Das Alter, die Liebe, die Geier und das Meer - Ulla Schneider - E-Book

Das Alter, die Liebe, die Geier und das Meer E-Book

Ulla Schneider

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Beschreibung

Der Flug der Geier stellt ein Sinnbild für die Möglichkeit, sich von den unwichtigen Dingen des Lebens zu befreien. Denn es wird höchste Zeit. Rike und ihre beiden Freundinnen sind auf die Insel Mallorca gekommen, um einen Plan für die letzten Jahre ihres Lebens zu machen. Kann es noch eine Zukunft geben, wenn man gerade 70 Jahre alt geworden ist?

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Seitenzahl: 807

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ulla Schneider wurde 1951 in Lüdenscheid geboren und wohnt in Münster. Sie arbeitet als Journalistin, Lehrerin und Autorin. Unter anderem veröffentlichte sie:

Tropfen auf kalten Stein – Roman im Piper Verlag

Grüne Wasser sind tief – Roman im Piper Verlag

Reiseführer Bretagne im GU-Verlag

Sommerzeit – Jugendroman im BoD-Verlag

Jugend/Kinderbücher im Coppenrath Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Alter, die Liebe, die Geier und das Meer

Balkongespräch: Alte Männer

Balkongespräch: Ein (letztes) Liebesabenteuer

Balkongespräch: Kinder, Eltern und die Gene

Balkongespräch: Selbstbewusst, freundlich und mutig

Balkongespräch: Wie viel Geld hast du? Nazis und Gerechtigkeit

Balkongespräch: Einsamkeit und fremde Kinder

Balkongespräch: Kein Hellgrün, Gelb, Rot und Schwarz.

Balkongespräch: Prinz oder Engländer?

Balkongespräch: Wir waren anders

Balkongespräch: Filme für Frauen

Balkongespräch: Träume und Hirngespinste

Balkongespräch: Kunst als Staubwedel

Balkongespräch: Männer und Yorkshireterrier

Balkongespräch: Der Zeitgeist und wir

Balkongespräch: Wie wollen wir sterben?

Das Alter, die Liebe, die Geier und das Meer

Nach dem ersten Flug ihres Lebens hatte sie die Mittelmeerluft gespürt, als sie die Gangway hinunterging, plötzlich eingehüllt in einen warmen Mantel, und sie hatte gewusst, dass sie diesen Augenblick nie vergessen würde. Sie erinnerte sich an den schaukelnden Bus, der sie zum Flughafengebäude brachte, an ihre freudige Erregung, mit der sie damals in die Zukunft geblickt hatte. Alles war neu, sie erlebte das alles zum ersten Mal: ein fremdes Land, ein fremder Geruch, eine warme Luft und der Himmel waren voller Sterne. Vor ihr lag die endlose Zeit eines Lebens, sie wollte sie füllen mit Abenteuern, Liebe, Romantik, Spaß und Sinn. Nach achtundvierzig Jahren kehrt sie zurück an den Ort, wo diese Zukunft begonnen hatte.

Liv hatte noch etwas Zeit, bis ihre Freundinnen in Palma landen würden. Sie sank erschöpft auf einen Sitz in der riesigen Wartehalle. Ihr erstes Abenteuer hatte sie bereits hinter sich – das Laufen durch riesige Hallen, über Treppen und endlose Bänder, durch ein verschlungenes Tunnelsystem, das nicht enden wollte. Das Gebäude war mindestens zehn Mal größer, als sie es in Erinnerung hatte. Sie musste sich ausruhen, sie hatte nicht vor, hier im Flughafen einen Schwächeanfall zu bekommen.

Von ihrem Platz aus konnte sie die Tür des Gates sehen, die sich in unregelmäßigen Abständen öffnete und schloss und die Passagiere mit ihren Rollkoffern in die Halle entließ. Sie betrachtete die hastenden Menschen und fühlte sich ausgeschlossen von der allgemeinen Betriebsamkeit und der Entschlossenheit, ein Ziel zu erreichen. So ist das eben. Wenn man alt wird, dachte sie, die Ziele sind erreicht oder in unerreichbare Ferne gerückt. Sie wollte herausfinden, was passierte, wenn weder das eine noch das andere der Fall war. Anne und Rike landeten im Abstand von wenigen Minuten: Anne aus Münster und Rike aus Dortmund. Sie umarmten sich. Rike seufzte und beschwerte sich über die riesigen Dimensionen des Flughafens. Anne sah blass und müde aus, beteuerte aber, dass es ein großartiger Flug gewesen sei.

Liv hätte nichts dagegen gehabt, jetzt sofort in ein gemütliches Hotel oder in ihr Ferienhaus gebeamt zu werden, aber sie mussten zuerst ihren Mietwagen abholen und sich dann auf den Weg in den Südosten der Insel machen.

Der junge Mann in dem Büro der Autovermietung nahm lässig ihre Buchung entgegen, weigerte sich jedoch, ihnen den Autoschlüssel auszuhändigen. Stattdessen versuchte er, ihnen eine unnötige Versicherung aufzuschwatzen, und glaubte wohl, in drei alten Frauen eine leichte Beute gefunden zu haben.

Er sprach sehr schnell ein schlechtes Englisch und wies auf Zahlen und Regeln hin und wurde immer ungeduldiger. Anne und Rike waren schließlich zu allem bereit, sie wollten die Sache einfach nur beenden. Liv blieb hartnäckig und weigerte sich, ihre Unterschrift unter ein unbekanntes Formular zu setzen, und plötzlich lag der Schlüssel ohne weitere Diskussion auf der Theke. Der junge Mann schien das Interesse verloren zu haben. „Das hast du gut gemacht“, sagte Anne. Stimmt, dachte Liv, Aufgeben ist nicht meine Sache. Und ich hasse es, wie eine senile Person behandelt zu werden.

Sie liefen durch ein Parkhaus mit mehreren Etagen. Liv war erschöpft, aber die erfolgreiche Diskussion hatte ihr neue Energie gegeben, und sie freute sich wie immer über die kleinen Rollen unter ihrem Koffer, die man unverständlicherweise erst so spät erfunden hatte.

Sie fanden den Wagen auf dem letzten Parkdeck im Obergeschoss, einen kleinen Opel Corsa, überraschend schick und neu. Nach dem ganzen Theater mit der Agentur hatten sie nicht mit so einem netten Automobil gerechnet. Sie luden die Koffer ein und starteten endlich in die mallorquinische Nacht mit ihrem verschwenderischen Sternenhimmel.

Der Blick vom Balkon entsprach genau dem, was Liv erwartet hatte. Ihr bot sich das perfekte Mittelmeerpanorama. Das Meer schimmerte hellblau in der Mittagssonne, weiße Schiffe schaukelten auf sanften Wellen, auf dem Strand leuchteten bunte Sonnenschirme. Es war eine überschaubare Anzahl – das Meer war noch zu kalt, um wirklich gerne darin zu schwimmen, es war April und die Hauptsaison hatte noch nicht begonnen.

Die Pinie vor dem Balkon filterte das Sonnenlicht und eine Zikade machte erste zaghafte Geräusche. Noch waren sie nicht unangenehm, das würde erst später eintreten, wenn es richtig warm wurde und die Paarungszeit begonnen hatte. Doch das machte nichts. Das laute Sägen einer Zikade war immer ein Versprechen auf den Süden.

Liv atmete tief die frische Luft ein, hinter der sich noch die Kühle der Wintermonate verbarg. Bald würde es so heiß sein, dass Sie mittags vor der Sonne in die schattige Wohnung flüchten würden. Sie lauschte ins Haus hinein. Alles war ruhig. Anne schlief sicher noch, Rike war vielleicht schon wieder unterwegs. Sie litt, wie sie ihnen mitgeteilt hatte, unter seniler Bettflucht, was ja in Ordnung war, wenn sie niemanden damit störte.

Liv ging in die Küche, um nachzusehen, ob es irgendwo einen Kaffeevorrat gab. Tatsächlich befand sich eine Packung Kaffee neben der Filtermaschine, daneben lag ein dünnes Weißbrot, der Kühlschrank summte und ein Blick hinein bestätigte, dass er bereits mit den wichtigsten Dingen wie Milch, Käse und Weißwein gefüllt war. Das hat Rike gut gemacht, dachte Liv. Sogar an Wein hatte sie gedacht, obwohl sie ihn selbst nicht anrühren würde.

Liv setzte die Filtermaschine in Betrieb, nahm sich eine der dicken Keramiktassen aus dem Schrank und goss noch einen Schluck Milch dazu. Sie war auf der Insel angekommen, zum zweiten Mal. Sie nahm ihre Kaffeetasse und ging die Treppe nach oben in ihr Zimmer. Sie wollte noch einmal ins Bett kriechen und die Ereignisse an sich vorüberziehen lassen.

Die Fahrt durch die mallorquinische Nacht war anstrengend gewesen. Liv musste sich ans Steuer setzen, die Situation ließ nichts anderes zu – Anne hatte Angst, einen ihr unbekannter Mietwagen zu fahren, und Rike teilte mit, sie könne nicht gut im Dunkeln sehen, sie leide unter einem beginnenden grauen Star. Das war eine unerwartete Neuigkeit für Liv, aber da gab es nichts zu diskutieren. Die Straßen waren fast leer, aber sie war todmüde und sehr erleichtert, als sie endlich im Südosten der Insel ankamen. Sie hätte keine fünf Minuten länger durchhalten können. In Colonia Sant Jordi war es dunkel. Laternen oder andere Lichtquellen schien es nicht zu geben. Sie mussten eine Weile suchen, bis sie das Haus gefunden hatten. Die Uferpromenade wurde von einer einzigen Straßenlaterne schwach beleuchtet, man sah schaukelnde kleine Lichter von den Schiffen im Hafen. Das Haus lag direkt gegenüber dem Hafen. Sie konnten das Auto auf einem Parkplatz abstellen, der für Schiffseigentümer vorgesehen war. Livs Kollegin hatte ihr einen Ausweis mitgegeben, mit der Bemerkung, dass dies das wichtigste Dokument von allen sei und gehütet werden müsse wie ein Augapfel.

Liv musste die Haustür mit drei unterschiedlichen Schlüsseln für drei unterschiedliche Schlösser umständlich öffnen. Die schwere Holztür öffnete sich widerwillig, dann wanderten sie durch die dunklen, kühlen Räume, die wohl seit Monaten kein Tageslicht mehr gesehen hatten. Das Haus war schlicht und praktisch möbliert, kein Luxus, hatte ihre Kollegin gesagt, was sich nun bestätigte. Alles war in die Jahre gekommen, ein altes Ferienhaus, das eine Modernisierung nötig gehabt hätte. Dafür hatte die Hausbesitzerin es ihnen für einen guten Preis überlassen. Und die Lage konnte besser nicht sein.

Es gab drei Schlafzimmer, außerdem einen Wohnraum mit Kamin, eine Küche und zwei großzügige Badezimmer. An Badezimmern wurde in Spanien nicht gespart, das war schon früher so gewesen, erinnerte sich Liv. Selbst in den kleinsten Unterkünften gab es eine Reihe von Badezimmern, was für eine junge Deutsche damals ein überraschender Luxus gewesen war.

Sie hatten die Koffer ins Haus geschleppt und die Fensterläden geöffnet, um frische Luft hineinzulassen. Dann hatten sie nebeneinander auf dem Balkon gestanden und auf die schwankenden Lichter im Hafen hinausgesehen. Die dazugehörigen Schiffe wurden von der Dunkelheit verschluckt.

Anne hatte in der Küche eine Flasche Rotwein gefunden und sie stießen auf die Insel an und auf sich selbst, auf ihren Mut und ihre Neugierde, die sie hierher auf diesen Balkon geführt hatten. Liv sah dünne Wolken rasch über den Himmel ziehen. Dann war der Himmel wieder klar und die Sterne leuchteten viel heller als in Hamburg, oder sie bildete es sich nur ein. Sie war todmüde und erschöpft. Ihre Freundinnen ahnten nicht, wie viel Kraft sie diesen Tag gekostet hatte. Aber Sie hatte es geschafft.

Am nächsten Tag konnte sich Liv nicht mehr daran erinnern, wie und wann sie eingeschlafen war – wahrscheinlich war sie in eine Art Koma gefallen.

Liv nippte an ihrem Kaffee und lauschte auf die neuen Geräusche. Sie öffnete das Fenster, entriegelte die grünen Holzläden und sah hinaus. Es gab einen winzigen Innenhof, die Mauern der dicht angrenzenden Häuser waren unverputzt und die Fensterläden geschlossen. Ein kleiner Hund bellte hoch und durchdringend, der blecherne Klang einer Uhr schlug die volle Stunde.

Sie schlüpfte wieder ins Bett und ließ die Augen durchs Zimmer wandern. Vor dem Fenster hing ein Vorhang mit blauweißem Ikatmuster. Daneben stand ein hölzerner Schreibtisch mit gedrechselten Beinen. Sie sah einen dunklen Schrank mit einem ovalen Spiegel und unter der Decke einen Ventilator mit drei Armen, die im Moment bewegungslos auf den Sommer warteten.

Das Bett hatte ein wuchtiges, geschnitztes Kopfteil und eine viel zu weiche Matratze, wie sie erst jetzt feststellen musste. Auf dem Nachttisch stand eine Stehlampe mit einem verschnörkelten Eisenfuß und einem Schirm aus verblichenem Pergamentpapier. Das würde Liv ändern müssen, wenn sie abends im Bett noch lesen wollte.

Sie lauschte weiter auf ein Geräusch im Haus. Es war ein angenehmer Gedanke, dass sie nicht allein hier war. Sie war in den letzten Jahren zu oft allein gewesen. Liv war nicht sicher, ob ihre Dreierkonstellation funktionieren würde. Anne, Rike und sie waren alte Schulfreundinnen, die sich jahrelang nur ab und zu bei bestimmten Anlässen gesehen und nie zusammengewohnt hatten. Aber no risque, no fun, das hatte Anne gesagt, und Liv und Rike hatten genickt und beschlossen, ihre Bedenken über Bord zu werfen und ihr Inselabenteuer mutig in Angriff zu nehmen. Ein Argument von Anne hatte schließlich den Ausschlag gegeben – wir können uns ins Flugzeug setzen und sind in zwei Stunden wieder zu Hause.

In unserem bequemen und langweiligen Alltagstrott, in dem nichts mehr passieren wird, bis wir unter der Erde liegen, hatte Liv in Gedanken hinzugefügt. Aber Anne hatte Recht: Natürlich war es eine Beruhigung, wenn man das Gefühl hatte, jederzeit problemlos nach Hause zurückfliegen zu können. Ein Abenteuer in Thailand oder Indien wäre wahrscheinlich aufregender gewesen, aber sie waren alle drei in einem Alter, in dem man früher nur noch auf den Tod gewartet hatte. Man sollte daher ihren Mut und ihre Gesundheit vielleicht nicht überstrapazieren.

Liv stand unter einer sanft tröpfelnden Dusche in einem flirrenden Badezimmer, das komplett mit blauen und grünen Mosaiksteinchen ausgekleidet war. Ihr wurde ein bisschen schwindelig und sie beeilte sich, ihre Haare zu waschen, bevor der Schwindel stärker wurde. Dann zog sie ihre weite Hose mit Sonnenblumenmuster an, die sie sich extra für diese Reise gekauft hatte.

Sie versorgte sich mit Brot und Käse und setzte sich auf den Balkon. Im Hafen konnte man jetzt die Motor- und Segelboote sehen, von denen sie gestern Abend nur die Lichter erkannt hatten. Es waren weniger, als Liv vermutet hatte: Die Saison hatte noch nicht begonnen. Weiter draußen lagen zwei schneeweiße Yachten, die den Eindruck machten, als wollten sie nicht gestört werden. Die breite Krone der Pinie vor dem Haus fing die Sonnenstrahlen ab und Liv rückte ihren Stuhl etwas zur Seite, um nicht im kühlen Schatten sitzen zu müssen.

Sie schnitt ein Stück Brot ab und probierte den Käse, den Rike gekauft hatte. Er schmeckte nach den Kräutern, die auf den trockenen Wiesen wuchsen, wo die mallorquinischen Schafe und Ziegen weideten. Rike hatte genau die richtige Sorte ausgewählt, wahrscheinlich aus purem Zufall. Das Brot war salzlos, wie es sein musste, erinnerte sich Liv. Für ihre Freundinnen würden sich an den Geschmack erst gewöhnen müssen.

Sie hörte die Kaffeemaschine Gurgeln. Es war ein heimeliges Geräusch: Jemand anderes als selbst kochte frischen Kaffee…“Wo ist Rike?” rief Anne aus der Küche. “Ich weiß nicht“, rief Liv zurück. „Aber sie hat heute schon eingekauft.”

Anne kam mit zwei Tassen Kaffee auf den Balkon. “Ja, habe ich gesehen. Sehr nett.“ Sie stellte die Tassen auf den Tisch, setzte sich mit einem Seufzer auf einen Korbstuhl, legte die Füße auf die Balkonbrüstung und hielt ihr Gesicht in die Sonne. „Mein Gott, ist das schön hier!“ Und du lässt es dir schon gutgehen“, sie deutete auf Käse und Brot und hob ihre Kaffeetasse, „auf uns“, sie lächelten sich an.

Anne wackelte mit den Füßen und Liv betrachtete ihre türkisblauen Zehennägel. Ihre Freundin liebte modische Experimente und hatte einen ausgefallenen und meist guten Geschmack. Im Moment sah sie leicht zerzaust und erstaunlich frisch aus. Die silberblonden Haare fielen ihr locker auf die Schulter und Liv war sicher, dass dies das Werk eines sehr guten Friseurs sein musste. Ihre Freundin hatte Livs Blick bemerkt. “An den Haaren sollst du nicht sparen”, dozierte sie, “und daran halte ich mich.” “Und die Farbe - sie ist nicht echt, oder?” “Ich wasche sie mit lila Shampoo, der Gelbstich verschwindet, es wird hellblond mit Hellgrau gemischt, das sieht sehr natürlich aus.” Anne konnte lange Vorträge halten über alles, was mit Aussehen und Mode zusammenhing. Sie war eine Fachfrau auf diesem Gebiet und es war eigentlich schade, dass Liv sich nicht lange auf dieses Thema konzentrieren konnte, sondern mit den Gedanken abschweifte.

„Und wie ich sehe, hast du deinen Kleidungsstil geändert?” Liv deutete auf Annes T-Shirt. Es war hellblau und zeigte als Aufdruck mitten auf der Brust ein goldenes Einhorn mit rosa Mähne. “Das ist schon etwas schräg, oder?“

Anne zuckte die Schultern. “Ich werde bald 70, da muss ich langsam einiges ausprobieren, ehe es zu spät ist.“ Liv nickte. „Klar, dazu gehören Einhörner und blauer Nagellack.“ „Mit irgendwas muss man ja anfangen.“ Anne wackelte mit den Zehen und legte den Kopf in den Nacken. „Ein bisschen Kitsch ist gut für die Seele“. Liv nickte, „sagt die alte weise Frau.“ Sie war sicher, dass Anne, die gerne und oft in teuren Läden einkaufte, schon bald ihr Einhorn-Shirt zu einem Putzlappen umfunktionieren würde.

„Und wie ist dein Plan für heute und überhaupt?“ Anne nahm ein Stück Käse von Livs Teller, dann gleich ein zweites.

„Mein Plan?“ fragte Liv, vom Themenwechsel etwas überrascht. „Dein Insel- Plan“, sagte Anne. „Du willst doch ein Buch schreiben, hast du erzählt.“ Kein Journalismus mehr, sondern ein richtiges Buch. Jetzt, wo die Zeit langsam knapp wird, muss es wahrscheinlich etwas Bedeutendes sein, also etwas über das Leben, die Liebe, den Tod...“ Liv nickte. „Ja, genau, so ist es.“

“Oh.” Anne sah hinunter auf die Straße, wo es im Moment nichts zu sehen gab. „Das ist eine sehr gute Idee.“ Die schon sehr viele Menschen vor dir hatten.“ Ich weiß. Es ist alles schon gesagt und geschrieben worden.“ Liv trank einen Schluck Kaffee. Aber das haben die Maler und Dichter vor hundert oder tausend Jahren auch schon gedacht. Und trotzdem gemalt und geschrieben. Du glaubst also nicht, dass ich es das kann?“

„Ok. Du schaffst das schon“, sagte Anne locker. Die Insel wird dich inspirieren. Also, fangen wir erst mal klein an. Was machen wir heute?”

„Nichts“, sagte Liv. Sie kicherten und schwiegen, die Zikade ließ gerade ein zaghaftes Sägen hören. Anne versprach, heute irgendwann ein paar Nudeln mit einer sehr leckeren Sauce zu kochen, ganz egal, was sonst noch alles passieren würde.

Rike tauchte auf und verschwendete keine Zeit mit einer Begrüßung. “Was machen wir heute?” “Nichts”, sagte Liv.

“Wir kommen erst mal an. Ruh dich aus, du hast doch schon jede Menge gemacht. Eingekauft, was sehr nett war, geduscht, komm, trink einen Kaffee,“ „Nein danke. Schade, ich dachte es gäbe einen Plan“, Rike drehte sich um und verschwand.

„Smalltalk ist einfach nicht ihr Ding“, sagte Anne achselzuckend und hielt ihr Gesicht wieder in die Sonne. Liv dagegen ärgerte sich, ihre gute Laune war dahin. Der Umgang mit Rike wurde immer schwieriger. Liv hatte ständig das Gefühl, sie mache einen Fehler, sage etwas Unpassendes oder Verletzendes. Sie hatte versucht, mit Rike darüber zu reden, aber ihre alte Freundin schien nicht zu wissen, wovon Liv überhaupt sprach. Sie stritt ab, sich verletzt zu fühlen. Sie sei ebenso, wie sie sei.

Liv versuchte, allen Themen, die Konfliktstoff bergen könnten, möglichst aus dem Weg zu gehen. Was auf Dauer keine gute und auch eine sehr anstrengende Strategie war. Etwas musste sich ändern.

Sie dachte an Den Dalai Lama.

Vor einigen Wochen hatte sie ihn im Fernsehen gesehen, bei ArteTV. Ein freundlicher alter Mann in einer orangeroten Tunika hatte den Zuschauern geraten, ein Problem, das man nicht lösen kann, einfach zu verdrängen. Er sprach tatsächlich von Verdrängen, was in den Augen von Psychologen der größte Fehler überhaupt war, den man machen konnte… Seitdem war sie ein Fan des Dalai Lama.

Sie konnte das Problem also auch verdrängen. Aber zuerst wollte sie versuchen, es zu lösen. Und sich nicht die Laune verderben zu lassen.

In den nächsten Tagen bummelten sie zu Dritt über die Uferpromenade und fanden einen Spazierweg direkt am Wasser, der zu einem Strandlokal mit teuren, aber auch sehr leckeren Tapas führte. Sie entdeckten mehrere schicke kleine Läden im Dorfzentrum, in denen Anne und Liv Stunden verbringen konnten, während sich Rike verabschiedete und weiter am Meer entlangwanderte.

Sie testeten die Mittagsangebote in den Cafés und Restaurants in der Umgebung – keine von ihnen hatte Lust, mittags in der Küche zu stehen dort gab es einfache und preiswerte Menüs mit einem Glas Wasser und Wein. Sie konnten auf der Terrasse sitzen und die Passanten beobachten – Familien mit kleinen Kindern, junge Pärchen und Rentner, manchmal eine Schulklasse, die an Bord des Glasbodenschiffes ging, das im Hafen lag. Die Schüler und Schülerinnen trugen Schuluniformen, dunkelblaue Hosen oder Röcke mit weißen Hemden und Sweatshirts. Sie waren gut gelaunt, es war nicht schlecht, mit einem Boot hinauszufahren und Meerestiere zu beobachten, und dass alles während der Schulzeit.

Am Nachmittag lockten die Cafés an der Uferpromenade mit Mandeltorte oder einem Eisbecher mit Erdbeeren con nata, dazu Café solo oder con leche. Verlockend waren auch die Drinks, die schon ab mittags auf den Tischen standen – Gin Tonic oder Sangria mit Cava oder Rotwein, Aperol Spritz oder Caipirinha. Die Gläser waren randvoll und wenn Liv zwei davon trank, war der Tag für ihre guten Vorsätze verloren. Anne hatte weder gute Vorsätze noch Bedenken und probierte gerne den einen und anderen Cocktail. Sie blieb dabei erstaunlich nüchtern, was wohl ein Hinweis auf ein regelmäßiges Training war. Rike dagegen ließ sich nie dazu überreden, mit ihren Freundinnen anzustoßen. Sie blieb ihren Lieblingsgetränken treu – Mineralwasser, Singas und Kräutertee.

Sie trödelten herum, sie hatten Zeit und fühlten nicht den touristischen Drang, jeden Tag etwas Neues entdecken zu müssen. Am Platja Es Trenc liefen sie durch die Dünen und durch das flache, kalte Wasser, in das sich nur sehr wenige tapfere Schwimmer hineinwagten. Liv nahm sich vor, sich nicht von der Kälte abschrecken zu lassen. Sie liebte es zu schwimmen. Schwimmen war der einzige Sport, der Sie nicht langweilte oder anstrengte. Im Wasser fühlte sie sich wie ein kleines, aber wichtiges Teilchen im großen Ganzen, beinahe schwerelos, leicht und geborgen. Alles Leben war im Wasser entstanden, das wusste und fühlte sie jedes Mal, wenn sie in das kühle Blau eintauchte, in dem sich der Himmel spiegelte.

Liv und Anne hatten vor, auch die anderen Strände an der Ostküste zu erforschen, und sie planten ihren nächsten Ausflug zur Bucht von Mondrago, in der Nähe von Santanyi, in einem Naturschutzgebiet.

Rike hatte wie immer andere Pläne – Schwimmen wollte sie auf keinen Fall. Also fuhren Anne und Liv los – wieder einmal ohne Rike. Liv fühlte Erleichterung und schämte sich dafür.

Anne hatte sich inzwischen an den Mietwagen gewöhnt und setzte sich freiwillig ans Steuer. Liv konnte in Ruhe die Landschaft betrachten und sich erinnern. Die Straßen waren frisch geteert und breiter als früher, aber das ländliche Mallorca hatte sich kaum verändert. Sie fuhren vorbei an Ackerland mit roter Erde, an Plantagen mit Oliven- und Mandelbäumen, an grasenden Schafen hinter niedrigen Steinmauern. Manchmal führte ein kurzer Weg, mit Pinien oder Zypressen bestanden, zu einer Finca zwischen Palmen, aus hellen Steinen gemauert, mit einem eckigen Turm und vielleicht einer Windmühle nebenan.

Einige dieser Landsitze sahen neu und wie unbenutzt aus. Sie waren Kopien der alten herrschaftlichen Gutshöfe und statt Acker- und Weideflächen gab es einen Pool in einem gepflegten Park mit frisch angepflanzten Palmen. Die sauberen neuen Anwesen sahen nach Geld aus, fand Liv, aber ihnen fehlte die Patina und die Ausstrahlung alter Häuser. Es waren glatte, gestylte Gemäuer für vielleicht ebensolche Menschen, aber Liv wollte nicht vorschnell urteilen.

Die Inseldörfer, die sie durchfuhren, hatten sich verändert. Es gab keine bröckelnden Mauern mehr, keine Schlaglöcher. Neu gepflanzte Bäume säumten die Straßen. Die Fensterläden waren immer noch wie damals geschlossen, aber sie waren frisch gestrichen und vielleicht aus diesem Grund nicht mehr so abweisend wie früher. Cafes und kleine Läden waren entstanden, es war freundlicher geworden auf der Insel, zugänglicher. Niemand musste mehr den steinigen Boden bearbeiten, um überleben zu können. Der Tourismus hatte Wohlstand gebracht, auch für die Bauern.

Es waren nicht die Fischer, die das Bild der Insel geprägt hatten, sondern die Campesinos. Fast alle Küstenorte mit ihren Hotels und Restaurants waren in den letzten fünf Jahrzehnten entstanden. Den alten Mallorquinern war das Meer eher gleichgültig gewesen, ihr Herz gehörte der roten Erde und ihren Olivenbäumen.

Anne fuhr konzentriert und nicht besonders schnell. Ab und zu regte sie sich auf, wenn sie hinter einer Gruppe von Radfahrern festhing und nicht überholen konnte, weil die Räder hin und hier pendelten und die Straße zu schmal war. Mit ihren engen Trikots und den schnittigen Helmen sahen die Fahrer aus wie Profis – vielleicht trainierten sie hier für die nächste Tour de France.

Liv erinnerte sich an das alte Rennrad, das die Agentur ihr zur Verfügung gestellt hatte, damit sie ihre Termine wahrnehmen konnte. Ein angerosteter Drahtesel mit kaputter Gangschaltung und einem steinharten Sattel, ohne Licht und mit schlechten Bremsen. Ein Herrenrad natürlich, sie war damit gefahren, ohne sich über irgendwelche Gefahren Gedanken zu machen.

Sie suchte im Autoradio nach Musik und blieb beim Inselradio hängen, dem deutschen Sender für Residenten und Touristen. Er sendete Informationen aller Art. Dazwischen gab es die neuesten Ballermann-Songs und deutsche, englische und spanische Popmusik.

Für das ältere Publikum wurde Julio Eglesias aufgelegt. Liv und Anne sangen laut und voller Inbrunst mit „amor, amor, amor…“, dann versagten ihre Textkenntnisse. Anne unterbrach ihren Gesang und rief: „Julio hat neun Kinder von sieben Frauen“, sie lachten. „Julio hat schon gesungen, als ich das erste Mal hier war, rief Liv.“ „ich glaube, er lebt immer noch“, rief Anne, „aber wir ja auch.“

Sie fuhren durch Ses Salines, ein Straßendorf. Früher war es grau und wie ausgestorben gewesen, jetzt gab es auch hier Restaurants, Bars und kleine Läden rechts und links der Straße. „Fahr bitte langsam“, bat Liv, „ich möchte mich erinnern.“ Vor dem Rathaus befand sich ein großer Dorfplatz. Hier wurden gerade die letzten Marktstände abgebaut. An der Straßenecke entdeckte sie das Lokal El Manolo. Es stand inzwischen in jedem Reiseführer. Vor achtundvierzig Jahren hatte der spätere Rey Juan Carlos hier seinen Lieblingsfisch gegessen, Wolfsbarsch in Salzkruste. Und seit dieser Zeit warb das Lokal mit dem königlichen Besuch. Offenbar mit Erfolg – auf der Terrasse waren alle Plätze besetzt. Anne fuhr langsam die Hauptstraße entlang. Hinter Ihnen berührte ein blauer Lieferwagen fast ihre Stoßstange. „Du kannst gerne wieder schneller fahren“, sagte Liv. “ In diesem Lokal war ich mit Jo, er war Fotograf. Wir haben eine Geschichte gemacht, für das Mallorca Magazin.“ „Über den König?“ Annes Interesse war geweckt. Liv nickte. „Über den Prinzen Juan Carlos.“ Dessen Ziehvater war übrigens General Franco – Diktator in Spanien und natürlich auch auf Mallorca, das war uns damals überhaupt nicht klar. Über Politik haben wird uns keine Gedanken gemacht. “ „Und ihr habt Juan Carlos in diesem Lokal fotografiert?“ Annes Stimme vibrierte vor Interesse. Liv musste lachen. Ihre Freundin war eine Verehrerin von alten Adelsgeschlechtern und Menschen von königlichem Geblüt, was so gar nicht zu ihrem sonstigen Lebensstil passen wollte. Liv fand Annes Königsgeschichten meistens amüsant, Rike dagegen schüttelte sich fast vor Abscheu, wenn sie damit belästigt wurde.

Nein, wir haben ihn leider nicht fotografiert. Nur die Fotos, die an der Wand vom Lokal hingen. Es war eine PR-Geschichte für das Restaurant, ein guter Anzeigenkunde vom Mallorca Magazin.“ „Und was ist mit diesem Jo passiert, dem Fotografen?“ fragte Anne, die gut zugehört hatte. Liv zuckte mit den Schultern. Ich habe nichts mehr von ihm gehört. Vielleicht sollte ich ihn mal googeln, aber dafür müsste ich mich an seinen Nachnamen erinnern...“

Sie folgten den Schildern nach Santanyi, umrundeten einige Kreisverkehre und folgten dann einem Hinweisschild, das sie zur Mondrago-Bucht führte. Die schmale Straße schlängelte sich an Steinmauern entlang und Liv hoffte inständig, dass ihnen kein Auto entgegenkommen möge.

Nach mehreren intuitiv getroffenen Entscheidungen, ob sie nun rechts oder links fahren sollten, hatten sie sich offenbar richtig entschieden und fanden sich plötzlich auf einem steinigen, fast leeren Parkplatz mitten in der Natur wieder. Anne parkte das Auto im Schatten eines Baumes. Sie stiegen aus und nahmen die Badetaschen mit, falls sie sich überwinden konnten, ins Wasser zu gehen. Gleich hinter dem Parkplatz befand sich ein Kiefernwald. Hier begann der Wanderweg, der hinunter zum Meer führte. Nach nur wenigen Minuten auf dem sandigen Pfad zwischen Kiefern und den Büschen mit den winzigen Blättern überfiel Liv ihre Vergangenheit mit einem Atemzug. Diesen Geruch, ein Gemisch aus Kiefern, Meer und warmer Erde, konnte sie nicht vergessen. Nirgendwo sonst auf der Welt gab es diesen Geruch, nur auf dieser Insel. Das wusste sie jetzt.

Auch im Wald hinter den Sanddünen der Cala Mesquida roch es nach Kiefern und Meer. Es war ihre Bucht gewesen. Hier hatte sie mit Georg die heißen Nachmittage verbracht, wenn die Agentur ihnen frei gegeben hatte. Es gab am Rand der Dünen ein paar einsame Stellen, die kein Tourist entdecken würde.

Die Bucht befand sich in der Nähe eines Fischerortes, wo im Hafen die Holzboote lagen. Liv hatte hier gewohnt, in Cala Ratjada an der Ostküste. Sie würde den Ort bald besuchen, um herauszufinden, an was sie sich noch erinnern konnte.

Die Touristen fingen damals gerade an, die Insel zu erobern. Es hatte auf Mallorca schon immer Sommergäste gegeben, aber jetzt kamen sie in Scharen. Es gab plötzlich billige Charterflüge, Hotels schossen aus dem Boden, teure Yachten verdrängten nach und nach die Fischerboote. Liv hoffte, dass auch die Fischer vom steigenden Wohlstand profitiert hatten. Sie wusste nicht, ob sie ihren löchrigen Netzen und der harten Arbeit nachtrauerten oder nicht.

Von der Cala Guya führte ein Trampelpfad durch den Kiefernwald zur Cala Mesquida. Hier gab es nur Sand und Dünen, die wenigen Besucher verteilten sich im hügeligen Gelände zwischen Meer und Wald.

Sie konnten im Sand spielen wie Kinder, die abschüssigen Dünen herunterspringen und rollen. Alles schmeckte und roch nach Salz und Sand, die Sonne brannte und sie liefen ins Meer, um sich abzukühlen, dann wieder an den Strand und dann in den Wald, um nach einem einsamen Platz zu suchen. Sie küssten sich. Zweige und Nadeln lagen auf dem warmen, sandigen Boden, aber sie spürten sie nicht.

Liv atmete tief ein. Wie konnte das sein, dass sie sich genau an diesen Geruch erinnerte, nach fast fünfzig Jahren?

Durch die Zweige der Kiefern konnte man das Meer sehen. Es lag dort in schillerndem Türkisblau, eine weiße Yacht ankerte in der von Felsen und Sand gesäumten Bucht. „Oh Gott, schon wieder so eine kitschige Postkartenansicht“, sagte Anne und riss Liv aus ihren Gedanken.

Sie gingen am Rand des Waldes entlang, vorbei an Büschen mit stacheligen kleinen Blättern. Der Weg zum Strand führte über eine breite Treppe mit einem Geländer aus gebleichten Holzästen. Sie hatten die Schuhe ausgezogen und der warme Sand quetschte sich durch ihre Zehen.

Es waren mehr Menschen da, als Liv vermutet hatte. Der Strand konnte auch von der anderen Seite der Bucht erreicht werden, über einen Fußweg am Wasser entlang.

Sommer, Sonne und Meer, dachte Liv, ein ganz einfaches Rezept, um das Leben schön zu finden. Wie gut, dass Sie nicht im schottischen Hochmoor oder auf den Lofoten gelandet waren, wie es Rikes Idee gewesen war.

Sie fanden einen Platz in der Nähe eines Felsens, der etwas Schatten spendete, holten die Badeanzüge aus der Tasche und zogen sie umständlich und mit Hilfe eines Badetuches um. Mit Freikörperkultur hatten die Spanier nichts am Hut, das hatte sich auch nach Jahrzehnten nicht geändert. “Du wolltest wohl lieber nach Hawaii”, Liv betrachtete Anne, die ein buntes Oberteil mit Paradiesvögeln zu einer kobaltblauen Hose trug. „Nein, aber ein buntes Muster verdeckt problematische Zonen und ein Tankini ist sehr bequem.“ „Du hast keine problematischen Zonen“, sagte Liv neidisch und Anne lachte laut. „Nein, klar, du auch nicht.“ Wir haben uns übrigens lange nicht mehr im Badeanzug gesehen.“ Sie musterten sich gegenseitig. “Geht doch. Schickes Teil, was du da trägst“, sagte Anne.

Liv verschwieg, dass es eine Qual gewesen war, diesen Badeanzug zu kaufen. Sie hatte mehrere anprobiert. Ihr Anblick im Spiegel hatte sie deprimiert, vielleicht war ja auch das Neonlicht daran schuld gewesen. Sie hatte ihren ausgeleierten Schwimmanzug unbedingt durch eine modische Version ersetzen müssen. Im Hallenbad sah ihn kein Mensch, aber am Strand war das eine andere Sache. Also hatte sie die Zähne zusammengebissen, das Neonlicht ignoriert und schließlich ein viel zu auffallendes Modell gekauft – schwarz mit tiefem Rückenausschnitt und mit Raffungen an Bauch und Hüften.

„Also, dieses Teil kannst du auch in der Oper tragen“, sagte Anne. Aber diese Raffungen sind okay. Das sind legitime Ablenkungsmanöver vom Alterungsprozess“. Anne schob die Haut an ihrem Oberschenkel mit beiden Händen zusammen. Es hatten sich zahlreiche kleine Knitterfalten gebildet, “und das ist erst der Anfang, fürchte ich.” Liv nickte. “Habe ich auch. Aber wenn man nicht schiebt, sieht man es nicht. “

Anne seufzte.“ Wir befinden uns auf direktem Weg zum Verfall, du weißt, was ich meine.“ Liv nickte,“ das sagt die alte weise Frau mit den teuren Kaviar Cremes, die ganz gut dem Verfall entgegenwirken, wie ich sehe. Aber vielleicht hilft ja auch eiskaltes Wasser“, Liv wollte aufspringen, sie hatte einen Moment lang ihr Alter vergessen. Sie musste sich erst umständlich hinknien und mit Hilfe der Hände nach oben schieben – auch das war früher anders gewesen.

Das Wasser war verführerisch blau und klar und mindestens so kalt wie die Nordsee. Sie fingen an, sich gegenseitig mit Wasser zu bespritzen, und kreischten wie Teenager. Sie schwammen und sahen unter sich kleine silberne Fische und den sandigen Boden mit seinen feinen Rillen und Rippen. Nach ein paar Minuten spürten sie wieder die Kälte und schwammen zurück zum Ufer.

Im Strandkiosk kaufte Anne zwei große Cafés mit einem ordentlichen Schuss Osborne. Sie schlürften das heiße Getränk aus Pappbechern und genossen die Aussicht aufs Meer, wo ein einsamer Schwimmer schon eine ganze Weile seine Kreise zog. „Er trägt bestimmt einen Neoprenanzug“, sagte Anne „oder er ist ein Deutscher.“

Liv fühlte sich jung und gesund. In diesem Moment konnte sie einfach nicht glauben, dass sie dennoch alt und das Ende in Sichtweite war. Es war unwahrscheinlich, dass sie hundert Jahre alt werden würde, und nach allem, was sie von Hundertjährigen gehört und gesehen hatte, wollte sie diese magische Zahl auch nicht unbedingt erreichen. Aber auch neunzig hörte sich nicht richtig verlockend an – und auch nicht achtzig, und das war gar nicht so weit entfernt. Wann hatte man genug erlebt, um in Frieden gehen zu können? Das war vielleicht die entscheidende Frage, aber was war genug… Wie konnte man es überhaupt aushalten, immer älter zu werden? Allmählich bekam sie eine Ahnung davon, dass es schwer werden könnte. Denn ein Happy End würde es nicht geben. Sie bemerkte, dass ihr Pappbecher leer war, und beschloss, noch zwei weitere Cafés mit Schuss zu holen. Diesmal gelang ihr das Aufstehen besser, alles eine Frage der Übung und der Konzentration.

Liv war jung und abenteuerlustig. Sie wollte raus aus ihrer norddeutschen Kleinstadt, raus aus ihrem Elternhaus und hinaus in die Welt. Sie hatte keine Idee, wie es mit ihrem Leben nach der Schule weitergehen sollte. Sie konnte sich keinen konkreten Beruf vorstellen und auch kein Studium. Ihre Eltern redeten von Jura und besser noch von Medizin, wie alle Eltern, aber Liv war sicher, dafür nicht geeignet zu sein. Sie fühlte keine Berufung, als Ärztin zu arbeiten, und ein Blick in ein juristisches Fachbuch reichte aus, um zu wissen, dass auch dies nicht ihre Zukunft sein konnte.

In der Schule hatte sie gerne Aufsätze geschrieben, aber sie wusste nicht, wie sie diese Begabung in einen Beruf umsetzen sollte. Sie sah sich auch nicht als Lehrerin vor einer Klasse stehen, Grammatik üben, für Ruhe sorgen und Noten verteilen.

Also nahm sich erst einmal Zeit, um zu überlegen. Sie suchte sich verschiedene Jobs, um Geld zu verdienen und dann vielleicht eine Reise zu machen. Sie jobbte als Aushilfe in einer Buchhandlung, in einer Lampenfabrik am Fließband und in einer Kantine beim Verkauf von belegten Broten. Es gab genug Arbeit, die Einstellung war unkompliziert und ein Wechsel jederzeit möglich. Es reichte ein kurzes Schreiben und ein ebenso kurzer Lebenslauf. Man konnte am nächsten Tag anfangen und so lange bleiben, wie es für beide Seiten passend war.

Irgendwann würde sie eine gute Idee haben, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, aber sie hatte keine Eile damit.

Am Fließband in der Lampenfabrik lernte sie einen jungen Mann kennen. Er hieß Klaus und arbeitete dort in den Semesterferien. Klaus rettete ihren Job, er half ihr dabei, sperrige Metallteile ineinander zu stecken. Er war schnell und geschickt, im Gegensatz zu Liv. Sie war bemüht, nicht die Barriere in einer sonst funktionierenden Arbeitskette zu sein, aber es gelang ihr immer weniger und sie beendete diesen Job nach zwei mühsamen Wochen. Aber mit Klaus traf sie sich weiterhin, fast jeden Tag den ganzen Sommer lang.

Klaus wurde ihr erster richtiger Freund. Mehr als Knutschereien hatte es bisher nicht gegeben, sie hatte noch mit keinem Mann geschlafen und sie dachte, dass es nun endlich an der Zeit wäre. Sie hatte sich den Liebesakt irgendwie anders vorgestellt. Alles war anstrengend, Klaus war hektisch, Liv schwitzte, aber sie ahnte, dass es besser werden würde. Auf jeden Fall war es aufregend, und sie hatte das Gefühl, dass nun ihr Leben beginnen konnte als erwachsene Person, als Frau.

Sie folgte Klaus nach Karlsruhe, wo er ein Studium für Maschinenbau begonnen hatte. Er war politisch aktiv, das bedeutete, er nahm Liv mit zu diversen Sit-ins an der Uni und zu Protestmärschen durch die Straßen, zu endlosen Diskussionen im Audi Max, wo alle durcheinanderschrien und langhaarige, bärtige junge Männer laute und intensive Reden hielten.

Liv hatte sich bisher nicht für Politik interessiert und bemerkte, dass sie in ihrer norddeutschen Kleinstadt bisher nichts vom Aufruhr in der Welt mitbekommen hatte. Aber sie war bereit, das zu ändern und sämtliche Proteste zu unterstützen. Es ging um eine Neuordnung der Gesellschaft, um die Abschaffung von Spießertum und Kleinfamilie. Das gefiel ihr.

Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren oder Bürger lasst das Mittagessen, sonst werdet ihr bald selbst gefressen. Das waren die Sprüche, die sie skandierten, wenn sie durch die Straßen zogen, untergehakt, langhaarig, mit Jeans und grünem Parka.

Liv fühlte sich einer wichtigen Bewegung zugehörig, sie verteilte Flugblätter und ging mit Klaus zu Diskussionsrunden, die stundenlang dauerten und deren Inhalte sie schnell wieder vergaß. Aber die Stimmung war immer gut, elektrisierend. Es fühlte sich richtig an, etwas zur Bekämpfung des Spießertums beizutragen. Die Apo, die außerparlamentarische Opposition, war das Maß der Dinge, Rudi Dutschke ihr Held. Auch Liv war fasziniert von dem jungen Mann im selbstgestrickten Norwegerpullover mit den glühenden Augen, der die Gesellschaft verändern wollte. Dennoch hatte sie Probleme, sich dem Enthusiasmus ihrer Umgebung anzupassen. Sie war skeptisch und offenbar nicht zu kritikloser Begeisterung fähig. Die Diskussionen mit Klaus wurden länger und heftiger. Liv fielen Dinge an ihm auf, die sie daran zweifeln ließen, ob sie noch immer in ihn verliebt war oder ob sie nur Angst davor hatte, allein in einer großen Stadt zu sein.

Eines Tages machte Klaus den Vorschlag, in eine der neu gegründeten Wohngemeinschaften in Karlsruhe Durlach zu ziehen. Sie gingen zu einem Treffen, bei dem sie sich als Paar vorstellen sollten. Liv hatte kein gutes Gefühl, aber sie hatte nicht den Mut, sich von Klaus zu trennen. Sie konnte noch keine Entscheidung treffen.

In der Kommune wurde viel geredet und getrunken, die Bewohner waren bärtig und langhaarig, Frauen trugen Miniröcke oder indische Gewänder. Auf Möbel wurde kein Wert gelegt. Che Guevara-Plakate klebten an einer hässlichen Tapete, Flaschen, Teller und Gläser lagen herum, die jemand vergessen hatte wegzuräumen. Rauchschwaden hingen in der Luft. Liv bemühte sich, das alles gut und richtig zu finden. Es war schließlich der Gegenentwurf zu Kleinfamilie und Spießertum.

Dann musste sie die Toilette aufsuchen und das wurde überraschenderweise zu einem Wendepunkt in ihrem Leben.

Die Toilette war schmutzig und es gab keinen Schlüssel für die Tür und auch sonst keine Verschlussmöglichkeit. Aber Liv hatte keine Wahl. Sie hatte sich gerade widerwillig und vorsichtig auf die Klobrille gesetzt, als ein bärtiger junger Mann die Tür öffnete, ihr zunickte und hereinkam. Er lehnte sich lässig an die Wand und begann, einen Vortrag über die gesellschaftlichen Ziele seiner WG zu halten, nämlich die Zerschlagung der kleinbürgerlichen Familienstrukturen. Er fragte Liv nach ihrem Studienfach und dessen politischer Ausrichtung, wozu Liv auch unter normalen Umständen nichts hätte sagen können, weil es gar kein Studium gab. Der Bärtige rauchte und bot ihr eine Zigarette an, Liv lehnte ab. Sie traute sich nicht, ihn wegzuschicken, sie wollte nicht spießig sein. Aber als der Bärtige zu einem neuen Vortrag ansetzte, biss sie die Zähne zusammen, zog die Hose hoch und ging wortlos an ihm vorbei und zur Tür hinaus.

Danach teilte sie Klaus mit, dass sie auf keinen Fall in diese WG einziehen würde und auch in keine andere. Klaus war enttäuscht und verstand ihre Bedenken nicht. Liv wusste, dass sie schnell etwas an ihrer Situation ändern musste.

Als Liv nach Lüneburg zurückkehrte, war ihre Familie erleichtert und dachte, nun würde sie einen Beruf ergreifen – vielleicht Sekretärin werden in der Firma, in der ihr Vater Abteilungsleiter war. Dann einen anständigen Mann heiraten und ihnen Enkelkinder schenken.

Sekretärin wollte Liv nicht werden. Sie zog ein Studium der Archäologie in Betracht, das hörte sich nach Abenteuer an: nach Graben im heißen Wüstensand. Nach verborgenen Schätzen, die später in den Museen der Welt ausgestellt wurden.

Doch dann bot sich ihr eine ganz andere Möglichkeit, hinaus in die Welt zu ziehen.

Die Freundin ihrer Mutter – Liv nannte sie Tante Grete – hatte sich auf einer Insel namens Mallorca ein Haus gekauft. Als Geldanlage und auch, um irgendwann dort Ferien mit der Familie zu verbringen. Tante Grete hatte drei Kinder, die etwas älter waren als Liv, aber es stellte sich heraus, dass diese keine Lust hatten oder zu beschäftigt waren, um auf eine Insel zu fliegen, von der man nicht viel Gutes gehört hatte, außer dass dort hauptsächlich solche Menschen ihren Urlaub verbrachten, denen andere Flug-ziele zu teuer waren.

Liv sah in den Atlas und stellte fest, dass diese Insel größer war, als sie gedacht hatte. Der Ort, an dem sie wohnen würde, hieß Cala Ratjada und befand sich im Nordosten der Insel. Tante Grete erzählte, dass sich das Ferienhaus in einer Siedlung befand, etwas außerhalb des Ortes. Die Häuser dort gehörten zum großen Teil wohlhabenden Spaniern vom Festland und blieben daher wochenlang unbewohnt. Das hatte sich herumgesprochen – Einbrüche und Vandalismus nahmen kontinuierlich zu, die Polizei ermittelte nur schleppend, es bestand kaum Aussicht, die Diebe zu ergreifen.

Tante Grete war auf die Idee gekommen, dass die Anwesenheit einer Person im Haus eine abschreckende Wirkung auf die Diebe und Vandalen haben könnte. Diese Person sollte Liv ein. Sie sollte einfach nur dort wohnen, wenn notwendig, ein paar kleine Reparaturen vornehmen und den Garten in Ordnung halten. Bis einer aus Tante Gretes Familie sich daran erinnerte, dass da noch ein Ferienhaus auf einer spanischen Insel existierte. Oder sich ein Käufer dafür interessierte.

Liv überlegte nicht lange und sagte zu. Diebe in einer spanischen Ferienhaussiedlung beeindruckten Sie nicht. Sie dachte keine Sekunde darüber nach, wie sie dort ihren Lebensunterhalt finanzieren sollte. Die Jobs lagen schließlich auf der Straße, es würde sich schon etwas finden lassen. Um Geld hatte sich Liv noch nie Sorgen gemacht. Niemand von ihren Freunden machte sich Gedanken um Geld. Geld gehörte ins Reich der Spießer. Man brauchte schließlich so gut wie nichts zum Leben: Bücher und Musik waren wichtig, Reisen ebenfalls, am besten auf eine griechische Insel, wo man mit dem Schlafsack am Strand schlafen konnte. Für Kleidung und Friseur wurde am besten gar nichts ausgegeben, das WG-Zimmer kam mit einer Matratze aus, Essen kam aus der Ravioli-Dose.

Liv informierte sich: Mallorca hatte keinen guten Ruf, der neue Massentourismus mit seinen Pauschalangeboten ließ die Preise fallen, jeder konnte sich eine Reise leisten. Es kursierte der Begriff von der Putzfraueninsel, der Liv in der Tat irritierte. Sie konnte nicht wissen, welch guten Geschmack die Reinigungskräfte damit bewiesen hatten.

Niemand, den sie kannte, war schon einmal auf Mallorca gewesen, außer Tante Grete, die aber nicht über Cala Ratjada hinausgekommen war. Liv besorgte sich einen Reiseführer von Baedecker und ein kleiner spanischer Pons-Wörterbuch, das in jede Jackentasche passte.

Sie brauchte zwei Wochen für die Vorbereitungen. Ihr Pass musste verlängert werden und sie musste sich Travellerchecks besorgen, außerdem eine geräumige Reisetasche, Sonnencreme und einen neuen Badeanzug. Sie rief Klaus in Karlsruhe an, um ihn über ihre Reise zu informieren. Das würde ihr endgültiger Abschied sein. Liv dachte nicht weiter darüber nach. Sie wollte Abenteuer erleben, und hier wurde ihr eines angeboten. Da musste sie zugreifen.

Sie flog mit einer Condor Maschine von Hamburg nach Palma. Tante Grete und ihre Eltern hatten ihr den Flug spendiert. Sie verabschiedete sich ohne jede Wehmut von allen, ihre Mutter weinte, weil sie fürchtete, ihre Tochter könne in die Hände spanischer Räuber fallen und nie mehr in ihrem Leben einen anständigen Mann kennenlernen. Sie hatte damit nicht vollkommen Unrecht, aber nichts und niemand hätte Liv von ihrem Plan abbringen können, ohne Plan ihre Zeit auf einer unbekannten Insel zu verbringen, wo der Himmel offenbar immer blau war und das Meer zum Schwimmen einlud.

„Ein paar Tapas wären jetzt nicht schlecht“, sagte Anne, „Schwimmen macht hungrig.“ Liv nickte. „Wir sind schon lange weg, was ist mit Rike?“ „Rike mag keine Tapas“. Da hatte Anne wahrscheinlich Recht. Trotzdem hatte Liv Bedenken. Sie wollte ihre Freundin nicht schon wieder ausschließen, das war in letzter Zeit immer häufiger vorgekommen. „Ruf sie an“, sagte Anne. Liv fühlte sich wie auf einem Drahtseil, angestrengt bemüht, die Balance zu halten. Sie wählte Rikes Nummer, aber niemand meldete sich.

Liv und Rike kannten sich schon seit dem Kindergarten. Rike war die Tochter einer Freundin von Livs Mutter, und die beiden Mädchen mussten sich zwangsläufig anfreunden, da ihre Mütter sie ständig ungefragt zusammensteckten. Rike war eine große Nervensäge, die ständig ihren Willen durchsetzen wollte, damals und heute immer noch. Ihre Freundschaft glich einer arrangierten Ehe, vielleicht fehlte die Liebe, aber es gab eine treue Zuneigung, trotz aller Unterschiede. Und weil sie jetzt alt waren, hatte sich eine Menge Erinnerungsstoff angesammelt. So war Rike die einzige Person, mit der sie ihre frühen Erinnerungen teilen konnte.

Liv steckte das Handy zurück in die Tasche. Anne zuckte mit den Schultern. „Dann müssen wir leider ohne Rike Tapas essen und später nach Hause kommen.“ Liv ärgerte sich über den ironischen Tonfall ihrer Freundin, sagte aber nichts. Das wäre eine Grundsatzdiskussion geworden, und dazu hatte sie im Moment keine Lust. Sie packten ihre Sachen und machten sich auf den Rückweg. In Santanyi fanden sie einen Parkplatz nicht weit von der Kirche entfernt, in einer der engen Straßen der Altstadt. Direkt vor dem Schaufenster eines Ladens, der lange Batikkleider im Ausverkauf anbot. „Sollen wir?“ Anne sah Liv fragend an und diese nickte. Auf dieser Insel brauchte man einfach ein langes Kleid, möglichst eines mit Batikmuster, da waren sie sich einig.

Eine halbe Stunde später hatten sie jede eine Einkaufstüte in der Hand, waren bester Laune und wanderten in Richtung Kirche, die sich mächtig und würdevoll über dem Marktplatz erhob. Der Platz war mit blank polierten Steinen gepflastert, umrahmt von hübschen Stadthäusern und einem Rathaus, vor dessen Eingang die katalanische Fahne flatterte.

Sie setzen sich in ein Café. Der Wein schmeckte gut, aber die Tapas waren schlecht. Muscheln und Gambas aus der Dose, trockener Schinken und pappiges Brot, lieblos auf den Teller geworfen. Liv beschwerte sich. Anne war die Aktion peinlich, aber Liv meinte, man müsse sich wehren, und diese Tapas seien eine Frechheit, vor denen man andere Gäste bewahren müsse.

„Das funktioniert nicht und macht nur Stress“, sagte Anne. „Egal.“ Aber man muss es versuchen“. Die Kellnerin brachte die Rechnung und entschuldigte sich mit der Aussage, der Koch sei krank. Sie mussten nur den Wein bezahlen.

Liv hatte keine Probleme damit, sich einzumischen, obwohl das gar nicht so einfach war – sie wollte auf keinen Fall als besserwisserische und missmutige Person enden, sie wollte auch kein Moralapostel und keine Fanatikerin sein. Sie war einfach ein Fan von Gerechtigkeit und wollte kein Opfer sein.

Das war anstrengend, denn sie musste immer alle Positionen im Blick behalten. Ihre Kollegen bei der Zeitung hatten oft die Augen verdreht, aber es gab immer zwei Seiten. Sie konnte es nicht ändern, dass sie beide sehen konnte. Sie schlenderten zur nächsten Panaderia und holten sich zum Nachtisch und als Entschädigung für die schlechten Tapas zwei Ensaimadas. ” Es schmeckt zuerst etwas seltsam, aber daran gewöhnt man sich“, sagte Liv, die sich daran erinnerte, dass sie sich damals nur langsam an den Geschmack des luftigen Schmalzgebäcks gewöhnt hatte, das weder süß noch herzhaft war.

Anne biss vorsichtig in den großen Kringel. „Die dritte Ensaimada wird dir schmecken“, sagte Liv. Wenn ich dir nichts von dem vielen Schweineschmalz erzähle, das hier verarbeitet wird, fügte sie in Gedanken hinzu.

Sie spazierten durch die engen Gassen und an Galerien und Keramikläden vorbei. In einem kleinen Supermercado kauften sie an der Fischtheke Gambas, Käse und Brot für ein gemütliches Abendessen auf dem Balkon.

Während der Heimfahrt hing jede ihren Gedanken nach. Das Radio blieb ausnahmsweise still. Hoffentlich, dachte Liv, würde Rikes Laune nicht allzu schlecht sein, sie waren lange weg gewesen und hatten sich nicht gemeldet. Andererseits – Rike saß sie nicht in einer Gefängniszelle, sondern hatte ein Dutzend Cafés und einen Strand direkt vor der Haustür. Es war nicht Livs Schuld, wenn ihre Freundin so wenig Spaß am Vergnügen hatte.

Zu Hause fanden Sie Rike weder im Wohnraum noch auf dem Balkon, dafür einen Zettel auf dem Küchentisch. “Bin schon im Bett, hatte Kopfschmerzen. Bitte nicht stören und keine Musik. Rike.” Sie sahen sich schweigend an, dann warf Liv die Gambas in die Pfanne und holte eine Flasche Cava aus dem Kühlschrank. „Kein Problem“, sagte Anne und öffnete routiniert die Sektflasche, „dann können wir ein paar mehr Gambas essen.“

Es gab keine öffentliche Busverbindung vom Flughafen nach Cala Ratjada, damals nicht und heute auch nicht: Man musste den Umweg über den Placa dEspagna in Palma nehmen, ein umständliches Unterfangen für einen Neuling auf der Insel. Tante Grete hatte Liv erklärt, dass sie am besten einen der Fahrer, die die Pauschaltouristen in ihre Hotels brachten, dazu überreden sollte, sie in seinem Bus mitzunehmen. Ein Trinkgeld von 1600 Peseten sollte dafür ausreichend sein.

Es war schon spät, draußen auf dem Parkplatz war es dunkel – Liv sah die schwarzen Silhouetten von hohen Bäumen, deren Blätter sich oben an ihrer Spitze schwach bewegten, und ihr wurde erst nach einer Weile klar, dass es sich dabei um Palmen handeln musste.

Sie sah sich um und stellte fest, dass keiner der Busse auf dem Parkplatz ein Schild mit Cala Ratjada über der Frontscheibe trug. Offenbar gab es an diesem Abend keine einzige Tour dorthin.

Schließlich sprach sie einen Taxifahrer an, der an einem alten Mercedes lehnte und rauchte. Sie redete auf Deutsch und Englisch auf ihn ein, der Mann sah sie gleichgültig an, zuckte mit den Schultern und Liv gab auf. Er hatte wohl keine Lust, eine verwirrte junge Touristin mit zu wenig Geld in das über achtzig Kilometer entfernte Cala Ratjada zu bringen. Alle Wechselstuben im Flughafengebäude hatten geschlossen.

Sie musste auf den nächsten Morgen warten. In einer dunklen Ecke der Wartehalle konnte sie sich auf eine der Sitzreihen legen. Es war Sommer, es war warm und sie fand, dass ihre Lage zwar nicht rosig, aber auch nicht schlecht und sogar ein bisschen abenteuerlich war. Sie legte ihre Reisetasche unter den Kopf und schlief ein.

Gegen Morgen, milchiges Licht fiel durch die großen Fenster. Rüttelte jemand an ihrer Schulter. Sie war sofort wach und darauf gefasst, von der Guardia Civil verhaftet zu werden. Aber es war kein Ordnungshüter, sondern ein junger Mann, der ein rotes Jackett trug und vielleicht ein Kellner von einem Bistro im Flughafen war. „Entschuldigung, wollen Sie nach Cala Millor?“ Er hatte einen süddeutschen Akzent. „Nein, nach.... Cala Ratjada“. Liv hatte sich aufgesetzt und versuchte, sich in der Situation zurechtzufinden.

„Ich vermisse einen Gast, wir fahren gleich los.” „Sie fahren mit dem Bus?“ „Ja, natürlich.“ Liv war inzwischen aufgestanden und zerrte die Reisetasche von der Bank. Der junge Mann schien doch kein Kellner zu sein. „Können Sie mich vielleicht mitnehmen?“ Irgendwie würde sie schon nach Cala Ratjada kommen, wenn sie erst einmal in einem Bus saß. „Wir fahren nach Cala Millor, aber Cala Ratjada ist in der Nähe, kommen Sie mit“. Der junge Mann mit der Kellnerjacke lief vor ihr her bis zum Bus. Liv hatte Mühe, ihm zu folgen, er drehte sich nicht um.

So hatte sie Georg kennengelernt.

Der Bus fuhr durch eine Ebene mit roten Ackerflächen, steinigen Mauern und rostigen Stahlgerüsten mit zerfetzten Stoffbahnen. Es waren die Überreste von Mühlen, mit deren Hilfe früher die Felder bewässert wurden – das würde Liv erst später erfahren. Die Straßen waren leer. Liv sah aus dem Fenster. Sie fuhren durch Dörfer, die wie ausgestorben wirkten: graue Häuser mit geschlossenen Fensterläden. Sie sah Schafe und Esel, unbekannte Bäume mit silbernen kleinen Blättern, Olivenbäume, wie sie später erfuhr.

Der junge Mann sah bei näherer Betrachtung nicht wie ein Kellner, sondern eher wie ein Hippie aus – die blonden Haare fielen ihm bis auf die Schultern, die Uniformjacke war nur halb zugeknöpft, darunter sah man ein ungebügeltes weißes Hemd, ebenfalls nicht korrekt geknöpft. Er begrüßte seine Gäste im Namen von Neckermann und Reisen. Dann redete er ohne Pause von Ausflügen und Essenszeiten und immer weiter, bis Liv nicht mehr zuhören konnte und einschlief.

Sie erwachte vom Schnarchgeräusch ihres Sitznachbarn. Die Landschaft hatte sich verändert, sie fuhren jetzt eine Küstenstraße entlang. Zwischen Häusern und Bäumen konnte Liv ab und zu ein kleines Stück Meer entdecken. Der Himmel und das Wasser hatten die gleiche blaue Farbe, die Sonne warf glitzernde Strahlen. In Cala Millor brachte der Busfahrer die Gäste zu ihren Hotels, bis nur noch Liv übriggeblieben war. „Ich nehme Sie mit nach Cala Ratjada“, sagte der Hippie Reiseleiter.

Sie stiegen aus dem Bus und gingen um die Straßenecke, wo ein schmutziger alter Seat auf sie wartete. Er stank nach Benzin, aber der Reiseleiter machte dazu keine Bemerkung. Wahrscheinlich war es ungefährlich.

Liv erzählte vom Ferienhaus, das sie bewohnen würde, und der Hippie, der inzwischen die rote Jacke ausgezogen hatte, nickte und schwieg dann beharrlich. Nach einer knappen halben Stunde waren Sie in Cala Ratjada angekommen. Liv hatte die Adresse aufgeschrieben und nach kurzem Suchen auf der Landkarte fanden sie die Urbanizacion. Nette kleine Häuser mit Gärten, hohe Kiefern und Pinien säumten die sandigen Straßen.

Der Hippie stoppte vor einem Grundstück, das von einer niedrigen Steinmauer umschlossen war. Liv stieg aus und nahm ihre Reisetasche von der Rückbank.

Ich muss ins Büro. Wir sehen uns bestimmt irgendwann.“ Liv konnte sich gerade noch bedanken, dann hatte der junge Mann Gas gegeben und war verschwunden.

Sie stand mit der Tasche in der Hand vor einem eisernen Tor in einer Mauer. Dahinter befand sich ein einfaches Steinhaus mit geschlossenen grünen Fensterläden. Das Tor quietschte beim Öffnen. Liv ging durch einen verwilderten Garten und über eine Terrasse, die dringend von Unkraut befreit werden musste. Der Haustürschlüssel verhakte sich eine Schrecksekunde lang im Schloss, dann öffnete sich die Tür und sie stand in ihrem neuen Heim. Es war dämmrig und roch muffig. Sie öffnete die Fenster und löste die Verriegelung der Fensterläden. Das Sonnenlicht kam herein und flimmerte in der staubigen Luft.

Livs erster Blick fiel auf ein Stierkampfplakat. Es hing in einem goldenen Rahmen über einem dunklen Kamin. An der gegenüberliegenden Wand stand ein schmales Sofa mit einem dunkelroten Samtbezug. In der Mitte des Raumes befand sich ein schwarzer Esstisch mit vier hölzernen Stühlen, die steif und unbequem aussahen. Liv setzte sich auf die Sofakante und sah sich um. Tante Grete hatte ihr nicht erzählt, dass sie in einem mallorquinischen Museum wohnen würde. Sie seufzte, sie würde in den nächsten Tagen Zeit genug haben, um sich alles anzusehen und um einiges zu verändern. Jetzt musste sie erst einmal ein Bett finden, in dem sie ihre erste Nacht auf der Insel verbringen konnte.

Die Tage fingen an, ihre eigene Routine zu entwickeln. Rike hatte sich bereit erklärt, morgens Brötchen zu holen, da sie sowieso immer als Erste wach wurde. Sie stellte auch die Kaffeemaschine an und deckte den Tisch auf dem Balkon. Liv und Anne standen später auf, beinahe gleichzeitig, tranken erst einmal einen Kaffee und beobachteten das morgendliche Treiben auf der Uferstraße unter ihrem Balkon. Hunde wurden ausgeführt. Die ersten Gäste saßen in den Bars und bestellten Bocadillos und Café. Lieferwagen brachten ihre Waren zu den Restaurants und zu den Touristengeschäften an der Promenade. Diese Geschäfte waren Fundgruben, die ihre wahre Bestimmung erst offenbarten, wenn man sich tief ins Innere wagte. Hier gab es Energydrinks, Sonnencreme, Aschenbecher mit Muschelrand, Kauknochen für Hunde, Luftmatratzen und Bettwäsche, Bier aus Thailand, Olivenholzschalen, gefälschte Gucci Taschen und schwarze nackte Frauen aus Holz. Liv besuchte diese Läden gerne, besonders, wenn sie schlechte Laune hatte. Beim Anblick der skurrilen Anordnung von nützlichen und überflüssigen Dingen konnte sie sich gut über den Ernst des Lebens amüsieren.

Sie beobachteten die Schulklassen, die zum Glasbottomboot wanderten, und gewöhnten sich daran, dass mehrmals am Tag ein Motorrad mit ohrenbetäubendem Knattern und viel zu schnell über die Uferstraße rastete, im Sattel ein Jugendlicher mit schwarzem T-Shirt und schwarzem Helm. Sie waren sich einig, dass es nicht schlecht wäre, wenn irgendjemand mit dem jungen Mann ein ernstes Wort reden würde. Abgesehen von dem Höllenlärm war er auch eine Gefahr für alle, die nicht blitzschnell von der Straße flüchteten.

„Ich rufe die Polizei“, Rike war entrüstet. „Ach, lass ihn doch, er hat Spaß“, sagte Anne und er ist schnell wieder weg. „Er hat seine Maschine bestimmt im Griff“, sagte Liv beschwichtigend. Aber das waren alles keine guten Argumente in Rikes Ohren. Liv war sicher, dass nur ihre mangelnden Sprachkenntnisse sie davon abhielten, die Guardia Civil zu alarmieren.

Liv dagegen hätte anrufen können, aber in diesem speziellen Fall wollte sie sich nicht einmischen – sie hätte sich wie eine besserwisserische, deutsche Rentnerin gefühlt, die von oben herab einem jungen spanischen Mann seinen Spaß verderben will. Was ja auch zutraf.

„Denkt an den Dalai Lama“, sagte sie stattdessen zu ihren Freundinnen, „wir können das Problem nicht lösen, also müssen wir es verdrängen.“ Rike schüttelte den Kopf und meinte düster, es würde nicht mehr lange bis zum ersten Unfallopfer dauern. „Mag sein, dachte Liv, aber sie fühlte sich einfach nicht dafür zuständig, in einem fremden Land die Verkehrspolizistin zu spielen.“

Es gab andere Beobachtungsobjekte, die angenehmer zu betrachten waren. Anne geriet jedes Mal in Verzückung, wenn ein Vierbeiner unter dem Balkon auftauchte, egal ob es sich um einen mageren Straßenhund handelte, der in den Mülltonnen am Hafen nach Essbarem suchte oder um einen flauschigen Spitz, der eine lila Schleife auf dem Kopf trug. Anne hätte jeden Hund bedenkenlos adoptiert.

Liv wusste, dass es in Ses Salines, nur ein paar Kilometer entfernt, ein Tierheim gab, wo ausgesetzte und misshandelte Hunde auf ein neues Zuhause warteten. Sie hatte davon im Mallorca Magazin gelesen, aber das erzählte sie Anne besser nicht. Sie würde keine Ruhe mehr geben, bis sie sich einen dieser armen Hunde ins Haus geholt hatten.

Auch Liv liebte Hunde. Und eigentlich alle Tiere, außer vielleicht Mücken und Krokodilen. Aber so ein Hund bedeutete auch jede Menge Verpflichtungen und Unbequemlichkeiten. Außerdem war sie sicher, dass Rike sofort gegen jede Art von Tier protestieren würde, das hier Einzug halten sollte. Also war es besser, dieses Thema nicht anzusprechen.

Jeden Tag, nach einem ausgiebigen Frühstück, verschwand Anne in ihrem Zimmer mit einer Tasse Kaffee in der Hand. Hier arbeitete sie an den Skizzen für ihre zukünftigen Gemälde. Sie hatte in Manacor einige großformatige Leinwände gekauft. Diese lehnten nun an der Wand und forderten Anne stumm dazu auf, aktiv zu werden. Aber Anne hatte Angst vor dem ersten Pinselstrich.

Jetzt gab es keine Ausreden mehr, alles war bereit für einen Neuanfang. Für richtige Kunst, die nicht darauf spekulierte, anderen zu gefallen. Und schon gar nicht darauf, einen Käufer zu finden. Liv hatte ja Recht, ihnen lief die Zeit davon – jetzt oder nie mehr, so lautete die Devise.

Die Stunde der Wahrheit war gekommen. Vielleicht hatte sie sich ihr Leben lang belogen und sie war gar keine Künstlerin, sondern eine malende Hausfrau mit Flausen im Kopf. Und nun, wo sie niemand mehr daran hinderte, eine Künstlerin zu sein, wo sie sich frei entfalten konnte, würde bald die Wahrheit ans Licht kommen. Aber noch hatte sie gar nicht angefangen, ihr Talent unter Beweis zu stellen. Immerhin hatte sie schon einige Skizzen angefertigt, Stillleben in zarten, verschwommenen Farben. Sie sah darin keine entscheidende Veränderung zu ihrem alten Stil, den sie eigentlich überwinden wollte. Sie musste sich an die große Leinwand langsam herantasten, Schritt für Schritt. Und sich nicht entmutigen lassen von ihren eigenen Bedenken, die viel schwerer wogen als jede andere Kritik, die von Freunden und Galeristen an ihr geübt wurde.

Auch Rike zog sich in ihr Zimmer zurück. Sie las ihre Bücher oder schlief, die Fensterläden hatte sie geschlossen. Sie wollte keinen Traum verwirklichen. Sie wollte ihr restliches Leben mit Sinn erfüllen. Ihre Tage in Dortmund verliefen so ruhig, geplant und geordnet, dass sie angefangen hatte, sich darüber Gedanken zu machen, ob dieser Zustand nun bis zu ihrem Tod so weitergehen sollte. Ohne Höhen und Tiefen, gleichförmig, ein Tag wie der andere. Sie verfiel immer mehr in Grübeleien und suchte in allem, was sie tat, vergeblich nach einem Sinn.

Ihre Hoffnung, bei diesem Inselausflug zu neuen Erkenntnissen zu kommen, hatte sich bisher noch nicht erfüllt. Es kostete sie große Überwindung, mit Liv und Anne so eng zusammenzuwohnen – Anne mit ihrem Schönheits- und Shoppingwahn und ihrer schnippischen Bemerkung, mit ihrer gut gelaunten Oberflächlichkeit, ging ihr auf die Nerven. Und Liv, ihre einzige Freundin, hatte sich offensichtlich auf Annes Seite geschlagen.

Wenn die Grübeleien gar nicht aufhören wollten, packte sie ihren Rucksack und machte sich auf, ihre neue Umgebung zu erkunden. Das Wandern half ihr dabei, die quälenden Gedanken zu vertreiben und das Karussell in ihrem Kopf zum Stillstand zu bringen.