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Die Bekämpfung eines kosmischen Brandherds mündet in einer tiefgreifenden Transformation aller galaktischen Zivilisationen. Im Jahr 2405 reisen zwei Transnauten in einem Raumschiff der insektoiden Szaz achtzehnhundert Lichtjahre weit zum Stern Kepler-452. Dort breitet sich ein apokalyptischer kosmischer Brandherd aus und es ist Aufgabe der Szaz, ihn zu löschen. Mehr wissen die beiden Abenteurer nicht. Je näher sie ihrem Ziel kommen, um so mehr wachsen ihre Zweifel, ob sie auf der richtigen Seite stehen. Bald entwickeln die Dinge eine unheilvolle Eigendynamik, welcher auch die übermächtigen Szaz hilflos gegenüberstehen, und ein alter Feind wird zum neuen Hoffnungsträger.
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Seitenzahl: 622
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Im Jahr 2182 entdeckten irdische Astronomen im 22 Lichtjahre entfernten System Gliese667C die Strahlungssignatur einer offensichtlich technischen Explosion. Ein Jahrhundert später startete eine Expedition zu ihrem langen Flug in dieses System, sieben menschliche Klone im Kälteschlaf, am Ziel erweckt von geistreisenden Transnauten. Die dramatischen Ereignisse bei Gliese und im irdischen Sonnensystem entsprangen dem äonenalten Konflikt zwischen den Spezies der Ahriman und Szaz und zwangen zur Parteinahme.
Man entschied sich für die Szaz und dieser Roman erzählt vom weiteren Schicksal zweier Transnauten. Im Team mit einer Szaz reisen sie nach Kepler-452, um dort einen geheimnisvollen Weltenbrand zu löschen. Schon während der Reise erhält ihr neues Weltbild erste Risse. Und rasch eskaliert dies Unternehmen zur nächsten Runde im Kampf der Szaz mit den Ahriman und gegen eine kosmische Bedrohung für die ganze lokale Galaxien-Gruppe.
Martin Karsten wurde 1954 in Münster/Westfalen geboren und lebt heute südlich von Heidelberg im Kraichgau.
Nach dem Staatsexamen in Germanistik und Geographie promovierte er in Klimageographie. Mitte der 80ger-Jahre führte ihn eine berufliche Neuorientierung in die IT-Branche. In den letzten Jahrzehnten arbeitete er bei einer Landesforstverwaltung als Datenbankspezialist.
Science-Fiction spekuliert nicht nur über Technologie, sondern wirft unweigerlich auch metaphysische Fragen auf. In den letzten Jahrzehnten befeuerten neue astronomische und physikalische Erkenntnisse die Weiterentwicklung kosmologischer Theorien und befruchteten auch spirituelle Weltbilder. Beide Seiten verschmelzen in dieser Space Opera zu einem abenteuerlichen Amalgam aus Technik und Geist.
Prolog
Kapitel 1 – Hölle
Kapitel 2 – In Poseidons Kielwasser
Kapitel 3 – Fürsprecher
Kapitel 4 – In Poseidons Eis
Kapitel 5 – Lehrstunde
Kapitel 6 – Im
Chuzh
Kapitel 7 – Roxor
Kapitel 8 – Come together I
Kapitel 9 – Retrospektive I: Brandmauer
Kapitel 10 – Retrospektive II: Exodus
Kapitel 11 – Come together II
Kapitel 12 – Hoffnung für einen Geist
Kapitel 13 – Unter Wölfen
Kapitel 14 – Die Relativität von Freiheit
Kapitel 15 – Spionage
Kapitel 16 – Gewitter ziehen auf
Kapitel 17 – Sturmfront
Kapitel 18 – Blitze
Kapitel 19 – Donner
Kapitel 20 – Alles im Fluss
Kapitel 21 – Mitten im Strom
Epilog
Des Wahnsinns Methode
Anhang
Mein besonderer Dank für wertvolles Lektorat gilt meiner Frau Ulrike,
Brigitta Gerweck,
Manfred Gerweck-Göpfrich und Dieter Sprengel.
Dies Buch ist allen gutgläubigen Skeptikern gewidmet, die voller Hoffnung auf Irrtum die Grenzen menschlichen Wissens erforschen.
Und manchmal liegt die Wahrheit jenseits der Grenze.
Per aspera ad astra.
Dies ist die Geschichte von Pauline Mercier und Frank Steinweg, verdiente Helden der solaren Föderation. Verdient zum einen für ihren aufopferungsvollen Einsatz im Kampf gegen die Ahriman an der Seite der Szaz, zum anderen für die Anwerbung der Szaz als Transporteure einer menschlichen Kolonistengruppe über den Abgrund von zweiundzwanzig Lichtjahre hinweg nach Gliese667Cc. Und weiterhin für die ebenso heldenhafte wie überstürzte Verpflichtung, zehn Jahre oder drei Missionen lang die Szaz in ihren Unternehmungen zu unterstützen. Dies allerdings nur im Team mit ihrer alten Mitstreiterin Sethoceris, der Szaz-Königin ohne Volk und ohne Schiff. Zumindest ohne großes Schiff.
Was noch zu erwähnen wäre, die beiden sind Transnauten. Sie besitzen die Fähigkeit, im Nahtod-Modus von einem Körper in einen anderen zu wechseln, vorausgesetzt, der neue ist ein hundertprozentiger Klon des alten.
Damit nicht genug, sind unsere Abenteurer auch Telepathen. Dies allerdings nicht von Geburt an, sondern erweckt von einem Gesandten der sogenannten Monade, von welcher man zu wissen glaubt, dass sie nichts weniger als den spiritus universalis repräsentiere.
Zu guter Letzt seien noch die beiden dienstbaren Maschinengeister erwähnt, welche unsere Helden als Bekleidung und Leibwächter begleiten: die Nano-Anzüge Valerie für Pauline und James für Frank.
Was doch noch anzudeuten wäre, auch einige alte Freunde und Feinde werden ihren Teil zu den Verwicklungen und Erkenntnissen beitragen. Aber nichts ist, wie es scheint, und Saulus könnte zu Paulus werden.
Eintrag persönliches Logbuch Pauline Mercier, 08.07.2405, 9:00 Solarzeit:
Dieses System ist die Hölle und das Leben an Bord der Prinz entwickelt sich ebenfalls in diese Richtung, zumindest für mich. In vier Gewaltakten sind wir nun weitere fünfhundert Lichtjahre gesprungen und haben den Stern Kelt-9 erreicht. Seit zwei Tagen kreisen wir eine Lichtminute über dem Äquator dieses weißblauen Infernos von Sonne. Frank und mir ist immer noch speiübel und wir hängen meistens in unseren beiden Kabinen herum. Unterdessen geht Sethoceris, dieses unterkühlte Insektenmonster aus der Spezies der Szaz, irgendwelchen unergründlichen Tätigkeiten an den schwebenden Bedienungskonsolen des Schiffes nach.
Ja, die Hölle, denn wir haben erst ein Drittel unseres Weges nach Kepler-452 bewältigt und fühlen uns schon sterbenskrank. Zwar entdecken die Medi-Checks unserer Nano-Anzüge keine Anzeichen einer ernsthaften Erkrankung, aber die Blutwerte sind ziemlich am unteren Limit. Doch unsere derzeitigen Klonkörper sind jung und fit. Sie werden hoffentlich durchhalten.
Immerhin haben wir uns für reichlich lange zehn Jahre für einen leider nicht näher definierten Dienst bei den Szaz verpflichtet. Und so nehmen wir nun an diesem immer noch obskuren Einsatz im fernen Kepler-System teil. Quasi als Gegenleistung für die Besiedlungshilfe des Planeten Poseidon im System Gliese667C, wo ein gigantisches Mutterschiff der Szaz eine große menschliche Kolonistengruppe abgeladen hat.
Wenn alle Stricke reißen, wir einfach nicht mehr können oder, noch schlimmer, uns der Tod ereilt, eilen wir nach Hause. Keine Redewendung! Als Transnauten, als mittlerweile erfahrene Geistreisende, steht uns die Rückkehr in unsere sicher im Archiv der irdischen Lazarus Labs eingelagerten alten Körper offen. Falls die noch kompatibel sind. Es gibt da Zweifel. Aber ich will ja nicht den Teufel an die Wand malen.
Apropos, wie ich schon sagte, dieses System ist einfach die Hölle. Der sonnennächste Planet ist seinem Gestirn sehr nahe, so nah, dass ihm die Atmosphäre feurig weggeblasen wird und als Mahlstrom kondensierter Materie durch das ganze Sonnensystem wirbelt. Was machen wir hier überhaupt? In vier Stunden ist Lagebesprechung. Da werden wir sicher wieder mit Daten überhäuft. So viel Neues, so weit weg von der Erde. Ich ruhe mich jetzt noch etwas aus, um nachher alles mitzubekommen. Und wenn nicht, Valerie zeichnet ja sowieso alles auf.
Speichern und Logout.
Die Prinz, wie die Menschen das Raumschiff nannten, stellte das verkleinerte Abbild eines Szaz-Mutterschiffs dar, eine Nussschale aus Neutronium, angefüllt mit einer Technik jenseits menschlichen Begreifens. Eine fünfzig Meter durchmessende Hohlkugel mit gravovariabler Schale, auf deren Innenwand sich die verschiedenen Wohn- und Technikräume erstreckten. In der Kugelmitte spannte sich dreißig Meter weit die Zentrale auf mit ebenfalls zur Außenschale hin orientierter Schwerkraft von komfortablen 0,8 g.
Pauline, untersetzt, brünett, mit ebenmäßig weichen Gesichtszügen und lachenden grünen Augen, und Frank, schlank, braunwuschelig, dunkeläugig und hakennasig, verließen fast gleichzeitig ihre Kabinen über den Deckenlift und betraten den weiten Hohlraum der Zentrale mit seiner Armada aus leuchtend durch den Raum treibenden virtuellen Konsolen und Hologrammen. Die Mehrzahl dieser Objekte hatte sich über ihren Köpfen zu einer flirrenden Wolke verdichtet, aus deren Mitte der Körper einer Gottesanbeterin von den Ausmaßen eines irdischen Bären dunkel hervorschimmerte: Sethoceris aus der Spezies der Szaz, Kommandantin der Prinz.
»Hallo Setho, was gibt es Neues da oben«, rief Frank munter hinauf und winkte in gespielter Fröhlichkeit.
›Wieso gibt er sich immer noch heiter? Er ist doch genauso erledigt wie ich, er spielt das bloß‹, dachte sich Pauline gereizt, verbarg dann aber schnell diese Regung hinter ihrem Mentalschirm, den aufzubauen sie beide im Laufe der Reise gelernt und gegenseitig respektiert hatten. Als gleichermaßen telepathisch Begabte galt es, eine geistige Privatsphäre zu bewahren. Die physische Enge dieses Raumschiffs war aufreibend genug.
Die Szaz schien ihre Anwesenheit bemerkt zu haben. Mit einer wirbelnden Bewegung ihrer mächtigen Fangarme ließ sie das ganze Ensemble virtueller Objekte zu einer Partikelwolke zerstieben und sprang mit einem mächtigen Satz mitten durch das Geflimmer über die dreißig Meter hinweg zu ihnen herüber. Das vernehmliche Kratzen ihrer Klauen bei der Landung, ihr hochaufgerichteter Vorderkörper und die herabstarrenden obsidianschwarzen Facettenaugen ließen die beiden Menschen unwillkürlich erschaudern, obwohl es am Wohlwollen des Aliens keinen Zweifel gab.
Sethoceris wandte sich wortlos wieder der Raummitte zu, wo sich ein neues Hologramm zur Darstellung des Sonnensystems Kelt-9 formierte. Sie betrachtete es kurz und begann dann summend und sirrend zu sprechen, was die Nano-Anzüge der Menschen simultan übersetzten und in deren Gehör-Implantate einspeisten.
»Geschätzte Verbündete, sicher kennt ihr die astrophysikalischen Fakten dieses Systems, daher nur eine kurze Zusammenfassung. Dieser Stern, nach eurer Klassifizierung ein A0, liegt sechshundertfünfzig Lichtjahre von eurem Heimatplaneten entfernt. Im Vergleich mit eurer Sonne ist er doppelt so heiß und von doppeltem Durchmesser. Und er rotiert extrem schnell, sodass seine Pole abgeflacht sind. Sein nächster Planet besitzt die dreifache Masse und den doppelten Durchmesser eures Jupiters. Er umkreist seinen Stern innerhalb von fünfunddreißig Stunden in gebundener Rotation und in einem Abstand von nur fünf Millionen Kilometern, also weniger als dem dreifachen Sonnendurchmesser. Die Umlaufbahn ist circumpolar, steht also senkrecht zur Ekliptik, sodass der Planet über die Sonnenpole hinwegzieht.
Diese Konstellation erhitzt die Oberfläche des Planeten auf rund viertausendsechshundert Grad, annähernd so heiß wie die Photosphäre eurer Heimatsonne. Da aufgrund der Abflachung die Sonnenpole von Kelt-9 heißer sind als der Sonnenäquator, fluktuiert auch die Oberflächentemperatur des Planeten, quasi ein tropisches Halbjahr in weniger als achtzehn Stunden.«
»Oh je, schon wieder kein Landgang?«, unterbrach Frank und zog eine Grimasse. Pauline schämte sich wieder einmal für ihn und war in Versuchung, mit ihm zu streiten. Aber dann machte sie sich klar, dass es Franks ganz normale Art war, auf Dauerbelastung mit Sarkasmus zu reagieren. Und diese Reise war der pure Dauerstress.
Ungerührt fuhr die Szaz fort: »Diese extremen Verhältnisse verwandeln die planetare Atmosphäre in einen chemischen Reaktor, in dem alle verdampften Moleküle in ihre Atome aufgebrochen werden. Der starke Sonnenwind seinerseits erodiert die Atmosphäre des Planeten und weht sie, einem Kometenschweif vergleichbar, hinaus in die Ebene seiner Umlaufbahn. Dort kondensiert die ausgeworfene Materie zu Gasmolekülen und Metallhydraten und bildet eine etwa sechzig Millionen Kilometer breite circumpolare Gas- und Staub-Scheibe um die Sonne. Da alle fünfunddreißig Stunden neues Material eingebracht wird, ist dieser Wirbel voller Dynamik. Kleinere Hydratbrocken klumpen zu größeren, andere stoßen zusammen und zerbrechen wieder.«
»Bitte, komm auf den Punkt. Diese Art von Materiescheibe ist ja wirklich eine Rarität, aber wir kennen doch die Daten von Kelt-9. Worauf willst du hinaus? Ich bin ziemlich müde«, konnte Pauline nicht mehr an sich halten und gähnte betont.
»Menschliche Ungeduld ist ein großes Hindernis für tieferes Verständnis«, rügte die Szaz nicht zum ersten Mal und die beiden Menschen stöhnten innerlich auf, schwiegen aber, damit es voranging. Sethoceris führte nun ein neues Objekt in das Hologramm des Sonnensystems ein. Es umkreiste seine Sonne innerhalb der Ekliptik und durchdrang an zwei Punkten die Materiescheibe.
»Den Grund für unseren Besuch seht ihr hier, der Planetoid Kelt-9c, den eure Astronomen noch nicht entdeckt haben. Während der senkrecht zur Ekliptik kreisende Gasplanet Kelt-9b als vagabundierender Himmelskörper vom Stern Kelt-9 eingefangen wurde, entstanden die elf weiteren Planeten in der Ekliptik zusammen mit ihrer Sonne.
Doch nirgendwo in diesem System ist autochthones Leben zu finden, dazu ist es noch nicht alt genug und wird bei diesem Sterntyp auch nicht alt genug werden. Dennoch finden wir auf Kelt-9c die Spezies der Borm. Sie schürfen den metallischen Reichtum der Materiescheibe und davon wollen wir profitieren. Unser Vorrat an Schwermetallen an Bord ist etwas knapp, ebenso Wasser, was vor allem ihr Menschen benötigt. Wir werden den Borm einen Besuch abstatten, genauer gesagt, ihr!«
Der erste Eindruck eines Menschen von Prospektor-835 wäre der einer kürbisgroßen Kartoffel mit drei pagodenartig geschichteten Wülsten auf ihrer Oberseite. Auf den zweiten Blick registrierte man die fahlbraune Lederhaut und dann fiele einem die symmetrische Anordnung und Struktur der zwölf kräftigen Triebe ins Auge: sechs oben, sechs unten.
Der Borm seinerseits beobachtete aus acht seiner sechszehn Augen im unteren Kopfwulst, wie auf dem Monitor vor ihm zwei schwarze, viergliedrige Aliens mit recht ekelhafter Kopfknolle ruckhafte Bewegungen ausführten. Die andere Hälfte des Augenkranzes blickte hilfesuchend nach hinten auf die sich herandrängelnden Mitglieder seines Schürf-Teams, die an der Sensation teilhaben wollten. Seine Ultraschall-Membran im mittleren Kopfwulst empfing schmerzend die abgrundtief dröhnende Botschaft, man wolle Handel mit ihnen treiben, was wiederum seinen Mundspalt im obersten Kopfwulst schmerzhaft zucken ließ. Nicht dass dies eine Livesendung gewesen wäre. Nein, der Arche-Senat hatte nach ausgiebiger Beratung ausgerechnet ihn ausgedeutet, in Kontakt mit den Missgestalten zu treten. Die Rückruf-Daten lagen vor und er musste nur noch einen Schalter betätigen, um diesen Wesen zu antworten.
Panik kroch in ihm hoch. Seit zweihundert Jahren hausten sie nun schon notgedrungen in dieser Zwischenstation auf ihrer langen Reise in eine neue Heimat, doch noch nie hatte sie, die Vertriebenen, hier jemand aufgestöbert. Seit dem Verlassen ihres verwüsteten Planeten waren sie keinen Fremden mehr begegnet. Was also hatte dieser Besuch zu bedeuten?
Er beschloss, rein demonstrativ sein Exoskelett überzustreifen, und befahl seinem Team, es ihm gleichzutun. Auf seinen sechs Unterbeinen betrat er die erdbraune Polymer-Schale, ließ sie in die Ausstülpungen für die externen Glieder aus Carbotanium gleiten und drückte auf den Knopf für den Schließmechanismus. Wie eine Muschel schloss sich der Oberteil seines Explorationsanzugs und die vier Oberbeine und beiden Arme schoben sich in die Steuerungsöffnungen. Seine Kopfwülste umringte eine interne Kuppel mit Kommunikationseinrichtungen für Bild und Ton. Fertig. Und nun auf Sendung.
Sethoceris hatte alle weiteren Fragen abgewehrt und sich in ihre Kabine zurückgezogen. Kurz vor dem zweiten Funkkontakt, diesmal mit Videostream der Borm, informierte sie denkbar knapp über die Eigenheiten dieser Spezies. Immerhin waren Frank und Pauline auf diesen bizarren Anblick vorbereitet, als sich auf dem Monitor eine Schar spinnenbeiniger Muscheln tummelte. Jene waren nicht die Borm selbst, sondern repräsentierten nur das Gegenstück zu ihren Nano-Anzügen. Während der erste Kontakt noch ohne Frequenzanpassung stattgefunden hatte, wurde nun eine Konvertierung in den Ultraschallbereich vorgenommen. Eine höfliche Berücksichtigung und gleichzeitige Wissensdemonstration über wesentliche Merkmale dieser Spezies.
»Wir entbieten Ihnen Respekt für eure bemerkenswerte Technologie zur Erschließung dieses Systems. Gerne möchten wir mehr über eure bergbaulichen Prozesse erfahren und auch eine geringe Menge bestimmter Elemente erwerben. Im Gegenzug könnten wir Ihnen leistungsfähige Systeme zur Energieerzeugung anbieten.«
Paulines kurze Ansprache nach Sethoceris Instruktionen war genau kalkuliert. Woher auch immer die Szaz wusste, was die Borm begehren würden, die erhoffte Reaktion trat nach einer kurzen Denkpause ein.
Ein Handelsangebot gleich beim Erstkontakt überrumpelte Prospektor-835 und löste ein zwiespältiges Gefühl aus. Woher wussten diese Wesen von den speziellen Verhüttungs-Problemen der Borm? Ihr Arche-Schiff war vor langer Zeit auf diesem Planetoiden havariert und musste als einzige Ressource zum Aufbau einer Siedlung ausgeschlachtet werden. Doch ein dauerhafter Verbleib hier war undenkbar. Für den notwendigen Schiffsneubau mussten Rohstoffe geschürft und getrennt werden. Es gab sie im Überfluss, aber ihre Trennung und Aufbereitung erforderte riesige Mengen an Energie und die war knapp. So rückte die Fertigstellung eines neuen Generationenschiffs für zweihunderttausend Borm in weite, ja unbestimmbare Ferne.
Wie auch immer, er würde versuchen, dies Rätsel zu lösen, und gemäß seinen Anweisungen sprach er die Einladung aus: »Verehrte Sternenreisende, seid willkommen in unserer Mitte. Wir übermitteln nun die Koordinaten eines Landeplatzes. Eine Delegation wird euch dort empfangen. Bitte landet aus Sicherheitsgründen exakt dort. Der zugewiesene Ort ist vor den periodischen Meteoritenstürmen sicher.«
Langsam löste sich das obere Fünftel der Schiffskugel als glatt abgetrennte Kuppel, driftete von der Prinz weg und beschleunigte dann ohne sichtbaren Antrieb Richtung Kelt-9c mit Kurs immer parallel zum großen Mahlstrom.
Ihr Ziel war ein atmosphäreloser Zwergplanet von neunhundert Kilometern Durchmesser und einer Oberflächengravitation von 0,11 g. Er umkreiste in gebundener Rotation seinen zweiundfünfzig Millionen Kilometer entfernten Stern innerhalb achtundvierzig Tagen. Das bedeutete auch, alle vierundzwanzig Tage pflügte er mit zerstörerischen einhundertfünfzigtausend Stundenkilometern in rechtem Winkel durch die von Kelt-9b erzeugte Gasscheibe. Diese Passage dauerte etwa drei Stunden. Zwar führte sie durch den bereits abgekühlten Außenbereich der Wolke, aber für die auf 9c lebenden Borm musste dies dennoch eine lebensgefährliche Zeit sein.
»Endlich mal mit dir allein und dann noch in einer fliegenden Untertasse«, versuchte Frank sich unbeholfen zu nähern, doch Pauline entgegnete ungnädig: »Ja, unglaublich aufregend. Romantik pur. Die kommt ja sonst eher zu kurz, immer so unter Beobachtung.«
Kaum gesagt, bereute sie ihre Worte. Aber die Isolation ihrer Reise, der Abgrund an Lichtjahren zur fernen Erde und die lange unterschätzte psychische Wirkung dieser Fremdartigkeit an Bord der Prinz zerrten an ihrer mentalen Stabilität und auch an Franks. Obwohl sie beide nie darüber sprachen, drang trotz des vereinbarten gegenseitigen Gedankenschirms oft eine Gefühlsaura hindurch und auch ihre Körpersprache signalisierte Abkapselung.
Frank ließ sich den Treffer nicht anmerken, obwohl er ihn schmerzte, sondern lenkte ab: »Diese Gasscheibe mit der Sonne im Mittelpunkt. Fast wie der Saturn mit seinen Ringen von einem Ort oberhalb seines Pols aus betrachtet, nur eben hundertmal größer, aber auch dünner. Und dieser kleine Fleck, etwas weiter außen vor der Scheibe, ist das dieser Zwergplanet?«
»Wird wohl so sein,« beschloss Pauline, eine Aussprache zu wagen, »aber jetzt mal ehrlich. Wir müssen anders mit unserer Situation umgehen, das halten wir auf Dauer nicht aus.«
»Was meinst du, dass uns Sethoceris vielleicht die ganze Zeit belauscht? Ab und zu taste ich ja nach ihren Gedanken, nur um mir sicher zu sein. Also, ich habe nichts dergleichen entdeckt. Wir sind in unseren Kabinen unter uns. Und was heißt Kabine, das sind ja menschengerechte Zwei-Zimmer-Wohnungen mit allem Drum und Dran, was da aus der Prinz herausgemorpht1 wurde.«
»Schon, ja, aber trotzdem empfinde ich eine, naja, seelische Klaustrophobie. Du nicht?«
Frank schwieg eine Weile und nickte dann: »Doch, ja, verstehe. Da müssen wir uns was einfallen lassen.«
›Aber ich weiß nicht was‹, fügte er in Gedanken hinzu und versuchte sich in Naturpoesie: »Schau dir doch dieses kosmische Wunder an. Diese monumentalen Strukturen. Ich bin überwältigt! Wir sind so klein, findest du nicht?«, und Pauline spürte einen Hauch von Zärtlichkeit herüberwehen.
Das rätselhafte Gravitationstriebwerk ihres Shuttles ließ sie die Entfernung von drei Lichtminuten in gerade einmal drei Stunden überwinden, ohne dass sie die mörderische Beschleunigung zu spüren bekamen. Ein weiteres technisches Geheimnis, in das tiefer sie einzuweihen die Szaz noch nie bereit gewesen war. Antigrav-Effekt durch Quintessenz-Energie, nur in Gegenwart starker Gravitationsfelder nutzbar. Mehr war nicht aus ihr herauszubekommen.
Parallel zu ihrem Kurs verlor sich der spiralförmig verglühende Atmosphärenschweif von Kelt-9b in den filigranen Mustern und Wirbeln des horizontfüllenden Mahlstroms aus Wasserstoffgasen und Metallhydrat-Klumpen. Sie staunten, küssten sich einmal verlegen und schwiegen dann wieder in sich versunken. Erst eine halbe Stunde vor Ankunft, als im Monitor Details des Planeten herangezoomt wurden, erwachte ihr Gespräch wieder.
»Der sieht doch aus wie unser Zwergplanet Ceres«, bemerkte Pauline und Frank stimmte zu: »ja, genauso pockennarbig. Aber was ist denn das da am Westpol2? Sieht wie ein Bauwerk in einem riesigen Krater aus. Und neben dran, kommt mir wie ein riesiger Schrotthaufen vor.«
So schnell ihr Shuttle beschleunigt hatte, so stark bremste es nun ab, ohne dass G-Kräfte zu spüren waren. Eben noch meinten sie in aufkeimender Angst, auf der bleichen, kraterübersäten Kugel zu zerschellen, im nächsten Moment schwebten sie in etwa fünf Kilometern Höhe langsam über den großen Krater am Westpol hinweg. Deutlich war zu erkennen, dass die etwa drei Kilometer breite und tiefe Senke künstlich ausgebaut worden war. In ihrem Mittelpunkt wuchs ein metallisch schimmernder Zylinder von gut zwei Kilometern in die Höhe, von einem Gewirr aus Gerüsten, Kränen und Scheinwerfern umgeben. Um den Kraterrand herum erstreckte sich ein mattschwarzer Kranz, dessen Zweck sich ihnen nicht sofort erschließen wollte. Etwa altertümliche Solarpaneele? Auf jeden Fall machte das ganze Ensemble auf sie den Eindruck einer im Schutz der Kraterwände liegenden Werft.
Sie glitten weiter und überquerten ein gewaltiges zertrümmertes Zylinder-Skelett, umgeben von wirren Haufen undefinierbarer Gegenstände. Ein paar Linien verbanden Krater und Schrottplatz, offenbar Fahrstraßen.
Schon näherten sie sich den Koordinaten ihres Landeplatzes und bemerkten die Staubfahne einer Kolonne aus sieben Fahrzeugen, die sich darauf zu bewegte.
»Das Empfangskomitee, mit oder ohne Waffen. Nun, wir haben unsere Anzüge und laut Setho sind die Borm nicht sonderlich militärisch veranlagt«, kommentierte Frank und fügte nach kurzem Zögern hinzu: »Auf jeden Fall nimmt jeder von uns ein zusätzliches Energie- und ein Nahrungspaket mit, aber keine Waffen. James, Helm schließen und Vorrat Atemluft prüfen.«
»Frank, Sir, Atemluft für vierzehn Stunden vorhanden, im energieintensiven Recyclingmodus auch das Dreifache.«
»Gut. Hast du Angst?«
»Nein, Sir, ich bin eine Maschine.«
»Ich meine Pauline, nicht dich!«
»Danke der Nachfrage, mein Lieber. Natürlich habe ich Angst. Du nicht? Sehen wir etwa täglich neue Aliens? Wissen wir überhaupt, was da auf uns zukommt? Weißt du noch, was für ein Akt es war, die Phygor von Poseidon kennenzulernen? Und noch etwas: In zwanzig Stunden dringt der Planet wieder in die Gasscheibe ein. Warum müssen wir eigentlich ausgerechnet jetzt unseren Besuch abstatten?«
Frank zuckte die Achseln und meinte: »Damit wir nicht trödeln? Weil unsere Technik damit spielend fertig wird? Weil Setho nicht daran gedacht hat? Auf jeden Fall landen wir soeben und werden uns der Situation stellen müssen. Was auch sonst.«
Auch Prospektor-835 wunderte sich ein wenig über den Zeitpunkt des Kontaktes, machte sich darüber aber keine weiteren Gedanken. Nun, so könnte man den Besuchern gleich den Lebensrhythmus und die Schutzmaßnahmen der Borm präsentieren. Ihre Kommunikationstechnik harmonierte hervorragend, was zusammen mit dem Faktum ihres offenbar emissionsfreien Schiffs-Antriebs auf eine äußerst hochstehende Technologie schließen ließ, und auf Vorkenntnisse dieser sich Menschen nennenden Aliens über die Borm. Woher sonst wussten sie von ihrem Aufenthaltsort und kannten ihre Sprache? Nun, sie waren nicht die erste fremde Spezies, mit der die Borm in Kontakt getreten waren.
Nach den ersten gegenseitigen Respektbezeugungen und der erstaunlichen Auskunft, dass die Fremden von einem achthundert Lichtjahre entfernten Planeten mit ähnlichen Parametern wie Bormund stammten, lud Prospektor-835 die Aliens in das größte und komfortabelste ihrer Fahrzeuge ein, welches ihrer hohen Statur gerade noch angemessen war und über eine Schleuse sowie atembare Innenluft verfügte. Ihre Raumanzüge konnten sie dennoch nicht öffnen, denn schnell stellte sich heraus, dass, obwohl ebenfalls Sauerstoffatmer, sie den Gehalt an Schwefelwasserstoff in der Atemluft nicht tolerieren konnten. Sie selbst öffneten ihre Schutzmuscheln, woraufhin die Fremden seltsame Geräusche von sich gaben, die den Borm wie Wehklagen erschien. Auf die Frage nach dem Wohlergehen der Gäste wurde knapp beschieden, alles sei gut.
Sie fuhren drei Stunden in Richtung des Westpols zu einer Kuppel, welche einen Zugang zur unterirdischen Stadt der Borm beherbergte. Man blieb aber innerhalb dieser Station und führte die beiden Menschen in eine Art Konferenzsaal, einen zylinderförmigen Raum von zwanzig Metern Durchmesser, zwei Metern Höhe und nur einem Meter Türhöhe. Frank und Pauline mussten den Raum gebückt betreten und hinter ihnen schloss sich die Tür. Sie waren allein. Die Raumluft enthielt auch hier einen hohen Anteil von Schwefelwasserstoff, sodass ihre Anzüge geschlossen bleiben mussten. Das hinderte sie nicht daran, ihre Umgebung mit allen Mitteln zu sondieren.
Funktechnisch war nicht viel auszurichten, denn der Raum stellte sich als elektromagnetisch abgeschirmt heraus. Doch Frank erlaubte sich, mithilfe eines aus seinem Anzug gemorphten kleinen Bohrers eine winzige Probe von Wand und Boden zu nehmen, was sich als unerwartet schwierig erwies. Das Ergebnis der Analyse bestätigte seine Vermutung, dass es sich um gehärteten Stahl handelte. Ein seltsamer Empfangsraum. Auch ihre telepathische Erkundung brachte ihnen keine neuen Erkenntnisse.
»Kannst du etwas erkennen«, fragte Pauline, die selbst nur einen Chor raunender Stimmen und verwaschener Stimmungen wahrnahm.
»Nichts Konkretes. Aber im Umkreis von, sagen wir, zehn Kilometern leben sehr viele Exemplare dieses Gemüses.«
»Frank, reiß dich bitte zusammen. Das sind geistige Entitäten, Personen wie wir. Ich möchte nicht wissen, mit was sie uns vergleichen. Aber wie wirkt ihre Stimmung auf dich? Irgendwas Bedrohliches?«
»Ich glaube nicht. Das fühlt sich alles eher freudig erregt an. Vielleicht verbinden sie mit uns bestimmte Hoffnungen. Mal sehen, wie sich unser Handel gestalten wird. Ach ja, jetzt empfange ich aus der Nähe ein Bild, sogar von uns. Wir werden beobachtet. Täte mich auch wundern, wenn das nicht der Fall wäre. Was sie wohl zu meiner Probebohrung sagen werden? Ich wollte einfach etwas über ihre Materialtechnik erfahren.«
»Klug war es auf jeden Fall nicht. Aber üben wir uns in Geduld. Mich wundert sowieso, wie ruhig sie uns begegnet sind, als ob wir nicht die ersten Aliens wären, auf die sie treffen. Was meinst du?«
So diskutierten sie noch eine Weile hin und her. Dann versuchten sie sich in der telepathischen Entschlüsselung der bormschen Denkmuster, jedoch ohne allzu großen Erfolg. Zu fremdartig waren die empfangenen mentalen Bilder.
Endlich öffnete sich die Tür und eine Delegation aus sieben Borm wuselte auf ihren wurzelähnlichen Gliedmaßen in den Raum. Man stellte ihnen ein graubraun gesprenkeltes Exemplar als Senator-17 vor, welcher einen Vortrag zur Situation der Borm halten würde. Umgehend begann der Senator in pfeifenden und für menschliche Ohren unerträglich hohen Tönen zu sprechen. Rasch schirmten die Anzüge James und Valerie ihre Träger ab und übersetzten:
»Wir lebten auf einem Planeten ähnlich dem eurigen, dreißig Lichtjahre von hier entfernt. Eines Tages kam das Unheil in Form eines kosmischen Konflikts über uns und unser Planet wurde in Folge von Kriegshandlungen unbewohnbar. Nur die Borm in den großen Weltraumstationen und auf den beiden Monden überlebten. Ein Großteil von uns entschloss sich, auszuwandern. Wir wussten von einer Welt, die uns eine neue Heimat werden könnte, siebzig Lichtjahre von Bormund entfernt. Allerdings erreichte unsere Antriebstechnologie nicht mehr als ein Fünftel der Lichtgeschwindigkeit.
So bauten wir also ein Generationenschiff und brachen vor vierhundert Jahren auf. Dieses Sonnensystem hier lag auf unserem Weg und sollte als Zwischenhalt zur Auffrischung unserer Ressourcen dienen. Da geschah das Unglück. Unsere Schiffstechnik versagte und wir sahen uns gezwungen, die nächste Landegelegenheit zu nutzen, nämlich auf diesem kleinen Planeten hier. Auch die Landung glich eher einem Absturz und unser Schiff wurde irreparabel zerstört. Dies alles geschah vor einhundertsiebzig Bormund-Jahren. Da ein dauerhafter Aufenthalt auf diesem gefährlichen Himmelskörper undenkbar ist, begannen wir umgehend mit dem langwierigen Neubau eines neuen Generationenschiffes.«
»Und das liegt im Krater am Westpol? Warum gerade da?«, hakte Pauline nach.
»Richtig. Dort liegt die Werft, geschützt vor den Stürmen des Mahlstroms. Sicherlich habt ihr dieses System studiert und wisst, dass der Planet auf seiner Umlaufbahn zweimal diese Materiescheibe kreuzt. Da sich der Wirbel im Umlaufsinne seines Ursprungsplaneten dreht, trifft uns der Meteoritensturm einmal von Nord und einmal von Süd. Und natürlich vom Ostpol in Bahnrichtung. Nur der Westpol ist einigermaßen sicher, vor allem in geschützter Tieflage. Daher bauten wir diesen ideal gelegenen Krater aus, errichteten in seinen Wänden unsere Siedlung und in seiner Mitte die Werft für den Schiffsbau.«
Der Senator schwieg, blickte mit seinen acht Vorderaugen die beiden aufragenden Gestalten in ihren schwarzen Schutzanzügen und den spiegelnden Kopfknollen erwartungsvoll an und meinte dann beiläufig: »Man berichtete mir, dass Handel getrieben werden soll?«
Frank räusperte sich, was die Übersetzung leider als unwilliges Knurren wiedergab, und antwortete: »Wir wurden informiert, dass dieser Planetoid reich an Bodenschätzen ist und ihr sie seit längerem abbaut. Sicherlich werden die Erze für euren Schiffsbau benötigt. Wäre es möglich, etwas über den hiesigen Bergbau zu erfahren?«
Der Senator winkelte zustimmend seine vier Oberbeine an und erklärte dann: »Selbstverständlich. Die Oberfläche dieses Planetoiden ist von tiefgründigem Regolith bedeckt, der sich hauptsächlich aus den massiven Niederschlägen während der Scheibenpassagen speist. Insofern sammelt dieser Himmelskörper die ausgewehten Elemente seines Nachbarplaneten ein. Vor allem Metallhydrate sind zu nennen, Eisen, Titan, auch seltene Erden und sogar Iridium.
Da all diese Verbindungen an der Oberfläche liegen, können sie in den drei Wochen, die zwischen den Scheibenpassagen liegen, geschürft und in Transporter-Kolonnen zum unterirdisch gelegenen Verhüttungswerk verbracht werden. Bei Südsturm findet also Schürfung im Nordwest-Quadranten statt, bei Nordsturm im Südwesten. Konnten Sie mir folgen?«
Die beiden schwarzen Riesen knickten zustimmend ihre oberen Gliedmaßen und der Senator kam endlich auf den Punkt: »Das Hauptproblem des ganzen Prozesses ist Energie. Wir konnten einen kleinen Kernreaktor aus dem alten Schiff retten, der die Infrastruktur für unsere Siedlung aufrechterhält. Für die energieintensive Erzverhüttung aber stehen nur die Solarpaneele am Kraterrand zur Verfügung. Damit ist der Output des Werkes deutlich geringer als der mögliche Rohstoff-Input, was zur Folge hat, dass momentan die Fertigstellung des neuen Generationenschiffs auf weitere einhundertfünfzig Bormund-Jahre kalkuliert wird. Die Unruhe in unserer Bevölkerung wächst, aber wir sind noch nicht soweit, auch einen neuen Fusionsreaktor bauen zu können, der unsere Probleme lösen würde. Sie erwähnten aber etwas von Systemen zur Energiegewinnung?«
Nun lag der Ball bei den Menschen und Pauline spielte ihn: »In der Tat sind wir in der Lage, miniaturisierte, aber äußerst leistungsfähige Fusionsreaktoren bereitzustellen. Wenn Sie uns Rohstoffe liefern könnten, wäre im Gegenzug unser Schiff in der Lage, pro Umlauf dieses Planeten ein System mit einhundert Megawatt Nettoleistung zu produzieren.«
Dies war das von Sethoceris erstaunlich großzügig ausgelegte Angebot. Ihr Interesse wiederum bestand an Schwermetallen gleich welcher Art, also auch Iridium, und an seltenen Erden, hier das tatsächlich seltene Scandium. Wozu sie genau dies benötigte, war ein Rätsel. Nach Wissensstand der Menschen spielte das Element in der Szaz-Technik keine Rolle, aber anscheinend in ihrer Ernährung.
Und so meinte Frank, Paulines Ausführung noch ergänzen zu müssen: »Von Seiten der Borm wünschen wir uns zehn Tonnen Iridium und eine Tonne Scandium. Letzteres ist für die Ernährung unserer Schiffskommandantin von Bedeutung, die nicht zur Spezies der Menschen, sondern der Szaz gehört.«
Die Reaktion der Borm war irritierend. Alle sieben erdbraunen Knollen falteten ihre Unterbeine ein und sackten auf den Boden, während sich alle sechs oberen Gliedmaßen starr zur Decke streckten, als ob es dort etwas abzuwehren oder zu stützen gälte. Dann fragte der Senator vorsichtig nach, während sein Atemspalt zitterte: »Wie war nochmal der Name der Spezies, welcher eure unbekannte Kommandantin angehört? Und wie kann ihre Gestalt beschrieben werden?«
Alarmiert sandte Pauline ihre Gedanken an Frank: »Da stimmt was nicht. Was haben die bloß? Was sollen wir sagen?«
Doch Frank in voller Konzentration auf den Senator hörte sie nicht und schlitterte eifrig in die Katastrophe: »Szaz. Eine Beschreibung fällt schwer, da wir nicht die Fauna eures Heimatplaneten kennen, um ein Beispiel zu finden. Am besten, wir zeigen euch ein Bild. James, projiziere ein Hologramm von Sethoceris«.
Bevor Pauline es verhindern konnte, flammte in der Mitte des Konferenzsaals lebensgroß und lebensnah das dreidimensionale Abbild einer riesigen, schwarzen Gottesanbeterin auf.
Der Effekt war verheerend. Alle Borm hielten sich ohne Schutzanzüge im Raum auf. Jetzt schnellten ihre Leiber aus der Liegestellung hoch und wuselten hektisch Richtung Tür. Binnen weniger Sekunden hatte sich der Raum bis auf die beiden Menschen geleert und hinter dem letzten Borm schloss sich die nur meterhohe Tür mit sattem Schmatzen.
Frank stand noch ein paar Sekunden wie erstarrt, dann rannte er zur Tür und versuchte sie zu öffnen. Aber es half kein Drücken und kein Schieben.
»Bei Io, was war das denn. Ich komme mir vor wie Alice im Wunderland, mit diesem kleinen Tisch und der kleinen Tür. Und diese Tweedle-Dees sind beim Erscheinen einer Szaz abgehauen, als ob der Leibhaftige erschienen wäre«, erzürnte sich Frank und schlug mit der Faust kräftig gegen die Wand, die mit dumpfem Dröhnen ihre Massivität bekundete.
Da öffnete sich die Tür wieder und eine Schar Borm in Schutzmuscheln stürmte in den Raum, mit etwas in den Greifgliedmaßen, das verdächtig nach einem Laser aussah. Zuletzt trat wieder der Senator hinein, heroisch ohne Schutzanzug, und erklärte sich: »Wir fühlen uns hintergangen. Ihr seid Agenten unseres schlimmsten Feindes, der unsere Heimatwelt in blindem Kampfeseifer zerstörte. Die Atmosphäre brannte und mit ihr der ganze Planet.
Wir waren vormals Mitglied im blühenden Verbund galaktischer Zivilisationen, ein Netzwerk der Geistreise, des Austauschs von Wissen und Kultur. Das wurde uns zum Verhängnis, denn die Szaz sind erklärte Gegner dieses Systems und suchen es zu vernichten, wo auch immer sie es finden. Gnade gab es nur für die wenigen, denen es möglich war, in die Raumstationen oder Mondkolonien zu fliehen. Wer konnte das schon innerhalb von zehn Tagen. Ein ungeheuerlicher Völkermord aus unergründlichen Motiven. Ihr seid hier arrestiert, während über euer Schicksal beraten wird.«
Mit diesen Worten verschwand der Senator behänd und auch der Soldatentrupp bewegte sich einer nach dem anderen rückwärts aus der Tür, ihre Waffen immer drohend auf die Menschen gerichtet.
Die beiden waren wie vor den Kopf geschlagen. Alles ging so schnell über die Bühne, dass ihnen gar keine Zeit zur Verteidigung blieb, weder mit Worten noch mit Taten. Sie schauten einander ratlos an und Pauline fragte: »Was nun? Ausbrechen? Ich glaube nicht, dass sie uns aufhalten könnten. Aber welchen Schaden würde das anrichten? Ich will es gar nicht wissen.«
Frank nickte: »Ja, das heißt Nein. Wir sollten nicht mit Gewalt vorgehen. Wer weiß, was für Geschütze sie noch auffahren würden, wenn sie unsere technische Überlegenheit zu spüren bekämen. Außerdem, haben wir das Recht dazu? Sind wir nicht tatsächlich mitschuldig, also zwar unschuldig im Wissenssinne, aber in Gemeinschaft mit vermutlichen Tätern? Warten wir ab, wie sich die Lage entwickelt. Setho hat uns ja keinen festen Zeitrahmen vorgegeben, wann wir uns melden sollen. Haben wir mittlerweile eine Funkverbindung? James?«
»Sir, ich bedaure. Diese Kuppel scheint, wie schon eingangs festgestellt, elektromagnetisch abgeschirmt zu sein. Vermutlich ist es kein Zufall, dass wir gerade hier empfangen wurden. Dies ist sicherlich eine Schutzzone für Fremdkontakte.«
Die Stunden verstrichen, ohne dass im Konferenzsaal, der nun ihr Gefängnis war, irgendeine Nachricht empfangen wurde. Keine förmliche Anklage, keine Anhörung, keine Verteidigung. Auch die ständigen Versuche einer Funkverbindung zur Prinz wurden nur mit statischem Rauschen quittiert. Nach zwölf Stunden des Wartens, Schlafens, Wartens war ihre Geduld am Ende. Ihre Vorräte an Atemluft neigten sich dem Ende zu und die Anzüge würden bald in den Recycling-Modus gehen, in eine energieintensive Umwandlung von CO2 in molekularen Sauerstoff und Kohlenstoff.
Eine beklommene, klaustrophobische Stimmung breitete sich aus und Frank haderte mit sich: ›Ich Idiot. Hätte ich nur auf Pauline gehört. Aber das Gefühl war so befreiend, wieder in Aktion zu treten, etwas zu bewirken, anstatt tatenlos mit der Szaz von Stern zu Stern zu springen und sich immer elender zu fühlen. Es war wie ein Rausch. Adrenalin. Immer noch da. Wir müssen jetzt hier raus, sonst platze ich vor Wut.‹
Sie verständigten sich darauf, ihre Anzüge für einen Befreiungsversuch einzusetzen. Ihre Unterarme konnten zu molekülscharfen Schneiden gemorpht werden, welche auch Stahlplatten wie Butter zu schneiden vermochten. Was sie hinter den Wänden erwartete, musste spontan gehandhabt werden. Aktion war angesagt, vielleicht auch um Schlimmeres zu verhindern, denn Sethoceris würde sich langsam Sorgen machen und sicherlich radikaler vorgehen, als es den Menschen je in den Sinn käme.
Sie wollten gerade ihre Anzüge instruieren, als sich die kleine Tür öffnete und ein sofort als Roboter erkennbares Objekt in Gestalt der Schutzmuscheln hereinrollte. Sie waren aufs Äußerste alarmiert, was jetzt geschehen würde. War dies ein Exekutionskommando? Doch nichts dergleichen geschah. Die Maschine näherte sich vorsichtig Pauline und ein Greifarm berührte ihren Anzug, drückte ihn kurz, und ließ dann los. Offensichtlich ein Strukturtest. Sie zog sich wieder ein Stück Richtung Tür zurück und verkündete im bormschen Ultraschall:
»Der Senat hat festgestellt, dass eure Schuld zwar erwiesen, ihr Ausmaß aber unbekannt ist. So lautet das Urteil, die Kräfte des Kosmos über euer Schicksal richten zu lassen. Binnen zwei eurer Stunden werdet ihr freigelassen. Geduldet euch und unternehmt keine Ausbruchsversuche. Dies würde uns nur zu einer militärischen Reaktion zwingen.«
Kaum gesprochen, schnellte der Roboter aus der Tür, die sich blitzschnell wieder schloss. Sie hatten keine Chance, ihm zu folgen. Doch die Aussicht auf Freilassung beruhigte vorerst und so beschlossen sie, sich bis dahin auf alle Eventualitäten vorzubereiten und nach Möglichkeit noch auszuruhen.
Sethoceris begann, sich Sorgen zu machen, Selbstvorwürfe waren ihr allerdings wesensfremd. Sie wusste um das Risiko, dass die Borm die Verbindung zwischen Menschen und Szaz entdecken könnten, wobei unklar war, ob nach all dieser Zeit und der aktuellen Situation der Borm eine feindliche Reaktion zu erwarten wäre. Die Menschen konnten diese Gefahr nicht ahnen. Sie waren absichtlich in Unwissenheit gelassen worden, um unbefangen agieren zu können.
Nun aber war der Kontakt seit vierzehn Stunden abgerissen, was auch ganz normal seinen Grund in einem ausgiebigen Besuch der unterirdischen Borm-Siedlung haben könnte. Auf jeden Fall würde der Planet in Kürze in die Gas- und Staubscheibe eintreten und damit in eine tödliche Sturmzone. Der nächste Funkkontakt wäre erst wieder in frühestens drei Stunden möglich. Wenn dann immer noch kein Lebenszeichen der Menschen eingetroffen wäre, würde sie selbst auf dem Planeten landen, um nach dem Rechten zu schauen. Sicher, spätestens dann käme es wohl zu einer unschönen Entwicklung der Dinge und der sowieso nur zum Zweck des Kontaktes initiierte, also bedeutungslose Rohstoffhandel wäre obsolet.
»Es tut sich was«, flüsterte Frank Pauline zu, und schon öffnete sich die Tür zu ihrem Konferenzraum und Gefängnis und eine Phalanx der schon bekannten Roboter rollte herein, diesmal eindeutig mit Laserwaffen bestückt. Dann krabbelte ein Muschelpanzer hinterher und der darin befindliche Borm kommandierte: »Menschen, folgt mir. Ihr werdet nun zu einem Ausgang geleitet, zu dem hin eine bestimmte Strecke zu fahren ist.«
»Lassen wir uns drauf ein? Ich denke schon, sie haben ja Freilassung versprochen und keine Hinrichtung, oder?« fragte Pauline und las Franks zustimmenden Gedanken.
So folgten sie der davoneilenden Muschel gebückt durch die Tür und dann, umringt von bewaffneten Maschinen, eine lange, gebogene Rampe mit rohen Betonwänden hinab zu etwas wie einem unterirdischen Güterbahnhof. Auf einem Dutzend Gleise standen lange, offene Waggons voller Gesteine und Erze. Am vordersten Gleis aber wartete ein Zug aus drei geschlossenen Containern, zwei mal zwei Meter im Querschnitt und acht Meter lang. Man führte sie zusammen mit vier robotischen Bewachern in den mittleren Wagen, der Rest der Truppe verteilte sich auf die beiden anderen Waggons.
Angespannt kauerten Pauline und Frank auf dem Boden des finsteren Containers und harrten der Dinge. Bald spürten sie die typische leichte Erschütterung einer ankuppelnden und sogleich anziehenden Lok und ihre Fahrt in die erhoffte Freiheit begann.
»Kannst du ihre Gedanken klarer erkennen? Mir gefällt nicht, was ich da spüre, aber es ist zu verwaschen, um etwas Konkretes zu sehen, ihre Denkmuster sind so fremd«, fragte Frank, doch Pauline schüttelte nur ihren Kopf.
Frank nickte grimmig und knurrte: »Irgendetwas ist komisch. Irgendwie wird diese Freilassung eine Falle sein, das sagt mir die Befriedigung eines Borm im vorderen Waggon. Aber ich kann nicht erkennen, was da auf uns zukommt. Wir müssen auf jeden Fall auf der Hut sein. Es tut mir ja wirklich leid, aber wir kommen wohl nicht drum herum, James, Gefechtsbereitschaft herstellen, aber keine Aktion ohne meinen Befehl. Valerie bitte ebenso.«
Die Fahrt dauerte eine geschlagene Stunde und schien nach James Ortung Richtung Süden zu verlaufen, während der Landeplatz ihres Shuttles nördlich des Äquators lag. Einmal stoppten sie und vernahmen ein Zischen, erst außerhalb des Waggons, dann auch innerhalb. Sie schienen in einer Luftschleuse zustehen und in eine Umgebung ohne Atmosphäre zu wechseln. Bald darauf fuhren sie wieder an, um nach kurzer Zeit erneut anzuhalten. Ihr Wagen öffnete sich und einer der Wachroboter befahl ihnen, auszusteigen. Nur sie, sonst niemand. Kaum hatten sie die rohe Betonplattform betreten, schloss sich der Container wieder und der Zug setzte sich rückwärts in Bewegung. Er verschwand in einem Tunnel, vor dessen Öffnung sich rasch zwei massive Metall-Tore schoben. Ausgesperrt!
Um sie herum erstreckte sich bis zum nahen Horizont eine gelbe Mondlandschaft, überwölbt von einem sternlosen, milchig weißen Firmament. Von ihrem Standort, der rechteckigen Plattform, führte ein einziges Gleis zum nun verschlossenen Tunnel, der nach hundert Metern im Boden versank. Eine Verladestation für geschürftes Regolith? Es waren keine regulären Straßen zu sehen, aber dafür staubige, erst jüngst befahrene Pisten, die alle auf ihren Standort hinführten. Nur von Fahrzeugen, Maschinen oder Personal war weit und breit nichts zu sehen.
Auf einmal blühte wenige Meter von ihnen entfernt eine meterhohe Staubwolke auf und ein Schauer kleiner Steinchen prasselte auf ihre Anzüge. Erschrocken blickten sie sich an, dann wieder so eine Staubexplosion, weiter weg, aber größer. Was war das? Auch schien ein Wind aufzukommen, der an ihnen zerrte, was auf einer Welt ohne Atmosphäre unmöglich war. Sie schauten zum Himmel hoch und da dämmerte ihnen die entsetzliche Erkenntnis: Der Planet trat in die Gas- und Hydrat-Scheibe von Kelt-9b ein. Der Sturm begann und würde drei Stunden toben. Das also war die Falle.
Ihre Gedanken rasten dahin wie die Gasmoleküle des Methans. Immer häufiger schlugen Brocken aus Metallhydrat mit eintausend Stundenkilometern ein und ließen einen Wald aus Staubfontänen erblühen.
Frank biss die Zähne zusammen, dass es knirschte, um seiner Panik Herr zu werden. Dann rekapitulierte er hektisch ihre Situation: »Dies hier ist der Südsturm, den die Eigenbewegung der Materiescheibe erzeugt. In vierundzwanzig Tagen wäre dann der Nordsturm dran. Der Oststurm tritt in beiden Fällen auf, aber nur auf der Ost-Hemisphäre. Dort aber mit der hundertfachen Wucht, da dort die Bahngeschwindigkeit dieses Planeten maßgebend ist. Wir befinden uns also im Südwest-Quadranten und müssen in den Nordwest-Quadranten. Dort liegt das Shuttle im Lee des Sturms, verstanden?«
»Ja, sehr tröstlich. Wie kommen wir dahin? Ich funke es mal an, dass es uns abholt. Ein Volltreffer von einem größeren dieser verdammten Eisbrocken und wir sind erledigt. Das muss jetzt schnell gehen.«
»Du wirst das Schiff nicht erreichen, es liegt hinter dem Horizont. Hier gibt es keine Relais-Satelliten oder eine spiegelnde Atmosphärenschicht. Nein, rufen wir direkt Setho an, mit maximaler Funkstärke und Bündelung. Die Position der Prinz ist ja bekannt und von unserem Standort aus auch direkt erreichbar, nur eben drei Lichtminuten entfernt. James, du hast es gehört, Notruf absetzen!«
Um sie herum verwandelte sich die Landschaft aus kleinen, flachen Kratern in ein graues Nebelmeer, Staubschleier aus Regolith, aufgewirbelt von den dichter werdenden Gasströmen und durchmischt von kleinen Meteoriten. Plötzlich traf Frank ein heftiger Schlag an der Schulter. Er schrie auf und taumelte.
»Frank, um Gottes Willen, was ist passiert? Wie kann ich dir helfen«, rief Pauline verzweifelt, da traf auch sie ein dröhnender Schlag auf den Helm.
Valerie, Paulines Anzug, meldete sich: »Madame, die Zeit bis zur Ankunft der Prinz ist zu lang, um in der jetzigen Position zu verbleiben. Sobald der Notruf durch die Szaz bestätigt wird, vergeht auch bei einem virtuellen Sprung3 des Schiffs immer noch eine halbe Stunde bis zur Bergung.«
»Was schlägst du vor?«
»Drei Optionen: Erstens, zurück in den Tunnel. Die Tore zu durchtrennen würde nicht lange dauern. Allerdings ist in diesem Falle eine militärische Aktion der Borm zu befürchten. Zweitens, die Betonplattform liegt flach auf dem lockeren Regolith auf. Es wäre leicht möglich, seitlich eine Schutzhöhle unter die Plattform zu graben. Drittens, beide Anzüge zu einer gehärteten Schutzkuppel verbinden, wobei sie, Madame Pauline und Monsieur Frank, weitgehend unbekleidet in enger Position sitzen müssten, um Kontakt mit der Kuppelwand zu vermeiden.«
Frank musste trotz ihrer lebensbedrohlichen Situation lachen: »Das nenne ich mal ein spannendes erotisches Abenteuer, eine gelungene Abwechslung! Nein, leider nicht. Sicher würde die Kuppel halten. Ich weiß, was das Nano-Material leisten kann. Aber während des Verschmelzungsprozesses wären wir relativ ungeschützt. Wenn da ein Brocken dazwischenfährt, sind wir geliefert. Ich bin für Option zwei, Höhle bauen.«
»Ja, schade um Option drei, aber ich bin auch für zwei«, stimmte Pauline zu.
In diesem Moment traf eine Funknachricht der Prinz ein, die lapidar den Notrufempfang bestätigte und umgehende Bergung ankündigte. In zwanzig Minuten wäre das Schiff über ihnen, ihre Position wäre bekannt. Doch das war immer noch zu lange, um ungeschützt auszuharren, zumal die Meteoriteneinschläge immer dichter wurden und die aufgewühlten Staubschleier ihnen jegliche Sicht nahmen. Die beiden Anzüge morphten in wenigen Sekunden Grabwerkzeuge an den Armen ihrer Träger und verstärken deren Muskelkraft um ein Vielfaches. In nur fünf Minuten gruben sie eine Nische unter den Rand der Plattform und die beiden Menschen krochen hinein, nicht wie stolze Transnauten, hunderte Lichtjahre von der Erde entfernt, sondern wie schutzsuchende Lebewesen es seit Tausenden von Jahren auf der Erde und anderswo instinktiv tun. Höhlenmenschen, das waren sie nun.
Es dauerte doch noch eine halbe Stunde, bis sich plötzlich das Trommelfeuer der Meteoriten über ihrer kleinen Höhle legte und aus den Staubschleiern eine große, platingraue Kugel herabschwebte. Sie verharrte dicht über dem Boden, nur zehn Meter entfernt öffnete sich eine Luke, eine Rampe senkte sich herab und die beiden sprangen aus ihrer Nische und sprinteten in die Sicherheit des Schiffs.
Die Schleuse schloss sich und sofort flutete saubere Erdatmosphäre herein. Nach Freigabe durch die Anzüge öffneten sie hastig ihre Helme und schnappten hechelnd nach Luft. Doch eine Verschnaufpause blieb ihnen nicht vergönnt. Der Raum wurde zum Lift und transportierte sie umgehend zehn Meter hoch in das weite Rund der Zentrale, wo Sethoceris sie inmitten eines Schwarms holographischer Konsolen erwartete. Die beiden Menschen erschraken, als ihre telepathischen Sinne die Stimmung der Szaz erfassten. So hatten sie Sethoceris noch nie erlebt. Wäre sie ein Mensch, würde man sagen, sie koche vor Zorn. Doch dies war anders. Es war eine kalte, drohende Unerbittlichkeit, ein unbedingter Wille zur Vernichtung der Borm, der ihnen entgegenschlug.
»Nein!«, rief Pauline spontan, ohne dass die Szaz ein Wort gesagt hätte. »Die Borm sind irgendwie im Recht, nicht unbedingt in ihrem Handeln, aber in ihren Motiven.«
Die Szaz, wissend, dass ihre Gedanken bereits aufgedeckt waren, ignorierte sie und starrte mit ihren Facettenaugen auf Frank: »Frank Mensch, wie lautet dein Urteil?«
›Sag jetzt nichts Falsches‹, dachte Pauline und öffnete ihre Abschirmung für Frank. Dieser aber zweifelte. Doch das Ausmaß der von Sethoceris geplanten Vergeltung, die Zerstörung dieses Planetoiden, schockierte ihn und gab den Ausschlag.
»Hör zu, Setho, uns ist doch nichts passiert. Und schau, sie haben uns ja auch nicht auf die Ostseite gebracht, wo wir gegen den dort hundertfach stärkeren Sturm keine Chance gehabt hätten. In Sekundenschnelle wären wir zerschmettert worden. Sie haben bestimmt mit unserer Rettung durch dich gerechnet. Es war also nur eine Lektion, mehr nicht. Und die haben wir gelernt. Wir müssen, vielleicht nicht gerade jetzt, aber bald über das Vorgehen der Szaz im ahrimanischen Krieg diskutieren. Wir Menschen würden die Vertreibung der Borm einen Kollateralschaden nennen. Nein, eher einen Totalschaden, ein Genozid.«
Sethoceris unterbrach ihn: »Es steht euch Menschen nicht zu, die Handlungen der Szaz zu kritisieren. Ihr begreift nicht die Bedeutung der Neutralisierung von Ahriman für dieses Universum, auch wenn es euch schon öfters erläutert wurde. Diese Missionen rechtfertigen jeden Preis.«
»Lasst uns diese Grundsatzdiskussion ein andersmal führen. Jetzt geht es konkret um die Borm hier auf Kelt-9c. Es darf ihnen nichts geschehen«, forderte Pauline und baute sich vor der Szaz auf, dass beide so unterschiedlichen Wesen sich auf Augenhöhe gegenüberstanden: faustgroße, schwarzglänzende Facetten gegen grüne Iris mit weit aufgerissenen Pupillen.
Frank hielt den Atem an und bereitete sich instinktiv auf eine Intervention vor, ohne die geringste Ahnung zu haben, was er überhaupt tun könnte. Das kammartige Bündel weißer Fühler zwischen den Augen der Szaz vibrierte zu Paulines langen, braunen Haaren hinüber, als wolle es ihre Gedanken lesen oder Gefühle erspüren. Dann klickten ihre Mandibel und das Übersetzungsprogramm begann mit einem Zischen, das in Worte überging: »Was willst du gegen meinen Willen setzen?«
Pauline schluckte und setzte alles auf eine Karte: »Mein Leben und das von Frank. Du verstehst schon, dass wir dich jederzeit verlassen können, indem wir den Freitod wählen und unsere Mentalidentität in ihren Ursprungskörper auf der Erde zurückkehrt? Willst du das riskieren, wegen einer für unsere Mission vollkommen irrelevanten Vergeltungsaktion? Und hast du denn überhaupt kein Verantwortungsgefühl für die unschuldigen Opfer eurer Kriege?«
Das unterarmlange Fühlerbündel der Szaz richtete sich zu einem weißen Kamm auf, verharrte so einige Sekunden und verschwand dann erschlaffend in der Schädelfurche. Dann summte Sethoceris:
»Ja, wir haben ein Verantwortungsgefühl, sonst wären wir gar nicht hier. Und ohne die technische Unterstützung der Szaz hätten die Borm damals den Bau eines Generationenschiffs nie bewältigt. Ihnen fehlte eine leistungsfähige Technologie der Kernfusion. Aber das entschuldigt nicht ihr von Rachsucht getriebenes Vergehen an euch Menschen. Ich habe mich absichtlich ferngehalten, um nicht zu provozieren. Aber ihr müsst euch als Verbündete der Szaz verraten haben.
Wie dem auch sei, ich gebe eurem Schutzappell nach. Die Borm sind es nicht wert, dass wir uns entzweien. Doch droht mir nicht mehr mit Flucht. Es nährt Zweifel an eurer Verlässlichkeit. Wir werden noch einige Wegstationen bis zu unserem Ziel zu bewältigen haben und dort, bei Kepler-452, erwartet uns eine Herausforderung, welche eure Erlebnisse auf Poseidon wie ein Kinderspiel erscheinen lässt.
Ich werde jetzt euer Shuttle wieder ins Schiff integrieren und mit der Transmatrix die nächste Sprungetappe berechnen. Ruht euch aus, der Quantentausch wird an eurer Gesundheit zehren.
1 Die Nano-Technologie von Szaz und Menschen bietet ‚programmierbare Materie‘ aus Nano-Maschinen. Siehe auch Notizen im Glossar.
2 Sechs Pole bei gebundener Rotation eines Himmelskörpers: Nord- und Südpol, Tag- und Nacht-Mittelpunkt, Ostpol als in Bahnrichtung zeigende und Westpol als rückwärtige Koordinate.
3 Der Hauptantrieb eines Szaz-Schiffes führt einen Informationsund somit Positionstausch verschränkter Raumzeitquanten aus, was zeitintensive vorbereitende Programmierung erfordert.
»Weißt du, wann es kälter als kalt ist? Wenn du es nicht mehr spürst«, sinnierte Wladimir zum virtuellen Fenster der Weltraumstadt hinaus und verlor sich ein wenig in dem prachtvollen Anblick: Auf ihrem Orbit um Poseidon verließen sie gerade die ewige Nachtseite mit seinem von den fernen Sonnen Gliese A und B orangefarben angehauchten Eis und überquerten den Terminator zum ewigen Sonnenbrand von Gliese C.
»Spricht da der sibirische Urgroßvater aus dir, von dem du nie erzählen willst?«, amüsierte sich Chiao. »Mein Großvater kam übrigens aus Tibet, und da wurde es auch richtig kalt. Die Zehen seines rechten Fußes…«.
»Bitte nicht, das war doch kein Scherz. Ich habe nur an die Expedition der Orph gedacht, die sich aufs Eis der Nachtseite hinauswagen will, bloß weil ihre Oberpriesterin Amethyst einen bizarren Traum hatte. Irgendetwas Merkwürdiges soll dort aufgetaucht sein. So hat es mir zumindest Antonio erzählt«, stoppte Wladimir ihren erwachten Fabuliergeist und nahm sie zärtlich in den Arm.
Sie schmiegte sich an ihn und flüsterte: »Habe ich gehört. Hoffentlich müssen wir nicht wieder gegen irgendwelche verrückten Super-Aliens antreten. Die Szaz sind auf jeden Fall wieder weg. Und nur wir Menschen allein, wir hätten keine guten Karten. Aber bevor ich es vergesse, ›Sa novyy god‹!«
»Oh, tatsächlich, ebenfalls ›Xinnian kuaile‹. Habe ich jetzt tatsächlich die Sekunde verpasst, Neujahr 2406! Und schon wieder drei Monate vorbeigeflogen. Du weißt noch, diese Sensation, dieses euphorische Gefühl, dass jetzt auf Poseidon eine neue Epoche anbricht, geboren im Kielwasser des letzten Jahres. Und wieder dieses plötzliche Auftauchen der Szaz aus dem Nichts, wie ein Spuk.«, lächelte Wladimir verhalten und löste sich von ihr.
Sie nickte: »Oh ja. Antonio konnte uns nicht vorwarnen, denn er hatte sich ja geweigert, als Transnaut News von der Erde zu holen. Aber sein Astrolab gab Alarm. Schnipp, tauchte dieses Riesenbaby mit einmal auf. Stand plötzlich am Rande des Systems, einfach so. Gegenüber letztem Mal aber leicht verändert. Jetzt trägt man einen breiten Nietengürtel um die dicke Taille!«
Wladimir musste lachen, Chiaos burschikose Art tat ihm gut. »Ja, die Kolonisten in zwölfhundert modernen T20-Modulen, alle rund um den Äquator des Weltenschiffs angeflanscht. Und kaum hatten sie sich vom Sprung erholt, schwärmten sie aus wie die Mücken und machten Stress. Umgehend Anweisungen von uns, was und wo denn wie zu tun wäre. Ein schönes Chaos, zumindest in den ersten Wochen.«
»Aber es kamen auch fähige Leute, die etwas von Astro-Stationsbau verstehen. Immerhin haben sie in zwei Monaten diesen ganzen Modulschwarm in Position gebracht«, warf Chiao ein.
Wladimir zuckte die Achseln: »Stimmt schon. Und immerhin ohne weitere Hilfe der Szaz. Die sind ja eiligst wieder verschwunden, nachdem sie unsere Leute abgeladen hatten. Nach Kepler-452, hieß es. Frank und Pauline sind anscheinend auch auf dem Weg dorthin. Was auch immer da los ist. Egal jetzt, ich sehe gerade, ein Anruf kommt rein. Arbeit wartet auf uns.«
Chiao Yang, die schlanke, hochgewachsene Chinesin, und Wladimir Nagorski, der bullige, graustoppelige Russe, waren Transnauten und Angehörige des ersten Expeditionsteams, welches seinerzeit von der Erde aus per Geistreise die sieben Klone an Bord der Spirit of hope belebt hatte, nachdem das Schiff im Gliese-System angekommen war. Nun leiteten beide eine neue Institution mit dem einfallsreichen Namen ›Securitas‹. Sicherheit für siebzehntausend Kolonisten auf und um Poseidon. Ein Posten mit vielfältigen Aufgaben und wenig Personal. Nach Innen für die Kolonisten eine Art Polizei, nach Außen, getrieben von bösen Erinnerungen an den Ahriman, Aufbau einer noch recht bescheidenen Weltraumabwehr. Gerade mal drei Dutzend Satelliten, zwei leicht bewaffnete Schiffe, drei Shuttles und eine aus den Kolonisten eilig zusammengestellte Truppe aus vierzig Männern und Frauen gaben immerhin das Gefühl, nicht vollkommen wehrlos zu sein. Obwohl, wer sollte schon kommen? Wer in der Lage war, den Ozean der Sterne zu durchqueren, besaß allein schon aufgrund dieser Fähigkeit eine Technologie, der ihre kleine Kolonie vermutlich hilflos gegenüberstand.
Poseidon, ein Planet vom Typ Supererde, kreist in gebundener Rotation um die rote Zwergsonne Gliese C. Der Schmelzofen des sonnennächsten Punktes liegt mitten über dem Ozean. Dadurch verdampfen enorme Wassermassen, welche in einem mehrere tausend Kilometer breiten Wolkengürtel um den ›Sonnenauge‹ genannten Tages-Pol abregnen. Da die Planetenachse im Monatsrhythmus geringfügig nach Norden und Süden schwankt, werden den gemäßigten Breiten kurze Regenzeiten spendiert. Die starken Aufwinde im Sonnenauge sorgen für eine annähernd konzentrische Wärmeverteilung aus dem Hotspot über die gesamte Tagseite des Planeten hinweg und schaffen in Verbindung mit den äußeren Bereichen des Regengürtels Zonen gemäßigten Klimas wie in den mittleren Breiten der Erde.
Die neuen Siedler konzentrierten sich als erstes auf den Bau einer dauerhaften planetaren Siedlung, bei 1,5 g Schwerkraft ein echter Kraftakt. Das Bewerbungsverfahren als Kolonist siebte in strenger Auswahl auch nach physischer Kondition aus. Dennoch teilten sich hier vor Ort die Neuankömmlinge schnell in eine für planetare Besiedlung geeignete Gruppe und einen großen Rest für eine orbitale Stadt auf. Anderthalbfache Erdschwerkraft auf Dauer auszuhalten, möglichst ohne einen kraftverstärkenden Nano-Anzug, gelang nur mit gezieltem, eisernem Training eines ohnehin schon gestählten Körpers.
Von den siebzehntausend Kolonisten verblieben nach drei irdischen Monaten nur fünftausend auf Poseidon. Sie siedelten auf dem von den indigenen Phygor unbewohnten Ostkontinent in der Zone gemäßigten Klimas mit dauerhaften fünfzehn Grad Celsius und saisonalen Niederschlägen von siebzig Millimetern pro Poseidon-Jahr, also einem Erdmonat. Im ewigen Schein der roten Sonne, periodisch wolkenverhangen, entstand inmitten einer Savanne aus türkisblauen Gräsern und schwarzblättrigen Büschen die Pionierstadt Neptunia. Ein ruhiger Strom, gespeist von einer fernen Kette schneebedeckter Berge, mündete in einer nahen Bucht und nahm auch die roten Fluten der saisonal herniederprasselnden Regengüsse auf.
Neptunias Erbauung war eine logistische Meisterleistung, nicht zuletzt durch den Einsatz autonomer Maschinen. Nach gestaffelter Landung einer ganzen Modulflotte zerfielen die Schiffe in selbstfahrende Transporteinheiten und rangierten zur entfernten Baustelle. Vor Ort setzten sich die Module in zwei weitläufigen Sechsecken zusammen, einem inneren und einem äußeren Ring. Die wuchtige Konstruktion in anthrazit, vierzig Meter hoch und vierhundert Meter durchmessend, bot den einschüchternden Anblick einer Festung, was vielen Siedlern missfiel, den meisten aber ein Gefühl von Sicherheit bot. Und es gab Platz im Überfluss. Die kleine Schar von fünftausend Siedlern bewohnte vorerst nur den Innenring. In fremder Umgebung rückte man gerne zusammen.
Vier freistehende Hexagone im Stadtzentrum beherbergten Verwaltung, Krankenhaus, Warenlager, Energie- und Wasserversorgung sowie Recyclinganlagen. Genau im Mittelpunkt thronte auf Betreiben des altgedienten Transnauten Antonio Di-Angelo ein begehbares Denkmal: der dreistöckige T8-Rumpf des Pionierschiffs Spirit of hope als Erinnerung an die legendären Taten der ersten Mannschaft. Die Bord-MI Kassandra konnte zur irdischen Historie, zur Geographie und Biologie Poseidons oder zum Wetterbericht befragt werden und natürlich standen auch holographische Aufzeichnungen der erst wenige Monate zurückliegenden dramatischen Ereignisse im Kampf um Poseidon zur Verfügung.
Das gravitationsresiliente Drittel dieser ersten Siedlerwelle setzte sich aus Agrarspezialisten und Mechatronikern, verschiedenen Handwerkern, fünf Planetologen, drei Ethnologen, zwei Geologen, drei Biologen und immerhin sieben Lehrern zusammen. Die Lehrkräfte mussten sich vorerst administrativen Tätigkeiten widmen. Es waren keine Schwangeren als Kolonisten zugelassen worden und neue Schwangerschaften gab es noch nicht. Es herrschte auch Unsicherheit, wie sich die hohe Schwerkraft auf die Kindesentwicklung auswirken würde.
Medizinisches Personal war knapp und auch im fünfundzwanzigsten Jahrhundert wollte die Menschheit nicht auf menschliche Ärzteschaft verzichten. Diese musste erst noch aus dem Dutzend Ärzte körperlich soweit aufgebaut werden, dass sie dauerhaften Planetendienst verrichten konnte.
Dieses vorbereitende Gravitations-Training absolvierte man in Tritonia, einer bei weitem komfortableren Stadt, welche in vierundzwanzig Stunden Poseidons Äquator umzirkelte und so einen irdischen Tag-Nacht-Rhythmus bot. Der gewaltige Ring von zwölf Kilometern Umfang und anderthalb Hektar Querschnitt bot in seinem Inneren auf einer Fläche von achtzehn Quadratkilometern genug Platz, um Hunderttausende Siedler unterzubringen. Energie-, Klima- und Recycling-Technik, Sozialeinrichtungen, Grünlandzonen mit Gewächshäusern und Parkanlagen, alles konnte großzügig angelegt werden.
Die schnelle Rotation des Rades simulierte per Fliehkraft siebzig Prozent Erdschwerkraft. Das war genug, um mit entsprechendem Training Muskelschwund zu begegnen, aber auch an der Grenze dessen, was die Materialien des Ringes auszuhalten vermochten. Um dem Konstrukt mehr Stabilität zu verleihen, wurden weitere Module zu einer großen, zylindrischen Radnabe verbunden und über vier Streben mit dem Ring verknüpft. Dieser zentrale Komplex beheimatete neben dem Raumhafen auch die Energieversorgung und Triebwerkssteuerung für Positionskorrekturen der Station. Hier im Zentrum herrschte fast Schwerelosigkeit, ein geeigneter Ort für das gut abgeschottete Labor mit Einrichtungen zur Kryokonservation im Nahtodstadium, denn: Aktuell bestand die einzige Option für einen Erdkontakt im Einsatz von Transnauten.
Die Phygor Amethyst, politisches und religiöses Oberhaupt der Orph, war zutiefst beunruhigt. Es waren nicht die Neuankömmlinge auf Poseidon, denn nach den dramatischen Erlebnissen der vergangenen Monate konnte sie diesen Aliens vertrauen. Vor allem der Mensch Wladimir schien ihr Garant für eine politisch reibungsfreie Integration der Siedler in die Welt der Phygor zu sein. Nein, es war ihr Alptraum vor sieben Monden, der sie hartnäckig verfolgte. In ihm wurde sie Zeuge der Niederkunft eines feurigen Dings in einem eisigen Gefängnis. Und dann wurde ihr die Position dieser Höhle offenbart. Weit, weit weg von der neuen Hauptstadt Orph-Mak läge sie, nahe der alten, vom Eis begrabenen Stadt Mar-Orph. Um diesen Ort zu erreichen, musste man drei Binar und damit schrecklich weit auf das Eis der Nachtseite vordringen, von der bislang nur wenige Orph zurückgekehrt waren.
Der größte Quell ihrer Unruhe aber war das Flüstern am Rande ihrer telepathischen Wahrnehmung. Es schien von jenem Ort auszugehen, seltsam vertraut und doch wieder fremdartig. Nun zögerte sie nicht länger und sandte eine Licht-Nachricht an die Garnison nahe der Nachtgrenze mit der Order, eine Expedition auszurüsten. Diese sollte nach dem Zustand der alten Stadt Mar-Orph sehen und würde auf ihrer Route unweigerlich diesen dunklen Traumort passieren. Da alleine der Hinweg an die vier Poseidon-Jahre dauern würde, sollte zur ständigen Kommunikation eine Lichtsignalkette aufgebaut werden.
In böser Vorahnung, dass ihre Entdeckung etwas erwecken könnte, dem die Phygor nicht gewachsen wären, weihte sie außerdem den Mensch Antonio ein, der just hier in Orph-Mak einen weiteren Menschen als Forscher vorstellte. Sie bat ihn, Wladimir Nagorski, den faktischen Anführer der großen Kolonistengruppe, vorerst nicht zu involvieren. Im Falle einer Eskalation aber möge er für schnelle Unterstützung mittels der überlegenen Menschentechnik sorgen, zum Beispiel ein Flugschiff zur Beruhigung der Lage vorbeischicken. Antonio, hilfsbereit wie er war, versprach es leichthin, informierte aber dennoch Wladimir.
William McDuff kannte man nicht nur als berühmten schottischen Abenteurer, sondern auch als erfolgreichen Amateurboxer im Superschwergewicht. Dies und ein Studium der Ethnologie empfahlen ihn als Kolonisten. Unter den rötlichen Locken seines kantigen Schädels verbarg sich ein scharfer, rastlos ehrgeiziger Verstand und die schmalen, blitzblauen Augen hielten ständig Ausschau nach neuen Herausforderungen. Hier auf Poseidon bot sich ihm die einmalige Gelegenheit, bislang fehlende wissenschaftliche Reputation zu erwerben, auch wenn dies vorerst nur innerhalb der Kolonie bedeutsam wäre.
Die beiden anderen Ethnologen aus Neptunia standen bereits in Kontakt mit den Ephyr auf dem Südkontinent und den Orph im Norden des Westkontinents, denn beide Völker waren durch ihre Führungspersönlichkeiten Rubinrot und Amethyst bereits mit den Menschen vertraut. Das dritte große Volk der Phygor aber, die Aphor im Süden des Westkontinents, waren noch unverfälschte Indigene, die bis auf ein Scharmützel mit den Menschen, das leider keiner überlebt hatte, noch nie menschlichen Besuch empfangen durften.
Er, McDuff, würde ein gutes Alien sein, das nützliche Geschenke bringen und dafür wenig verlangen würde. Später, wenn der Kontakt mit den Indigenen vertieft wäre, würde er selbstverständlich auch den Kolonierat über seine Expedition informieren. Aktuell aber hätte er diesen russischen Feldherrn Wladimir Nagorski um seinen Segen bitten müssen. Doch er verachtete und ignorierte ihn.
Seit sechs Stunden überflog sein Leih-Frachter schon den monoton in Burgunderrot wogenden Ozean. Von Neptunia nach Aphor-Mak, der aphorischen Hauptstadt, führte der Kurs in weitem Bogen um das Sonnenauge herum, dessen Wolkengebirge sich schon seit neuntausend Kilometern zur Linken bis zur Stratosphäre auftürmte. Viel Zeit und Kulisse, um sich dem berauschenden Gefühl einer neuen Herausforderung hinzugeben.