limit, aber man könne mit dem Hersteller sicherlich eine Sondervereinbarung finden, wie dieser eine letzte Verschiebung des Einführungstermins unterstützen könnte. Dieter hatte gegenüber Unger behauptet, dass dies mit horrenden Kosten verbunden wäre, da die Herstellerfirma bereits jetzt schon nur noch ausnahmsweise das alte System unterstützte. Dieter plagte aber auch ein ganz anderer Grund, weshalb er die Umstellung unbedingt auf den geplanten Termin durchsetzen wollte. Er durfte gegenüber der Geschäftsleitung nicht scheitern. Frei hatte ihn vor wenigen Monaten, noch zu seiner dynamischen Zeit, mit einer seiner gefürchteten Analysen an einer Sitzung blossgestellt. Viel zu teuer sei die Informatik, viel zu träge das System, viel zu aufwändig die Erfassungs-Arbeiten für die Einkäufer. Er wolle endlich wissen, wann die immer wieder versprochenen Verbesserungen des Systems, mit dieser neuen Version, mit diesem Release, in der Praxis wirken würden. Dieter hatte den Termin genannt: bis zum einunddreissigsten Oktober, dieses Jahres. Diesen Termin wollte Holger Unger jetzt in Frage stellen, das ging ganz einfach nicht. Aber Dieter Engelmann war nicht dumm. Er wusste selbstverständlich, dass Unger mit seiner Analyse an sich richtig lag. Es musste eine Möglichkeit geben, den Termin trotzdem zu halten, mit Überstunden seines Teams, mit externer Zusatzhilfe. Das würde Zusatzkosten verursachen, die er würde begründen müssen, mit einem Investitions-Antrag. Wenn er es aber nicht tat, würde das drohen, wovor Unger ihn gewarnt hatte. In beiden Fällen würde er beim Chef vortraben und sich blossstellen lassen müssen. Würde Dieter es vielleicht schaffen, den Zusatzkredit so tief zu halten, dass Frei in eigener Kompetenz darüber entscheiden könnte? Das wäre ein Deal nur zwischen ihm und Frei. Das würde Dieter die Schmach ersparen, sich vor versammelter Geschäftsleitung die Hosen runterziehen lassen zu müssen. Bereits beim Gedanken an diese Möglichkeit begann Dieters Magen zu rebellieren. Er wusste, dass auch diese Möglichkeit kaum realistisch war. Jürg Frei wurde von der Familie in Investitions-Fragen an einer sehr kurzen Leine gehalten. Dieter spann den Gedanken gleich weiter. Wenn die versammelte Geschäftsleitung den Antrag mit viel Häme akzeptieren würde, müsste Dieter noch vor den Konzernleiter treten, vor das Oberhaupt der Besitzerfamilie, vor Rudolf Binder. Er wusste aber, wie geizig dieser sich verhielt, wie unglaublich penetrant er jeden Franken umdrehte, bevor er ihn für Investitionen freigab. Bereits damals, als er bei ihm vortraben durfte, um PAM 6.0 zu beantrage, hatte Dieter Blut geschwitzt, bis Binder schliesslich mit den Worten schloss „Sie setzen mir das Messer an den Hals. Ich kann gar nicht anders, als die von Ihnen geforderten Gelder zu bewilligen. Es ist immer dasselbe mit dieser unseligen Informatik. Wer hätte damals gedacht, als wir uns für die Einführung dieses Systems entschieden, mit welchen Folgekosten wir rechnen müssen. Immer wieder heisst es: wenn wir diesen oder jenen Schritt nicht tun, dann…“ Binder hatte mit einer wegwerfenden Handbewegung in Dieters Richtung noch ergänzt: „es ist so wie mit den Geistern, die man ruft…“ und hatte ihn unfreundlich aus der Sitzung entlassen. Noch am selben Tag hatte Engelmann mit Frei einige Worte über diese leidige Sitzung bei Binder gesprochen. Erstmals in Dieters Karriere hatte Jürg Frei angedeutet, dass auch er es langsam leid sei, wie investitionsscheu sich Rudolf Binder in letzter Zeit verhalten würde. Kritik gegenüber der Familie hatte Dieter ansonsten nie aus Jürg Freis Mund gehört. Und jetzt wollte Unger ihm weissmachen, dass die veranschlagten Mittel immer noch nicht ausreichen würden und man den Termin verschieben oder die Kosten weiter hochfahren müsste. Das ging ganz einfach nicht, nicht wenn Engelmann seinen Job als Informatik-Chef bei Terra behalten wollte. Dieters Gedanken drehten sich im Kreise. Er sah sich wieder im Vorzimmer, bei Lotti Liechti. Er sah Sabrina Wittler vor seinem geistigen Auge, diese geile Schlampe, die alle anmachte, aber dennoch im entscheidenden Augenblick einen Rückzieher einleitete. Dieter musste sich eingestehen, dass auch er nervös wurde, wenn sie wieder ihre Spielchen spielte, wie heute bei Johannes Probst. Mann, wie sich dieses Miststück mit ihrer eigenen Bluse Luft zugefächelt hatte, keine Ellenlänge von Probsts Nase entfernt. Dieter hatte für einen Augenblick lang sogar ihren Büstenhalter sehen können, weisse Spitzen, bei welchen die Brustwarzen durchschimmerten. Das hatte auch ihn nicht kalt gelassen. Auch bei ihm hatte sich etwas zwischen seinen Beinen geregt, nicht nur bei Johannes Probst, welcher für Dieter deutlich sichtbar mit einem Ständer in Freis Büro eingetreten war. Diese Wittler! Die konnte ohne Begründung, ohne Investitionsantrag, hunderttausende von Franken für ihre Einkäufe einsetzen. Einkäufer müssten so arbeiten können, war die Begründung, die Frei dazu abgab. Einkäufer mit finanziellen Einschränkungen seien nicht kreativ. Terra sei nur deshalb Marktführer, weil Terra kreative Einkäufer beschäftigte, Einkäufer mit Ideen, Einkäufer mit Stil und Geschmack, dem Geschmack ihrer Kunden. Das aber der gesamte Plunder, den die so hochgelobten Einkäufer ins Zentrallager schaufelten, ohne funktionierende Informatik, ohne effiziente Systeme, nie rechtzeitig und koordiniert hätte in die Läden geschafft werden können, das wollte die Geschäftsleitung und erst Recht die Familie nie wirklich wahrhaben. Die Informatik eines Warenhauses war ein notwendiges Übel und nicht das Kernstück des Betriebes. Das aber würde sich mit PAM 6.0 ändern, da war sich Dieter Engelmann sicher. Erstmals würde man mit dem neuen System bis auf den einzelnen Artikel genau errechnen können, was dieser der Firma einbringen würde, Tag für Tag, online, in Echtzeit, für jeden Controller jederzeit abrufbar. Das würde Einkäufer, wie diese Wittler, in einem anderen Licht zeigen, sie entzaubern. Dieter war überzeugt, dass die so in den Himmel gelobte Wittler nach der Einführung von PAM 6.0 entlarvt werden würde, als Blenderin, als schlichte Lagerfüllerin. Dasselbe galt für die Kinder-Einkäuferin Sonja Mehdorn. Es war wohl keine Kunst, an jeder Kinderwaren-Messe einfach von Allem je einige Stücke einzukaufen und damit die Logistik-Kanäle zu füllen. Die Kunst des Einkaufens, da war Dieter überzeugt, dass Jürg Frei auf dem Holzweg lag, die Kunst des Einkaufens bestand darin, Dinge nicht zu erwerben, sie aus dem Sortiment wegzulassen. Mit der Vollkosten-Rechnung pro Produkt würde man auch beweisen können, wie teuer diese Sonder-Aktionen waren, wie viel Lagerware noch zum vollen Preis in den Büchern verbucht war, obwohl jedermann wusste, dass diese nie wieder zum normalen Preis verramscht werden konnte. Das würde Terra noch teuer zu stehen kommen. Lagerware, die viel zu hoch bewertet war, die einen zu hohen Ertrag für Terra ausweisen liess. Lagerware, die abgeschrieben werden müsste, schon lange, schon viel zu lange. Je länger Dieter sich über Sabrina Wittler, Sonja Mehdorn und deren volle Lager nachdachte, desto klarer schälte sich ein neuer Lösungsansatz für sein Problem aus seinen ungeordneten Gedanken heraus. Ja, es war nicht fair, dass er für jeden Franken ein kompliziertes Investi-tionsantrags-Prozedere durchlaufen musste. Einkäufer durften hingegen das Geld einfach zum Fenster rausschmeissen, ohne Nachkalkulation, ohne Rechenschaft gegenüber der Geschäftsleitung abgeben zu müssen. Dieter musste mit den heute vorhandenen Daten des alten Systems beweisen, wie unseriös hoch die Lager der einzelnen Einkäufer in der Buchhaltung bewertet waren. Damit würde er Frei unter Druck setzen können. Er würde Jürg Frei aufzeigen, wie viel weniger wert die Lager in Wirklichkeit waren. Dann würde er ihm das Messer an den Hals setzen und sein Anliegen für sein neues System durchdrücken können. Ja, so könnte das gehen.

Ley

„Ich weiss, wie viel Aufwand das für Dich und Dein Team bedeuten würde“ antwortete Roswita Ley, als Heinz Bäch-told die Nase rümpfte.

Roswita hatte ihm soeben erklärt, wie sie sich den gestaffelten Ausverkauf vorgestellt hatte. Diese Ausverkaufs-Staffelung an sich war nicht völlig neu. Neu war nur die Tatsache, dass erheblich mehr unechte Ausverkaufs-Ware in den Kreislauf geschleust werden sollte, als in vergangenen Jahren. Ursprünglich hatte man den Ausverkauf dazu eingeführt, um die Verkaufsflächen von den noch nicht abverkauften Sortimentsteilen zu bereinigen, bevor die neue Mode in den Läden eintraf. Kleider, in den rückwertigen Bereichen der Warenhaus-Organisation, despektierlich <Lumpen> genannt, wurden nicht einzeln, sondern in Lots eingekauft, viele Monate bevor sie in den Läden benötigt wurden. Die Kunst des effizienten Einkaufs bestand darin, fast ein Jahr im Voraus zu erahnen, was zum Lieferzeitpunkt modisch sein würde. Das war weniger schwierig, als man gemeinhin denken könnte, denn auch Einkäufer waren keine Hellseher. Die Mode entstand nicht einfach so, sie wurde von den Modeschöpfern gemacht. Man legte fest, dass im kommenden Jahr diese und jene Farbe <in> sein würde, dass die Rocklängen bis zum Knie, bis zur Wade oder nur knapp über das Unterhöschen reichen, dass Streifen oder Punkte dominieren sollten, dass Körper betont oder kaschiert werden würden. Für Einkäufer bestand das Problem damit nur noch darin, als man einen optimalen Preis verhandeln und die richtigen Mengen bestellen sollte. Die Preisverhandlungen gestalteten sich eher symbolisch, da die Einstandspreise bei Mode-Massen-Ware sowieso utopisch tief waren. So konnte es ohne weiteres sein, dass ein Einkäufer ein T-Shirt-Modell für wenige Cents pro Stück erwarb und den Verkaufspreis bei Terra im Laden bei neunzehnneunzig festgesetzt werden konnte. Trotzdem war es nicht unüblich, dass sich die Kunden auf genau diese T-Shirts stürzten und diese rasch leer kauften. Wären es nur die Preise gewesen, die ein Einkäufer hätte beachten müssen, wäre Terra eine Goldgrube gewesen. Die Krux lag bei den Mengen und zwar auch deshalb, weil man bereits ein Jahr im Voraus unveränderbar fix festlegen musste, wie viele Stück man von welchem Produkt erwerben wollte. Da diese Ware hauptsächlich aus Fernost per Schiff nach Europa und danach zu Terra gelangte, musste sie extrem lange vorher bestellt werden. Stellte man nach Eintreffen der Ware bei Terra fest, dass ein T-Shirt ein Verkaufsrenner war, konnte man nicht einfach nachbestellen. Man konnte genauso viele T-Shirts desselben Modells veräussern, wie man ein Jahr vorher bestellt hatte. Da aber Mode-Ware nicht in einer Einheitsgrösse verkauft werden kann, hatte man bereits vor sehr langer Zeit Kleidergrössen definiert, welche auf vielleicht neunzig Prozent der Bevölkerung angewendet werden konnten. Wie viele Stücke der Grösse vierunddreissig, sechsunddreissig und wie viele der anderen Grössen