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Im Jahr 2182 registriert man auf der Erde im 22 Lichtjahre entfernten System Gliese667C die Strahlungssignatur einer gewaltigen Explosion technischen Ursprungs. Ein Jahrhundert später startet ein Raumschiff zu seinem hundertjährigen Flug in dieses System, an Bord sechs menschliche Klone im Kälteschlaf. Frank Steinweg ist ein Transnaut, ein ausgebildeter Astralreisender. Sobald das Expeditionsschiff sein Ziel erreicht, werden er und fünf weitere Transnauten sich per Geistreise von der Erde in ihre Klonkörper an Bord transferieren und das Zielsystem erforschen. Was sie dort erwartet, ist nicht nur ein bewohnter, erdähnlicher Planet, sondern auch ein mysteriöser Konflikt kosmischen Ausmaßes, der ihr Weltbild erschüttern und die Zukunft der Menschheit nachhaltig verändern wird.
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Seitenzahl: 744
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Im Jahr 2182 registriert man auf der Erde im 22 Lichtjahre entfernten System Gliese667C die Strahlungssignatur einer gewaltigen Explosion technischen Ursprungs. Ein Jahrhundert später startet ein Raumschiff zu seinem hundertjährigen Flug in dieses System, an Bord sechs menschliche Klone im Kälteschlaf.
Frank Steinweg ist ein Transnaut, ein ausgebildeter Astralreisender. Sobald das Expeditionsschiff sein Ziel erreicht, werden er und fünf weitere Transnauten sich per Geistreise von der Erde in ihre Klonkörper an Bord transferieren und das Zielsystem erforschen. Was sie dort erwartet, ist nicht nur ein bewohnter, erdähnlicher Planet, sondern auch ein mysteriöser Konflikt kosmischen Ausmaßes, der ihr Weltbild erschüttern und das Schicksal der gesamten Menschheit beeinflussen wird.
Martin Karsten wurde 1954 in Münster/Westfalen geboren und lebt heute südlich von Heidelberg im Kraichgau.
Nach dem Staatsexamen in Germanistik und Geographie promovierte er in Klimageographie. Mitte der 80ger Jahre führte ihn eine berufliche Neuorientierung in die damals gerade aufblühende IT-Branche. In den letzten Jahrzehnten arbeitete er als Datenbankspezialist bei einer Landesforstverwaltung.
Science-Fiction spekuliert nicht nur über Technologie, sondern wirft unweigerlich auch metaphysische Fragen auf.
Besonders seit der Jahrtausendwende befeuern neue astronomische und physikalische Erkenntnisse die Weiterentwicklung kosmologischer Theorien und befruchten auch spirituelle Weltbilder. Einige jener Konzepte verschmelzen in dieser Space Opera zu einer neuartigen Synthese von Technik und Geist.
Prolog
Kapitel 1 – Einzelgänger
Kapitel 2 – Transit
Kapitel 3 – Teamgeister
Kapitel 4 – Sondierung
Kapitel 5 – Alte Sorgen, neue Rätsel
Kapitel 6 – Kontakt
Kapitel 7 – Aufruhr
Kapitel 8 – Pilgerfahrt
Kapitel 9 – Audienz
Kapitel 10 – Misstrauen
Kapitel 11 – Neue Mitspieler
Kapitel 12 – X-Nord
Kapitel 13 – X-Süd
Kapitel 14 – Alles im Fluss
Kapitel 15 – Tarnen und Täuschen
Kapitel 16 – Auf Messers Schneide
Kapitel 17 – Heimkehr
Kapitel 18 – Operation
Epilog
Anhang
Mein besonderer Dank für beständigen Rückhalt und wertvolles Lektorat gilt meiner Frau Ulrike und meinen Freunden Andrea Weidner und Manfred Göpfrich-Gerweck.
Dies Buch ist allen gutgläubigen Skeptikern dieser Welt gewidmet, die voller Hoffnung auf Irrtum die Grenzen des Menschheitswissens erforschen.
Per aspera ad astra.
Ganz ruhig und bewusst atmen: Ein, Aus, Ein und Aus und Ein und Aus. Bald ist es soweit und eine kalte Woge der Furcht brandet heran. Mühsam ringt er um Konzentration auf das Hier und Jetzt, auf diese Wanne voll körperwarmem Gel, in der er zu schweben scheint. Ein Mensch in Aspik, oder auch, ein Fötus im Mutterleib. Die Nanomaschinen dieses zähflüssigen smaragdgrünen Liquids haben seinen Körper bereits durchdrungen wie ein pränataler Blutkreislauf. Noch einmal atmet er tief durch und ist nun bereit für eine ganz andere Art von Geburt.
Jetzt? Er nickt und jemand murmelt: »Gute Reise und grüßen sie mir Thanovic.«
Ein Sensor wird berührt und ein fokussiertes Magnetfeld nimmt in einem Gehirnareal namens Claustrum eine letale Manipulation vor. Die Wirkung erfolgt unmittelbar und knipst sein Bewusstsein aus wie ein Lichtschalter.
Gefühlt nur einen Lidschlag später erwacht er in konturloser Düsternis, orientierungslos, erinnerungslos, verwirrt. Etwas stimmt hier nicht, etwas Elementares fehlt, aber was? Er fühlt Alles und Nichts zugleich und scheint dahinzutreiben. In was und wohin? Kometengleich schießt aus der Dunkelheit ein grelles Licht hervor, bohrt sich schmerzlos durch seinen Körper und taucht unter ihm ab.
Körper? Körper! Eine Erinnerung steigt empor wie eine Luftblase aus nachtschwarzer Tiefe und ein existentieller Schrecken durchzuckt ihn. Die Welt gerinnt wieder zu Form und Farbe und offenbart ihm eine verstörende Szenerie. Direkt unter ihm gleißt inmitten einer Phalanx bunt blinkender Apparaturen ein Operationsstrahler auf einen verlassenen Körper herab, seinen Körper! Die plötzliche Erkenntnis packt ihn mit eisigem Griff. Wie er sich so in erbarmungswürdiger Leblosigkeit daliegen sieht, gespickt mit Schläuchen und Kabeln und eingetaucht in ein grüngläsernes Gel, stößt es ihn in eine Grube tiefer Verlorenheit und ein leises Grauen zieht herauf. All sein spirituelles Training mit den Sakralpsychologen der CSS wird von dem realen Erlebnis hinweggefegt, seinem eigenen Tod ins leblose Auge zu schauen.
Dr. Ravens schmale Lippen umspielt ein unterdrücktes Lächeln, ist er doch einem wichtigen Etappenziel so nahe. In den Gesichtern der Anderen aber steht nur unerwartete Betroffenheit geschrieben. Stumm umringt das Laborteam Frank Steinwegs leblosen Leib in seiner Wanne wie archaische Priester einen Altar für Menschenopfer.
All dies erblickt er aus der Vogelperspektive und schlagartig kehrt seine volle Erinnerung zurück. Er versteht, alles läuft nach Plan und: für Skrupel ist es zu spät.
Dr. Ravens Nervosität zeigt sich seinen mentalen Sinnen als flackernde Flamme und deutlich vernimmt er ihre prasselnde Stimme: »Frank, können Sie mich hören? Sind Sie noch da? Mein Gott, was rede ich nur. Thanovic, haben Sie schon irgendwelche Anzeichen, sie wissen schon…?«
Das Geistwesen, welches sich immer noch als ‚Frank‘ versteht, hat vorerst genug gesehen und gleitet unterhalb der Decke des großen Labors in eine Raumecke, um sich zu sammeln, den heraufziehenden Gefühlssturm zu bewältigen. Ravens Worte erscheinen ihm zwar geradezu lächerlich, doch hat er auch Verständnis für ihn. Keiner von den sogenannten Lebenden dort unten kann auch nur annähernd nachempfinden, wie es ist, nur noch aus reinen Seins-Quanten zu bestehen. Zwar sind alle im Team mit den gängigen metaphysischen Konzepten wohlvertraut, dafür hatte die projektbegleitende Schulung der letzten zehn Jahre gesorgt. Aber das hier war Realität, kein Lehrbuch-Blabla.
Er blickt an seinem schemenhaften Körper herab und schaudert. Schon einmal hatte er kurz als reiner Astralkörper existiert und diesen abstrusen Zustand erlebt, immer noch er selbst zu sein, obwohl er nun Photonen zu hören und Gedanken zu sehen, jedoch keine Türklinke zu bewegen vermochte, doch diesmal ist es anders. Dieses Mal ist es keine ungewollte Folge eines Unfalls, sondern eine ganz bewusste Entscheidung gewesen, die ihn hierhergeführt hat. Der immer noch bestürzende Umstand, sich in einem Bereich jenseits der materiellen Sinne und an der Schwelle zum endgültigen Tod zu befinden, reißt ihn in einen Strudel widerstreitender Gefühle. Aufschäumende Euphorie angesichts phantastischer Aussichten neue, noch unvorstellbare Horizonte zu überwinden, streitet sich mit klerikaler Ehrfurcht vor der unabwägbaren Unermesslichkeit transzendenter Welten und Existenzen. Dazwischen aber zwängt sich eine pochende Furcht, dass wie damals vor vielen Jahren auch jetzt, praktisch jeden Moment, ein Tunnelbote erscheinen und ihr grenzüberschreitendes Experiment außer Kontrolle geraten könnte. Dabei ist ihr Ziel gar nicht die Transzendenz, sondern der Weg zu den Sternen.
Mittlerweile hat sich im Labor unter ihm etwas getan. Das ganze Team schart sich nun um eine holographische Projektion Professor Thanovics, dessen leicht flimmernde Gestalt heftig gestikulierend in Diskussion mit Dr. Raven zu stehen scheint. Ohne ihre Worte zu hören, versteht Frank, dass es sie beunruhigt, keinerlei Anzeichen seiner Existenz zu erkennen. So wird es Zeit, seine Mission zu vollenden.
Er drängt den Ansturm existenzieller Fragen beiseite und besinnt sich auf seine Aufgabe: Bewege dich kraft deines Willens von hier, dem Erdorbit, nach dort, der Bodenstation. Ganz simpel. Doch momentan fühlt er sich wie ein Kleinkind, das Laufen lernen möchte. Wie bewege ich mich im Astralraum? Er versucht es mit einer einfachen Imagination: 'Hoch'. Augenblicklich beginnt sein nebelhafter Körper langsam durch die weiten Leerräume in den Atomen der Labordecke zu diffundieren und schwebt als unsichtbare Wolke in das darüberliegende Büro von Dr. Raven. Ein wandfüllendes Display zeigt das nun einen Stock tiefer liegende Labor, wo alle stumm nach oben starren, als ob sie ihn noch sehen könnten. In einer kleinen Displaykachel ist seine Missionsakte eingeblendet und sein eigenes Konterfei blickt ihn kritisch an, als wollte ihn ein Zwilling vor ungeahnten Konsequenzen warnen. Diese Vorstellung irritiert ihn und eilig durchstößt er die nächste Ebene, ein Maschinendeck mit seinem endlosen Gewirr aus Kabeln, Schläuchen und Aggregaten. Hindurch und hinein in den darüberliegenden Schleusenhangar, in dem Wartungstechniker das Transfer-Shuttle, mit dem er und Dr. Raven tags zuvor angekommen waren, für die Rückkehr zur Erde vorbereiten. Diesmal nur für einen Reisegast.
Ein weiterer Gedankenbefehl lässt ihn hinaus durch die Außenhülle des Orbitals schlüpfen. Augenblicklich umgibt ihn das Vakuum: Temperatur am absoluten Nullpunkt, zellschädigende Strahlung, keine Atemluft, kein Außendruck, der einen wässrigen Menschenkörper vor Verdampfung schützen würde – alles ohne Belang für einen Astralkörper. Ein weiterer Sprung reinen Willens befördert ihn so weit hinaus in die Leere, dass der kilometerlange silberne Zylinder der Raumstation nur noch als daumenlange Lebenskapsel inmitten sternenbestäubter Schwärze zum ihm herüberschimmert.
Und darüber wölbt sich über den halben Himmel das blauweiße Leuchten des Erdballs - sein nächstes Ziel!
Insgeheim zweifelt er noch am Gelingen des Experiments und die unterschwellige Furcht, einem Tunnelbote zu begegnen, macht ihn nervös. Falls dies geschähe, wäre wohl sein endgültiger Tod besiegelt. Doch im Gegensatz zu Dr. Raven und Prof. Thanovic empfindet er dies nicht wirklich als Bedrohung, sondern…er weiß nicht recht. Für das medizinische Führungstandem im Projekt Transstellar-G667 aber wäre es eine Katastrophe.
Ihr von manchen als blasphemisch gegeißeltes Konzept einer Raumreise per reinem Geist ist der neue Hoffnungsträger in der zunehmend verzweifelten Suche nach einer zweiten Erde. Nachdem der Traum vom Nachbarsystem Alpha Centauri schon Anfang des 22. Jahrhunderts geplatzt war, als eine Sonde nur von Sonnenfackeln verwüstete Welten vorfand, blieb aus der ohnehin kurzen Kandidatenliste nur das schon länger bekannte, aber lange ignorierte System Gliese667C übrig, denn es bot eine Besonderheit.
Das ehrgeizige Ziel war gesteckt. Doch die Überwindung von zweiundzwanzig Lichtjahren erforderte einen Paradigmenwechsel in der Raumfahrt. Und dabei spielte er eine zentrale Rolle. Hier und jetzt ist er der Risikopilot im ersten Test einer radikal neuen Art von Raumreise.
Für ihn hatte der Tod seinen Stachel der Endgültigkeit verloren. Seitdem er damals vor zwanzig Jahren nach diesem tragischen Unfall seinen Körper zum ersten Mal verlassen und Unbeschreibliches durchlebt hatte, war ihm gewiss, dass er auf bestimmte Art seinen materiellen Körper überdauern würde. Er hatte nur wenig darüber geredet, doch das genügte und qualifizierte ihn als ersten Kandidaten bei der Rekrutierung einer Gruppe außergewöhnlicher Astronauten im morbiden Projekt Transstellar der öffentlichkeitsscheuen staatlichen Institution Lazarus Labs.
Wie er so tief in Vergangenheit versunken über der Erde schwebt, berührt ihn plötzlich aus dem Nichts heraus etwas wie ein leichter elektrischer Schlag.
›Nein!‹, durchzuckt es ihn, ›Nicht jetzt, auf keinen Fall!'‹.
Hartnäckig zupft es an ihm und er wird nervös.
›Ruhig‹, sagt er sich, ›denke nach. Darauf hast du doch gewartet. Alles gut, alles im Plan.‹
Aus dem Zupfen wird ein beständiges Ziehen am ganzen Astralkörper und er versteht, dies ist die sich aufbauende Verbindung zu seinem Ziel. Deutlich verspürt er nun einen Sog, der ihn in Richtung Australien zerren will, das soeben als rotbrauner Fleck am Rande der Erdkugel auftaucht. Er widersetzt sich nicht länger und lässt die Kraft wirken. Schneller als je Materie in Richtung Erde fallen könnte, zoomt seine Wahrnehmung in einer einzigen, zeitlosen Beschleunigung dem Planeten entgegen, mehr Sprung als Flug. Im gleichen Augenblick findet er sich unterhalb der Decke eines Raumes wieder, der wie ein Spiegelbild des Orbital-Labors erscheint.
Unter ihm blinkt das Lichtermeer einer Landschaft technischer Geräte und mittendrin umringen stumme Gestalten in tiefroten Overalls einen mit smaragdgrünem Gel gefüllten Tank. Darin treibt nahe der Oberfläche ein nackter männlicher Körper mit einem Gesicht, das eher tot als schlafend wirkt - sein eigenes jugendliches Spiegelbild.
Etwas abseits davon beugt sich die hagere Gestalt Prof. Thanovics in angespannter Haltung dem Hologramm Dr. Ravens entgegen, dessen flackernde Shilouette nervös mit den Armen fuchtelt und hastig hervorstößt: »Thanovic, sehen sie schon Zeichen seiner Ankunft? Wir hier oben haben keinerlei Statusinformationen, wissen nichts über seinen Zustand und Aufenthaltsort. Ich hoffe inständig, dass er nicht abgefangen wurde.«
»Nun mal keine Panik, Raven. Immer die gleichen Spekulationen über diese sogenannten Tunnelboten und ihre Motive. Wir wissen ja noch nicht einmal, ob es sie wirklich gibt, trotz aller NDE-Berichte. Und außerdem ist Steinwegs Astraltransfer ein experimentell erzeugtes Artefakt und kein echter Tod. Das erste seiner Art in der Menschheitsgeschichte und hoffentlich der Anfang einer neuen Ära. Wenn es denn geklappt hat. Äh, wie ist eigentlich der Zustand seines … alten Körpers?«
Die Frage war reine Ablenkung, denn alle Sensordaten des Orbitallabors lagen sekundensynchron auch der Bodenstation vor. So erwiderte Raven auch verdrießlich: »Das sehen sie doch selbst. Klinisch tot, Nulllinie Vitalfunktionen. Die Systeme zur Körpererhaltung bleiben noch maximal eine Stunde aktiv, um für eine eventuelle Rückkehr vorbereitet zu sein. Sobald ihr uns den erfolgreichen Transfer bestätigt habt, bereiten wir ihn zur Einlagerung vor. Also alles nach Plan. Und der Klon? Empfangsbereit?«
Das war die alles entscheidende Frage. Würden Klonkörper und Astralkörper einander akzeptieren, würden sie kompatibel sein?
Noch Tage zuvor hatte sich Frank Professor Thanovics übliche Aufbaupredigt anhören müssen, als er wieder einmal unter einem Anfall spiritueller Skrupel litt: »Mach dir da mal keine Gedanken, mein Junge. Genau genommen, ist dein Klonbruder mehr Pflanze als Mensch. Du weißt doch, wir haben deinem Körper ein paar Zellen entnommen und daraus über genetische Reprogrammierung wunderbare totipotente Stammzellen erzeugt. Seit nun dreißig Jahren können wir aus diesem Material auf rein vegetativem Wege einen perfekten Klon, einen genetisch absolut identischen Zwilling erschaffen. Doch dieses Wesen kann nie aus sich heraus zum Bewusstsein erwachen, denn es ist, um den offiziellen Terminus der Cosmo-Sophischen Sozietät zu verwenden, nur mit Ätherkörper ausgestattet, nicht mehr.«
An dieser Stelle räusperte er sich meistens und murmelte vor sich hin: »Ätherkörper, was für ein dämlicher, antiquierter Begriff«, bevor er weiter dozierte: »Wie allgemein bekannt, setzen wir dieses Verfahren schon seit vielen Jahren ein, um für Leute, die es sich leisten können, oder von denen Weltmächte meinen, sie sollten es sich leisten, einen persönlichen Organspender zu erzeugen. Schließlich kann nicht jedes Organ neu ausgedruckt werden.«
Dann pflegte der Professor kurz innezuhalten, Frank die Hand auf die Schulter zu legen, ihm tief in die Augen zu schauen und mit sonorer Stimme zum Finale der moralischen Aufrichtung anzusetzen: »Dein neues Gehirn besitzt eine gentechnisch extrem gesteigerte Neuroplastizität bei maximaler Neuronendichte und geringster Vorprägung! Und noch eine Besonderheit: die biochemischen Systeme des neuronalen Wachstums sind für eine Gehirntemperatur von 15 bis 20 Grad Celsius optimiert worden. Das Netz kann sich da geradezu explosionsartig entfalten. Das passt genau zur Erweckungssequenz aus dem Kälteschlaf. Damit auch ja nichts von dir verloren geht, wenn du ankommst! Ein perfekter Zweitwohnsitz für dich, wo du schnell ganz der Alte sein wirst. Unsere Berater von der CSS haben keinen Zweifel daran, dass dir der Weg hinein gelingen wird.«
»Schon gut, Thanovic,« war gewöhnlich seine Antwort, »sie wiederholen sich. Aber trotzdem. Wir wissen so gut wie nichts über das sogenannte Jenseits. Die meisten kosmologischen Modelle sprechen ja von einem Raum unterhalb der Quantenwelt, dem subquantischen Potentialraum, die Quelle aller Realitäten jenseits der Planck-Grenze. Vor Jahrhunderten nannte man das ›feinstofflich‹ und hat auch von Geist, Seele und was weiß ich was gesprochen. Irgendwie war das alles heilig, Tabuzone. Und heute dringen wir dort ein, ohne wirklich zu wissen, was uns erwartet.«
So liefen ihre Diskussionen meistens ab und Frank war nicht wirklich geholfen. Jetzt aber, an der Schwelle seines Klonkörpers, durchströmt ihn Zuversicht, dass der Transfer gelingen und er nicht zurück in seinen alten Körper geworfen wird. Der entscheidende Schritt soll die finale Verschmelzung mit dem neuronalen Netz seines Klonbruders sein, nach Lehre der CSS gleichbedeutend mit der Konjunktion von Äther- und Astralleib. Er kann nur hoffen, dass sein Geist dies unbeschadet überstehen wird.
Plötzlich schaut Professor Thanovic irritiert zur Decke des Labors empor, als ob er seine Präsenz spüren würde, und spricht räuspernd ins Leere hinein: »Frank Steinweg, wenn sie da sind, nur herein in die gute Stube. Wir können ihr neues Zuhause noch eine Stunde in empfangsbereitem Zustand halten, bevor wir wieder abkühlen müssen. Dann würde ich Dr. Raven bitten, ihren alten Körper…«
Schlagartig umhüllt Frank biblische Schwärze und eine magnetische Kraft zieht ihn wie durch einen engen Trichter unwiderstehlich hinein in einen kalten Körper. Es ist so finster und es schmerzt, schmerzt, so eng, zu eng! Eine unnachgiebige Titanenfaust presst ihn mit fürchterlicher Gewalt gegen das fremde, leere Netz, doch er passt nicht hinein. Panik überschwemmt ihn und treibt sein flackerndes Bewusstsein weit hinaus auf einen blutroten Ozean. Ein lautloser Orkan wirrer Bilder zerrt an seinen Erinnerungen, droht sie ihm zu entreißen, seine Identität zu zerfetzen und drückt ihn tief und tiefer hinunter in immer schwärzeres Versinken. Und sein Licht droht zu erlöschen.
Doch während sich sein Geist noch in Agonie windet, steigt aus der Tiefe langsam ein glühender Schein empor und verwandelt das finstere Meer Schicht um Schicht in einen Raum voll warmen Lichts. Das Netz entfaltet sich, umfängt ihn sanft und beginnt, mit ihm zu verschmelzen. Der Sturm flaut ab, ein Tosen und Brennen durchflutet den Körper, ein Blitz durchzuckt die Welt und wummernd setzt Herzschlag ein.
Ihn packt fürchterliches Ersticken, aber sogleich heben und stützen Hände seinen Rücken und würgend hustet er Reste des grünen Lifecare-Gels aus seinen neuen Lungen, ringt nach Luft und lebt - wieder in einem Körper! Ein Meer aus Stimmen brandet heran und er versucht, seine verklebten Augenlider zu öffnen. Vergeblich, zu schwer.
›Langsam, lasst mir Zeit, ich kann noch nicht, zu viel, zu laut, zu hell!‹
Dann endlich, inmitten eines dröhnenden Getöses, als ob die Welt einstürze, einmal versucht, zweimal, dreimal, gelingt es ihm, mit aller Willenskraft seine Lider zu öffnen. Wie durch einen Schleier hindurch sieht er die Konturen eines Gesichts vor sich auftauchen, klarer werdend, Form annehmend, und erkennt es schließlich. Todesmatt und benommen blinzelt er in die tränenerfüllten Augen Professor Thanovics, dessen faltiges Antlitz vom gleißenden Hintergrund mit einer Aureole umrahmt wird gleich einem Heiligenschein.
Doch ist er nicht im Himmel, sondern auf Erden angekommen. Vielleicht auch in der Hölle.
»Willkommen Frank, willkommen als erster Transnaut der Lazarus Labs.«
Kapitän Yussuf war blendender Laune und das aus gutem Grund. Sein Wasserstofffrachter hatte die gute Milliarde Kilometer vom Asteroidengürtel bis zum Saturn dieses Mal in nur zwei Wochen zurückgelegt. Allerdings war das von diesem teuren neuen Fusionstriebwerk und außerdem leeren Frachttanks auch erwartbar gewesen. Volle Beladung war da etwas anderes, aber auch hier würde der rundum verbesserte Antrieb Rekordleistungen vollbringen und die kleine Schiffsmannschaft aus drei altgedienten Raumteufeln in nur sieben Wochen zurück in die weichen Arme der Heimat befördern. Außerdem bedeuteten drei Monate für einen Törn viermal Frachtlohn im Jahr gegenüber zwei- bestenfalls dreimal wie früher.
Saturn und seine Ringe füllten die große Holokugel in der der Schiffszentrale mit filigraner Pracht und leuchteten von der Raumdecke auf Yussufs blanken braunen Schädel herab. Unter buschigen weißen Brauen überflogen dunkle Augen beiläufig die Lichtmuster der Steuerkonsole und blickten dann wieder aufmerksam auf den Gast. Frank Steinweg saß mit verschlossener Miene und gefalteten Händen im Copiloten-Sessel und wartete ab, was der Kapitän zu seinem bislang verschwiegenen Vorhaben sagen würde.
»Du bist dir also sicher, dass es unbedingt ein Solotrip sein muss? Davon war vor unserem Start aber nicht die Rede. Und dass du einen Nanoanzug tragen willst, verbessert die juristische Lage nicht. Eine MI zählt nicht als Begleitperson.«
Frank nickte energisch: »Ganz sicher. Ich warte schon so lange auf diese Gelegenheit und meine Mission nach Gliese startet bereits in drei Monaten. Wer weiß, was danach ist, ob dann überhaupt noch etwas ist. Die Richtlinien der Raummarine kümmern mich da jetzt nicht weiter. Das fürs Protokoll, damit du entlastet bist.«
Er war in nervöser Aufbruchsstimmung. Nach mehr als hundert Jahren Wartezeit, in der rein altersbedingt weitere Körperwechsel notwendig gewesen waren, stand nun die Krönung, ja die Erfüllung seines Daseins bevor. Die halbstaatliche Lazarus Labs Corporation hatte mit ihm als erstem Mitglied seinerzeit ein Team von Astronauten aufgestellt, die mittels Astralreise zu den Sternen fahren sollten. Das war keine besonders angenehme Sache, denn eine solche Reise begann mit dem eigenen Tod, zumindest klinisch betrachtet. Seit über einem Jahrhundert schon begleitete diese Institution die Gliese-Mission und jetzt endlich war es soweit. In drei Monaten würde das Team und damit auch er in den ungeheuren, grenzüberschreitenden Transfer gehen.
»Und übrigens«, Frank hatte sich entschlossen, Yussuf einzuweihen, »ich habe heute Geburtstag und dieser Trip ist mein Geschenk an mich.«
»Hey, das gibt es doch nicht! So einer wie du wurde geboren? Wie viele Saturnjahre zählst du denn?«
Frank verdrehte die Augen und seufzte: »Ungefähr Sechs, du Gasleuchte. In Erdjahren sind das aber exakt stolze Hundertachtzig!«
Yussuf zwinkerte ihm verschwörerisch zu: »Und das gilt, in deinem vierten Körper? Du siehst noch so frisch aus, etwa wie der Typ in dem uralten Retro-Schocker, den mir dieser Schiffscomputer in seiner angeblichen maschinellen Intelligenz vor ein paar Tagen andiente, als ich etwas durchhing. Spielte den Teufel und hieß wie ein Engel. Gabriel Birne oder so ähnlich. Kennst du nicht. Na dann, alles Sternengold für dich, du Opa.«
Einen alten arabischen Schlager summend wandte er sich seinem antiquierten, skandalös schmuddeligen, aber lieb gewonnenen Tastaturinterface des Schiffsrechners zu und rief die aktuellen Positionsdaten der Saturnmonde ab. In der mannshohen Holokugel zoomte Saturn näher heran und blinkende Bahngraphiken für Schiff und Monde überlagerten seine Ringe mit einem vielfarbigen Muster.
Yussuf brütete kurz über den angezeigten Daten, kratzte sich am Kinn und wandte sich dann mit hochgezogenen Brauen an seinen Gast: »Ich will dich in deinem Alter ja nicht hetzen, aber in zwei Stunden müsstest du auschecken. Dann sind wir in maximaler Nähe zu Enceladus. Danach schwenke ich in den Tankorbit ein. Es wird einen Erdtag dauern, alle Container zu tauschen. Bei Io, zehn Tanks voll Wasserstoff und einer voll mit Helium3, das sind fast achtzigtausend Tonnen! Aber der eigentliche Schatz liegt ja im 3He-Tank. Die Unified Energy Company wird noch fetter werden und ich sollte meine Provisionshöhe überdenken. Diese Bergwerke in den Felsbrocken sind ja nun wahre Goldgruben, aber eben auch teure Energiefresser und unsere großartige Raummarine hat sowieso immer Durst auf Treibstoff.«
Der Bergwerksboom im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter bescherte den ohnehin schon mächtigen Energiekonzernen einen Aufschwung ohnegleichen. Die aktuelle Generation der Fusionstriebwerke, im Kern schon vor hundertdreißig Jahren für die Interstellarmission Gliese entwickelt, war nach Jahrzehnten weiterer Effizienzsteigerung nun Flottenstandard. Während die Kernfusion der stationären Energieversorger von Erde, Mond Mars und Ceres auf 2H-3He basierte, wurden die Triebwerksreaktoren nur mit Helium3 betrieben.
Der Bedarf an diesen Gasen war enorm, doch die gigantischen Vorräte in den Atmosphären von Jupiter und Saturn konnten noch endlose Jahrtausende lang den Energiebedarf der Menschheit decken. Allerdings war das Gasmining am Jupiter aufgrund seiner hohen Schwerkraft und dem gewaltigen Magnetfeld zu riskant, sodass trotz der weitaus größeren Entfernung nur die Ressourcen Saturns und zum Teil auch des Uranus genutzt wurden.
Raumtanker wie die Bosporus III dockten an den im Orbit hoch über der Saturnatmosphäre kreisenden Terminals an und tauschten dort leere Tankmodule gegen volle aus, befüllt von gewaltigen Förderanlagen. Tausende Kilometer tief im Gasozean sammelten treibende Ansaugtrichter das Helium-Wasserstoff-Gemisch ein und pumpten es über lange, flexible Carbon-Pipelines hinauf zur Raffinerie, wo die Gastrennung nach 2H, 3He und 4He erfolgte und Letzteres wieder in die Atmosphäre abgeschieden wurde. Die anderen beiden Gase wurden in spezielle Tankmodule eingespeist und im Orbit zu Transporteinheiten verkettet, welche im Verbund mit Schubeinheiten ein Frachtschiff bildeten, wie eben die Bosporus eines war.
Yussuf geriet jetzt richtig in Redelaune und schwadronierte drauf los: »Weißt du, Frank, die ersten Frachter Mitte des 23. Jahrhunderts besaßen noch zehn Mann Besatzung und schoben gerade mal drei Tankzylinder durch den Raum, Heute, nach über hundertfünfzig Jahren interplanetarem Gashandel, sind die Tanks durch die T8-Modulform zwar etwas kleiner, aber das ist der Preis der Standardisierung. Ich finde, es hat sich als Riesenvorteil herausgestellt, dass man damals den ganzen Schiffs- und Stationsbau konsequent modularisiert hat. Eine einzige Form lässt sich zu allem möglichen zusammenstöpseln. Und von diesen Teilen können wir jetzt eine ganze Menge vor uns herschieben. Mit Antriebs- und Habitatmodulen zusammen messen wir einen stolzen Kilometer Länge. Das ist was, Mann! Aber du weißt ja, mit Gliese fing alles an.«
Frank war über Yussufs Anteilnahme an seinem Geburtstag etwas enttäuscht und gähnte innerlich dessen Redefluss ab, hing dann aber doch dem Stichwort nach und versank in Gedanken.
›Ja, ja, die Gliese-Revolution in der Raumfahrt. Nach der apokalyptischen Seuchenkatastrophe zu Anfang des 22. Jahrhunderts im Gefolge des vorwiegend biologisch geführten dritten Weltkriegs fand eine stark geschrumpfte und nachhaltig schockierte Menschheit im Laufe der folgenden Jahrzehnte zu einer immerhin föderalen globalen Einheit zusammen und konnte nur so Ende des Jahrhunderts die gewaltige Aufgabe angehen, eine interstellare Expedition zum Stern Gliese667 zu planen und im Laufe weiterer hundert Jahre zu realisieren.
Ein vielfältiges Planetensystem inklusive einer Supererde war schon Anlass genug, denn die Kriegsfolgen drohten einen weltweiten ökologischen Kollaps auszulösen. Die Hoffnung der Überlebenden ruhte damals auf einer zweiten extrasolaren Heimat für die Menschheit, zumindest für ihre kapitalkräftige Elite. Planeten vom Typ ›Supererde‹ in Nachbarschaft der Sonne waren durchaus vorhanden, aber keiner erwies sich in der Fernerkundung als so viel versprechend wie der Planet Gliese667Cc.
Geradezu elektrisierend waren die Anzeichen für eine Sauerstoffatmosphäre mit Spuren von Methan, denn dies ließ auf erdähnliches Leben in irgendeiner Form hoffen. Die eigentliche Sensation allerdings ereignete sich Anno 2182: Ein wenige Minuten andauernder Strahlungsausbruch im Raum zwischen den drei Gliese-Sonnen, seiner Struktur nach eindeutig ein Artefakt, aber ein rätselhaftes. Militärische Kreise wollten in den Spektralanalysen dieses Bursts die Signatur einer Wasserstoffbombe von ungeheurer Leistung erkannt haben, andere wiederum tippten auf einen explodierenden Fusionsreaktor.
Irgendetwas war in diesem System passiert, was auf die Anwesenheit unbekannter Akteure schließen ließ, und das in unmittelbarer kosmischer Nachbarschaft zur Menschheit. Die gesamte solare Föderation hatte nur einen Gedanken: Dies war die historische Chance, auf welche man seit Jahrhunderten wartete, Kontakt zu Außerirdischen!
Doch zur Überwindung von zweiundzwanzig Lichtjahren war radikal neue Technik notwendig.
Innerhalb von nur zwei Jahrzehnten entstanden vollkommen neue Industriekomplexe zur effizienten Massenproduktion von Hightech-Materialien. CarbonNanoTubes, topologische Verbundstoffe und programmierbare Nanomaterie bildeten die Ausgangsbasis für extrem leichte und zugleich ultrastabile Werkstoffe. Gleichzeitig wurden eine strikte Standardisierung und Modularisierung eingeführt. Ein ungewöhnlicher Polyeder mit dem kühlen Namen ›Oktaederstumpf‹ und dem Kürzel T8 bildete aufgrund seiner Vielzahl an idealen geometrischen Eigenschaften die architektonische Grundlage für Raumschiffe, Stationen, Frachtcontainer, Tanks und Antriebseinheiten.
Dies jedoch wäre nichts ohne einen neuen Antrieb. Seit Anfang des 21. Jahrhunderts projektiert, konnten erst im frühen 23. Jahrhundert mehrere Durchbrüche in der industriellen Erzeugung von Antimaterie und der Konstruktion schubkräftiger Fusionstriebwerke erzielt werden. Auf dieser Basis wurde das schon lange konzipierte PCAD-Triebwerk endlich realisiert. Hochfrequente Mikro-Injektionen von Antiprotonen hielten einen Kern aus 3He-Fusionsplasma am Laufen, welcher seine gewaltige Energie an die umgebende Schubmasse aus Wasserstoff abgab. Dieses so ebenfalls plasmatisierte Gas strömte dann mit bislang unerreicht hoher Geschwindigkeit und Schubkraft aus den Magnetfeldern der Triebwerksdüsen.
Ja, so war das damals! Und in diese Zeit hinein wurde er geboren, 2224. Lange her. Mit sechzehn Jahren die Lebenswende. Sein initiales Nahtoderlebnis bei dem albtraumhaften Unfall seiner Familie, den er als einziger Rückkehrer von der Todesschwelle überlebt hatte. Zwanzig Jahre später dann das revolutionäre Experiment zur gesteuerten Astralreise mit ihm als Versuchsperson, für das Professor Thanovic und sein Assistent Dr. Raven damals den Nobelpreis erhielten. Zu Recht, schuf der Erfolg dieses Klon-Konzepts doch die Grundlage für das Projekt Transstellar, die innovative Logistik der bemannten Gliese-Expedition.‹
»Frank, bist du noch da?«
Er schaute auf, bemerkte, dass der Kapitän ihn mit sorgenvoller Ironie anblickte und riss sich aus seinen Gedanken: »Yussuf, was hast du eben gesagt? Einen Kilometer lang? Erinnerst du dich noch an den Start der ‚Spirit of hope‘? Du weißt schon, das berühmte Gliese-Expeditionsschiff.«
Yussuf verzog das Gesicht zu einem gequälten Lächeln und meinte leichthin: »Aber selbstverständlich. Das Ereignis wurde ja im Stadion von Izmir live auf Megascreen übertragen. Da lernte doch mein Großvater meine Großmutter kennen, als sie ihm die letzte Tüte Nougat vor der Nase wegkaufte. Erzählte er mir ständig, als er noch lebte! Und von diesen merkwürdig toten Typen an Bord.«
Frank grinste unverhohlen. Seine Retoure auf die Schwafelei seines alten und doch so jungen Freundes schien zu sitzen. So konnte er es sich nicht verkneifen, noch etwas nachzulegen: »War ein erhabener Anblick, als die Triebwerke zündeten und sich dieser sieben Kilometer lange Silberstab langsam aus dem Mondorbit schob. Sechzig Tankzylinder in Reihe, jeder mit dem Volumen der Bosporus. Und der ganze Treibstoff nur für den Hinflug, nur um sechs scheintote Astronauten-Klone hundert Jahre durchs Weltall zu schippern. Eigentlich der reine Wahnsinn. Aber bald werden wir wissen, ob sich dieser Aufwand gelohnt hat.
Okay, ich danke dir für deine Gastfreundschaft und dein Verständnis. Jetzt muss ich aber los und noch ein paar Vorbereitungen treffen, bevor ich mich von der Bosporus abkoppele. Ach ja, nochmals fürs Protokoll, unser Gespräch hier wird ja sicher aufgezeichnet: Ja, ich will die Eisfontänen leibhaftig und ganz alleine vor mir sehen. Das Risiko schreckt mich nicht. Du weißt schon, wir von Transstellar bewerten solche Gefahren etwas anders.«
Yussuf nickte resigniert: »Gut Frank, ihr Trans-Dingsbums könnt ja sowieso machen was ihr wollt. Wahrscheinlich überlebt ihr uns alle und euer Stellenwert für die Marine lässt euch wohl jede Freiheit. Aber ich habe dich gewarnt. Enceladus entfernt sich immer noch von Saturn und der fernste Orbitalpunkt ist noch lange nicht erreicht. Saturns Schwerkraftfaust lässt jetzt locker und die Geysire werden stärker. Das bedeutet auch, die Kluftbildung entlang der Eisgrabenbrüche und damit die Gefahr von Kantenabrissen wird größer. Ein Solotrip dorthin ist eigentlich gegen jede Marine-Vorschrift und wäre ich dein Boss, ich würde dich auf keinen Fall gehen lassen. Aber als dein Freund vergesse ich sogar, die vorgeschriebene Statusmeldung an die Lazarus Labs abzusetzen. Das weißt du hoffentlich zu schätzen und machst keine Dummheiten.«
»Danke, ich kenne das Risiko. Aber dies ist meine letzte Gelegenheit. Nur ein kurzer Trip, um mich mit dieser ziemlich antiquierten Expeditionsausrüstung noch einmal in einem echten Einsatz vertraut zu machen. Wenn ich demnächst nach Gliese transferiere, muss ich mit diesem alten Kram zurechtkommen. In wenigen Stunden bin ich ja zurück und klinke mich dann wieder bei dir ein.«
In der durch Rotation vorgetäuschten Schwerkraft muss man auf seine Bewegungen achten, denn es gibt einige mit fatalen Folgen. So erhoben sich beide zeitlupenhaft von ihren Sitzen, umarmten einander etwas distanziert und Frank stakste mit langen, vorsichtigen Storchenschritten zur zentralen Liftsäule.
Mit leisem Schmatzen schloss sich der transparente Kabinenzylinder luftdicht ab und glitt summend aus dem T-8-Modul der Zentrale hinüber in den mittleren der drei verbundenen Polyeder. Diese Dreierkette rotierte in knapp dreißig Sekunden einmal um die Längsachse des Frachters und schuf so in den Außenmodulen der Zentrale und des Wohnbereichs per Fliehkraft eine simulierte Schwerkraft.
Im Rotationszentrum des Mittelmoduls angekommen, drehte ein Verteilerkreuz die Liftkabine, bis sie parallel zur Schiffsachse lag. Über ihm öffnete sich das Verbindungsschott zum zentralen Längstunnel des Schiffs und gab den Blick in die klaustrophobische Enge einer kilometerlangen, schwach beleuchteten Röhre frei, in welche der Lift hineinglitt und sanft beschleunigte.
Wie den meisten Passagieren war auch Frank der Anblick dicht vorbeirasender Schachtwände unangenehm und er schaltete die Kabinenwand um als Display für die Außenkameras.
Schlagartig schien er im All zu schweben und inmitten eines atemberaubenden Panoramas am Schiff emporzugleiten. Zu seinen Füßen breiteten sich die Gasozeane Saturns aus. Langsam sanken sie über den Nordpol der pastellfarben gebänderten Planetenkugel Richtung Äquator herab und näherten sich dem breiten Band gestochen scharfer Rillen und segmentierter Ringe, das Frank, dessen große Leidenschaft Musik der Jahrtausendwende war, unwillkürlich an eine gigantische, weiß glänzende Schallplatte erinnerte.
Vor ihm ragte der hellglänzende Stapel aus T8-Containern weit in die Allschwärze hinauf. Unter ihm das Ensemble der drei rotierenden Habitatmodule, dahinter die beiden Einheiten für Tank und Antrieb und abschließend der konische Heckschild, hinter dessen Schutz noch vor kurzem die rubinrote Plasmaflamme des Fusionsantriebs dem Schiff in vollem Bremsschub Richtung Saturn vorausgeeilt war.
Langsam glitt Franks Kabine den Silberturm hinauf bis zum äußersten Modul, einem deutlich kleineren Polyeder. Das Liftdisplay erlosch, die Kabinenwandung öffnete sich und aus der Zentrale seines Schiffs heraus begrüßte ihn eine vertraute Stimme: »Hallo Frank. Möchtest du einen Kaffee?«
In einer knappen Stunde sollte sich sein kleines Schiff vom Bug des Tankers lösen und Richtung Enceladus starten. Vorher jedoch würde noch eine weitere Bremsphase stattfinden und deren künstliche Schwerkraft wollte er für eine ganz spezielle Vorbereitung nutzen. Schnell kippte Frank den Willkommenskaffee herunter, den ihm die freundliche Maschinen-Intelligenz seines Schiffs in Kenntnis seiner Gewohnheiten zubereitet hatte. Dann begann er sich dem vielleicht wichtigsten Ausrüstungsteil eines modernen Astronauten zu widmen, einem Universalfunktionsanzug mit integrierter MI, einem Wunderwerk gleich einem technischen Biom, einem Geflecht aus sechshundert Milliarden Nano-Maschinen.
Damals, zum Startzeitpunkt der Expedition im Jahr 2304, galt der jetzt auf ihn wartende Overall aus dem Hause Huawei-Lockheed als Sensation, nicht nur auf dem Sektor exoplanetarer Missionstechnik. Mittlerweile aber durfte man vor allem seine MI als hoffnungslos veraltet bezeichnen. Doch er musste sich auf das vorbereiten, was ihn in zweiundzwanzig Licht- und einem Viertel Erd-Jahr Entfernung an Technik erwarten würde. So hatte er ein Duplikat seines Funktionsanzugs, wie er ihn im fernen Gliese-System antreffen würde, mit auf seine kleine Urlaubsreise genommen. Auf Enceladus wollte er dessen Leistungsgrenzen erkunden, ganz ohne Kenntnis und Segen der Missionsleitung. Eine Eigenmächtigkeit, wie man sie von den exzentrischen Transnauten leider gewohnt war und Vorgesetzte angesichts der überragenden Bedeutung dieser kleinen Truppe bald resignieren ließ.
Frank hob den faustgroßen, mattschwarzen Würfel vor die Augen. Mit acht Kilogramm war das Gebilde erstaunlich schwer, bestand es doch zu drei Vierteln aus dicht gepackten Kohlenstoffmolekülen und zum Rest aus einem breiten Spektrum verschiedenster Metalle und Minerale. Im Kern des Objektes wartete in einem Mycel unendlich feiner, mit der Matrix aus Energiespeicherzellen verwobener Fäden, eine MI, eine Maschinen-Intelligenz auf seine Befehle.
Frank zögerte kurz, erinnerte sich an seinen letzten Erdurlaub und sprach dann deutlich artikulierend: »Ich werde dich Nanoki nennen, dann stelle ich mir vor, mit einem netten japanischen Mädchen zu reden.«
Nanoki konfigurierte eine Würfelfläche zur Audiomembran und raunte mit tiefem, aber femininem Timbre: »Natürlich Sensei, wie es für Sie am angenehmsten ist. Klingt meine Stimme so akzeptabel?«
›Bei Io, das fängt gut an‹, dachte Frank und seufzte: »Nein, Nanoki, ein zartes japanisches Mädchen spricht nicht mit tiefer Stimme. Bitte etwas höher, aber nicht schrill.«
»In Ordnung, Steinweg-sensei, etwa so?«, flötete ein süßer Sopran aus der schwarzen Kiste.
Er legte das Objekt vor sich auf den Boden und kommandierte: »Gut, so lassen wir es und kommen jetzt mal zum wesentlichen Teil. Ach ja, und du darfst mich Frank nennen. Sei nicht so formell. So, und jetzt: CMD Ankleidung initialisieren FIN.«
In Sekundenschnelle zerfiel der Würfel zu einem flachen Hügel, floss dann langsam auseinander und endete als kreisrunde Matte zu seinen Füßen. Frank zog sich vollkommen nackt aus, legte seine Kleidung sorgfältig auf einer kleinen Konsole ab, trat etwas zögernd auf die samtglatte, schwarze Scheibe und stellte sich dann breitbeinig und mit gespreizten Armen entschlossen in Position.
»Nanoki, CMD Modus Exosphäre, Status Warteposition im Habitat FIN, und nicht kitzeln.«
»Verstanden, Frank-san, ich beginne jetzt. Vielen Dank für dein Vertrauen.«
Die millimeterdicke Matte schien lebendig zu werden und Milliarden mikroskopisch kleiner Nanomaschinen krochen binnen weniger Sekunden an Franks Füßen, Knöcheln und Schenkeln empor gleich einem Ameisenheer, dessen Gelände man betritt. Eine kühle Masse umhüllte Geschlecht und After, legte fast unmerklich passende Katheder, kroch weiter über Hüften, Bauch, Brustkorb, Schulter und floss an den Armen wieder hinab, bis auch die Fingerspitzen umschlossen waren.
Der Prozess stoppte und die MI fragte: »Das Helmvisier geschlossen oder offen?«
Frank überlegte kurz. Eigentlich war seine Anweisung klar gewesen. Der Anzug sollte vor einer lebensfeindlichen Umgebung schützen, sich aber noch nicht im aktiven Einsatz befinden. Also sollte klar sein, Visier offen.
»Nanoki, offen natürlich, warum fragst du?«
«Der Begriff Warteposition ist mehrdeutig hinsichtlich des geforderten Bereitschaftsgrades.«
»Hhm, wann war dein letzter Interface-Update?«
»Frank-sensei, ich bin im Missions-HQ auf Stand 2304 reprogrammiert worden, also Syntaxstand zum Startzeitpunkt der Gliese-Expedition vor hundert Jahren.«
»Verdammt, daran hatte ich nicht gedacht. Bitte sofortige Rückmeldung, wenn ein Kommando nicht eindeutig ist.«
»In Ordnung Frank-sensei. Ich bedauere, nicht einwandfrei funktioniert zu haben.«
Die schwarze Masse kroch nun weiter über Hals und Hinterkopf, wahrte einen zentimeterbreiten Abstand zu Haut und Haaren und formte dann um den Schädel die TMS1 -Kappe aus. Permanentes Neuromonitoring war für einen vorausschauenden Klientensupport unabdingbar und selbstverständlicher Standard. Abschließend erzeugte der Nano-Schwarm eine zweite und dritte transparente Anzugschicht im Stirnbereich, die im Sekundenbruchteil als Helmvisier das jetzt noch freiliegende Gesicht abschirmen konnte.
»Fertig Frank-san. Möchtest du einen Statusbericht meiner Funktionen?«
»Lass hören.«
»Energielevel 100 %, 350 kWh Kapazität. Struktur: Primäre Konfiguration der Nanozellen als 19 Millimeter starke Schutzhaut aus Carbon-Nanotube-Makrocluster mit Titanium-Inklusion. Sämtliche Körperausscheidungen werden vollständig reassembliert und den Anzugsfunktionen zur Disposition gestellt. Energiereserven zur passiven Vitalerhaltung des Klienten unter Minimalbedingung auf 60 Minuten ausgelegt. Minimalbedingung definiert als Temperatur Kelvin 0, Gasdruck 0, Energieaufnahme 0. Aktive Vitalerhaltung mit Maximalleistung von 10 kW und folgenden Funktionen möglich…«
»Danke Nanoki, es genügt, ich kenne deine Spezifikation.«
Das war zwar gelogen, denn die Funktions- und Subfunktionsbäume des Anzugs waren von epischer Breite und Tiefe, aber Epen waren nicht gerade Franks Stärke. Doch auch ein kurzer Überblick reichte, um diese uralte Maschine als ein immer noch beeindruckendes Zeugnis menschlicher Ingenieurskunst bewundern zu können und sich auf den bevorstehenden Einsatz zu freuen, wie ein Kind auf seinen ersten Spaziergang mit dem neuen Robodog.
»Du bist also fit und deine Ameisen sind bereit für einen kleinen Spaziergang?«
»Sicher Frank-san. Ich möchte nur darauf hinweisen, falls zum Verständnis meiner Funktionsweise eine biologische Analogie benötigt wird, ich von der Dimensionierung her nicht aus Ameisen, sondern aus Bakterien bestehe. Diese unterteilen sich allerdings ähnlich wie Ameisen in bestimmte spezialisierte Gruppen, wie Assemblierer, Prozessoren, Codierer, und können sich analog einer Schwarmintelligenz bis zu einem gewissen Grad in unabhängige Operationseinheiten aufteilen, welche nun ...«
»Es reicht. Habe ich nach deinem Familienleben gefragt?«
Nanoki schwieg und reprogrammierte sich ein wenig. Frank wiederum dachte kurz darüber nach, ob MI wirklich für Maschinen-Intelligenz stand, oder das ›I‹ etwas anderes bedeutete. Bei größeren Rechnern sprach man ja sogar von Maschinen-Intellekt, was auf Nanoki eher nicht zutraf. Aber darüber wollte er jetzt nicht nutzlos grübeln, und so wandte er sich, nun fertig eingekleidet, den Startvorbereitungen zu.
Sein Schiff hatte sich von der Spitze des Frachters entkoppelt und schwebte nun dreitausend Kilometer entfernt dicht über der weiten, hellen Ebene von Saturns breitester Ringscheibe, dem von Enceladus Eispartikeln genährten E-Ring. Es näherte es sich dem Äquator des blendend weißen Monds und Frank sah schon die Jetstreams der südpolaren Eisfontänen im Gegenlicht der fernen Sonne verheißungsvoll funkeln.
Schon seit Jahrzehnten träumte er davon, dieses zu den siebzehn solaren Wundern zählende Phänomen einmal leibhaftig vor sich zu sehen, und die Anzugs-MI, welche natürlich das psychobiographische Profil ihres Klienten kannte, zitierte aus Baedekers interplanetarem Reiseführer: »Eine enorme Wärmequelle am Grunde des zehn Kilometer tiefen südpolaren Ozeans lässt das Salzwasser durch Spalten des bis zu dreißig Kilometer dicken Eispanzers bis in Kavernen nahe der Oberfläche aufsteigen. Hier findet das warme Wasser durch Geysirkanäle unmittelbaren Kontakt zum Weltraumvakuum mit seinem absoluten Nullpunkt und sublimiert infolgedessen mit solcher Gewalt, dass Fontänen aus mikroskopisch kleinen Eiskristallen mit zweifacher Schallgeschwindigkeit bis hundert Kilometer weit über die Oberfläche hinausschießen. Die langsameren Eispartikel kehren als Schnee zum Mond zurück und lagern sich dort in mächtigen Schichtpaketen ab, die schnelleren geraten in Saturns Schwerkraft und bilden seinen äußersten Ring, den E-Ring. Die Natur der Wärmequelle ist noch nicht vollständig geklärt. Hinweise auf ein Artefakt sind unbestätigt.«
»Schöne Beschreibung, Nanoki. Hast du das auswendig gelernt oder gespeichert?«
»Ich verstehe die Frage nicht, Frank. Sie ist paradox.«
»Das war Humor, verstanden?«
Nanoki schwieg und lernte.
Die Zielprogrammierung ließ das Schiff wenige Kilometer entfernt von einem besonders aktiven Geysir landen. Bei fünfhundert Kilometern Durchmesser erzeugte der Mondkörper gerade mal zwölf Promille der Erdschwerkraft. Alles war federleicht und die benötigten Brems- und Steuerkräfte mussten fast nur die Schiffsmasse bewegen. Das war ein großer Vorteil, um in der mit hausgroßen Blöcken übersäten und von tiefen Rissen zerklüfteten Eislandschaft auf kleinster Zielfläche bruchsicher landen zu können. Es wäre Frank äußerst peinlich gewesen, Yussuf wegen einer kleinen Havarie um Hilfe bitten zu müssen. Auch ein alternativer Call beim föderalen Stützpunkt ›Saturn-Monitor‹ auf dem Mond Titan wäre ganz unmöglich, da er quasi privat unterwegs war und gar nicht hier sein sollte.
Aber es gab keine Probleme. Zart wie eine Feder senkte sich das Schiff auf eine kleine Ebene inmitten kantiger Eisblöcke hinab und aus der hexagonalen Basisfläche wuchsen lange Dornen aus Nanoplast zur sicheren Verankerung tief in das angeschmolzene Mondeis hinein.
»Schiff: Schleuse vorbereiten, danach Standby-Modus bis zu meiner Rückkehr. Protokollabgleich mit Nanoanzug.«
»Verstanden, Frank.«
Nach wenigen Sekunden: »Der Anzug antwortet nicht.«
»Nanoki, was ist los?«
»Frank-sensei, ich arbeite daran. Ich muss einiges rekonfigurieren. Jetzt sollte es funktionieren.«
»Schiff?«
»In Ordnung, Frank. Protokolle mit Anzug zu 98,1 % abgeglichen.«
»Was bedeuten die restlichen zwei Prozent?«
»Semantische Unschärfe in der Definition extremer Kontexte, bedingt durch historisierende Reprogrammierung der Anzugs-MI.«
»Du meinst, Nanoki ist etwas altmodisch?«
»Nur marginal, Restrisiko 1,05 Promille.«
Frank seufzte und entschied dann: »Also das ganz normale Lebensrisiko. Mission kann beginnen.«
Vorsichtig erhob er sich von der Steuerkonsole und verließ schwebenden Schrittes die kleine Schiffszentrale in Richtung Luftschleuse. Zischend schloss sich das innere Schott und versiegelte die Schleuse schiffwärts.
»Nanoki, CMD Exomodus ein FIN.«
Blitzschnell wölbte sich das transparente Segment auf Franks Stirn über sein Gesicht und schloss luftdicht mit dem mattschwarzen Anzugsmaterial ab.
»Nanoki, wie viel Sauerstoff kannst du dem Schleusenventil entnehmen, ohne einen externen Speicher zu benutzen?«
»Innerhalb der Anzughaut können Druckkavernen mit Atemluft für vierzig Minuten gebildet werden. Außerdem kann ich einen Teil des Kohlendioxids zu Sauerstoff reassemblieren. Bei normalem Verbrauch wäre Atemluft für sechzig Minuten verfügbar. Genügt dies, Frank-san?«
»Okay, für einen kleinen Spaziergang zum Geysir sollte dies mehr als ausreichend sein. Tanke auf, dann starten wir.«
Der mattsilberne Schiffskörper aus acht Sechsecken und sechs Quadraten überragte das Feld bizarrer Eisblöcke inmitten dieser blendend weißen Landschaft wie ein kubistisches Kunstwerk. Über ihm wölbte sich der E-Ring als milchweißer Bogen ins Unendliche hinein, begrenzt von Allschwärze auf der einen und Saturngelb auf der anderen Seite. Eine Welt klarer, kalter Geometrien, durchweht vom weichen Schleier der Eisgeysire, die nur wenige Kilometer entfernt Mond und Ring himmelhoch miteinander verbanden.
Eine Quadratfläche des Schiffsrumpfes klappte hinunter und im rötlichen Schein der Schleusenöffnung blickte Frank auf die Mondlandschaft hinaus. Eine heiße Woge der Euphorie stieg in ihm empor und mit voller Kraft hechtete er von der Rampe. Die Schiffskameras sahen eine pechschwarze Gestalt zeitlupenhaft über die weißgelbe Halbkugel Saturns hinwegziehen, neben einem haushohen Eisblock landen, stolpern, schwanken und dann wie festgewurzelt stehen bleiben.
»Danke Nanoki, Mondsport mit nur einem Kilo Körpergewicht will erst wieder beherrscht werden. Und es fühlt sich großartig an, auch wenn du das nicht verstehen kannst.«
Und Frank tadelte sich. Kurz vor dem Ziel in nachlässigen Übermut zu verfallen, war unprofessionell und er sollte wirklich Acht geben, denn er handelte hier voll auf eigenes Risiko. Doch der Anzug hatte tadellos reagiert und während des Sprungs aus dem Sohlenbereich spitze Dornen wachsen lassen, die sich sofort ins Eis krallten und seine Landung stabilisierten.
»Es sind zwei Kilometer bis zum Grabenrand«, rekapitulierte er. »Erst Eisgelände, dann eine achtzig Meter tiefe Schneedecke. Deiner Ressourceninfo nach haben wir dafür eine Stunde Zeit. Also muss ich zügig vorankommen. Nanoki, CMD Schneeschuhe mit Spikes FIN.«
Augenblicklich erzeugten die Nanomaschinen des Anzugs an den Fußsohlen dornengeriffelte, elliptische Platten und Frank setzte sich kraftvoll und ungeduldig in Bewegung. Mit genau kalkulierten, zwanzig Meter weiten Sprungschritten eilte er zwischen den verstreut liegenden Blöcken dem am nahen Horizont funkelnden Schneefeld entgegen. Sein Ziel war einer der Tigerstreifen, Teil eines schon seit Jahrhunderten so bezeichneten Systems aus über hundert Kilometer langen und mehrere hundert Meter tiefen Gräben am Südpol des Mondes, in denen die Geysire jetzt mit zunehmender Entfernung von Saturn ihre Aktivität steigerten, da das Spaltensystem des Eises in der nachlassenden Schwerkraft dem Innendruck des Ozeans nachgab und sich weitete.
Frank erreichte das Ende der Blockzone und stand vor einer sanft ansteigenden, glatten Schneefläche, hinter deren Horizont der Grabenbruch in die Tiefe führte. Seit Jahrmillionen fielen hier im Umfeld der Schluchten die langsameren Geysirpartikel als kaum bemerkbarer, aber beständiger Niederschlag auf den Mond zurück und bildeten eine bis zu hundert Meter tiefe Schicht feinsten Pulverschnees.
»Nanoki, ich will bis an den Grabenrand gehen und direkt vor dem Geysir stehen. Ich will sehen, wie sich Erde und Himmel verbinden.«
»Frank, ich verstehe nicht. Dies hier ist nicht die Erde, sondern der Mond Enceladus.«
»Weißt du was eine Allegorie ist?«
»Frank, deinem Tonfall entnehme ich Erregung. Die Monitordaten deiner Gehirnaktivität bestätigen dies. Daher muss ich dich warnen: Wir sind seit fünfzehn Minuten unterwegs. Dein Verbrauch an Atemluft lag bislang über dem kalkulierten Wert, sodass die Reservezeit jetzt unter vierzig Minuten gesunken ist. Ich mache mir Sorgen und bitte dich, unsere Ressourcenbegrenzung zu beachten.«
Da war sie nun, diese verdammte partnerschaftliche Psychokontrolle, nur zum Schutze des Anzugträgers implementiert. Auf einmal, war von ›Wir‹ die Rede, wie kumpelhaft, wie mitfühlend. Aber Frank kannte diese Systeme und auch ihre Grenzen. Metaphysik war für sie nur ein enzyklopädischer Artikel. Entsprechende menschliche Bedürfnisse wurden von den MI gemäß ihren programmatischen Vorgaben je nach Missionsprofil als Risikofaktor bewertet. Noch nie im Laufe der dreihundertjährigen Geschichte der künstlichen Intelligenz hatte eine Maschine aus ihrer Fähigkeit zur selbstständigen Wissenserweiterung heraus ontologische Fragen entwickelt. Nanoki würde da keine Ausnahme sein.
Keine Abschweifung, Konzentration! Die Fläche vor ihm sah unberührt aus und war vermutlich noch nie von Mensch oder Maschine betreten worden. Eine Spur würde hier erst in Jahrzehnten überdeckt worden sein, denn es fielen höchstens zwei Millimeter Schnee pro Jahr. Franks Schritte wurden nun vorsichtiger. Er wagte auf diesem unsicheren Terrain nicht mehr als drei oder vier Meter weit zu springen, denn nahe der Grabenbruchkante war mit verdeckten Spalten zu rechnen.
Noch fünfzig Meter, noch zwanzig, den Blick immer wachsam auf den unsicheren Untergrund gerichtet. Zehn Meter nah traute er sich heran, blieb mit gesenktem Kopf stehen, atmete tief ein und schloss kurz die Augen.
Dann riss er sie auf und starrte keuchend auf die monumentale Nebelsäule, die perlmuttfarben schimmernd und scheinbar massiv direkt vor ihm aus dem Schneefeld zu wachsen schien, obwohl hier mit ungeheurer Kraft winzigste Eispartikel zweifach schallschnell aus dem Mondinneren emporschossen. Sein Blick folgte dem Aufstieg bis in unendliche Höhen, wo sich Saturns Außenring mit der Geysirsäule verband, und ihn überkam die Vision einer kosmischen Kathedrale, dessen Pfeiler das Himmelsgewölbe selbst trugen. Auch wenn seine trainierte Ratio dies sofort als kulturell gebundene Metapher von magerer metaphysischer Substanz abtat, so konnte auch sie nicht leugnen, dass seine spontane Empfindung, die Welt sei tiefer als nur Raum und Zeit, durchaus begründbar war.
»Frank, deine Endorphinwerte sind außergewöhnlich hoch, Adrenalin ebenso. Dein Gehirnscan…«
»Ruhe. Sofort. Du störst!«
Nach Konsultation ihrer umfassenden humanpsychologischen Bibliothek erkannte die Anzugs-MI, dass ihr eigener Existenzgrund, nämlich Schutz und Förderung menschlicher Aktivitäten, absurderweise durch sie selbst konterkariert wurde. Daraufhin regelte sie ihren Schwellenwert zur proaktiven Kommunikation um eine Zehnerpotenz herunter. Kurz darauf registrierten ihre Sensoren eine leichte Erschütterung des Schneefeldes. Zu schwach, um von einem Menschen bemerkt zu werden, zu gering, um im jetzigen Passiv-Modus ihrem Klienten in seiner offensichtlichen Erregung Meldung zu erstatten.
Franks entrückter Blick in diese Himmelskathedrale löste Erinnerungen an bisherige Astralreisen aus, an diese Nachtflüge in, über oder unter dem großen Numinosen. Und in wenigen Monaten dann endlich die Erfüllung seines oft verlängerten Lebens, sein schon so lange geplanter Exitus, der ihn auf eine weit größere Reise über viele Lichtjahre hinweg nach Gliese667 zum fernen Klonkörper im Expeditionsschiff führen sollte. Er würde nicht alleine sein. Fünf weitere Transnauten warteten ebenfalls.
Endlich schaute er auf den Countdown links unten im Helmdisplay und stellte besorgt fest, dass keine halbe Stunde Luftreserve mehr vorhanden war. Bei Io, träumen kostete Zeit.
Er atmete noch einmal tief durch und wollte sich gerade vom Geysir abwenden, als es geschah. Der Grund unter seinen Füßen senkte sich und begann nach vorne Richtung Graben in den Geysir hineinzukippen. Eine heiße Adrenalinwelle riss ihn aus seiner Besinnlichkeit.
»Nanoki, weg von hier, nach vorne über den Graben, gib mir maximale Sprungkraft!«
Der Anzug kontrahierte sein Geflecht aus Nanomaschinen und Carbonröhren um Franks Beinmuskulatur und verstärkte ihre Wirkung um ein Mehrfaches, sodass hier auf diesem Mond bei voller Kraft ein Hundertmetersprung möglich wäre. Immer schneller neigte sich die Grabenkante und Frank sprang um sein Leben. Doch in diesem Moment knickte auch das hintere Schollenteil ein und der ganze Block bäumte sich vorne wieder auf, veränderte so die kalkulierte Sprungrichtung, und Mensch und Anzug katapultierten nicht durch den Eisjet des Geysirs hindurch, sondern in flachem Winkel in ihn hinein.
Die enorme Austrittsgeschwindigkeit verlieh dem Strom winziger Eispartikel in dieser schwachen Gravitation eine katastrophale Kraft. Nanoki konnte nicht verhindern, dass durch den Schlag beim Eindringen in die Geysirsäule Franks Helm schwer getroffen und er ohnmächtig wurde. Viel schlimmer aber, sie waren im Begriff, angetrieben von ihrem mächtigen Sprung und der Jetkraft des Geysirs, sich Dutzende Kilometer vom Mond Enceladus zu entfernen und in einer weiten Parabel an noch unbekanntem Ort mit hoher Geschwindigkeit wieder aufzuschlagen. Leider war das optionale Antriebsmodul des Anzugs im Schiff verblieben, denn es sollte ja nur ein kleiner Spaziergang werden.
Frank verspürte noch leichten Schwindel, doch das vom Anzug injizierte Medikament begann zu wirken und dämpfte seine Schmerzen. Aber eine erbarmungslose Kälte kroch in ihn hinein und der Blick hinunter auf die dreißig Kilometer unter ihm vorbeiziehende Eislandschaft des Mondes war erschreckend, Nanokis Analyse ihrer Situation in höchstem Maße alarmierend.
Um der Geysirfontäne rasch zu entkommen, hatte der Anzug einen Notantrieb aktiviert und einen Teil des Atemsauerstoffs und der Anzugsenergie verbraucht, um einen kurzen Rückstoßimpuls zu erzeugen. Immerhin war so eine neue Flugbahn entstanden, die in zwei Stunden wieder auf Enceladus enden würde, allerdings mit neunzig Stundenkilometern. Er würde sich tief in die dicke Schneeschicht bohren und mit etwas Pech auf harten Eisuntergrund treffen. Nanoki meinte, diesen Aufprall über eine Umkonfiguration ihres Carbongeflechts soweit abfedern zu können, dass für Frank eine gewisse Überlebenschance bestünde. Für einen weiteren Bremsimpuls aber reichten die Ressourcen nicht aus.
Genau genommen reichten sie für überhaupt nichts mehr aus. Er würde in zehn Minuten ersticken oder in zwanzig Minuten erfrieren. Die nur zentimeterdicke Anzugsschicht und seine Energiereserven würden die Innentemperatur noch eine Weile bei null Grad Celsius halten können. Der Sauerstoffvorrat in den Mikrokavernen des Anzugs jedoch war fast erschöpft und seine Nanofabrik konnte nicht im selben Tempo aus Kohlendioxid wieder neuen Sauerstoff abspalten, wie Frank ihn verbrauchte. Es ging zu Ende.
»Nanoki, antwortet das Schiff immer noch nicht?«
»Es verweigert die Verbindung wegen eines Protokollfehlers. Mein Alarmsignal zu Beginn unserer Kommunikation wird mittlerweile als Infiltrationsversuch angesehen, sodass ich inzwischen noch nicht einmal mehr das Login der äußeren Firewall erreiche.«
»Verdammt, warum habt ihr dies nicht vorher abgestimmt!«
Frank konnte sich die Frage selbst beantworten. Fast alle wichtigen Updates im MI-Sicherheitsbereich waren an diesem alten Modell bewusst nicht nachgeführt worden, um die Systemversion der Gliese-Expedition zu simulieren. Und leider hatte es in den vergangenen Jahren Cyberangriffe unter Vortäuschung des HumanAlert-Signals gegeben, was zu den üblichen Anpassungen in Netzwerkprotokollen geführt hatte. Er saß in der Falle.
»Kannst du Yussuf erreichen?«
»Nein, Frank-san, noch nicht. Der Frachter wird aber in wenigen Minuten wieder aus Saturns Funkschatten auftauchen. Ich werde ihn dann sofort alarmieren.«
»Gut, Nanoki, gut. Ich glaube, es wird Zeit, der Situation ins Auge zu blicken, wenn du diese Metapher verstehst.«
»Ja, Sensei. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 94,2 % wirst du in wenigen Minuten sterben, wenn sich die Situation nicht radikal ändert. Eine Option wäre, dich in ein Koma zu versetzen, um Energie- und Luftbedarf zu minimieren. Dies würde deine Überlebenschance auf 30,8 % erhöhen.«
Frank wusste, wie die Dinge standen. Einen Moment lang überrollte ihn Verzweiflung und er krümmte sich in einem stummen Schrei zusammen. So weit gekommen, so viel weiter noch gewollt, schon viermal bewusst den körperlichen Tod gesucht, um ihn zu bezwingen und weiterzuleben, und nun das. Eine Verkettung von Leichtsinn und technischen Banalitäten drohte jetzt Ihn zu bezwingen, der sich heimlich in das Gefühl von Unsterblichkeit verliebt hatte. Eine relative Unsterblichkeit allerdings, welche immer auch die Existenz eines schlafenden Klonkörpers voraussetzte, und ein solcher war aktuell nicht verfügbar. Oder?
»Nanoki, sind in deinem Speicher die Projektdaten ›Gliese‹ vorhanden?«
»Selbstverständlich. Was möchtest du wissen?«
»Nenne mir meinen geplanten Transfertermin und den Aktivierungszeitpunkt meines Zielklons.«
»Dein Transfer soll zwei Wochen vor den anderen Teammitgliedern erfolgen und ist für den 1.10.2404 geplant, kurz bevor das Schiff die Oortsche Wolke des Gliese-Systems erreicht. Die Erweckung des Zielklons soll drei Monate früher erfolgen, also am 1.7.2404, demnach vor acht Tagen, falls die Bordsysteme noch richtig funktioniert haben.«
Franks Verzweiflung wich schlagartig wilder Entschlossenheit. Er würde überleben, er musste. Das Gliese-Projekt war mit entscheidend für das weitere Schicksal der Menschheit, und er selbst spielte darin eine zentrale Rolle, die er hier in unglaublicher Leichtfertigkeit aufs Spiel setzte. Und noch eines, er wollte nicht endgültig gehen, fürchtete jetzt auf einmal den finalen Tunnelgang mehr als ein normalsterblicher Mensch.
»Nanoki, was weißt du über meine Mission?«
»Frank-san, ich habe gerade Yussuf im Funkkanal. Soll ich deine Frage trotzdem beantworten?«
Frank begann trotz der eisigen Kälte zu schwitzen. »Nein! Gib mir Yussuf!«
»Hey Frank, was treibst du jetzt schon wieder! Schon mal was von Hybris gehört?«
»Bitte keine Moralitäten, Yussuf. Hör mir zu, ich habe nicht viel Zeit. So wie die Dinge stehen, wird mein Körper diesen Ausflug wohl nicht überleben, aber vielleicht Ich.«
Frank atmete schwer und Tränen stiegen ihm in die Augen, als er flüsterte: »Ich werde meine Raumreise nach Gliese jetzt antreten, nicht erst in drei Monaten. Sonst ist alles hin. Ich habe keine andere Chance.«
Yussuf schwieg schockiert, hörte Franks keuchenden Atem und flüsterte dann heiser: »Wie soll das gehen? Was kann ich für dich tun?«
»Du musst meinen Körper bergen, bevor er auf Enceladus aufschlägt. Ich brauche ihn als Rückversicherung, falls der ferne Klonkörper nicht erreichbar ist oder mehr als zwanzig Lichtjahre einfach zu weit sind. Es ist das erste Mal, dass ein Geisttransfer über solch eine Entfernung stattfindet. Nach allem, was wir wissen, werde ich dabei eine andere Dimension betreten, wo Distanz keine Rolle spielen sollte. Falls aber doch etwas schief geht, möchte ich eine Option zur Rückkehr haben.«
»Wie«, Yussuf räusperte sich, »wie willst du sterben?«
»Nanoki hat direkten Zugriff auf mein Gehirn und wird wissen, was zu tun ist. Es ist doch so, oder?«
»Ja Frank-sensei. Ich verstehe deine Absicht und kann sie unterstützen. Meinen Informationen nach muss dein Körper an die Grenze zwischen Koma und endgültigem Tod gebracht werden, damit dein Mentalsubstrat sich lösen und in eine höhere Dimension eintreten kann. Zur humankonformen Vorbereitung werde ich zuerst Claustrum und Zirbeldrüse manipulieren und dann weitere letale Schritte einleiten.«
»Gut Nanoki. Yussuf, hör zu. Mein toter Körper muss rasch auf das richtige Level abgekühlt werden. Dazu ist eine schnelle Bergung notwendig. Du hast doch Zugangscodes für mein Schiff? Aktiviere es und hebe seine Kommunikationssperre zum Anzug auf. Gib ihm Order, mich innerhalb der nächsten neunzig Minuten einzuschleusen, sonst ist mein Körper verloren. Und jetzt, Nanoki, leg den Schalter in meinem Gehirn um.«
Sofort nahm Yussuf Verbindung zu Franks Schiff auf und instruierte dessen MI. Unverzüglich stufte sie den Anzug als vertrauenswürdig ein und tauschte mit ihm Daten aus. Keine Minute später schmolz der Alarmstart des kleinen Schiffs einen Krater in das Mondeis.
Yussuf zögerte kurz, dann wandte er sich wieder seinem uralten Freund zu, an dessen letzten Körperwechsel er sich sogar noch erinnern konnte: »Frank, es tut mir unendlich weh und ich kann nicht glauben, dass es so enden soll. Dein Schiff ist unterwegs und wird dich in einer Viertelstunde eingeschleust haben. Reicht denn diese Zeit nicht mehr?«
»Kapitän Yussuf, hier ist NKI-17-4555-324, von seinem Träger Nanoki genannt. An Frank Steinweg wurden auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin letale und konservierende Maßnahmen durchgeführt. Der Herzstillstand ist bereits eingetreten. Ich sende ihnen das Protokoll der letzten Stunde zu mit der offiziellen Bitte um Weiterleitung an das Oberkommando der solaren Marine und die Projektleitung der Lazarus Labs Corporation.«
Frank aber schwebte neben seinem Anzug im All, sah zehntausend Kilometer entfernt Yussuf in der Bosporus weinen und blickte gleichzeitig auf den grellweißen Ball Enceladus hinab, von wo sich sein Schiff mit flammendem Antrieb rasch näherte. Seltsam gefühllos verfolgte er die komplizierten Manöver zur Bahnangleichung mit seinem dahintreibenden Anzug und wie endlich die Tentakel des Frachtkranes aus dem hellen Licht der offenen Schleuse vorsichtig nach seinem leblosen Körper züngelten und ihn behutsam bargen.
Er selbst aber bemerkte nun an seinem Astralleib ein sehnsüchtiges Ziehen aus der Ferne und spürte dem Ursprung nach. Da schien neben ihm ein opalisierender Schleier auf und eine Stimme aus tiefer Vergangenheit sprach: »Frank Steinweg, vor dir liegt eine weitreichende Weggabelung. Du musst dich nun entscheiden.«
1Transkranielle Magnet-Stimulation, Monitoring und Operating von Hirnfunktionen mittels fokussierter Magnetfelder
Aus den Falten verborgener Dimensionen kondensierte ein Dunst, legte sich wie Nebelschleier vor die Sterne und verdichtete sich zu einer irisierenden Gestalt. Ihr Anblick öffnete in Frank die Tür zu einer uralten Erinnerung an eine schicksalhafte Begegnung. Das Schiff mit seinem Leichnam an Bord war bereits Richtung Saturn Orbital Station entschwunden und nur noch ein kleiner Leuchtpunkt im Sternenmeer. Er war allein mit diesem Wesen hoch über den Eiswüsten von Enceladus und konnte ihm nicht ausweichen. Er musste antworten.
»Was meinst du mit Weg und Entscheidung? Es ist über hundert Jahre her, dass ich dir begegnet bin. Ich habe schon vier Körperwechsel hinter mir und dich jedes Mal erwartet, aber du warst nie da.«
Das Leuchten dämpfte sich, der Schemen gewann an Kontur, Gesichtszüge bildeten sich heraus, verfestigten sich und dann blickte ihn ein altersloses, aristokratisch anmutendes Antlitz mit sanften Augen und feinem Lächeln beruhigend an. Langes, silberweißes Haar fiel auf nackte Schultern eines hageren braunen Körpers, der sich unterhalb der Brust in Nebel auflöste.
»Frank, es ist an der Zeit, miteinander zu sprechen«, sang eine dunkle Glocke in seinem Geist. »Gebe acht. Zwei wegweisende Entscheidungen sind zu treffen. Damals, als deine Familie durch den Tunnel ging und ich dich fragte, ob auch du heimgehen oder in dieser Welt bleiben und uns einen Dienst erweisen möchtest, hattest du dich für das Bleiben entschieden. Das war deine erste Entscheidung, erneuere sie jetzt.«
Frank schwieg schockiert. Damit hatte er nicht gerechnet. Damals wollte er die materielle Welt nicht verlassen, weil nur dortige Existenz ihm lebenswert erschien und Heimgang wie eine Drohung klang. Der erwähnte Dienst war nie näher erläutert oder eingefordert worden. Er hatte dieses Thema schlichtweg verdrängt.
»Es hat sich nichts geändert. Ich stehe unmittelbar vor der Erfüllung meines Lebens und will mein Ziel unbedingt erreichen«, entgegnete er mit mehr Trotz als Mut. »Und was ist mit der zweiten Entscheidung?«
Lange schaute der Bote Frank mit einem so durchdringend prüfenden Blick an, dass dieser sich bis in den letzten Gedankenwinkel durchleuchtet fühlte, und sprach dann: »Du erinnerst dich noch an die Erwähnung eines Dienstes?«
»Ja.«
»Es sind noch ein paar Umstände mitzuteilen, bevor du die erste Entscheidung endgültig treffen kannst. Überlege es dir gut.«
Wieder herrschte langes Schweigen und nur mit Mühe hielt Frank dem Blick des Geistwesens stand, bis die Erscheinung fortfuhr: »Zuerst, die Reise. Sie wird nicht so verlaufen, wie ihr Menschen denkt. Eure Vorstellung von der Welt und dem Wesen des geistigen Raumes ist unvollständig. Zwar wirst du die gewohnten Dimensionen verlassen müssen, um deinen Zielstern zu erreichen, den ihr Gliese667 nennt, aber nicht die Tiefe des Subquantenraum muss bewältigt werden, sondern die andere Seite eurer Welt. Materie kann dort nicht existieren. Nur deine geistigen Kräfte können dort wirken. Beobachte und lerne, sonst wirst du dich verlieren. Dann, das Ziel. Du wirst dort Mächten begegnen, welche von dir die zweite Entscheidung fordern werden: Für uns, die du als Jenseitsboten kennst, oder für Wesenheiten, die uns seit Äonen bekämpfen. Zwei Sichten der Welt, zwei konträre universelle Ziele.«
Frank fühlte sich verwirrt und Unmut stieg in ihm empor, fast so, als ob er noch einen Körper besäße. Unterschwellig registrierte er, dass auch als körperloses Wesen ihn Gefühle und Stimmungen beeinflussten. Anscheinend war er immer noch dieselbe Person, obwohl keine Sinnesorgane mehr elektrische Signale an ein Gehirn sendeten, das dann auf der hormonellen Klaviatur spielen, Blutdruck steigen und Stresssirenen in den Ohren pfeifen lassen konnte.
Er antwortete schroff: »Ich verstehe dich nicht ganz. Das ist doch alles ziemlich obskur. Vor was genau warnst du mich eigentlich, was sind eure Ziele, wer ist euer Feind? Kannst du da nicht etwas konkreter werden?«
Kaum gesprochen, erschrak er, so kühn mit einem Tunnelboten geredet zu haben. Ein Wesen, dem anscheinend jeder Todgeweihte begegnete und das jenen Wenigen, die davon berichten konnten, meist eine Wahl zwischen Eingang in eine unbekannte, aber herrlich lockende Transzendenz oder Rückkehr in ein vertrautes, aber schmerzhaftes Dasein bot. Ein Wesen von überirdischer Macht.