Grüne Wasser sind tief - Ulla Schneider - E-Book

Grüne Wasser sind tief E-Book

Ulla Schneider

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Beschreibung

Mord oder Selbstmord? Kommissar Plate aus Lüdenscheid steht vor einem Rätsel, als am Staudamm die Leiche eines reichen Unternehmers gefunden wird. Er holt sich Unterstützung bei der couragierten Ärztin Leo Piepenstock, deren Schwiegervater den Toten kannte. Das Ermittlerduo stößt nicht nur auf eine verlassene Ehefrau, sondern auch auf eine Geliebte, deren ungeborenes Kind nun das gesamte Familienvermögen erben wird. Doch dann geschieht ein zweiter Mord, wieder an einem Top-Manager, und Leo Piepenstock glaubt, dass es nicht bei den beiden Todesfällen bleiben wird …

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Seitenzahl: 398

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Ulla Schneider

Copyright der E-Book-Ausgabe © 2012 bei hey! publishing, München

Originalausgabe © 2004 Piper Verlag, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestalltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-942822-14-5

Von Ulla Schneider zuletzt bei hey! erschienen:

Tropfen auf kalten Stein. Roman

Der mit Gold und Jade übervolle Saal

Ist nur kurze Zeit zu schützen.

Der mit Stolz gepaarte Reichtum und Glanz

Ist nur kurze Zeit frei von Unglück.

1

Dorothee Coller kämmte ihre langen grauen Haare mit besonderer Sorgfalt. Dann flocht sie einen dicken Zopf, den sie über den Rücken hinabfallen ließ. Es waren noch fast zwei Stunden Zeit bis zur Ausstellungseröffnung. Sie sah prüfend in den Spiegel. Ihr Gesicht war blass – bis auf die Lippen, deren dunkelrote Farbe ihr tagsüber beinahe zu aufdringlich erschien. Aber in einer Stunde würde es bereits anfangen, dunkel zu werden.

Sie wählte ein enges schwarzes Kleid und nahm dann die glitzernden Ohrringe aus der Schatulle. Sie waren aus Weißgold, mit Brillanten besetzt. Ihr Mann hatte sie ihr zur silbernen Hochzeit geschenkt. Einen Moment hielt sie den Schmuck in der geschlossenen Hand, dann stellte sie sich vor den Spiegel und schob die dünnen Stifte vorsichtig durch die Ohrläppchen. Sie würde den Taxifahrer bitten, einen Umweg zu fahren, damit er direkt vor dem Eingang der Galerie halten konnte. Der Schneematsch auf Straßen und Bürgersteigen lag zentimeterhoch, heute Morgen hatte es noch einmal kräftig geschneit.

Nachdem sie in der Taxizentrale angerufen hatte, zog sie ihren Mantel an und setzte sich in den Sessel vor dem Kamin. Das Feuer war heruntergebrannt. In der Stille des Hauses waren das Knacken und das leise Zischen der verkohlten Holzreste unnatürlich laut. Aber Dorothee Coller hatte sich daran gewöhnt: Es gab kein Kindergeschrei und kein Hundegebell – es hatte nie dergleichen gegeben. Und es gab auch keine Männerstimme mehr, die zumindest in den Abendstunden die Stille des Hauses durchbrochen hätte.

Sie erinnerte sich an einen Tag im vergangenen Winter, als sie genau wie jetzt vor dem Kamin gesessen und gewartet hatte. Damals hatte sie umsonst gewartet. Ludwig war nicht gekommen. Nicht einmal einen Telefonanruf war sie ihm wert gewesen. An jenem Winterabend war sie aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht, der so viele Jahre gedauert und den sie nicht einmal bemerkt hatte. Damals hatte sie beschlossen, ihr Leben selber in die Hand zu nehmen. Sie wollte das Haus neu einrichten und ihre Arbeit ernst nehmen. Sie brauchte sich nicht anzubiedern, Geld hatte sie genug.

Im Kamin fiel ein glimmender Holzscheit polternd in sich zusammen und sackte hinunter in die Asche. Der Widerschein des Feuers flackerte auf den schwarzen Ledersesseln. Die vier wuchtigen Sitzmöbel standen immer noch am gewohnten Platz.

Statt das Haus zu verändern, hatte sie angefangen zu fotografieren. Zuerst Landschaften, dann unbewohnte Räume: Bibliotheken, Schwimmhallen und Theaterkulissen. Die Arbeit war ihr leicht und selbstverständlich vorgekommen, die teure Kamera hatte alle technischen Probleme ohne ihr Zutun gelöst, und es kam ihr vor, als hätten ihre Motive schon lange auf diesen Augenblick der besonderen Wahrnehmung gewartet.

Heute Abend würde sie bereits ihre zweite Fotoausstellung in der Galerie am Rathaus eröffnen. Merkwürdigerweise war sie weder nervös noch freute sie sich auf die kommenden Stunden. Beide Empfindungen schienen ihr im Lauf der letzten Jahre abhanden gekommen zu sein.

Sie stand auf und schob die Glut nach hinten an die Rückwand des Kamins. Die feine Asche stob auf.

Im selben Moment klingelte es an der Haustür.

Draußen ging sie in ihren hohen Schuhen vorsichtig durch den Schneematsch. Ihr fielen die Wanderschuhe ein, die in ihrem Auto lagen, das sie im Hinterhof der Galerie abgestellt hatte. Heute Abend würde sie mit ihrem eigenen Wagen nach Hause fahren. Der Taxifahrer öffnete ihr höflich die Wagentür. Sie nannte die Adresse und bat den Fahrer, den längeren Weg durch die Altstadt zu fahren, um sie direkt vor der Tür absetzen zu können. Der Fahrer, ein älterer Mann mit einer unförmigen Brille, versuchte, eine Konversation mit ihr zu beginnen, aber Dore Coller antwortete ihm nicht, und nach einer Weile gab er auf. Nach nicht einmal zehn Minuten waren sie am Ziel. Sie gab dem Fahrer ein Trinkgeld, das den Fahrpreis weit überstieg, und hoffte, er würde ihr verzeihen, dass sie nicht mit ihm geredet hatte, und sich außerdem eine neue Brille kaufen.

Die Galerie war hell erleuchtet, und sie konnte an den Wänden der hohen Räume bereits von außen einige ihrer Fotografien erkennen. Unerwartet überfiel sie ein Gefühl der Genugtuung und des Stolzes. Sie zögerte einen Moment, bevor sie die Tür öffnete. Dann streifte sie ihre schillernde Rüstung über und trat ein, sicher und selbstbewusst wie immer.

Leonie Piepenstock schlief bis neun Uhr und stand mit einem schlechten Gewissen auf. Ihre erste Patientin würde erst um zwölf Uhr in die Praxis kommen, aber sie hatte das Gefühl, sich mit ihrer morgendlichen Langschläferei einen unangemessenen Luxus zu leisten. Sie ging hinunter in die Küche. Schakal, ihr Hund, strich ihr wie eine Katze um die Beine, und sie ließ ihn hinaus in den Garten. Dann füllte sie Kaffee in die Espressomaschine und stellte sie auf die Herdplatte.

Sie setzte sich im Schlafanzug an den Küchentisch und spürte, wie der graue Morgen in ihre Glieder kroch. Ein ziehender Schmerz hinter den Augen erinnerte sie daran, dass sie gestern Abend zuviel Wein getrunken hatte. Sie war dennoch mit dem Auto nach Hause gefahren, weil sie sich fahrtüchtig gefühlt und darauf vertraut hatte, dass sie auf der einsamen Höhenstraße zwischen Lüdenscheid und Werdohl nicht auf eine Polizeikontrolle stoßen würde. Tatsächlich war sie erst in Neuenrade dem ersten Auto begegnet und war unbehelligt am Balver Berg angekommen.

Während der Kaffee gluckernd in der Kanne nach oben stieg, sah Leo hinaus in den Garten. Eine zarte weiße Decke hatte sich über die schmutzigen Schneereste und den grünbraunen, nassen Rasen gelegt. In der Nacht hatte es schon wieder geschneit. Der Schnee hatte sich diesmal nicht angekündigt, gestern auf dem Heimweg hatten noch die Sterne gefunkelt.

Es war ein angenehmer Abend gewesen. Die Ausstellungseröffnungen im alten Rathaus waren willkommene Abwechslungen in ihrem dörflichen Einsiedlerleben. Sie hatte einige Bekannte getroffen, und man hatte den neuesten Klatsch ausgetauscht – unter anderem ging es um die Trennung der Künstlerin von ihrem Mann und um dessen neue Freundin und trotzdem war Dore Coller strahlend und selbstbewusst wie immer gewesen. Und natürlich hatte sich Leo die Fotografien angesehen. Leere Innenräume, kühl und rätselhaft. Die Fotos hatten ihr gut gefallen. Viel besser als die bunten Landschaftsbilder, die Dore Coller früher ausgestellt hatte. Vielleicht sollte sie ihre Schwiegermutter überreden, eine der Fotografien zu kaufen – als Weihnachtsgeschenk für ihre Schwiegertochter. Sie lächelte vor sich hin. Mir geht es verdammt gut, dachte sie plötzlich, mir geht es so viel besser als den meisten anderen Menschen auf dieser Welt, und auch an einem grauen Morgen wie diesem sollte ich mich daran erinnern.

Sie stand auf, ging zur Terrassentür und öffnete sie. Der Hund hob gerade sein Bein an einer der Fichten am Rand des Grundstücks. Leo kam es vor, als seien sie schon wieder ein Stück gewachsen. Das bedeutete, dass sie die Sonne noch mehr als bisher verdecken würden. Es waren prächtige Bäume, die jedes Jahr körbeweise Zapfen produzierten, aber sie mussten gefällt werden. Sie würde mit dem Leiter der Forstbehörde, einem ehemaligen Patienten von ihr, telefonieren und einen Termin vereinbaren.

Leo ging zurück in die Küche und machte sich einen Milchkaffee. Schon der erste Schluck wirkte wie Medizin und dämpfte das Stechen in ihrem Kopf. Leo glaubte an die heilende Kraft des Koffeins, und die Wirkung gab ihr recht.

Dann blätterte sie in ihrem Terminkalender. Vier Patienten standen heute auf dem Behandlungsplan – zwei Suchtbehandlungen, eine Asthmapatientin und ein Patient mit chronischen Gelenkschmerzen. Bis auf einen Patienten kamen sie schon seit einigen Wochen zu ihr, es waren Fälle, die auf die ausgewählte Therapie gut ansprachen. Um ein Uhr würde ein junger Mann zur ersten Behandlung kommen, der sich das Rauchen abgewöhnen wollte, ein Routinefall.

Sie hatte den Vormittag frei. Mit der Kaffeetasse in der Hand ging sie wieder nach oben ins Schlafzimmer.

Im Badezimmer machte sie sich eine Wärmflasche, um ihre ewig kalten Füße zu wärmen und um die Gemütlichkeit perfekt zu machen. Ein kurzer Blick aus dem Fenster bestätigte sie in ihrem Beschluss, wieder ins Bett zu gehen. Der Himmel lag grau und schwer über den Schieferdächern des Dorfes.

Sie steckte die Wärmflasche unter die Decke, schlüpfte ins Bett und griff nach der Fernbedienung. Im Fernsehen lief die Übertragung eines Skispringens. Weltmeisterschaften in Finnland, wie sie erfuhr, und damit das passende Hintergrundprogramm für die Lektüre ihres Kriminalromans, der im schwedischen Winter spielte. Während die Skispringer in ihren silbernen Anzügen durch die Luft flogen, verfolgte ein schlecht gelaunter Kommissar, der ständig an seinem Beruf zweifelte, einen Mörder, der seine Opfer so grausam zurichtete, dass Leo es sich angewöhnt hatte, die entsprechenden Stellen des Buches zu überschlagen. Allerdings kam es dabei auf ihre augenblickliche Verfassung an, manchmal hatte sie nichts dagegen, wenn das Blut von den Seiten tropfte. Heute Morgen musste sie nichts überblättern, die Ermittlungen in Schweden gingen nur zäh voran, und der Kommissar hatte ein Magengeschwür.

Als das Skispringen beendet war, suchte Leo nach einem anderen Sender. Der WDR brachte lokale Nachrichten, und sie ließ das Buch sinken, um einen Moment zuzusehen. Die Kamera fuhr über eine glatte Wasseroberfläche und verharrte dann bei einer alten Brücke aus Natursteinen mit einem gemauerten, runden Turm in der Mitte. Leo erkannte die Staumauer der Fürwiggetalsperre, noch ehe der Nachrichtensprecher den Namen nannte.

Rettungsleute in orangefarbenen Westen und andere Männer in Regenjacken waren zu sehen. Sie standen um eine helle Plane herum, die in ihrer Mitte ausgebreitet lag. Im Hintergrund türmte sich die dunkle Masse der Staumauer auf. Während der Nachrichtensprecher über den Fund des Toten in den frühen Morgenstunden berichtete, tastete die Kamera langsam und sorgfältig die Plane ab. Der zugedeckte Körper lag direkt neben dem flachen Überlaufbecken der Talsperre. Die Kamera glitt die Mauer hinauf. Ein dünner Wasserstrahl rann aus einer der Öffnungen und an den Steinen entlang, prallte dann immer schneller werdend auf die untere Wölbung und ergoss sich schließlich in das Überlaufbecken. Ein leichter Sprühnebel hüllte die Männer am Fuß der Mauer ein. Leo wohnte schon lange genug im Sauerland, um zu wissen, was dieses einsame Rinnsal bedeutete – der Stausee stand kurz vor dem Überlaufen.

Die Wasser versammeln und vermehren sich, weil sie dem tieferen Grund zustreben. Sie zögern nicht, sich in die tiefe Schlucht zu stürzen.

Die sachliche Stimme des Sprechers unterrichtete die Zuschauer darüber, dass die Todesursache des Mannes, dessen Alter zwischen fünfzig und sechzig Jahre geschätzt werde, noch unbekannt sei. Ein Selbstmord sei ebenso möglich wie ein Gewaltverbrechen.

Leo hatte das Buch aus der Hand gelegt. Über den Bildschirm flimmerte bereits die nächste Nachricht. Sie schaltete den Fernseher aus und tastete nach ihrer Wärmflasche. Im Geiste sah sie einen zerschmetterten Körper am Fuß der Staumauer. Sogar hier, unter ihrer warmen Bettdecke, spürte sie den Sog, der sie hinunterzog, jedes Mal, wenn sie oben auf einer dieser Mauern stand. Das Ziehen im Bauch und das Herzklopfen. Trotzdem trieb sie es immer wieder an den Rand der Mauer, um einen Blick hinunterzuwerfen. Vielleicht gab es ja eine versteckte Todessehnsucht in ihr. Leo verkroch sich tiefer unter der Decke. Es war Unsinn, so etwas zu denken. Aber vielleicht hatte der Tote diesen Sog verspürt. Und er hatte ihm nachgegeben.

Der Geist gehört dem Himmel, der Körper gehört der Erde an.

Der Mann musste sehr verzweifelt gewesen sein, denn es war eine grausame Art, sich das Leben zu nehmen. Die Staumauer wölbte sich nach innen, um dem Druck des Wassers besser standzuhalten. Ein Mensch, der hier hinuntersprang, würde auf dem unteren Teil der Wölbung aufschlagen, ehe sein Körper im Überlaufbecken unterging.

Leo starrte auf den dunklen Bildschirm des Fernsehapparates. Schon wieder ein Toter, dachte sie, schon wieder ein Opfer an einem düsteren und kalten Ort. Ein Mord. Vielleicht war der Mann von der Mauer gestoßen worden? Oder er war bereits tot gewesen, und man hatte seine Leiche hinuntergeworfen? Ein vorgetäuschter Selbstmord? Irgendwann mündeten Leos Gedankengänge im Polizeipräsidium bei Hauptkommissar Plate. Sicher würde er wieder die Ermittlungen leiten. Leo sah sein angestrengtes Gesicht mit den aufmerksamen Augen vor sich und verspürte Sympathie und noch ein anderes Gefühl, das sie nicht näher analysieren wollte.

In den vergangenen Monaten hatten sie zweimal miteinander telefoniert, und dabei war es um Fragen zu den noch laufenden Ermittlungsarbeiten des letzten Sommers gegangen. Aber jetzt gab es vielleicht einen Anlass, wieder öfter miteinander zu kommunizieren …

Leo seufzte. Natürlich durfte man nicht auf einen tragischen Todesfall hoffen, nur damit der Kommissar sich wieder mit ihr in Verbindung setzte. Warum rief sie ihn nicht einfach an und lud ihn zum Kaffee ein? Leo seufzte wieder. Sie wusste genau, dass sie dies nicht tun und stattdessen Wu-wei praktizieren würde – den Dingen ihren Lauf lassen.

Als Jennifer am nächsten Tag gegen Mittag anrief, war Leo überrascht. Ihre Nichte war in den letzten Wochen kaum ansprechbar und unerträglich mürrisch gewesen und zum ersten Mal in ihrem Leben war Leo sich mit ihrer Schwester einig – ein pubertierendes Mädchen konnte ein ziemlicher Alptraum sein.

Aber Jennys Stimme klang munter: »Das Wetter ist superschön, hast du nicht Lust, mit mir Skilaufen zu gehen?«

»Ich muss arbeiten«, antwortete Leo, die sich von diesem unerwarteten Vorschlag überrumpelt fühlte.

»Ach, deine Patienten kannst du doch auch morgen behandeln«, sagte Jennifer und offenbarte, dass sie von der Ernsthaftigkeit der Tätigkeit ihrer Tante nicht unbedingt überzeugt war.

»Das kann ich nicht«, sagte Leo verärgert, »es gibt so etwas wie feste Behandlungstermine.«

»Tante Leo, bitte«, quengelte Jennifer und zog das letzte Wort endlos in die Länge. Leo warf einen Blick auf ihren Terminkalender und stellte fest, dass nur noch eine Rheumapatientin eingetragen war. Lisa Michels hatte ihren Termin am heutigen Nachmittag abgesagt – ihre Tochter war überraschend zu Besuch gekommen. Eigentlich kam Leo der Anruf ihrer Nichte sehr gelegen. Nach so vielen grauen Tagen schien endlich wieder die Sonne, und in der Nacht hatte es noch einmal Neuschnee gegeben. Außerdem betrachtete sie den Anruf als eine Art Friedensangebot, und das konnte sie schlecht ablehnen.

»Also gut, du hast Glück. Ich habe nur noch eine Patientin, um zwei Uhr könnte ich fertig sein. Wohin fahren wir?«

»Winterberg?«

»Zu weit. Dann ist es schon fast dunkel, wenn wir da sind. Wie wär’s mit Wildewiese? Da sind wir in zwanzig Minuten.«

»Wildewiese ist geil.« Jennifer hörte sich begeistert an und Leo musste grinsen. Wildewiese war so ziemlich das Gegenteil von dem, was sie sich unter geil vorstellte.

»Gut, ich hole dich ab, sobald ich hier fertig bin.«

Bevor ihre Patientin kam, suchte Leo ihre Skikleidung zusammen. Diese bestand aus einer Jeans und einem altmodischen blauen Anorak. Außerdem besaß sie alte, bleischwere Skischuhe, in denen ihre Füße wie in einem Schraubstock eingezwängt wurden. Die Skier würde sie sich leihen müssen. Darauf freute sie sich – endlich gab es die kurzen Bretter, die sie schon früher immer hatte haben wollen, aber nie bekommen hatte. Manche Erfindungen, dachte sie, hätte man wirklich schon Jahrzehnte früher machen können.

Lena Beck kam heute bereits zum fünften Mal in die Praxis, und es würde für dieses Jahr wohl die letzte Sitzung sein. Sie litt unter Heuschnupfen und benutzte die allergenfreie Zeit für eine Prophylaxe. Es waren angenehme Sitzungen in einer entspannten Atmosphäre – die Patientin hatte jetzt im Winter keine Beschwerden. Außerdem kannten sich Ärztin und Patientin schon einige Jahre und gingen vertraut miteinander um – Leo hatte schon die Teekanne bereitgestellt.

Heute war allerdings nicht der neueste Dorfklatsch ihr Thema, sondern der Tote am Staudamm. Natürlich hatte der tragische Todesfall, ohne dass ein Name genannt wurde, heute bereits im Süderländer gestanden. Lena Beck erzählte vom Sohn einer entfernten Bekannten, der sich vor Jahren in den Tod gestürzt hatte – eben dort an der Fürwiggertalsperre. Leo spürte eine Gänsehaut.

»Warum?«

»Er soll depressiv gewesen sein und hatte wohl schon oft von Selbstmord geredet. Er hat auf der Mauer des Staudamms herumbalanciert. Seine Freundin wollte ihn noch herunterholen, aber es war zu spät, er hat das Gleichgewicht verloren und ist abgestürzt.«

Mit dem Tod spielen. Und das Spiel verlieren wollen. Leos Gänsehaut war immer noch da.

Sie bat ihre Patientin, sich hinzulegen, und begann mit der Nadelung. Sie musste sich dazu zwingen, die Bilder in ihrem Kopf beiseite zu schieben. Das Ertasten des Akupunkturpunktes erforderte ihre ganze Konzentration.

Leo nadelte im Ohr die Punkte Allergie, Thymus und Interferon. Am Körper setzte sie die Nadeln auf die Hand und in die Armbeuge, auf den Unterarm und in den Ma 36 seitlich unterhalb des Knies. Zuletzt wählte sie noch einen Punkt am medialen Fußknöchel. Die Patientin hatte die Augen geschlossen, ihre Gesichtszüge waren gelöst. Leo war sicher, dass Lena Beck auch in diesem Sommer keine Probleme mit tränenden Augen, Niesen und laufender Nase haben würde.

Drei Minuten nach zwei stand Leo vor dem Haus ihrer Schwester und hupte. Während sie auf Jennifer wartete, ließ sie ihren Blick über Haus und Garten wandern. Der Neuschnee lag federleicht auf den Zweigen der üppig wuchernden Bäume und Büsche, hinter denen das kleine Giebelhaus sogar im Winter fast vollständig verschwand. Im Sommer würde kaum noch ein Sonnenstrahl durch das dichte Blätterdach dringen. Aber Ingeborg würde beteuern, dass sie sich wohlfühle in ihrer schattigen Höhle, und dass die Bäume einen hervorragenden Schutz gegen die neugierigen Blicke der Nachbarn böten. Und Leo würde sich fragen, warum die Nachbarn wohl neugierig sein sollten auf das Leben der Levermanns, das so geradlinig verlief wie die Hönnetalbahn.

Im Moment wartete Leo jedoch gespannt auf das Erscheinen ihrer Nichte und deren momentane Stimmungslage. Mit Schrecken dachte sie an ihr letztes Treffen im Café Friedei, wo Jennifer schweigend an einer Cola genippt hatte, nachdem sie Toast Hawaii und Kakao mit angewidertem Gesichtsausdruck abgelehnt hatte. Nach einer Weile war Leo aufgestanden und hatte sich wütend verabschiedet. Sag mir bitte, wann deine Pubertät vorbei ist. Dann bin ich wieder deine Tante.

Jennifer kam in einem knallroten Skianzug aus dem Haus und verstaute ihre Skier im Kofferraum des Variant. Dann ließ sie sich mit Schwung auf den Beifahrersitz fallen. »Weißt du noch, als wir mal mit dem Schlitten umgekippt sind und in diesen fetten Typen reingerast sind?« fragte sie statt einer Begrüßung und bekam einen Lachanfall.

»Das war gar nicht lustig«, sagte Leo streng und war gleichzeitig erleichtert über die gute Laune ihrer Nichte. Mühsam ihre Lachanfälle unterdrückend, gab Jennifer dann noch weitere Episoden aus ihrer gemeinsamen Skisportvergangenheit zum Besten, während Leo in Richtung Sündern fuhr. Ihre Nichte erinnerte sich an viele Einzelheiten, die sie selber schon längst vergessen hatte, und Leo war gerne bereit, ihr das schlechte Benehmen der letzten Wochen zu verzeihen.

Es war ein wunderschöner Tag. Nach zwanzig Minuten fuhren sie an dem riesigen Windrad vorbei, dessen Anblick in der weißen Winterlandschaft sich nur ertragen ließ, wenn man von seinem Nutzen überzeugt war, dann hatten sie Wildewiese erreicht.

Das Skigebiet war überschaubar. Es bestand aus zwei Abfahrten von geringer Länge, deren Schwierigkeitsgrad selbst für Leo kein Problem darstellten. Einer der beiden Lifte war in Betrieb, wie sie mit Erleichterung feststellte, denn die Betreiber entschieden dies spontan nach der jeweiligen Schneelage.

Leo lieh sich ein Paar moderne, kurze Bretter, dann kurvte sie vorsichtig den Hang hinunter. Aber schon nach wenigen Minuten kehrte das Gefühl für die Skier an ihren Füßen zurück, und sie wurde mutiger. Außer ihr war nur noch eine Handvoll Skifahrer auf der Piste unterwegs, und sie konnte ungeniert von einer Seite des Abhangs zur anderen kreuzen. Jennifer schien alle Pistenrekorde brechen zu wollen und stieß jedes Mal einen spitzen Schrei aus, wenn sie wedelnd an ihrer Tante vorbeizog. Leo tröstete sich mit dem Gedanken, dass ihre Nichte immerhin schon im Kindergartenalter auf Skiern gestanden hatte, während sie selbst ihren Schlitten mühsam eine verschneite Kohlenhalde in Dortmund-Hörde hinaufgezogen hatte.

Sie fuhren, bis die Sonne hinter den Bergen verschwunden war und der Lift seinen Betrieb einstellte. Dann gingen sie zusammen ins einzige Gasthaus des Dorfes. Auf einer Schiefertafel wurde selbstgebackener Käsekuchen angeboten, und sofort meldete sich der Hunger bei Leo.

Nachdem Leo den Strauß Trockenblumen auf die Fensterbank geräumt hatte, bestellten sie Cola und Apfelschorle, dazu zwei Stücke Käsekuchen mit Sahne. Die Wangen von Jennifer glühten und Leo fand, dass es eine Wonne war, ihrer Nichte zuzusehen, wie sie ihren Kuchen verschlang. Sie sah nicht danach aus, als hätten die Wirren und Ängste des vergangenen Jahres irgendwelche Spuren hinterlassen. Nachdem die Kellnerin Jenny ein weiteres Stück Käsetorte gebracht hatte, fand Leo, dass es nun an der Zeit für ein paar überfällige Fragen war.

»Was macht die Schule?« Diesmal wurde die Frage jedenfalls ansatzweise beantwortet.

»Ganz gut. Vielleicht mache ich ja doch weiter bis zum Abi. Mathe ist ätzend. Englisch ist okay.« Dann folgte eine genaue Analyse der beliebtesten und unbeliebtesten Lehrer und Mitschüler. Leo hätte gern etwas über Unterrichtsinhalte und Noten erfahren, aber diese Dinge spielten in Jennifers Schulalltag zurzeit wohl eine untergeordnete Rolle.

Irgendwann gelang es Leo, eine weitere Frage zu stellen, die ihr schon sehr lange auf der Zunge lag.

»Triffst du dich noch mit Jan Krebbers oder gibt es einen anderen Mann in deinem Leben?« Jennifer sah ihre Tante an und grinste. Sie schob noch ein Stück Kuchen in den Mund und antwortete mit vollem Mund: »Na ja, nicht so direkt.«

»Also indirekt.« Leo war gespannt.

»Ich habe da jemanden kennengelernt. Aber ich weiß noch nicht, ob … also, ich glaube, er hat noch eine Freundin. Aber er will mit ihr Schluss machen. Sie waren auch gar nicht richtig zusammen. Auf jeden Fall …« Jenny knüllte energisch ihre Serviette zusammen. »Wir sehen uns ziemlich oft, und er ist… supernett.«

»Geht er in deine Klasse?«

»Nein, natürlich nicht.« Jennifer sah ihre Tante an, als habe sie eine Klapperschlange aus der Tasche gezogen.

»Tom ist ganz anders als diese … kleinen Jungs.« Es hörte sich trotzig an, und auf einmal schrillten Alarmglocken in Leos Kopf.

»Wie alt ist er denn?«

»Tante Leo, das spielt doch wirklich keine Rolle. Er versteht mich, und ich verstehe ihn. Alles andere ist doch unwichtig.« Jennifer hörte sich sehr erwachsen an.

»Also, wie alt ist er?«

»Tante Leo, sei doch nicht so altmodisch. Es ist doch normal, wenn Männer Frauen lieben, die dreißig Jahre jünger sind. Guck doch mal in die Zeitung!« Da hat sie leider recht, dachte Leo, aber es heißt noch lange nicht, dass ich eine solche Kombination bei meiner Nichte tolerieren würde.

»Also?« wiederholte sie kampflustig.

Jennifer lachte. »Also, damit du beruhigt bist: Er ist sechsundzwanzig und heißt Thomas Wagner. Er arbeitet bei den Lüdenscheider Nachrichten, lernt aber noch. Im nächsten Jahr ist er dann Redakteur oder so. Stell dir vor, ich hab ihn hier in Balve kennengelernt, er hat eine Adresse gesucht und hat zufällig mich gefragt.«

»Welche Adresse suchte er denn?«

»Ach, er hat erzählt, dass er Journalist ist und eine Reportage über das internationale Reitturnier machen will.«

»Aber das findet doch erst im Sommer statt!«

»Na ja, über die Vorbereitungen und über die Reitervereine und so. Er wollte jedenfalls nach Wocklum.« Jenny hörte abrupt auf zu reden, wahrscheinlich wusste sie, welche Frage jetzt auf sie zukam.

»Und du bist also in das Auto eines wildfremden Mannes gestiegen?«

Jennifer stöhnte. »Es war helllichter Tag, und er hat mir seinen Presseausweis gezeigt. Außerdem fährt er einen hellblauen Mercedes mit Heckflügeln«, fügte sie schnell hinzu, als sei es ausgeschlossen, dass ein Sexualtäter ein solches Auto fuhr.

Leo musste gegen ihren Willen grinsen. Dann fragte sie:

»Weiß deine Mutter von dieser neuen Freundschaft?«

Jennifer schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht. Sie macht doch gleich wieder Theater. Tom ruft mich auch nur auf meinem Handy an. Aber irgendwann erzähle ich es natürlich Ma. Nur nicht sofort.« Leo hatte großes Verständnis für die Zurückhaltung ihrer Nichte. Ihre Schwester Ingeborg hatte nicht die leiseste Ahnung von der Gefühls- und Gedankenwelt ihrer Tochter.

Mit einem Gemisch aus Liebe und Sorge betrachtete Leo das kleine Gesicht ihrer Nichte, auf deren Wangen immer noch ein Hauch frischer Röte lag. Meine Ersatztochter, dachte sie, es soll ihr gut gehen, ich werde nicht zulassen, dass man ihr weh tut. Einen winzigen Moment lang sah sie das Bild eines jungen Mannes vor sich, der auf der Mauer eines Stausees balancierte.

»Findest du nicht, dass er trotzdem ein paar Jahre zu alt für dich ist? Hat er nicht ganz andere Interessen als du?«

Jennifer schüttelte den Kopf. »Wir verstehen uns sehr gut.« Leo hörte an ihrem Tonfall, dass dieses Thema damit beendet sein sollte. Nun gut, dachte Leo, vielleicht ist es einfach zu früh, um darüber zu sprechen. Sie würde ihre Nichte und den Journalisten im Auge behalten.

Leo stellte die traurigen Trockenblumen wieder zurück auf den Tisch und winkte nach der Kellnerin.

»Wollen wir gehen?« fragte sie.

»Okay. Ich muss sowieso noch Hausaufgaben machen.« Jennifer wurschtelte sich wieder in ihren Skianzug, während Leo die Rechnung bezahlte. Draußen war es dunkel geworden. Der Himmel war wolkenlos, und man konnte die Sterne sehen. Sie blieben stehen, und Jennifer lehnte ihren Kopf an Leos Schulter. Der Nordstern glitzerte und überstrahlte alle anderen Sterne. Es war vollkommen windstill.

Hast du das Geheimnis des Himmels geschaut, kannst du dem Weg des Himmels folgen, dir seine Weite und Spontaneität aneignen, dich von Zwängen befreien und absichtslos handeln.

Auf der Heimfahrt kringelte sich Jennifer in ihrem Sitz zusammen. Vielleicht schlief sie, oder sie dachte an ihren neuen Freund. Leo nahm sich vor, kein vorschnelles Urteil zu fällen. Man muss abwarten, dachte sie. Die Dinge entwickeln sich oft ohne unser Zutun.

2

Als Leo die Haustür aufschloss, hörte sie ein lautes Gepolter aus der Küche. Erschrocken blieb sie im Flur stehen. Dann sprang Schakal mit einem Hechtsprung an ihr hoch. Im gleichen Moment fiel ihr ein, was den Lärm verursacht hatte. Sie hatte heute Morgen drei Plastikschüsseln auf dem Küchentisch verteilt, um ihrem Hund endlich seinen Lieblingsplatz zu verleiden. Offensichtlich war ihr das nicht gelungen. Sie seufzte und hängte den hässlichen blauen Anorak in die dunkelste Ecke der Garderobe.

Dann hob sie die Schüsseln vom Küchenboden auf und stellte sie in die Spüle. Sie musste sich wohl eine andere Methode der Vertreibung ausdenken. Im Wohnzimmer warf sie einen Blick auf den Anrufbeantworter und drückte auf den Wiedergabeknopf. Die leicht verzerrte Stimme von Hauptkommissar Plate drang in den Raum. Er bat um sofortigen Rückruf, und es klang nicht so, als wolle er sie zum Kaffeetrinken einladen. Leo sah auf die Uhr. Es war kurz vor acht, und wahrscheinlich war der Kommissar nicht mehr in seinem Büro. Trotzdem wählte sie ohne zu zögern seine Nummer, die sie, wie ihr erst dann auffiel, immer noch auswendig wusste.

»Schön, dass Sie zurückrufen«, sagte der Kommissar, und Leo spürte bereits in diesen nichtssagenden Worten eine Anspannung in seiner Stimme. »Ich weiß nicht, ob Sie es schon aus den Medien wissen … Wir haben an der Fürwigge einen Toten gefunden.« Er machte eine Pause und wartete offenbar auf ihre Antwort.

»Ich habe den Bericht im Fernsehen gesehen«, sagte Leo schnell und zögerte einen Moment, ehe sie hinzufügte: »Es war also kein Selbstmord?«

»Wir sind noch nicht sicher. Es gibt aber einige Spuren auf der Brücke, die darauf schließen lassen, dass der Mann gewaltsam hinuntergestürzt wurde. Auf jeden Fall hat er Wasser in der Lunge – und das bedeutet, dass er noch gelebt hat, als er unten im Überlaufbecken aufschlug.«

»Haben Sie ihn denn identifizieren können?«

»Ja. Und das ist auch der eigentliche Grund meines Anrufes. Ich möchte Sie bitten, so schnell wie möglich nach Lüdenscheid zu kommen. Wir brauchen einige Informationen, und ich bin sicher, dass Sie uns weiterhelfen können.«

»Wer ist der Tote?«

»Ludwig Coller, der Unternehmer. Ich gehe davon aus, dass Sie ihn kennen.« Der Hauptkommissar machte erneut eine Pause und wartete auf Leos Reaktion. Tatsächlich war Leo zunächst so verblüfft, dass sie nichts sagen konnte. Ludwig Coller, der Mann, mit dem Dore Coller seit Jahren verheiratet war, und Leiter der Coller-Werke, des größten Unternehmens in Lüdenscheid. Sie hatte ihn noch vor zwei Tagen gesehen, am Abend der Ausstellungseröffnung. War er an diesem Abend ermordet worden? Es musste so sein – der Bericht war schon am nächsten Morgen ausgestrahlt worden.

»Frau Doktor Piepenstock, sind Sie noch da?«

»Ja, natürlich, entschuldigen Sie, aber … ich habe Ludwig Coller neulich noch gesehen … Er war in der Galerie im alten Rathaus, es muss der Abend gewesen sein, an dem er … gestorben ist.«

»Genau darüber möchte ich mich mit Ihnen unterhalten. Und noch über einige andere Dinge. Es tut mir leid, wenn ich jetzt so kurz angebunden bin … Können Sie morgen Vormittag ins Polizeipräsidium kommen?«

Leo würde zwei Behandlungstermine absagen müssen. Aber der Besuch beim Kommissar ging vor. Sie versprach zu kommen und beendete das Gespräch. Ein leichter Adrenalinstoß hatte ihren Herzschlag beschleunigt, es war kein unangenehmes Gefühl. Natürlich würde sie den Kommissar bei seiner Arbeit unterstützen.

Ludwig Coller war also der Tote am Fuß der Mauer gewesen. Leo suchte in ihrem Gedächtnis nach einem Bild des lebenden Ludwig Coller, aber es blieb verschwommen. Sie sah lediglich einen mittelgroßen, schlanken Mann mit einem Gesicht, das sie auf der Straße nicht wiedererkannt hätte. Sie fühlte keine Trauer, sondern lediglich ein großes Staunen und eine seltsame Benommenheit. Es gab wieder einen Toten. Und wieder einen Mörder.

Leo ging in die Küche und suchte im Schrank nach der Cognacflasche, denn sie brauchte die scharfe Wärme des Alkohols, um die Benommenheit aus ihrem Kopf zu vertreiben. Sie schüttete den spanischen Brandy in ein dickwandiges Campariglas und trank es zügig leer, ehe sie die Flasche zurück in den Schrank stellte. Der Genuss von Alkohol ließ sich eigentlich nicht mit der chinesischen Philosophie der Mäßigung vereinbaren. Aber das Mittelmaß und die Mäßigung, dachte sie, ist eben nicht jedermanns Sache.

Die Weisen der alten Zeit schliefen ohne Träume, wachten auf ohne Ängste und aßen ohne Gier.

Dann erinnerte sie sich plötzlich, dass noch eine zweite Nachricht auf dem Anrufbeantworter gewesen war, und ging zurück ins Wohnzimmer. Ihre Schwiegermutter teilte ihr mit, dass der Inhaber der Coller-Werke umgebracht worden sei, und dass sie und ihr Mann darüber sehr erschüttert seien. Sie werde morgen noch einmal anrufen, da sie den heutigen Abend nicht zu Hause, sondern bei einem Theatergastspiel im Kulturhaus verbringe.

Leo betrachtete nachdenklich das nun in einem langsamen Rhythmus blinkende Licht des Anrufbeantworters. Der Tod des reichen Unternehmers würde für viel Wirbel sorgen. Die Coller-Werke waren die größten Produzenten von Maschinenbauteilen in Deutschland. In dem riesigen Betonbau am Stadtrand waren über dreitausend Arbeiter beschäftigt. Ein Großteil der hergestellten Waren wurde exportiert, und soweit Leo wusste, liefen die Maschinen vieler großer Druckereien mit Kugellagern made in Lüdenscheid. Ludwig Coller hatte die Firma von seinem Vater übernommen, sein Großvater hatte das Unternehmen gegründet.

Oben lag ein freundlich wedelnder Schakal in ihrem Bett. Sie verscheuchte ihn energischer, als es nötig gewesen wäre. Eigentlich hatte sie nichts dagegen, dass er an ihrem Fußende schlief, aber er versuchte hartnäckig, sein Territorium auszuweiten. Und in einem Augenblick wie diesem hatte Leo das Gefühl, die ganze Welt, ihr Hund eingeschlossen, tanze ihr auf der Nase herum. Unter dem beleidigten Blick von Schakal schlüpfte sie unter die angenehm angewärmte Decke. Sie hatte die feste Absicht, sofort einzuschlafen, damit sie morgen früh frisch und munter war, wenn sie dem Kommissar gegenüber saß.

Das Wiedersehen mit dem Hauptkommissar gestaltete sich sachlicher, als Leo es sich vorgestellt und vielleicht erhofft hatte. Er drückte flüchtig ihre Hand und griff sofort wieder zum Telefonhörer. Mit einer Kopfbewegung forderte er sie auf, Platz zu nehmen. Leo stellte fest, dass ihr das Zimmer im Polizeipräsidium vertraut vorkam, viel vertrauter jedenfalls als der Kommissar. Die Kaffeemaschine auf der Fensterbank brodelte immer noch und musste dringend entkalkt werden.

Es dauerte eine Weile, bis Hauptkommissar Plate sein Telefongespräch beendet hatte, und Leo hatte währenddessen Zeit, ihn zu betrachten. Er trug einen dunkelblauen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, ihn schon einmal in einer so eleganten Aufmachung gesehen zu haben. Für einen Moment malte sie sich aus, wie er wohl auf einem Empfang auftrat, vielleicht bei einer Feier zu seinem dreißigjährigen Berufsjubiläum oder bei seinem eigenen Geburtstag. Oder bei seiner silbernen Hochzeit. Vielleicht sollte sie ihn im Lauf des Gesprächs nach dem Anlass für seine festliche Kleidung fragen. Ihr wurde wieder einmal klar, dass sie gerne mehr über den Kommissar gewusst hätte. Und dass ihre Detektivarbeit lange nicht so aufregend wäre, wenn es nicht Kommissar Plate wäre, dem sie ihre Informationen überbrachte.

Kommissar Plate legte den Telefonhörer auf und wandte sich Leo zu.

»Kaffee?«

Leo nickte, und der Hauptkommissar suchte umständlich Tasse und Untertasse zusammen und nahm dann die Kanne aus der immer noch brodelnden Maschine.

»Schön, dass Sie es einrichten konnten, so schnell hierherzukommen«, sagte er förmlich und stellte die gefüllte Tasse vor Leo auf den Schreibtisch.

»Das war kein Problem. Ich weiß allerdings nicht, ob ich Ihnen helfen kann«, erwiderte Leo ebenso förmlich. Irgendwie hatte sie eine persönlichere Begrüßung erwartet und hatte Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen.

»Das können Sie mit Sicherheit. Erzählen Sie mir etwas über Ludwig Coller und seine Frau.«

Leo war auf diese Frage vorbereitet gewesen, allerdings war ihr schon auf dem Weg zum Polizeipräsidium klargeworden, dass sie dem Kommissar nicht viel würde berichten können. Alles, was sie wusste, hatte sie im Haus ihrer Schwiegereltern gehört, wo vor allem Dore Coller ein häufiger Gast war.

»Ich kann Ihnen erzählen, was mein Schwiegervater über Ludwig Coller gesagt hat«, meinte Leo schließlich und war entschlossen, dem Kommissar auch die kleinste Kleinigkeit mitzuteilen. »Mein Schwiegervater war der Meinung, dass Ludwig Coller sein Unternehmen in einem Stil leitete, der nicht mehr zeitgemäß war. Er hat einmal gesagt, Ludwig Coller führe sich auf wie ein Gott, der keine anderen Götter neben sich dulde. Er sei der absolute Herrscher in seinem Unternehmen und glaube immer noch, alles alleine entscheiden zu können.« Leo dachte einen Moment nach, bevor sie fortfuhr. »Ich glaube, mein Schwiegervater war ein bisschen neidisch auf Ludwig Coller. Aber er hat wohl erkannt, dass man heutzutage ein Team von Managern in der Betriebsleitung braucht, um ein Unternehmen zu führen und konkurrenzfähig zu bleiben.«

»Hat Ludwig Coller seinem Unternehmen mit diesem … veralteten Führungsstil geschadet?« fragte der Kommissar.

»Mein Schwiegervater sagt, man müsse ein Genie sein, um heutzutage ein so komplexes Gebilde wie eine große Firma ohne einen Stab von verantwortlichen und kompetenten Mitarbeitern zu führen.«

»Und ein Genie war Ludwig Coller nicht?«

»Ich kann das nicht beurteilen«, sagte Leo, »aber Genies sind ziemlich selten, oder?«

Der Kommissar reagierte nicht, sondern sah in seinen Notizblock, wo auf dem ersten Blatt nun einige Wörter in großer, schwungvoller Handschrift standen. Als er Leos Blick bemerkte, sagte er mit einem Achselzucken: »Ich gucke eigentlich nie mehr in diesen Block, aber ich behalte alles besser, wenn ich es aufschreibe.« Wie ich, dachte Leo. Sie schwiegen eine Weile, und Leo bemerkte, dass das Brodeln der Kaffeemaschine aufgehört hatte. Dafür hörte man nun den Wind, der sich pfeifend seinen Weg suchte und an den Ecken des Polizeigebäudes hängenblieb. Leo dachte an die kaputten Dachziegel auf ihrem Haus und wünschte, sie würden dieses stürmische Wetter überstehen.

»Und wie war Ihr Eindruck von Ludwig Coller?«

»Ich kenne ihn wirklich nur flüchtig. Ich glaube, er war ein sehr beherrschter Mann. Er bewegte sich so, als würde er jeden seiner Schritte im Voraus planen, steif, langsam. Und er hatte so eine eigenartige Stimme, irgendwie tonlos, ohne Höhen und Tiefen. Ich habe damals, als ich sie das erste Mal hörte, gedacht, so eine Stimme würde zu einem Menschen passen, der gehörlos ist und aus Furcht vor Übertreibungen versucht, seine Stimme ständig unter Kontrolle zu haben.«

Kommissar Plate schrieb wieder einige seiner schwungvollen Wörter. Dann sagte er: »Gut. Können Sie mir noch ein paar Personen nennen, die den Unternehmer näher gekannt haben?« Leo überlegte und nannte dann einige Namen aus dem Bekanntenkreis ihres Schwiegervaters. »Ich weiß nicht, ob Ihnen das weiterhilft. Ich glaube, Ludwig Coller hatte nicht besonders viel Freunde.«

»Dieses Gefühl habe ich auch«, sagte der Kommissar.

Er lehnte sich zurück und sah einen Moment an die Decke. Dann sagte er: »Jetzt zu seiner Frau. Sie kennen Dore Coller gut?«

»Ich kenne sie, aber sie ist nicht sehr offen, wenn es darum geht, ihre wahren Gefühle zu zeigen. Das ist nur so eine Ahnung von mir. Wir sind keine Freundinnen.« Dann berichtete Leo von der charmanten Dore Coller, die mit ihren amüsanten und geistreichen Plaudereien jedes Fest belebte, und von der Künstlerin, die ihren Stil so radikal geändert hatte und nun erfolgreich in Galerien des Sauerlandes und bald wahrscheinlich auch darüber hinaus ihre Werke ausstellte.

»Welche Art von Bildern malt Dorothee Coller eigentlich?« warf der Kommissar plötzlich ein.

Leo hatte sich inzwischen an Fragen des Kommissars gewöhnt, die scheinbar nichts mit dem Tathergang zu tun hatten. Aber den Sinn dieser Frage verstand sie sofort. »Früher malte sie gegenständlich und sehr detailgetreu, meistens Landschaften, aber auch Blumen und Porträts. Man könnte sagen, ihre Bilder waren altmodisch – aber sie ist keine Dilettantin, sie kann Stimmungen … sichtbar machen.«

Der Kommissar nickte. Dann erzählte Leo von den letzten beiden Ausstellungen der Künstlerin und ihrem Wechsel zur Fotografie. »Vielleicht ist Dorothee Coller dabei, ihre Sichtweise auf die Welt zu verändern«, bemerkte der Kommissar.

»Und auf sich selber«, fügte Leo hinzu.

»War die Ehe der Collers glücklich?« fragte der Kommissar nach einem Augenblick des Schweigens.

»Sie war es, soweit ich weiß, viele Jahre lang. Dann ist Ludwig Coller aus ihrem gemeinsamen Haus ausgezogen, vor ungefähr einem Jahr, es kann auch etwas länger her sein. Und ich habe gehört, er soll eine Freundin gehabt haben.« Der Kommissar nickte, als habe er genau diese Antwort erwartet. Dann aber konnte Leo seine Fragen nach Name, Alter und Beruf der Freundin nicht beantworten, und schließlich warf der Kommissar seinen Kugelschreiber auf den Schreibtisch, stand auf und durchquerte mit langen Schritten ein paar Mal den Raum. Er blieb vor dem Fenster stehen und sah hinaus. Die kahlen Zweige des Baumes bewegten sich heftig im Wind.

»Eine Freundin«, überlegte er laut. »Und eine verlassene Frau.« Er drehte sich wieder zu Leo um. »Dore Coller ist eine große, kräftige Frau.«

»Die ihren Mann über die Staumauer geworfen haben könnte?« ergänzte Leo, und der Kommissar nickte. Er ging wieder zu seinem Schreibtisch zurück und machte sich eine Notiz. Plötzlich schien er mit seinen Gedanken woanders zu sein. »Ich danke Ihnen für Ihren Besuch«, sagte er in Leos Richtung, »ich melde mich bei Ihnen. Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss einige Telefonate führen.« Er sah sie lächelnd an und reichte ihr flüchtig die Hand über den Schreibtisch hinweg. Leo blieb nichts anderes übrig, als »in Ordnung« zu murmeln und den Raum zu verlassen. Draußen fiel ihr ein, dass sie nicht nach dem Anlass für seinen dunklen Anzug gefragt hatte, aber das abrupte Ende ihrer Unterhaltung hatte eine persönliche Bemerkung unmöglich gemacht. Sie fragte sich, ob es überhaupt je eine Gelegenheit für persönliche Bemerkungen geben würde.

Auf dem Weg zum Weiten Blick besserte sich Leos Laune etwas. Sie hatte ihren Besuch gestern Abend telefonisch angekündigt und wusste, dass Gisela zu Hause sein würde und sich auf sie freute.

Der weitläufige Rasen rund um das Einfamilienhaus aus den fünfziger Jahren fiel zur Straße hin steil ab, und der Schneematsch hatte sich unten an der Gartenpforte in einer großen Pfütze gesammelt. Leo versuchte, sie mit einem Sprung zu überwinden, aber es gelang ihr nicht ganz, und sie platschte auf den Rand der schmutzigen Wasserlache. Sie fluchte laut und dachte schon wieder daran, dass es nun endlich Zeit für den Frühling sei. Der ewig graue Himmel und der dreckige Schneematsch gingen ihr auf die Nerven.

Sie klingelte zweimal, aber niemand öffnete. Dann drückte sie gegen die Haustür, die überraschenderweise aufsprang. Schon im Flur, der von Natur aus lang und dunkel war, quollen Leo Blumenarrangements auf barocken Tischchen entgegen, und an der Decke bauschten sich blumige Stoffbahnen. Es war der Versuch ihrer Freundin Gisela, mit einer üppigen Einrichtung von der Schlichtheit ihres Fünfzigerjahreheims abzulenken. Der überquellenden Garderobe sah man die Anwesenheit von zwei halbwüchsigen Töchtern an. Leo öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Gisela saß mit Kopfhörern in ihrem mit einem dunkelroten Überwurf dekorierten Sofa und bemerkte Leo erst, als diese ihr die Hand auf die Schulter legte. Sie schrak zusammen und nahm die Kopfhörer ab.

»Die Haustür war offen.«

»Das war Absicht. Ich höre nichts, wenn ich Kopfhörer aufhabe.«

»Was für Musik hörst du?«

»Keine Musik. Ich lerne Spanisch.« Gisela stand auf und umarmte Leo.

»Du weißt doch, das Haus im Süden. Man kann nie wissen, ich habe jedenfalls ein Jahreslos bei der Sparkasse gekauft.«

»Sollte sich das Haus nicht irgendwo in Griechenland befinden?« Leo wanderte im Zimmer herum und betrachtete die Blumenvasen auf den griechischen Säulen.

»Egal.« Gisela war mittlerweile in der Küche verschwunden. »In Spanien scheint auch die Sonne. Der wahre Grund ist aber … ich kann kein Griechisch lernen. Ich behalte es einfach nicht. Spanisch ist viel leichter.« Sie kam mit einem Tablett wieder, auf dem mit grünen Ranken verziertes Kaffeegeschirr und außerdem eine schlanke Blumenvase mit einer weißen Lilie standen. Leo musste grinsen.

»Kann es sein, dass du dich gerade in einer ziemlich blumigen Phase befindest?« Gisela sah sie überrascht an. Sie stellte die kleine Vase, die nach Jugendstil aussah, vorsichtig auf den Tisch.

»Das ist keine Phase. Ich habe beschlossen, mich nur noch mit schönen Dingen zu umgeben.« Sie arrangierte schnell und geschickt das Kaffeegeschirr auf dem Tisch. »Kuchen kommt sofort«, sagte sie. »Und du kannst schon mal überlegen, was du mir von deinem Besuch beim Kommissar alles erzählen willst – oder darfst.« Leo lehnte sich zurück und betrachtete das wilde Blumenmuster des gerafften Vorhangstoffes. Sie dachte an die nie deutlich formulierte Abmachung zwischen ihr und dem Kommissar – Leonie Piepenstock war seine Informantin. Und sie ließ nichts von dem, was sie unter vier Augen besprachen, nach außen dringen. Das wusste Gisela, aber trotzdem reizte sie der Versuch, ihre Freundin zum Sprechen zu bringen.

Gisela stellte einen selbstgebackenen Kuchen auf den Tisch. Er duftete nach geschmorten Äpfeln und Zimt. Wie schafft sie das nur, dachte Leo. Beruf, Kinder, Mann und Haushalt, alles hatte Gisela perfekt im Griff. Leo war sicher, dass sie selber schon lange an diesen vielen verschiedenen Aufgaben gescheitert wäre. Sie hatte es nicht geschafft, ihren Sohn zu erziehen und eine gute Ehe zu führen. Geschweige denn, einen so guten Apfelkuchen zu backen.

»Also?« Gisela hatte sich mit ihrem Teller im Sessel zurückgelehnt und sah Leo erwartungsvoll an.

»Nichts also. Das weißt du doch. Aber du könntest mir zur Abwechslung etwas erzählen. Über Ludwig Coller zum Beispiel und über seine Freundin.«

Gisela zog die Augenbrauen hoch. Sie war irritiert, da nun sie und nicht Leo diejenige war, die berichten sollte.

»Ich habe von der Affäre nur gewusst, was alle wussten, also nicht besonders viel. Die Collers gehören ja nicht unbedingt zu unserem Freundeskreis, wie du weißt. Aber Jochen hatte geschäftlich mit Sybille Brandscheid zu tun, und daher habe ich sie ein paar Mal gesehen. Es ging, glaube ich, um ein neues Marketing-Konzept, und Jochen hat mit ihr zusammen an einem Entwurf gearbeitet.«

Während sie sich den Apfelkuchen schmecken ließen, erzählte Gisela von Sybille Brandscheid. In Leos Vorstellung entstand das Bild einer jungen, ehrgeizigen Karrierefrau, sportlich und stets gut gelaunt und selbstverständlich immer im neuesten Designerkostüm. Die Freundin von Ludwig Coller schien die perfekte Verkörperung des modernen Zeitgeistes zu sein.

»Sybille Brandscheid ist also eine von diesen erfolgreichen, berufstätigen Frauen, die aber trotzdem ständig auf der Suche nach einem Mann zum Heiraten sind – wie Ally McBeal?« kommentierte Leo.

»Ally McBeal ist mir wesentlich sympathischer – sie hat wenigstens jede Menge komische Macken. Die scheint Sybille Brandscheid nicht zu haben.«

Gisela griff zur grünberankten Kanne und schenkte Kaffee nach. Leo legte sich ein zweites Stück Apfelkuchen auf den Teller.

»Übrigens hat sie schon vor ein paar Wochen die Stelle gewechselt. Sie arbeitet jetzt bei einer Leuchtenfabrik in Dortmund, Delucca, italienisches Edel-Design. Also der passende Rahmen.«

»Warum hat sie die Stelle gewechselt?«

Gisela zuckte die Schultern. »Vielleicht wollte ihr Chef seine Geliebte nicht im eigenen Betrieb haben. Das soll ja Vorkommen.«

Wie sollte es eigentlich mit Sybille Brandscheids Karriere weitergehen, jetzt, da ihr mächtiger Gönner nicht mehr lebte? Und seine verzweifelte Ehefrau unter dem Verdacht stand, ihren Mann in den Tod gestürzt zu haben? Aber wahrscheinlich sah die junge Frau die Dinge nur aus ihrer eigenen Perspektive. Vermutlich fand sie es höchst ungerecht von Ludwig Coller, sie auf diese Art und Weise zu verlassen.

Leo stellte ihren leeren Kuchenteller mit einem zufriedenen Seufzer zurück auf den Tisch.

»Und wer hat deiner Meinung nach Ludwig Coller umgebracht?« fragte sie ihre Freundin und war gespannt, ob Gisela wie der Kommissar zuerst an die Ehefrau dachte.

»Vielleicht hat er ja Feinde, von denen wir nichts wissen. Und verdächtig ist auch die verlassene Ehefrau. Aber …« Gisela zögerte einen Moment. »Irgendwie kann ich mir nicht recht vorstellen, wie Dore Coller ihren Mann von der Staumauer wirft.«

Sie sah Leo an, und unvermittelt mussten sie beide grinsen.

»Das ist nun wirklich überhaupt nicht lustig«, sagte Leo, aber tatsächlich war die Vorstellung, wie die grauhaarige Künstlerin in ihrem schwarzen engen Kleid und mit hohen Schuhen nachts auf einer Brücke stand und ihren Mann über eine Mauer hob, so skurril, dass ein Grinsen erlaubt sein musste.

»Nein, natürlich nicht.« Gisela widmete sich eine Weile ihrem Kuchen, dann sagte sie: »Also, ich denke, dahinter steckt irgendeine Firmenangelegenheit. Er war als Chef sehr unbeliebt. Oder er hat sich auf illegale Geschäfte eingelassen. Man hört doch so einiges, in den Medien, meine ich, Waffen- oder Drogenschmuggel…«

Leo musste lachen. »Wie kommst du denn darauf? Ich kann mir Ludwig Coller nicht vorstellen, wie er mit Gangstern an einem Tisch sitzt und über die Lieferung von Drogen oder Waffen verhandelt!«

»Warum nicht? Er hatte viel Geld und wollte wahrscheinlich noch mehr. Vielleicht hat man ihm ein lukratives Angebot gemacht. Er kaufte diese… Sachen und verkaufte sie für das Zehnfache. So läuft das doch heutzutage.«

»Und warum ist er dann umgebracht worden?«

»Er wollte den geforderten Preis nicht zahlen. Er wollte aussteigen aus dem Geschäft. Keine Ahnung. Wo viel Geld im Spiel ist, versagt jede Moral. Immer dann, wenn es um Geschäfte geht, wird mehr gemauschelt und betrogen, als wir uns das vorstellen können. Und je größer die Geschäfte, desto größer die Mauschelei.«

In der folgenden halben Stunde suchten sie nach Beispielen für diese These und kamen letztendlich zu dem Schluss, zu dem sie immer kamen, nämlich dass die Welt ungerecht sei.

Dann erzählte Gisela von ihrem Familienleben, und Leo musste sich über unverschämte Töchter, die ihre Mutter wie eine Hausangestellte behandelten, und einen nur zu den Mahlzeiten anwesenden Ehemann aufregen – und über eine Gisela, die das alles mit stoischer Geduld ertrug.

»Kündige deinen Job im Büro und fahr auf deine spanische oder griechische Insel. Und deine Familie soll sehen, wie sie ohne dich klarkommt«, schlug sie wenig realistisch vor.

Gisela lächelte Leo an. Aber es schimmerten auf einmal Tränen in ihren Augen. Niemals würde Gisela ihre Familie verlassen, nicht einmal für vier Wochen. Leo wusste, dass sie selber damit keine Probleme gehabt hätte. In ihren versteckten männlichen Genen hätten sich Egoismus und Selbstschutz zu Wort gemeldet und sie vor dieser tyrannischen Familie gerettet.

Als sich die beiden Frauen an der Haustür zum Abschied umarmten, fühlte Leo den warmen Rücken und die mollige Taille ihrer Freundin. Ein Gefühl von Zuneigung und Vertrauen stieg in ihr auf. »Komm mich bald besuchen«, sagte sie, und Gisela nickte.

»Gerne, wenn ich Zeit habe und meine Familie mich ziehen lässt.«

Dann wird wohl nie etwas daraus, dachte Leo, während sie sich durch den Schneematsch zurück zur Straße kämpfte.

3

Als Leo in ihrem Variant saß, drehte sie nacheinander die Heizung und dann das Radio voll auf. Sie hatte keine Lust mehr, sich Gedanken über Todesfälle oder schwierige Familienverhältnisse zu machen, vor allem dann nicht, wenn nicht die Spur einer Lösung in Sicht war.