Das Achtsamkeitsbuch - Halko Weiss - E-Book

Das Achtsamkeitsbuch E-Book

Halko Weiss

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Beschreibung

Der Achtsamkeits-Klassiker - Mehr Lebensqualität durch Entschleunigung! - Mit praktischen Übungen zu Stressmanagement - Von Pionieren der Anwendung von Achtsamkeit in Psychotherapie und Coaching Achtsamkeit bereichert unser Leben durch mehr Balance, Erfüllung und das Glück der Zufriedenheit. Auf der Basis langjähriger Erfahrungen zeigen die Autoren praxisnah, wie Achtsamkeit im täglichen Leben zu einem freundlicheren, mitfühlenden und fürsorglichen Umgang mit sich selbst beitragen kann. Diese Ausgabe enthält für beratende und heilende Berufe wertvolle Forschungsergebnisse und ein Kapitel über ethische Aspekte der Achtsamkeitspraxis. Dieses Buch richtet sich an alle, die sich professionell mit Achtsamkeit befassen, oder die sich selbst in Achtsamkeit üben (wollen) und ebenso an alle, die die Praxis der Achtsamkeit verfeinern wollen.

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Seitenzahl: 403

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HALKO WEISS MICHAEL HARRER THOMAS DIETZ

DAS ACHTSAMKEITSBUCH

GRUNDLAGEN ÜBUNGEN ANWENDUNGEN

Klett-Cotta

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2010, 2023 by J.G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Weiß-Freiburg GmbH, Freiburg

Unter Verwendung einer Abbildung von © mycteria / shutterstock

Aktualisierte Neuausgabe

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98740-9

E-Book: ISBN 978-3-608-12234-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20651-7

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Einführung

TEIL I: Achtsamkeit im täglichen Leben

Was ist Achtsamkeit?

Wozu Achtsamkeit?

Anwendungen von Achtsamkeit

Achtsamkeit und Gehirn

Der Weg der Bewusstseinsentwicklung

Praxis der Achtsamkeit

Übungen

TEIL II: Achtsamkeit im Umgang mit der Innenwelt

Aktives Erforschen der Innenwelt und Selbstführung

Selbstführung aus der Beobachterperspektive

Persönlichkeitsanteile – ein hilfreiches Modell der Innenwelt

Innere Führung

Persönlichkeitsanteile identifizieren und benennen

Der achtsame innere Dialog

Selbstführung in der Beziehung zu anderen Menschen

Übungen

TEIL III: Achtsamkeit in Psychotherapie und Coaching

Achtsamkeit als therapeutisches Hilfsmittel

Veränderter Fokus: Vom Reflektieren zum annehmenden Beobachten

Heilende Beziehungen

Objekte der Wahrnehmung

Vorgehensweise in der achtsamkeitszentrierten Psychotherapie

»Aufdeckung« mit Hilfe von Achtsamkeit

Therapeutische Transformation in Achtsamkeit

Die Achtsamkeit des Therapeuten

Übungen

Mitgefühl und Selbstmitgefühl

Kritische Stimmen zu ethischen Aspekten

Danksagung

ANHANG

Glossar: Schlüsselbegriffe der Achtsamkeit

Studien zur Wirkung von Achtsamkeit

Achtsamkeit in Medizin und Psychotherapie

Achtsamkeit in unterschiedlichen Anwendungsfeldern

Auswirkungen auf Gehirn und Immunsystem

Weiterführende Informationen

Literatur

Sach- und Autorenverzeichnis

Verzeichnis der Exkurse und Übungen

Stimmen zum Buch

Die Autoren

Vorwort

Wir leben in einer Kultur und zu einer Zeit, in der wir allzu vielen Verführungen ausgesetzt sind, unachtsam mit uns selbst und unserer Mitwelt umgehen. Dabei sind es nicht nur die äußeren Zwänge einer an vordergründiger Effizienz, ökonomischer Optimierung und Rationalisierung ausgerichteten Gesellschaft. Denn auch wenn viel über Stress und Hektik im Berufsleben geklagt wird, folgt doch auch die konkrete Gestaltung der sogenannten Freizeit oftmals ähnlichen Prinzipien: Umbraust von der Flut medialer Eindrücke, verwirrt von der Vielzahl an Zerstreuungsmöglichkeiten und betäubt von kurzfristig faszinierenden und einen »Kick« versprechenden Ablenkungen, die aber längerfristig selten befriedigen können, entwickeln wir kaum ein Gespür dafür, was uns wirklich wichtig ist, wie und wo wir in der Welt stehen und wie wir unser Leben selbstbestimmt gestalten können. Allzu oft fühlen wir uns als »Rädchen« im Getriebe – auch wenn es gute Hinweise gibt, dass wir keineswegs nur »Opfer« dieser Umstände sind, sondern auch als »Täter« aktiv dazu beitragen.

Entschleunigung der Alltagshektik, die Fähigkeit zur Distanzierung gegenüber der bloßen Teilnahme im Aktivitätsstrudel und mehr Achtsamkeit für die inneren und äußeren Gegebenheiten wären dringend geboten. Doch obwohl in sehr vielen Weisheitslehren seit alters her ebenso wie zunehmend in modernen Ansätzen der Psychotherapie Wege zu einer höheren Achtsamkeit aufgezeigt sind, lassen sich solche alternativen Lebensweisen keineswegs leicht realisieren: Bei den Ersteren wird oft ein für viele Menschen unrealistischer, recht radikaler Bruch mit den bisherigen Gewohnheiten gefordert. Und um die Veränderungsmöglichkeiten im Rahmen von Psychotherapien nutzen zu können, muss man sich zunächst als »krank« definieren – ein Schritt, der ebenfalls für viele Menschen zu schwerwiegend ist und der auch gängigen Indikationen für »Psychotherapie« nicht entsprechen würde.

Das vorliegende Buch von Halko Weiss, Michael E. Harrer und Thomas Dietz zeigt einen einfacheren Weg auf und holt viele Leser dort ab, wo sie gerade stehen: im Alltag. Anstatt diesen jedoch radikal umgestalten zu müssen, beinhaltet Das Achtsamkeits-Buch viele kleine Übungen, die gut in die übliche Alltagswelt integrierbar sind und dort ihre positive Wirkung entfalten können. Auch die Darstellung der Grundlagen von Achtsamkeit ist überwiegend an konkreten Anwendungsbereichen orientiert, ohne zu tief in die theoretischen oder spirituellen Hintergründe eindringen zu wollen – obwohl die Autoren fundierte Kenntnisse und langjährige Erfahrungen auf diesen Gebieten mitbringen. Auch jene Abschnitte im hinteren Teil des Buches, die sich eher an Therapeuten, Coaches und andere professionell an der Einbeziehung von Achtsamkeit Interessierte richten, sind praxisnah gehalten. Sie bieten einen orientierenden Einstieg und Überblick.

Die Anwendung des Achtsamkeit-Konzepts für das Wohlergehen des Einzelnen gewinnt zunehmend an Bedeutung. Viel zu lange und viel zu sehr wurde der Mensch vor allem aus der Außensicht – aus der 3.-Person-Perspektive – beschrieben. Beobachtbares Verhalten sowie dessen biosomatisch und neurowissenschaftlich fassbare Grundlagen wurden intensiv erforscht. Dies hat in den Bereichen, in denen eine objektive Sicht auf den Menschen wesentlich ist, fraglos zu sowohl inhaltlich als auch methodisch beachtlichen Erkenntnissen geführt. Im Gegensatz zu östlichen Kulturen stehen wir allerdings in der Berücksichtigung und systematisierten Erfahrung der 1.-Person-Perspektive noch recht am Anfang. Was unser Körper jenseits von messbaren neuronalen Vorgängen an Wissen über die Welt erworben und gespeichert hat, und wie wir damit direkt und innerlich in Beziehung treten können, beginnt erst allmählich in den Diskursen westlicher Wissenschaft thematisiert zu werden. Sofern dies überhaupt geschieht, muss oft auf Forschungstraditionen zurückgegriffen werden, die ganz anderen Kulturen entstammen und die für viele zunächst befremdlich und esoterisch wirken. Je mehr Menschen aber auch bei uns für sich selbst oder in professionellen Kontexten Erfahrungen mit Achtsamkeit sammeln, desto eher wird die 1.-Person-Perspektive nicht nur im Bereich der Privatheit verbleiben, sondern im Austausch dieser Erfahrungen dann auch zu systematischen Diskursen und damit zu Fortschritten in der Wissenschaft führen. Dies wäre eine Entwicklung, die letztlich wiederum Auswirkungen auf die oben charakterisierten krankmachenden Aspekte unserer Kultur haben könnte – auch wenn dies sicherlich noch ein langwieriger Weg sein dürfte.

Ich wünsche diesem Buch von Halko Weiss, Michael E. Harrer und Thomas Dietz daher viele Leserinnen und Leser, die sich über Achtsamkeit nicht nur informieren, sondern auch einiges davon in ihren Alltag integrieren wollen. Ein achtsamerer Umgang mit uns selbst, mit unseren Mitmenschen und der ganzen Mitwelt ist unbedingt wünschenswert – sowohl für eine lebenswerte Alltagswelt als auch für unser Handeln im professionellen Rahmen.

Osnabrück, im September 2009

Prof. Dr. Jürgen Kriz

Einführung

Es scheint wie ein bemerkenswerter Widerspruch: Achtsamkeit ist etwas so Einfaches, Kleines, Selbstverständliches und Natürliches und dabei zugleich so grundlegend und wesentlich für die menschliche Existenz, dass die Bücher, die über sie geschrieben wurden, ganze Bibliotheken füllen. Sie wurde über Jahrtausende kontinuierlich und gründlich in der Innenschau des Ostens erforscht. Inzwischen haben sich die Natur- und Geisteswissenschaften des Westens mit ihrer objektivierenden Außensicht der Achtsamkeit angenommen. Tausende von Forschungsartikeln wurden in den letzten Jahren veröffentlicht und es werden täglich mehr.

Man kann davon ausgehen, dass diese Entdeckung der Achtsamkeit keine Mode-Erscheinung ist. Vielmehr kommt der Westen zur Einsicht, dass Achtsamkeit eine besonders umfangreiche und tiefgründige Ressource für das Leben der Menschen bedeutet, die bisher übersehen wurde. Eine Ressource, die neben der Bewusstseinsentwicklung große Wirkung auf Gesundheit, Stressbewältigung, effektives Handeln und menschliche Beziehungen hat. Sie bringt eine neue Qualität, die ein glückliches und erfülltes Leben ermöglicht. Sie hilft, das Leben bewusster zu gestalten und mit Energie und Sinn zu füllen. Viele ihrer Wirkungen stimmen mit jenen Zielen überein, die Menschen in ihrem Leben und sowohl auf ihrer Suche nach Glück, wie auch in Zeiten des Leidens in psychotherapeutischen Behandlungen anstreben.

Die Auswirkungen, welche diese »Achtsamkeits-Revolution« (Wallace, 2008) auf unsere Kultur haben wird, sind noch nicht abzusehen. Was sie für den Einzelnen in seinem Alltag und für die Entwicklung der Psychotherapie bedeuten kann, zeichnet sich zunehmend ab. Diese Perspektive wollen die Autoren dem Leser näher bringen.

Das Konzept der Achtsamkeit, in der Weise, wie es in diesem Buch verstanden wird, ist im Rahmen der buddhistischen Psychologie entwickelt worden. Da Achtsamkeit ein natürliches menschliches Potential ist, haben zum Beispiel auch Taoismus, Sufismus und die mystischen Traditionen im Christentum ihre eigenen Formen der Selbsterkenntnis und der Begegnung mit der Essenz des Seins kultiviert. Auch sie regten zu Übungen an, im gegenwärtigen Augenblick präsent zu sein. Doch nirgendwo ist die Tradition so gründlich und so detailreich ausgearbeitet wie in den verschiedenen Zweigen des Buddhismus, und nirgendwo ist sie über so lange Zeit und an Erfahrungen überprüft gewachsen.

Wollte man dem Thema Achtsamkeit also umfassend gerecht werden, würde ein kleines Büchlein wie dieses bei weitem nicht ausreichen. Achtsamkeit ist eine Praxis, die dem Übenden in unermessbare Weiten des Bewusstseins führen kann. In seiner Lehrrede über die rechte Achtsamkeit machte Gautama Buddha deutlich, dass mit Achtsamkeit alles zu erreichen ist, was man als geistiges Wesen erreichen kann. Sie ist der Hauptweg zur Erleuchtung.

Doch auch schon der Anfang dieses Weges kann entscheidende Vorteile bringen. Dafür genügen schon ein paar Wochen täglichen Übens. Der Aufwand ist mit dem vergleichbar, was Laien in das Erlernen eines Musikinstruments investieren. Richard Davidson (Davidson et al., 2003a) hat in seinem Labor an der Universität von Wisconsin-Madison gezeigt, dass auch in dieser relativ kurzen Zeit Verbesserungen der Gehirnfunktion und des Immunsystems nachzuweisen sind. Seine Forschungsergebnisse brachten ihn im Time-Magazin auf die Liste der 100 einflussreichsten Personen des Jahres 2006.

Dieses Buch soll daher auf praktische und überschaubare Schritte hinweisen, die jedem von uns eine Hilfe sein können. Achtsamkeit wird hier nicht als Teil eines religiösen Systems verstanden, sondern als psychologisches Konzept, das unabhängig von spirituellen Lehren angewendet werden kann. Ziel ist es, Achtsamkeit mit unserem westlichen, wissenschaftlich fundierten Wissen über die Psyche zu verknüpfen. Der Leser1 soll einen leicht zugänglichen Eindruck gewinnen, was auf grundlegender Ebene mit Achtsamkeit gemeint ist und wie sie sinnvoll und konsequent in das tägliche Leben und in psychotherapeutische Ansätze integriert werden kann. Die hier beschriebenen Anwendungen von Achtsamkeit sollen also sowohl Fachkollegen aus helfenden und beratenden Berufen Anregungen geben, als auch allen anderen Menschen nützen, die sich für fundierte Wege der Selbsthilfe oder des Selbst-Coaching interessieren.

So bietet das Buch zunächst einen kurzen Überblick über die Grundlagen der Achtsamkeit, ohne in komplexe spirituelle Ebenen und Hintergründe einzusteigen. Danach wird ihr Nutzen im Zusammenspiel mit der westlichen Psychologie im Mittelpunkt stehen. Dabei soll deutlich werden, wie sowohl westliche Errungenschaften in der Aufarbeitung psychischer Probleme, als auch Wege ganz allgemeiner Persönlichkeitsentwicklung von der Achtsamkeit profitieren können. So ist dieses Buch in drei Hauptabschnitte gegliedert:

Erstens eine kleine Einführung in die Grundlagen der Achtsamkeit und wie sie in ihrer klassischen Form als Übung des Innehaltens, feinen Beobachtens und Loslassens im Alltag jedes Menschen nutzbringend angewendet werden kann. Diese Formen werden auch in psychotherapeutischen Behandlungsmethoden in klassischer Weise eingesetzt.

Im zweiten Abschnitt folgt eine Anleitung zur aktiven Anwendung der Achtsamkeit, in der eine Verbindung mit westlichen psychologischen Konzepten vorgeschlagen wird. Sie kommt der kulturellen Neigung entgegen, zielgerichtet und aktiv handelnd die persönliche Entwicklung zu fördern.

Der dritte Teil soll aufzeigen, dass sich Achtsamkeit auch tief und durchgängig in eine komplexe psychotherapeutische Arbeit integrieren lässt, indem zwei Menschen in einem achtsamen Feld zusammenwirken. Auf diese Art wird das Potential der Achtsamkeit in einer ganz neuen Weise für Reifungsprozesse genutzt.

Es ist die Absicht der Autoren, dass sich dieses Buch leicht lesen lässt, sowohl für Personen aus dem Bereich Psychologie, Psychotherapie und Coaching als auch für interessierte Laien. Daher sind manche Hintergründe, wie zum Beispiel Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, in Exkursen herausgehoben und als Studien in den Anhang gestellt. So hat der Leser einen leicht verständlichen Text und trotzdem die Möglichkeit, vieles vertiefend nachzulesen.

Der Weg der Selbsterkenntnis ist auch für unsere westliche Kultur nichts Fremdes. Er wurde von Dichtern, Philosophen und Psychologen immer wieder als zentrales Element der menschlichen Reifung beschrieben. Was dabei aber meist übersehen wurde, ist die Tatsache, dass die Fähigkeit zur Innenschau und Selbsterkenntnis sich nur entfalten kann, wenn sie geübt wird. Und zwar kontinuierlich und regelmäßig. Dafür gibt es seit über zwei Jahrtausenden bewährte Übungsanleitungen, die diesen Weg effektiv und wesentlich machen. Die meisten stammen aus der buddhistischen Psychologie. Sie gibt klare und eindeutige Anweisungen auf dem Übungsweg zur Geistesschulung.

Jede Vermittlung von Wissen über Achtsamkeit kann also allenfalls als Anregung dienen. Entscheidend ist die Praxis. Daher werden am Ende der drei Abschnitte jeweils entsprechende Übungen vorgestellt, einige mit langer Tradition und andere, die aus der Verknüpfung von Achtsamkeit mit modernen Formen der Bewusstseinsentwicklung hervorgegangen sind. Die Leser sind eingeladen, sich einige davon auszusuchen und auch regelmäßig anzuwenden. Da das Üben unter direkter Anleitung eines Lehrers wirksamer ist, werden auch Hinweise auf entsprechende Angebote gegeben, die jedem Menschen zur Verfügung stehen.

Achtsamkeit ist ein machtvolles Instrument auf dem Weg zu tiefer Einsicht, zu Gelassenheit und Konzentration. Sie fördert Selbstkenntnis, Selbsteinfühlung, Selbstakzeptanz, Selbstführung und Selbstfürsorge. All diese Qualitäten können darüber hinaus in der Beziehung zu anderen Menschen wachsen, indem auch diese mit wohlwollender Offenheit wahrgenommen werden und höhere Akzeptanz erfahren. Und je näher wir dem Ziel kommen, Achtsamkeit tief ins Leben zu integrieren, desto deutlicher entsteht neben einer konzentrierten Geistesklarheit eben diese wohlwollende Selbstzuwendung und größere Gelassenheit, selbst wenn in der Außenwelt die rasende Betriebsamkeit unserer Zeit herrscht: Ruhe im Zentrum des Sturms.

Wir sind überwältigt von der großen und positiven Resonanz, die unser Buch seit seinem Erscheinen im Jahre 2010 auslöste. So kamen wir der Anfrage gerne nach, unseren Text für die Neuauflage zu überarbeiten. Dabei stellten wir fest, dass das Buch in seinen zentralen Inhalten immer noch aktuell ist. Die Zahl der wissenschaftlichen Publikationen zum Thema Achtsamkeit hat aber in den letzten Jahren stark zugenommen, sodass in diesem Bereich ein Update notwendig war. Wir haben uns bei der Darstellung neuer Befunde im Wesentlichen auf die zuletzt erschienenen Übersichtsarbeiten beschränkt (S. 275–303).

Einer Entwicklung wollten wir auch noch Rechnung tragen: Das Thema Mitgefühl und Selbstmitgefühl rückte im Zusammenhang mit Achtsamkeit in den letzten Jahren in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Ihm ist ein ergänzendes Kapitel gewidmet (S. 247–252). Darüber hinaus geben wir in einem kleinen Nachtrag noch einen Einblick in die aktuelle Diskussion ethischer Aspekte der Anwendung von Achtsamkeit.

Wir wünschen unseren Lesern und Leserinnern viel Freude an der Entdeckung der Achtsamkeit in ihren unendlich vielen Facetten.

Michael E. Harrer, Halko Weiss und Thomas Dietz im April 2019

TEIL IAchtsamkeit im täglichen Leben

Was ist Achtsamkeit?

Der Begriff »Achtsamkeit« hat seine Wurzeln im Buddhismus. »Geistestraining durch Achtsamkeit« ist Titel und Programm des Standardwerks, das der 1901 bei Frankfurt geborene Mönch Nyanaponika in Sri Lanka verfasste. Darin beschreibt er Achtsamkeit als Herzstück buddhistischer Tradition in ihrer Funktion des »Reinen Beobachtens«:

»das klare, unabgelenkte Beobachten dessen, was im Augenblick der jeweils gegenwärtigen Erfahrung (einer äußeren oder inneren) wirklich vor sich geht. Es ist die unmittelbare Anschauung der eigenen körperlichen und geistigen Daseinsvorgänge, soweit sie in den Spiegel unserer Aufmerksamkeit fallen. Dieses Beobachten gilt als ›rein‹, weil sich der Beobachtende dem Objekt gegenüber rein aufnehmend verhält, ohne mit dem Gefühl, dem Willen oder Denken bewertend Stellung zu nehmen und ohne durch Handeln auf das Objekt einzuwirken. Es sind die ›reinen Tatsachen‹, die hier zu Wort kommen sollen« (Nyanaponika, 2000, S. 26).

Innerhalb der verschiedenen buddhistischen Traditionen gibt es teils unterschiedliche Auffassungen von Achtsamkeit. Im tibetischen Buddhismus gibt es andere Anweisungen als in der Vipassana-Tradition und wieder andere Facetten im »engagierten Buddhismus« des zeitgenössischen vietnamesischen Mönchs Thich Nhat Hanh.

Außerhalb dieser Traditionen sind Definitionen von Achtsamkeit davon abhängig, bei welchen Zielgruppen und mit welchen Zielen sie angewendet werden: im Coaching von Führungskräften, zur allgemeinen Stress-Reduktion oder als Hilfe bei der Bewältigung von Krankheiten, bei Schmerz, Krebs oder zur Rückfallprophylaxe von Depression. Dazu hängen die in den Vordergrund gestellten Charakteristika von Achtsamkeit natürlich auch vom jeweiligen weltanschaulichen und wissenschaftlichen Hintergrund der Anwender ab.

Im Rahmen des »Mindfulness-Based Stress Reduction Programms« wird Achtsamkeit praxisorientiert definiert: Achtsamkeit ist

»offenes, nichturteilendes Gewahrsein von Augenblick zu Augenblick« (Kabat-Zinn, 2006a, S. 35).

Achtsamkeit kann auch über ihre Ziele und Wirkungen definiert werden. Im buddhistischen »edlen achtfachen Pfad« ist »rechte Achtsamkeit«

»das aufmerksame und unvoreingenommene Beobachten aller Phänomene, um sie wahrzunehmen und zu erfahren, wie sie in Wirklichkeit sind, ohne sie emotional oder intellektuell zu verzerren« (Solé-Leris, 1994, S. 26).

Exkurs:Komponenten von Achtsamkeit

Das Konstrukt »Achtsamkeit« wird oft in einzelne Komponenten zerlegt, die unterschiedlich in den Vordergrund gestellt und gewichtet werden. Autoren, die sich um eine Definition von Achtsamkeit bemühen, beschreiben folgende Facetten und Dimensionen von Achtsamkeit:

Achtsamkeit ist verbunden mit einem bestimmten Modus des Seins:Dieser Modus besteht in einem rezeptiven Beobachten und Gewahrsein. Innere und äußere Reize werden bewusst bemerkt und wahrgenommen.Die Aufmerksamkeit wird auf den gegenwärtigen Moment gelenkt.Automatische (Handlungs-)Reaktionen auf innere oder äußere Erfahrungen werden unterlassen, dies im Gegensatz zum sog. »Autopilotenmodus« (Kabat-Zinn, 2006a).Es besteht Bewusstheit über den Prozess der Aufmerksamkeitslenkung selbst, das heißt darüber, worauf die Aufmerksamkeit in jedem Moment gerichtet ist (Metakognition).Man ist beteiligt, beobachtet teilhabend (nicht abgespalten oder dissoziiert).Handeln erfolgt bewusst. Achtsamkeit bedeutet eine bestimmte Haltung der Erfahrung gegenüber:Akzeptanz: Erfahrungen werden so akzeptiert, wie sie sind.Nicht-Bewertung: Erfahrungen werden nicht als gut oder schlecht bewertet.Kein konzeptuelles Denken: Die aktuelle Erfahrung wird nicht in bereits bestehende Konzepte eingeordnet; Erfahrungen werden nicht mit vergangenen Erfahrungen verknüpft.Anfängergeist: Die Dinge werden mit Interesse und Neugier so betrachtet, als ob man sie zum ersten Mal sehen würde (Suzuki, 1975).Zulassen und Erlauben als Gegensatz zu Vermeidung und Unterdrückung von Erfahrungen.Kein Veränderungswunsch: Dinge nicht anders haben wollen, als sie sind.Intentionalität: es besteht die Absicht, achtsam zu sein. Achtsamkeit bedient sich bestimmter Techniken:Konzentration und Fokussierung führen zu innerer Ruhe als Voraussetzung für Achtsamkeit (Zugangskonzentration).Etikettieren: das Benennen der Erfahrung mit einfachen Worten, ohne konzeptionelle Analyse. Achtsamkeit ist mit Zielen und Wirkungen verbunden:Einsicht und Klarblick bedeuten, sich selbst und die Welt immer genauer so wahrzunehmen, wie sie ist.Ruhe, innerer Frieden und Gleichmut.Entwicklung von Freiheit; Befreiung von Leid in umfassendem Sinne oder von einzelnen Symptomen im Sinne einer Heilung.Entwicklung von Liebender Güte, Mitgefühl, Selbstmitgefühl und Mitfreude.Selbstregulation.Effektivität.Präsenz.Ermöglichung neuer Erfahrungen.

Weiterführende Literatur:Dimidjian & Linehan (2003), Bishop et al. (2004), Williams & Kabat-Zinn (2013), Nilsson & Kazemi (2016).

Der Begriff »Achtsamkeit« kann zweierlei beschreiben: vorübergehende Zustände (»states«) und verinnerlichte, überdauernde Merkmale (»traits«). In der Achtsamkeits-Schulung werden Zustände von Achtsamkeit immer häufiger bewusst aufgesucht und vertieft, bis sie mühelos und selbstverständlich werden. Damit werden sie als Haltung verinnerlicht und zu einem Merkmal der Persönlichkeit.

Die vier essenziellen Bausteine der Achtsamkeit

Achtsamkeit ist im Kern aus vier Bausteinen zusammengesetzt: Achtsamkeit bedeutet erstens eine bewusste Lenkung der Aufmerksamkeit. Diese Aufmerksamkeit ist zweitens auf den jeweils gegenwärtigen Moment gerichtet, auf den Fluss des Erlebens, das sich ständig verändert. Achtsamkeit ist drittens charakterisiert durch eine Akzeptanz dieses Erlebens, ohne zu urteilen, zu kritisieren oder etwas anders haben zu wollen. Viertens: Ein »Innerer Beobachter« wird kultiviert, der durch teilnehmendes Beobachten Abstand zum Beobachteten schafft und ermöglicht, aus Identifikationen herauszutreten. Diesen Prozess nennen wir hier Disidentifikation. Diese einzelnen Bausteine überlappen sich, verstärken und bedingen einander zum Teil gegenseitig.

Lenkung der Aufmerksamkeit

Jeder Mensch hat grundsätzlich die Fähigkeit, seine Aufmerksamkeit bewusst und absichtsvoll zu lenken. Diese Fähigkeit ist allerdings individuell höchst unterschiedlich ausgebildet und trainiert. Worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, bestimmt ganz wesentlich, wie wir uns selbst und die Welt erleben. Jegliches Erleben kann als Ergebnis eines Prozesses der Aufmerksamkeitslenkung betrachtet werden.

In der Regel erfolgt diese Lenkung der Aufmerksamkeit jedoch nicht bewusst, sondern mehr oder weniger automatisch. Nach einem angeborenen Muster wenden wir uns bei einem lauten Knall unmittelbar in jene Richtung, aus der wir ihn hören. Bei Säuglingen erregen bevorzugt menschliche Gesichter die Aufmerksamkeit. Individuelle Muster bestimmen, ob wir uns mehr dem zuwenden, was wir sehen, hören oder spüren. Sie geben auch vor, was wir wenig wahrnehmen oder gewohnheitsmäßig ausblenden. Aber auch frühere Erfahrungen und kulturelle Einflüsse bestimmen mit, ob unsere Aufmerksamkeit mehr nach außen oder nach innen gerichtet ist, ob sie bevorzugt fokussiert auf einem Objekt verweilt oder ob wir leicht ablenkbar sind. Nach traumatischen Erfahrungen richtet sich die Aufmerksamkeit häufig auf potenzielle Bedrohungen, was zu einem dauernden Absuchen der Umgebung führt. Der eigene Körper wird dann vielfach gar nicht mehr wahrgenommen. Wenn wir versuchen, uns auf eine Tätigkeit zu konzentrieren, beispielsweise zu lesen, schweift unsere Aufmerksamkeit oft ab. Wir verlieren uns in Gedanken oder bemerken, dass wir über dem Buch eingeschlafen sind. Manchmal sind wir aber auch vom Inhalt total gefesselt, nehmen die Umgebung gar nicht mehr wahr, wir befinden uns gleichsam in einer anderen Welt.

Der erste Baustein von Achtsamkeit ist die bewusste, klare Aufmerksamkeit für die jeweils gegenwärtige Innen- und Außenwelt. So wird Achtsamkeit auch als »reine Aufmerksamkeit« (bare attention) bezeichnet. Dieser Zustand kann mit einem auf Hochglanz polierten Spiegel verglichen werden. Er reflektiert einfach alles, was sich ihm zeigt. Im Sinne der Akzeptanz haben Spiegel auch keine Vorlieben oder Abneigungen gegenüber dem, was sie spiegeln. Wenn man die Persönlichkeit als Haus betrachtet, werden durch Achtsamkeitstraining die Wände, Böden und Decken immer durchlässiger. Sie werden schließlich durchsichtig wie Glas, sodass man vom Keller bis in den Dachboden schauen kann. So wird die Innenwelt immer deutlicher und klarer sichtbar.

Um den Geist zu beruhigen, sich für den gegenwärtigen Moment zu öffnen und Zugang zu Achtsamkeit zu bekommen, kann es sinnvoll sein, sich zunächst auf ein konkretes Objekt zu konzentrieren. Man spricht von Zugangskonzentration. Achtsam sein im engeren Sinn bedeutet, keinen speziellen Gegenstand der Aufmerksamkeit zu bevorzugen oder abzulehnen. Achtsamkeit bedeutet Offenheit für eine genaue Wahrnehmung der gegenwärtigen Erfahrung. Dazu müssen wir das Objekt der Wahrnehmung zunächst bemerken, uns seiner gewahr werden, uns ihm aktiv zuwenden, um dann mit der Aufmerksamkeit darauf zu verweilen.

Um in direktem Kontakt mit etwas bleiben zu können, ist es hilfreich, eine nicht von Konzepten geprägte innere Haltung, eine Haltung des Nicht-Bewertens einzunehmen. Wenn Konzepte oder Bewertungen auftauchen, können diese ihrerseits zum Gegenstand der Beobachtung gemacht werden. Anschließend kann die Aufmerksamkeit wieder zum ursprünglichen Objekt der Beobachtung zurückkehren.

Achtsamkeit bedeutet auch, sich aus einer übergeordneten Perspektive der Aufmerksamkeit selbst bewusst zu sein. In Achtsamkeit ist man sich dessen gewahr, worauf der Fokus der Aufmerksamkeit von Moment zu Moment gerichtet ist. Oder man bemerkt, dass man in einem Augenblick nicht gegenwärtig, nicht präsent, nicht achtsam ist. Je früher dies geschieht, umso schneller kann das Gewahrsein für den augenblicklichen Moment wieder hergestellt werden. Je kontinuierlicher und stabiler Achtsamkeit wird, desto seltener verliert man sich in Vergangenheit oder Zukunft.

Gegenwärtigkeit

Unser Zeiterleben gliedert sich in drei Abschnitte: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Geist moderner Menschen befindet sich zumeist auf einer rasend schnellen Zeitreise. Er pendelt zwischen Erinnerungen aus der Vergangenheit und Gedanken und Phantasien über die Zukunft. Nur selten ist er mit der Gegenwart beschäftigt. Wir vergessen, dass wir tatsächlich nur in der Gegenwart existieren und nur den jeweils gegenwärtigen Augenblick unmittelbar erleben können. Vergangenheit und Zukunft werden nie direkt erfahren. Der zweite Baustein der Achtsamkeit bedeutet, sich dieser Gegenwart zu öffnen, mit der ganzen Aufmerksamkeit beim gegenwärtigen Moment, bei der jeweils gegenwärtigen Erfahrung zu sein.

Die Dauer dieses gegenwärtigen Moments wird unterschiedlich erlebt und definiert. Der Entwicklungspsychologe Daniel Stern spricht von »Gegenwartsmomenten«, welche einige Sekunden dauern (Stern, 2005, S. 52).

Akzeptanz

Die meisten Menschen sind es seit ihrer Kindheit gewohnt, dass sie beurteilt, kritisiert, gelobt und getadelt werden. So ist es zu einem Automatismus geworden, Situationen, uns selbst und andere zu beurteilen, oft sogar abzuwerten oder zu verurteilen. Bestimmte Eigenschaften, Gefühle und Ereignisse werden anderen vorgezogen, meist scheint das besser, was gerade nicht ist.

Um sich dem gegenwärtigen Erleben wirklich voll und ganz zuwenden zu können, ist es allerdings notwendig, speziell auch unangenehme Erfahrungen nicht zu vermeiden. Das ist dann möglich, wenn wir diese nicht ablehnen oder bewerten. Erleben kann sich dann entfalten, wenn wir freundlich darauf blicken und nicht versuchen, es zu verändern. Jede urteilende und kritische Betrachtung von soeben Vergangenem oder unmittelbar Bevorstehendem verhindert Offenheit für die Gegenwart. Jedes Grübeln über vergangene oder zukünftige Fehler verhindert den Kontakt mit dem lebendigen Jetzt. Jede Bevorzugung einer Sache gegenüber einer anderen verstellt uns die Sicht auf die ganze Wirklichkeit.

Der dritte Baustein von Achtsamkeit ist daher Akzeptanz. Dies bedeutet, den gegenwärtigen Moment so anzunehmen, wie er ist: die gegenwärtige Erfahrung, Fakten, Situationen, sich selbst, andere Menschen. Akzeptanz bedeutet allerdings nicht Resignation, bedeutet nicht, alles gut zu finden, oder dass alles so bleiben soll. Ganz im Gegenteil: Akzeptanz ist die Voraussetzung, wirklich hinzuschauen und anzuerkennen, dass etwas ist, wie es ist. Gerade etwas als Tatsache zu erkennen und zu akzeptieren kann zum Ausgangspunkt für Veränderung werden. Gar nicht selten kommt es zu einer paradoxen Situation: Wenn wir lange erfolglos gegen etwas kämpfen und es dann irgendwann als unveränderlich akzeptieren, verändert es sich bisweilen wie von selbst.

Akzeptanz einer Erfahrung oder einer Situation ist eine innere Haltung, unabhängig davon, ob eine Handlung folgt oder nicht. Akzeptanz bedeutet nicht, etwas Veränderbares aushalten zu müssen. Akzeptanz kann aber sehr wohl bedeuten, nicht gegen etwas Unveränderbares anzukämpfen, und kann auf diese Weise zusätzliches Leid ersparen.

Der »Innere Beobachter«

Achtsamkeit bedeutet, ganz bewusst das jeweilige Objekt der Beobachtung von jener Instanz zu trennen, die beobachtet und somit das Beobachtete und den Beobachter auseinanderzuhalten. Um sich diese Instanz vorstellen zu können, wird sie als »Innerer Beobachter« bezeichnet. Er ist der vierte Baustein von Achtsamkeit. Dieser innere Beobachter ist natürlich kein fassbares Ding, kein kleines Männchen irgendwo im Gehirn. Er ist vielmehr ein Bewusstseinszustand. Trotzdem kann die Vorstellung eines inneren Beobachters hilfreich sein.

Das bewusste Beobachten dient dem Gewahrsein darüber, was von Augenblick zu Augenblick geschieht. Dieser Zustand des Beobachtens unterscheidet sich deutlich von Bewusstseinszuständen mit Kontrollfunktionen, bei denen es um Selbstregulation und den Erhalt von Identität und Selbstkonzepten geht.

Auf die Frage eines Schülers, wer nun eigentlich beobachtet und wer oder was beobachtet wird, antwortet S.N. Goenka, ein bekannter Meditationslehrer, der sehr zur Verbreitung der Vipassana-Meditation beigetragen hat:

»Keine verstandesmäßige Antwort wird Sie zufrieden stellen können. Sie müssen das selbst untersuchen: Was ist dieses ›ich‹, das all dies tut? Wer ist dieses ›ich‹? Fahren Sie fort, zu forschen und zu analysieren. Geben Sie acht, ob irgendein ›ich‹ erscheint; wenn ja, beobachten Sie es. Wenn nichts auftaucht, dann akzeptieren Sie es: Oh, dieses ›ich‹ ist eine Täuschung, eine Illusion!« (Hart, 1996, S. 139).

Disidentifikation: Die entscheidende Folge des Auftauchens des inneren Beobachters ist die Differenzierung der Bewusstseinsinhalte vom Bewusstsein selbst. Der Denker wird vom Gedanken, der Fühlende vom Gefühl, der Erfahrende von der Erfahrung gelöst. Damit werden Gedanken als Gedanken erkannt, Gefühle als Gefühle und Körperempfindungen als Körperempfindungen. Gedanken muss dann nicht mehr unbedingt geglaubt werden. Es hilft, Abstand von ihnen zu gewinnen und sie zu hinterfragen. Achtsamer Umgang mit Emotionen bedeutet, sich nicht von ihnen fortreißen zu lassen, sich nicht mit ihnen zu identifizieren, nicht in sie hineingesogen zu werden, sondern einfach zu beobachten, wie sie kommen und wieder gehen.

Die konkrete Anwendung einer Übung zur Disidentifikation beschreibt Ken Wilber in seinem autobiographischen Werk »Mut und Gnade« (1996, S. 152). Als Unterstützung zur Bewältigung ihrer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung bittet Treya Wilber ihren Mann, ihr diese Übung vorzulesen, um sie an ihren »Zeugen« (ein anderes, klassisches Wort für den inneren Beobachter) zu erinnern.

»Ich habe einen Körper, aber ich bin nicht mein Körper. Ich kann meinen Körper sehen und fühlen, und was gesehen und gefühlt werden kann, ist nicht der wahre Sehende. Mein Körper kann müde oder angespannt, krank oder gesund, schwer oder leicht, angstvoll oder ruhig sein, aber das hat nichts mit meinem inneren Ich, dem Zeugen, zu tun. Ich habe einen Körper, aber ich bin nicht mein Körper.

Ich habe Wünsche, aber ich bin nicht meine Wünsche. Ich kann meine Wünsche erkennen, und was erkannt werden kann, ist nicht der wahre Erkennende. Wünsche kommen und gehen, sie ziehen durch mein Bewusstsein, aber sie berühren mein inneres Ich nicht, den Zeugen. Ich habe Wünsche, aber ich bin nicht die Wünsche.

Ich habe Emotionen, aber ich bin nicht meine Emotionen. Ich kann meine Emotionen empfinden und spüren, und was empfunden und gespürt werden kann, ist nicht der wahre Empfindende. Emotionen gehen durch mich hindurch, aber sie berühren mein inneres Ich nicht, den Zeugen. Ich habe Emotionen, aber ich bin nicht die Emotionen.

Ich habe Gedanken, aber ich bin nicht meine Gedanken. Ich kann meine Gedanken sehen und erkennen, und was erkannt werden kann, ist nicht der wahre Erkennende. Gedanken kommen mir und gehen wieder, aber sie berühren mein inneres Ich nicht, den Zeugen. Ich habe Gedanken, aber ich bin nicht Gedanken.

Ich bin das, was übrig bleibt, ein Zentrum reinen Gewahrseins, der unbewegte Zeuge all dieser Gedanken, Emotionen, Gefühle, Empfindungen.«

In Achtsamkeit kann beobachtet werden, dass sich Gedanken, Gefühle und Empfindungen ständig verändern. Was sich verändert, kommt und geht, und was beobachtet werden kann, kann nicht »Ich« sein – so lautet sinngemäß die Formulierung in dieser Übung zur Disidentifikation. Stattdessen muss ich das sein, was bleibt, was konstant und immer präsent ist. Dafür kommt nur der immer gleich Beobachtende in Frage.

Reines Gewahrsein: Wenn wir diese Gedanken weiter verfolgen, kommen wir zu Grundfragen des Menschseins, zu einer Frage, die der indische Weise Ramana Maharshi als die zentrale spirituelle Frage schlechthin verstanden hat: »Wer bin ich?«, »Was bin ich denn, wenn ich alle meine Identifikationen als solche erkenne und sie loslasse?«

Rumi, ein klassischer Sufi-Poet, benutzt in seinem Gedicht »Das Gästehaus« das Bild eines Hauses, um dieses Gewahrsein, diesen Raum, diese Leere zu beschreiben. Achtsamkeit bedeutet für ihn, die Gedanken und Gefühle wie Gäste willkommen zu heißen, sie kommen, aber auch wieder gehen zu lassen.

Die westliche Psychologie beschäftigt sich eher mit den Inhalten des Bewusstseins, mit Gedanken, Wahrnehmung, Gedächtnis und Emotionen. Sie war über lange Zeit weniger am Rahmen interessiert, in dem sich diese Inhalte ausdrücken, nämlich dem Bewusstsein selbst. Achtsamkeit dagegen lässt die Inhalte in den Hintergrund rücken, wendet sich den Strukturen des Bewusstseins und dem Bewusstseinsraum selbst zu.

Östliche Wege beachten viel mehr auch den Hintergrund, den Raum und die Leere, während im Westen die Aufmerksamkeit mehr auf den Vordergrund, die Objekte und die Form gerichtet wird. Diese beiden Möglichkeiten der Fokussierung werden in der Geschichte vom Zöllner und dem Eseltreiber deutlich: Über viele Jahre beobachtet ein Zöllner einen Eseltreiber, der jeden Tag einen Esel über die Grenze führt. Immer wieder untersucht er die Packtaschen, die der Esel trägt, findet aber keine Schmuggelware. Lange nachdem der Zöllner in den Ruhestand gegangen war, begegnet er dem Eseltreiber. Da dieser im Besitz eines stattlichen Hauses ist, kann er sich nicht zurückhalten, ihn zu fragen, was er denn geschmuggelt habe. Erst nach einigem Zögern und der Zusicherung, niemandem etwas davon zu verraten, antwortet der Eseltreiber: »Ich habe Esel geschmuggelt.«

Fokus der Aufmerksamkeit

Durch die Auswahl dessen, worauf wir die Aufmerksamkeit richten, gestalten wir unsere Erfahrungen. Langfristig haben diese Erfahrungen auch Auswirkungen auf die Verschaltungen in unserem Gehirn (siehe Glossar »Neuroplastizität«, S. 270). Wir konstruieren auf diese Weise unsere Welt und unsere Beziehungen. Wir bestimmen, in welche Richtung unsere Energien fließen. »Energie folgt der Aufmerksamkeit«, so lautet ein Grundsatz der Kahunas, der hawaiianischen Schamanen.

Fokus Innenwelt: »Innere Achtsamkeit«

Worauf kann sich nun die Aufmerksamkeit in achtsamer Weise richten, was kann in den Fokus genommen werden? Man kann die Aufmerksamkeit nach innen lenken, auf Körperempfindungen wie den Atem oder auf die Wahrnehmung einzelner Körperteile oder von Körperbewegungen. Mit Hilfe »Innerer Achtsamkeit« können wir die einzelnen Bausteine erforschen, die unsere Innenwelt erschaffen: Wenn wir dahin lauschen, werden uns Gedanken, die Monologe oder Dialoge innerer Stimmen bewusst; wenn wir unseren inneren Bildschirm betrachten, können Bilder auftauchen; und wenn wir den Raum der Vorstellungen und Erinnerungen betreten, können Eindrücke aus allen fünf Sinnen auftauchen. Wir erinnern vielleicht eine Szene aus dem letzten Urlaub, einen Sonnenuntergang am Strand. Wir sehen den tiefroten Sonnenball im Meer versinken, hören die Wellen rauschen und die Möwen, spüren den kühlen Wind über unser Gesicht streichen und den warmen Sand. Wir riechen sogar das Meer und schmecken Salz in der Luft. Und es kann ein Gefühl der Freude hochkommen.

Den Körper bewusst wahrzunehmen ist für viele Menschen ungewohnt, außer wenn er schmerzt oder nicht funktioniert. Körperwahrnehmung ist aber ein hervorragender Weg zu Gegenwärtigkeit, zu Präsenz. Die Beobachtung des Atems hat sich dabei über zweieinhalb Jahrtausende als Ausgangspunkt bewährt. Den Körper bewusst in das Feld der Aufmerksamkeit mit einzuschließen, erhöht die Empfindung der Fülle des Lebens.

Auch die Qualität von Entscheidungen wird verbessert, wenn Informationen aus dem Körper bewusst berücksichtigt werden – wenn wir an seinen Reaktionen wahrnehmen, was er zu sagen hat. Achtsames Spüren bedeutet dann, immer feinere Empfindungen beobachten zu können. Das Training von Achtsamkeit ermöglicht, Körperteile oder Empfindungen wahrzunehmen, die sonst unter der Bewusstseinsschwelle liegen.

Fokus Außenwelt

Mit dem bewussten Fokus auf die Außenwelt betreten wir die Welt der Sinne, öffnen uns der sinnlichen Erfahrung, um die unterschiedlichsten Landschaften zu erforschen: visuelle, aber auch Geräusch-, Tast-, Geruchs- und Geschmackslandschaften.

Achtsamkeit bedeutet, die Welt in zunehmendem Maße so wahrzunehmen, wie sie ist. Die einzelnen Elemente des Wahrgenommenen können immer mehr differenziert und durch genaue Beobachtung intensiver erlebt werden. Sich darüber bewusst zu werden, worauf wir unsere Aufmerksamkeit in der Außenwelt richten, führt zur Einsicht, welchen Ausschnitten der Welt wir uns zuwenden. Es kann auch klar werden, welche Ausschnitte wir ausblenden. Wir können auch weniger benutzte Sinne schulen, können die Konzentration auf bisher wenig beachtete Objekte und ihre Qualitäten üben.

Achtsam zu sehen bedeutet, sich bewusst und absichtsvoll darauf zu konzentrieren, was wir mit unseren Augen wahrnehmen: Formen, Farben, Bewegung. Eine Rose zu sehen heißt, die einzelnen Blütenblätter, den Stängel, die Dornen, die Formen und feinen Farbschattierungen ganz genau wahrzunehmen. Dabei kann die Vorstellung helfen, die Rose auf eine Weise zu betrachten, als ob wir noch nie eine Rose gesehen hätten. Dies hilft, alle Assoziationen und Erinnerungen, die wir an Rosen knüpfen, für eine Weile in den Hintergrund rücken zu lassen um uns rein auf die visuelle Wahrnehmung zu konzentrieren. Um die Welt noch intensiver und vollständiger wahrzunehmen und zu genießen, können wir auch noch achtsam an der Rose riechen oder unseren Geschmackssinn nutzen, die Feinheiten einer liebevoll zubereiteten Mahlzeit zu erforschen.

Fokus Ruhe

Neben der Konzentration und Fokussierung auf Objekte gibt es auch die Möglichkeit, auf jenen Hintergrund zu fokussieren, in dem die Wahrnehmungen auftauchen: die Ruhefokussierung. Ruhe ist sowohl in der Innenwelt als auch in der Außenwelt zu finden. Man kann auf die Pausen zwischen den Geräuschen und auf innere Ruhe fokussieren. Der innere Bildschirm kann auch leer oder grau sein, der Körper entspannt sich, innerer Frieden kehrt ein.

Fokus Wandel

Den Fokus auf Wandel, auf Veränderungen zu richten, ist eine Anleitung, die am besten auf dem Hintergrund der buddhistischen Psychologie zu verstehen ist. Diese sieht in der Illusion von Stabilität und Dauerhaftigkeit eine wesentliche Quelle von Leid. In Wahrheit sei alles in Veränderung begriffen, alle gegenteiligen Wünsche sind zum Scheitern verurteilt. Gemäß der Anregung Buddhas, Aussagen nicht ungeprüft zu glauben, kann eben genau diese dauernde Veränderung der Welt, eben dieses Fließen zum Gegenstand der Beobachtung gemacht und damit erfahrbar werden. Wandel und Fluss können sowohl in der Innenwelt, als auch in der Außenwelt bewusst aufgesucht, fokussiert und beobachtet werden. Mit zunehmendem Training gelingt es, immer feinere Veränderungen immer genauer wahrzunehmen.

Fokus »Liebende Güte«

In vielen buddhistischen Traditionen spielt der Fokus auf »Liebende Güte« eine wesentliche Rolle. Als Richard Davidson (2002, S. 10), ein bedeutender amerikanischer Wissenschaftler auf dem Gebiet der Achtsamkeitsforschung, tibetische Mönche um ihre Mitarbeit in einem Forschungsprojekt bat, stieß er auf ein für ihn völlig unerwartetes Hindernis. Die Mönche fragten ihn, welche Auswirkungen die Forschungsergebnisse im Hinblick auf das Wohlergehen anderer Menschen hätten. Sie mussten mithilfe des Dolmetschers erst überzeugt werden, dass die Forschung ihrem wesentlichsten Ziel dient, anderen Wesen zu helfen, was einem Ausdruck Liebender Güte entspricht. Die Kultivierung von Zuständen Liebender Güte bis zur Verinnerlichung einer entsprechenden Haltung ist ein wesentlicher Teil buddhistischer Geistesschulung. Ziel ist die ausgewogene Entwicklung der Qualitäten von Liebender Güte (metta, maitri), Mitgefühl (karuna), Mitfreude (mudita) und innerem Frieden (Gelassenheit und Gleichmut; upekkha). Sie sind die natürliche Grundlage menschlichen Glücks.

»Wenn das Bewusstsein offen und friedlich ist, ruhen wir in Gleichmut. Wenn unser friedliches Herz anderen Wesen begegnet, füllt es sich mit Liebe. Wenn diese Liebe mit Schmerz konfrontiert wird, wandelt sie sich ganz automatisch zu Mitgefühl. Trifft sich diese Liebe mit dem offenen Herzen jedoch mit Glück, dann wird Freude daraus«, schreibt Jack Kornfield (2008, S. 542) in »Das weise Herz«, einem Buch, in dem er als amerikanischer Buddhist und Psychotherapeut wesentliche Prinzipien buddhistischer Psychologie erklärt.

Die klassische Form der Kultivierung von Liebender Güte ist die sogenannte »Metta-Praxis«. Diese Praxis beginnt damit, sich selbst zu visualisieren und dabei traditionelle Formeln zu wiederholen wie: »Möge ich Sicherheit und Gesundheit erfahren. Möge ich glücklich sein.« In Achtsamkeit wird dabei auf Gefühle von Liebender Güte fokussiert, die sich im Körper und speziell im Herzen bemerkbar machen. Vielen Menschen fällt es allerdings schwer, sich selbst Liebe zu schenken. Es ist dann auch möglich, sich an Situationen zu erinnern, in denen Akzeptanz und Liebende Güte von anderen Wesen erfahren wurde. Dabei wird auf die durch die Erinnerungen oder Vorstellungen ausgelösten Empfindungen und Gefühle fokussiert. Wenn Liebende Güte auf diese Weise erfahrbar ist, kann man sie sich auch selbst schenken. Die Praxis wird dann stufenweise auf andere Wesen ausgedehnt: Zunächst auf Wohltäter, geliebte Menschen und Freunde. Später dann auf Menschen, denen man neutral gegenübersteht, zu denen flüchtige Kontakte bestehen. In der nächsten Stufe wird das Feld der Liebenden Güte auf schwierige Menschen und jene ausgedehnt, gegenüber denen man Ablehnung empfindet. Im letzten Schritt schließt dieses Feld alle fühlenden Wesen mit ein. (siehe Übung »Liebende Güte«-Meditation, S. 119)

Wozu Achtsamkeit?

Das Training von Achtsamkeit dient der Entwicklung und Verfeinerung von drei zentralen menschlichen Fähigkeiten (vgl. Young, S., 2013, 2016): Klarheit, Gleichmut und Konzentration. Klarheit ist die Voraussetzung dafür, sich selbst immer mehr so wahrzunehmen, wie man ist. Klarheit und Einsicht helfen auch, die Welt immer mehr so wahrzunehmen, wie sie ist. Gleichmut hilft körperliches und emotionales Leiden zu verringern, Konzentration ist notwendig, um sich dem zuwenden zu können, was wichtig ist. Konzentration vertieft Erfahrungen und führt zu größerer Erfüllung.

Klarheit und Einsicht

Klarheit wird als Fähigkeit verstanden, die Welt so wahrzunehmen, wie sie ist. Die buddhistische Psychologie bezieht sich dabei auf die Innenwelt. Sie definiert Klarheit als Fähigkeit, den einzelnen Komponenten der Erfahrung, wie sie in den unterschiedlichsten Kombinationen von Augenblick zu Augenblick auftauchen, auf der Spur zu sein. Die Klarheit bringende Komponente von Achtsamkeit kann mit einem Mikroskop verglichen werden. Mikroskope vergrößern das Auflösungsvermögen der Wahrnehmung für die äußere Welt. Mittels Achtsamkeit kann die Zusammensetzung der Innenwelt genauer erforscht werden. Ein Mikroskop gibt Einblick in die Zusammensetzung des Körpers, von Geweben, Zellen und deren Bestandteile. Bei zunehmender Fähigkeit zu Achtsamkeit werden immer feiner jene einzelnen Elemente wahrgenommen, die das Erleben begründen. Man erkennt, wie einzelne Wahrnehmungselemente wie Körperwahrnehmung, innere Bilder oder Selbstgespräche zusammenwirken und so komplexe Phänomene entstehen wie Erinnerungen, Leiden, Erfüllung, Verbundenheit, Getrenntheit oder ein Ich-Gefühl. Man kann erkennen, welche Muster das eigene Leben prägen – wie man sich selbst organisiert (siehe Exkurs »Der Mensch als ein sich selbst organisierendes lebendiges System«, S. 133). Es wird möglich, körperlich immer feinere Energie-Ströme wahrzunehmen, was andere Kulturen Qui, Chi oder Prana nennen. Auf einer transpersonalen Ebene wird Verbundenheit mit Allem erfahrbar.

Die Außenwelt, aber auch die Innenwelt, wird nur in Ausschnitten wahrgenommen. Die Filterung der Wahrnehmung und ihre Bewertung erfolgt automatisch auf dem Hintergrund individueller Lebenserfahrungen. Wahrnehmungen werden ständig, automatisch und unbewusst mit früheren Erfahrungen verglichen und in Konzepte eingeordnet. Neue Erfahrungen werden auf der Suche nach einer sinnvollen Bedeutung in diesen Hintergrund eingearbeitet. Diese automatisierte Grundorganisation ist bei der Bewältigung des Alltags hilfreich zur Orientierung und zur schnellen Setzung von Prioritäten. Sie führt allerdings auch dazu, dass die Welt nur sehr ausschnittweise und durch Vorerfahrungen verzerrt wahrgenommen wird.

Achtsamkeit zielt auf einen ausschließlich wahrnehmenden Geisteszustand, auf die »reine« Registrierung der betrachteten Fakten. Durch die verlängerte direkte Beobachtung vertieft sich der Kontakt mit dem Objekt und der Beobachter bleibt gegenwärtig. Automatische Reaktionen oder die Filterung durch Konzepte werden verzögert oder können ausbleiben. In diesem Zustand können dann auch psychische Reaktionen zum Gegenstand der Beobachtung gemacht werden. Achtsamkeit verhilft auf diese Weise dazu, sich der Ereignisse der inneren und äußeren Welt als Phänomene bewusst zu werden. Sie ermöglicht, aus einer Welt aufzuwachen, die wir mit Hilfe unserer Konzepte konstruieren und interpretieren. Die Wahrnehmung der Welt bekommt so eine neue Frische, Reaktionen erfolgen weniger automatisch und flexibler.

Diese Art wahrzunehmen ist nicht mit distanziertem Desinteresse zu verwechseln. Sie entspricht mehr einer engagiert teilnehmenden Beobachtung. Achtsamkeit führt somit nicht zu einer Distanzierung vom Leben oder zu abnehmendem Interesse an den Mitmenschen. Ganz im Gegenteil. Achtsamkeit ermöglicht, die Realität immer mehr so wahrzunehmen, wie sie ist, und verstärkt damit unser Einfühlungsvermögen. Über Einfühlung führt sie zu Mitgefühl mit sich selbst und anderen Menschen und darüber hinaus zu ökologischem Bewusstsein und Handeln.

Erweiterung und Verfeinerung der Wahrnehmung

Geistesschulung durch Achtsamkeit ist ein Ausdauertraining der geistigen Kräfte der bewussten Wahrnehmung, die sich mit zunehmender Übung verändert und intensiviert. Die Schwelle des Wahrnehmbaren sinkt. Das Auflösungsvermögen unseres »inneren Mikroskops« vergrößert sich. Es ist, als ob eine 15-Watt-Glühbirne in einem dunklen Raum durch eine 100-Watt-Halogenleuchte ersetzt würde. Die eine ermöglicht gerade noch den Tisch und den Stuhl zu erkennen, mit der anderen kann man das Kleingedruckte in dem Buch auf dem Tisch lesen. Weiteres Training gibt eine Lupe zur Hand.

So dient die Schulung der Wahrnehmung einer fortlaufenden Entwicklung des Schlüsselinstruments um Einsicht und Klarheit zu erlangen. Intensive und langfristige Schulung von Achtsamkeit ermöglicht, Dinge in einer unvorstellbaren Klarheit neu wahrzunehmen und zu erkennen.

Gelassenheit und Gleichmut

Gelassen sein heißt, etwas lassen können, es zuzulassen und auch wieder loszulassen. Gleichmut heißt, sich allem gleich mutig zuwenden zu können, und nicht, etwas ängstlich vermeiden zu müssen. »Gleich« wird als Gegensatz zu Bevorzugung oder Abneigung verstanden, aber auch im Sinne von Ausgewogenheit und Balance.

Klarheit ist die Fähigkeit, etwas so wahrzunehmen wie es ist, Gelassenheit kann als Bereitschaft und Wille gesehen werden, etwas so zu erfahren, wie es ist. Training von Achtsamkeit kultiviert Gelassenheit und Gleichmut auf zwei Arten: erstens können spontan auftretende Zustände von Gleichmut als solche erkannt werden. Indem man sie fokussiert und genau erforscht, können sie sich ausbreiten. Je öfter sie aufgesucht werden, desto leichter stellen sie sich auch wieder ein. Zweitens kann Gelassenheit auch bewusst hervorgerufen werden. Auf mentaler Ebene zum Beispiel können negative Beurteilungen durch wohlwollende Akzeptanz ersetzt werden. Der Fokus der Aufmerksamkeit liegt auf einer neugierig interessierten, präzisen Betrachtung. Körperlich bedeutet Gelassenheit, dass die Anspannung der Muskeln nachlässt, man loslassen und entspannen kann.

Mit Gleichmut wahrgenommene Gefühle können ihre Signalfunktion erfüllen und als Motivationshilfen dienen. In Gleichmut werden wir aber nicht von unseren Gefühlen oder Schmerzen beherrscht oder von ihnen weggeschwemmt. Gleichmut ist etwas anderes als Apathie und bedeutet eben nicht, in den natürlichen Fluss der Erfahrungen einzugreifen. Gleichmut ist im Gegensatz zur Unterdrückung von Erleben die radikale Erlaubnis, alles wahrzunehmen, wie es ist, einschließlich aller Gefühle.

Gelassenheit weitet – im Zusammenwirken mit den anderen Bausteinen – das Toleranzfenster für jenen Bereich an schmerzlichen und neuen Erfahrungen, der dem Bewusstsein zugänglich wird. Es wird möglich zu erinnern, zu spüren und zu fühlen, was abgespalten oder verdrängt war oder unter der Wahrnehmungsschwelle lag.

Konzentration

Konzentration wird in der Psychologie definiert als selektive Aufmerksamkeit, als willentliche, zielorientierte Fokussierung der Wahrnehmung. Praktisch gesehen ist Konzentration die Fähigkeit, Aufmerksamkeit darauf zu richten, was zu einem bestimmten Zeitpunkt als wichtig erachtet wird, und das in den Hintergrund rücken zu lassen, was irrelevant erscheint (Young, S., 2016). Idealerweise sollte es jederzeit und solange wie gewünscht möglich sein, den Fokus zu bestimmen, eng oder weit, je nachdem, was im Moment sinnvoll ist.

Wie kann man nun die Beziehung zwischen Konzentration und Achtsamkeit verstehen? Genauer betrachtet ist Konzentration eine grundlegende menschliche Fähigkeit, Achtsamkeit eine spezifische Anwendung dieser Fähigkeit. Prinz Siddharta, der historische Buddha, soll in seiner Jugend spezielle Bewusstseinszustände erlangt haben, indem er sich auf einfache Objekte konzentrierte. Bei seinen beiden ersten Lehrern vertiefte er diese Fähigkeit zur Konzentration. Tiefe, entrückte Zustände von Konzentration waren das letzte Ziel der spirituellen Praxis dieser Lehrer. Die entscheidende Entdeckung, die Prinz Siddharta zum Buddha – dem Erwachten – machte, war eine neue Anwendung der Konzentrationsfähigkeit. Er verwendete sie als Instrument, um die Mechanismen der Entstehung von Leid zu erforschen, und ergänzte damit seine Lehre um eine psychologisch »psychotherapeutische« Komponente. Diese Anwendung von Konzentration nannte er Achtsamkeit. Um allerdings Konzentration in dieser Form anwenden zu können, muss sie konsequent geschult werden.

Zwischen der Schulung von Konzentration und der von Achtsamkeit bestehen somit Wechselwirkungen. In die eine Richtung eröffnet die Schulung der Konzentrationsfähigkeit den Zugang zu Achtsamkeit und ermöglicht deren Vertiefung. In der anderen Richtung erhöht das Training von Achtsamkeit die Flexibilität von Aufmerksamkeit und Konzentration.

Anwendungen von Achtsamkeit

Achtsamkeit als Alternative zum Alltagsbewusstsein

Damit sich die Bewusstheit einer Wahrnehmung entwickeln kann, ist ein zeitlicher Rahmen notwendig. Achtsamkeit braucht ein Innehalten und Langsamkeit, um sich entfalten zu können.

Werfen wir einmal einen kleinen Blick auf die Geschwindigkeit unserer täglichen Erfahrungswelt: Als ein Maß für das allgemeine Lebenstempo wurde in der Sozialforschung die Schrittgeschwindigkeit der Menschen herangezogen. Dazu wurde im Jahre 2007 in 32 Großstädten der Welt eine Studie durchgeführt. Es wurde jene Zeit gemessen, die zufällig ausgewählte und beobachtete Männer und Frauen für das Gehen einer Strecke von etwa 18 Metern brauchten. In Singapur waren die Menschen am schnellsten unterwegs, sie brauchten 10,55 Sekunden. In New York wurden für die gleiche Strecke 12,00 Sekunden gestoppt, in Bern (Schweiz) 17,37 und in Blantyre (Malawi) 31,60 Sekunden. Verglichen mit einer ähnlichen Studie in den frühen 90er Jahren war die Geschwindigkeit im Durchschnitt um etwa 10 % höher. In Guangzhou (China) beschleunigte sich das Tempo um über 20 %, in Singapur um 30 %. Es wird deutlich: Das Lebenstempo wird immer höher. Dieser Eindruck, der von vielen Menschen in ihrem subjektiven Erleben geteilt wird, konnte auf diese Weise ein Stück messbar gemacht und bestätigt werden (Wiseman, 2008).

Multitasking ist ein typisches Wort unserer Zeit und Ausdruck dieser Beschleunigung: Es scheint notwendig geworden zu sein, immer häufiger zur gleichen Zeit mehreren Anforderungen (tasks) nachzukommen, verschiedene Tätigkeiten auszuführen und unsere Aufmerksamkeit in mehrere Richtungen aufzuteilen. Manche Zeitgenossen fahren Auto, schalten, lenken, achten auf die Straße und den Tachometer, telefonieren über die Freisprechanlage mit ihrer Frau, hören über den Verkehrsfunk, dass es einen Stau gibt, und haben noch eine Zigarette in der Hand. Zu Hause wird gleichzeitig gegessen, gesprochen, Zeitung gelesen und ferngesehen. Viele Menschen sind so daran gewöhnt, viele Dinge auf einmal zu tun, dass eine längere Konzentration auf ein unspektakuläres Objekt kaum mehr möglich ist. Man muss dann immer irgendwie aktiv sein und kommt nicht zur Ruhe. Dies ähnelt der Symptomatik des »Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndroms« (ADHS). Viele Fachleute gehen inzwischen davon aus, dass die wachsende Zahl von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen, die daran leiden, Indikatoren für eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung sind.

»Zeit, Ruhe und Stille sind ein Faktor, der für mich Luxus ausmacht«. Mit diesem Satz antwortet eine Markt- und Motivationsforscherin in einem Wirtschaftsmagazin auf die Frage einer Journalistin, was für sie persönlich Luxus sei (Maierbrugger & Muzik, 2007).

In Österreich hat sich ein »Verein zur Verzögerung der Zeit« der Entschleunigung verschrieben. Er hat inzwischen weltweit über 1000 Mitglieder. Eine Aktion des Vereins war die Zurücklegung einer Strecke von 100 Metern in einer Zeit von nicht weniger als einer Stunde. Neue Worte werden kreiert und bekommen Bedeutung: enthetzen, downspeeding, Zeitsouveränität.

Im Schwarzwald hat sich die Gemeinde Königsfeld mit ihren 6000 Einwohnern der »Slow-Bewegung« angeschlossen und nennt sich »Eigenzeit-Ort«. Es gibt slow food statt fast food. Der Bäcker verwendet keine beschleunigenden Backmischungen. In der Käserei bekommt der Käse Zeit zu reifen. Im Ort gibt es 40 »Zeit-Punkte«, die zum bewussten Umgang mit der Zeit einladen.

Und in Plum Village, einem buddhistischen Kloster in Frankreich, das der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh im Jahre 1982 gegründet hat, praktizieren Mönche, Nonnen und Laien ein Leben in Achtsamkeit. Wie auch an anderen Rückzugsorten erklingen dort immer wieder am Tag eine Glocke, eine Klangschale oder ein Gong. Sie laden ein zum Innehalten, zum Unterbrechen des Redens oder Tuns, zum Wahrnehmen des Atems. Im Film »Schritte der Achtsamkeit« (Lüchinger, 1998), in dem Thich Nhat Hanh auf einer Indienreise begleitet wird, sind jene Szenen besonders beeindruckend, in denen Menschen in großen Gruppen gemessenen Schritts achtsam gehen.