Tropfen auf kalten Stein - Ulla Schneider - E-Book

Tropfen auf kalten Stein E-Book

Ulla Schneider

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Beschreibung

Wer jung stirbt, den lieben die Götter. Mord auf offener Bühne! Doch wer kann den Hauptdarsteller, den attraktiven Andrea Merschmann, umgebracht haben? Die Kriminalpolizei aus Lüdenscheid tappt im dunkeln, denn es gibt weder klare Mordmotive noch Spuren eines Täters. Hauptkommissar Plate bittet die Ärztin Leo Piepenstock als Kennerin des Mordumfeldes um Mithilfe, denn ihre Nichte war eine Klassenkameradin des Toten. Doch dann wird eine weitere Leiche gefunden, und lähmende Angst legt sich über die Kleinstadt. Schließlich wird Leo in den Strudel der furchtbaren Ereignisse hineingezogen ... Packend und treffsicher erzählt Ulla Schneider in ihrem Debütroman von einer rätselhaften Mordserie und einer engagierten Frau, die unfreiwillig zur Privatdetektivin wird.

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Seitenzahl: 371

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Ulla Schneider

Tropfen auf kalten Stein

Copyright der E-Book-Ausgabe © 2012 bei hey! publishing, München

Originalausgabe © 2003 bei Piper Verlag, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.

Umschlaggestalltung: ZERO Werbeagentur, München

Umschlagabbildung: FinePic®, München

ISBN 978-3-942822-13-8

Von Ulla Schneider zuletzt bei hey! erschienen:

Grüne Wasser sind tief. Roman

Qi bildet den menschlichen Körper

so wie Wasser zu Eis wird.

Wenn das Eis schmilzt, wird

es wieder zu Wasser.

Wenn der Mensch stirbt,

wird er wieder zu Geist.

1

Der Regen strömte von einem bleigrauen Himmel herab. Die Pfützen in der festgestampften Erde auf dem Parkplatz vergrößerten sich stetig, so dass die Besucher noch einige Augenblicke zögernd in ihren Wagen saßen, ehe sie einen vorsichtigen Schritt nach draußen wagten.

In orangeroten Umhängen mit heruntergezogenen Kapuzen kamen die Ordner an die halb geöffneten Fensterscheiben, um feuchte Parkscheine auszuhändigen.

Leonie Piepenstock war auf einen der wenigen noch freien Parkplätze gefahren und suchte in ihrer Tasche nach Geld. Sie kannte den jungen Mann, der ihr mit einem freundlichen Lächeln einen Zettel durch das Fenster reichte. Er war ein Mitschüler ihrer Nichte Jennifer, die in dieser Saison unter die Schauspieler gegangen war.

»Sebastian?« fragte sie vorsichtshalber.

Er nickte und sagte: »Hoffentlich haben Sie eine Decke mit, oben ist es verdammt kalt.«

Das wusste Leo aus Erfahrung. Sie zog einen alten Schlafsack hervor und stopfte ihn unter ihren Mantel, damit er einigermaßen vor den Regenfluten geschützt war. Dann sprang sie über die nächste Pfütze und versuchte möglichst schnell den steilen Weg zur Höhle hinaufzulaufen.

Oben vor dem Eingang drängten sich bereits die Besucher, die möglichst rasch ins Trockene kommen wollten. Der Eingang der Höhle, sonst eine imposant gerundete Öffnung im Fels, war jetzt mit den Stahlrohren und Brettern der Zuschauertribüne zugebaut, die von innen zum Höhleneingang hin steil nach oben anstieg.

Der Betonboden war glitschig von der hereingetretenen Erde, und Leo ärgerte sich über ihre ungeeigneten Schuhe mit den glatten Sohlen, die bereits durchweicht waren und ihre Füße während der langen Aufführung in kalte Klumpen verwandeln würden.

Die Plätze waren numeriert, und sie landete ziemlich weit hinten, wahrscheinlich, weil sie ihre Karte so spät gekauft hatte. Sie versuchte ihren Schlafsack so über sich zu drapieren, dass er möglichst viele Körperteile bedeckte, und suchte nach ihrem Programmheft.

»Der arabische Prinz« stand in dieser Saison auf dem Programm, Jennifer würde eine der bezaubernden Haremsdamen spielen. Wahrscheinlich in Ermangelung reiferer Darstellerinnen hatte die Spielleitung auf vierzehnjährige Schülerinnen zurückgreifen müssen.

Die hölzernen Ränge füllten sich allmählich, im Publikum waren hauptsächlich Kinder und deren Eltern. Der Geräuschpegel stieg und erreichte langsam unangenehme Höhen. Leo konzentrierte sich auf die Hinterköpfe der vor ihr Sitzenden und versuchte sie zu identifizieren. Eigentlich hatte sie erwartet, jede Menge Bekannte zu treffen, aber es waren offenbar viele Zuschauer von außerhalb da. Die Balver Sommerspiele waren seit Jahren eine Attraktion, und die Reisebusse kamen aus dem gesamten Märkischen Kreis und sogar aus dem Ruhrgebiet, um sich die Aufführungen anzusehen.

Einige Reihen vor sich entdeckte Leo schließlich einen bekannten Hinterkopf. Er gehörte Richard Schwartpaul, der neben seiner Enkeltochter saß, die ihm gerade eine Ladung Popcorn in den Mund stopfte. Leo hatte ihn schon heute Morgen in seiner Apotheke begrüßt, und er hatte ihr erzählt, dass er am Nachmittag in die Höhle gehen würde.

Sie kannte Richard seit ihrer Studienzeit. Er war der erste gewesen, der sie damals, als sie die Stelle in Balve angenommen hatte, auf einen Kaffee zu sich nach Hause eingeladen hatte. Leo erinnerte sich noch sehr gut an die gestärkte Leinendecke, die dünnen Tassen mit dem Goldrand und den koffeinfreien Kaffee, den seine Frau gekocht hatte. Dieser Besuch war einer der ersten Eindrücke in ihrer neuen Heimat gewesen.

Der dröhnende Lärm, der plötzlich aus den Lautsprechern ertönte, riss sie aus ihren Erinnerungen. Sie brauchte einige Sekunden, um die scheppernden Klänge als arabische Musik zu identifizieren. Dann pendelte sich die Lautstärke ein, und die Kinder im Zuschauerraum verstummten. Leo beobachtete fasziniert, wie in der kalten Sauerländer Höhle tatsächlich so etwas wie eine orientalische Atmosphäre entstand. Die schroffen Felswände erstrahlten in bengalisch grünem und rotem Licht, Halbmonde wurden an die Höhlendecke projiziert, Minarette und ein üppiger Sultanspalast verdeckten den dunklen hinteren Teil der Grotte.

In einer finster geschminkten Räubergestalt erkannte Leo ihren Friseur, dessen Sauerländer Tonfall unverkennbar war. Sie blätterte im Programmheft und fand noch andere bekannte Namen. Amüsiert identifizierte sie den unbeweglichen Wächter des Palastes mit seinen gelben Pluderhosen und dem blitzenden Dolch als den Besitzer der größten Backwarenfabrik der Gegend. Der Leiter der Volksbank hatte die Rolle eines ziemlich albernen Eunuchen übernommen, was Leo sehr mutig fand.

Ihre Nichte Jennifer trat mit vier weiteren Haremsdamen auf, die vorschriftsmäßig Bauch und Hüften schwenkten, so wie sie es im Volkshochschulkurs gelernt hatten. Neben ihren üppigen Mittänzerinnen sah Jenny klein und dünn aus, aber sie bewegte sich gelenkig in ihrem durchsichtigen pinkfarbenen Rock, unter dem sie eine Jogginghose trug. Leo betrachtete sie gerührt und dachte an das stille Mädchen, dem sie zum sechsten Geburtstag Ballettschuhe geschenkt hatte, weil dies ihr sehnlichster Wunsch gewesen war. Jennifer war darin in der Wohnung herumstolziert und hatte sich als Ballerina gefühlt. Irgendwie hatte sie es nie geschafft, eine Tanzschule zu finden, dann waren die Schuhe zu klein geworden, in eine Schublade gewandert, wo sie vergessen wurden.

Dann erschien der arabische Prinz.

»Er ist einfach voll süß«, so hatte Jennys umfassende Charakterisierung des jungen Schauspielers gelautet. Schon nach zehn Sekunden war Leo ihrer Meinung. Dem orientalisch kostümierten jungen Mann, der eigentlich Andrea Merschmann hieß (seine Mutter ist Italienerin, hatte Jennifer seinen für deutsche Ohren weiblich klingenden Vornamen erklärt), war vom ersten Augenblick an die Gunst des Publikums sicher.

Leo beugte sich auf der unbequemen Holzbank weiter vor. Das hatte sie nicht erwartet. Andrea war ein eleganter und liebenswürdiger Prinz, bereit und fähig, jedes Herz zu brechen. Dabei wurden ihm nicht einmal seine spitzen Schuhe und seine unförmige Pluderhose zum Hindernis. Mühelos betörte er eine Haremsdame nach der anderen, und jedem war klar, dass ihm auch die Prinzessin bei der ersten Begegnung bedingungslos verfallen würde, ganz gleich, mit welch geschraubten Worten der Prinz sich ihr näherte.

Andrea wollte nur die Hauptrolle und nichts anderes spielen, hatte Jenny ihr erzählt. Damals hatte Leo das arrogant gefunden. Jetzt musste sie zugeben, dass Andrea Merschmann di Antonio sein Talent, zumindest aber seine Ausstrahlung, richtig eingeschätzt hatte. Leo fühlte, wie sich ihre Füße unter der Schlafsackhülle langsam erwärmten, und begann die Aufführung zu genießen.

Als ein muskulöser Geist mit kahlem Kopf und Ohrringen als riesige Diaprojektion auf der Felswand erschien, wurden die Kinder einen Moment still vor Staunen. Dann verschwand der Geist erwartungsgemäß in einer kleinen Kupferkanne, und aus dem Lautsprecher ertönte die Ankündigung, dass nun eine Viertelstunde Pause sei.

Die Holzbänke leerten sich, und auch Leo legte den Schlafsack beiseite und ging nach draußen. Vor der Höhle gab es einen Stand mit Getränken und Süßigkeiten. Es regnete noch immer. Leo stellte sich unter das Dach des Verkaufsstandes und hielt Ausschau nach Bekannten, doch heute schien der Tag der Touristen zu sein. Auch Richard Schwartpaul war nirgendwo zu sehen.

Dann fühlte sie eine Hand auf ihrer Schulter. Sie drehte sich um und sah in das Gesicht von Paul Reininghaus, das zur Hälfte von einer Kapuze verdeckt war. »Soll ich dir ein Bier spendieren? Mit Alkohol lässt es sich besser ertragen.«

»Wieso ertragen?« Leo war ehrlich erstaunt über diese abfällige Bemerkung. Immerhin war Paul zuständig für Licht und Ton der Aufführungen und opferte viel Freizeit für den Theaterverein. Im wirklichen Leben war er Lehrer für Deutsch und Biologie am Städtischen Gymnasium Balve, und außerdem war er einmal für kurze Zeit der Mann gewesen, von dem Leo geglaubt hatte, er sei der richtige für sie.

»Allmählich hasse ich diesen ständigen Lärm.« Paul schob die tropfende Kapuze vom Kopf. Seine Haare standen in die Höhe, was nicht besonders vorteilhaft aussah. Dann holte er zwei Dosen Warsteiner, und sie standen dicht nebeneinander unter dem schützenden Dach des Verkaufsstandes. Der vertraute Geschmack des kühlen Bieres, der tropfende Regen und die Anwesenheit von Paul ließen plötzlich und unerwartet ein Gefühl von Geborgenheit in Leo aufsteigen. Sie konnte einen kleinen Seufzer nicht unterdrücken. Dabei wusste sie, dass dieses angenehme Gefühl nicht lange andauern würde.

Paul nahm ihren Arm. »Ich muss zurück an die Arbeit. Wie wär’s mit einem richtigen Pils nach der Aufführung? Allerdings müsstest du eine Viertelstunde auf mich warten.«

Leo nickte. Natürlich würde sie auf ihn warten, auch länger als eine Viertelstunde. Aber diese Tatsache schien Paul einfach ignorieren zu wollen.

Der Platz vor der Höhle war plötzlich menschenleer, und Leo schlitterte hastig durch den glitschigen Gang zurück zu ihrem Platz. Die plötzlich einsetzende orientalische Musik übertönte nur mühsam den Lärm der jungen Zuschauer.

Leo freute sich schon auf den Auftritt des Prinzen, als die Musik plötzlich abbrach. Ein Scheinwerfer richtete sich auf die Bühne, und die Zuschauer verstummten. Der Anblick des Mannes im dunklen Anzug vor der orientalischen Kulisse war irritierend. Er hielt ein Mikrofon in der Hand und räusperte sich. Dann hörte man seine unbeholfene Stimme:

»Meine Damen und Herren, es tut mir leid, wir müssen die Aufführung abbrechen.« Er machte eine Pause und räusperte sich erneut. »Es ist ein Unglück geschehen. Es betrifft unseren Hauptdarsteller. Wir haben schon die Polizei benachrichtigt. Ich muss Sie leider bitten, die Höhle zu verlassen.«

Die Zuschauer verharrten schweigend auf ihren Sitzen, bis die ersten Kinder anfingen, laute Fragen zu stellen.

»Sie können ihr Eintrittsgeld an der Kasse zurückbekommen, oder wenden Sie sich bitte an den Theaterverein. Es tut mir leid.« Der Mann machte einen Schritt rückwärts und fügte noch schnell hinzu: »Wenn ein Arzt im Publikum sein sollte, möchte ich ihn bitten, hinter die Kulissen in die Garderobenräume zu kommen.«

Leo starrte auf die Bühne. Der grelle Scheinwerfer warf seinen Lichtkegel auf die Zwiebeltürme des arabischen Palastes. Sie stand langsam auf, rollte den Schlafsack zusammen und ging durch den langen, feuchten Gang auf die Bühne zu, in der Hoffnung, irgendwo zu den Kulissen zu gelangen.

Die schwarze Perücke war verrutscht und verdeckte halb das Gesicht des Toten. Hellbraune Haare quollen darunter hervor. Die Beine in den blauen Pluderhosen lagen abgeknickt über dem Rand eines großen geflochtenen Korbes, der Oberkörper war eingesunken in einer Wolke aus bauschigem Stoff. Schrillbunte Kostüme aus Tüll, Seide und Satin bedeckten die Brust des jungen Mannes, dessen Kopf auf einem dunkelroten Chiffonrock lag.

»Frau Doktor Piepenstock.« Die Gesichtsfarbe des Mannes im dunklen Anzug war ins Gelbliche umgeschlagen. »Bitte, vielleicht können Sie noch etwas tun. Wir haben ihn gerade gefunden.« Leo trat dicht neben den Kleiderkorb und sah auf die leblose Gestalt hinunter. Auch im Tod war Andrea Merschmann von einer zarten und gleichzeitig wilden Schönheit. Ein Prinz aus einer anderen Welt. Die geschminkten roten Lippen waren wie zu einem Lächeln verzerrt, die Augen sahen starr hinauf zur Höhlendecke.

Leo beugte sich vorsichtig über das makellose junge Gesicht und wartete wider besseres Wissen darauf, dass sie ein schwacher Atemzug des Prinzen streifen würde. Dann legte sie ihre Finger an die Halsarterie des Toten, doch sie spürte nichts.

»Wir haben die Polizei gerufen«, sagte der Mann hinter ihr. »Sie muss jeden Moment kommen. Er ist tot, nicht wahr? Das sieht man ja irgendwie sofort.«

Leo nickte.

»Ich kann nichts mehr für ihn tun.« Sie richtete sich auf. Der Körper des Toten schien noch tiefer in die bunten Kostüme eingesunken zu sein, und Leo sah, dass sich ein dunkelroter Fleck auf dem türkisgrünen Tüll ausgebreitet hatte.

Sie fühlte, wie ihr schwindelig wurde, und wandte sich rasch ab. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Sie war Ärztin, aber sie konnte den Anblick des Todes nicht ertragen. Die Ungerechtigkeit, mit der er zuschlug. Wer jung stirbt, den lieben die Götter. Leo dachte an die Eltern des Jungen. Für sie musste dieser Spruch der blanke Hohn sein.

Leo ging so schnell wie möglich Richtung Ausgang. Als sie die Tücher, die den Garderobenraum abtrennten, hastig zur Seite zerrte und nach draußen trat, standen dort schweigend die Mitglieder der Schauspieltruppe. Einige hielten sich umschlungen und weinten.

Auch ihre Nichte stand schluchzend an die dunkle Felsenwand gelehnt. Sie trug noch ihre Jogginghose und hielt krampfhaft einen zerdrückten Schleier in der Hand. Leo nahm das zitternde Mädchen in den Arm.

»Komm, ich bringe dich nach Hause«, sagte sie. Jennifer schüttelte den Kopf.

»Das geht nicht. Die Polizei will mit uns reden. Sagst du Mama Bescheid?«

Leo nickte und wischte ihrer Nichte mit dem Finger vorsichtig über die nasse Wange. Natürlich, die Polizei musste den Täter ermitteln. Sie schauderte, gab Jennifer noch einen Kuss und ging, so schnell sie konnte, hinaus ins Freie. Draußen vor der Höhle holte sie tief Luft. Dann lief sie zum Parkplatz hinunter. In der Ferne hörte sie das Martinshorn eines Polizeiautos.

Wie in Trance fuhr sie nach Hause, die regennasse Hauptstraße entlang und dann die steile Bergstraße hinauf. Ein Mord in der Balver Höhle. Es war so unglaublich, dass sie es leise ein paar Mal vor sich hinmurmelte.

Ihre Gedanken wanderten ziellos durch die Ereignisse und Eindrücke der letzten halben Stunde und blieben schließlich an einem silbernen Gegenstand hängen. Auf dem Boden des kahlen Raumes hatte ein langes Messer, vielleicht ein Säbel, gelegen. Es war eine Waffe gewesen, da war sie sich sicher, eine Waffe mit einem verschnörkelten glänzenden Griff, wie sie viele der männlichen Darsteller getragen hatten.

Aber konnte man mit einem solchen Theaterdolch jemanden erstechen? Leo schauderte. Aber vermutlich war das Material zu leicht und zu biegsam. Viel wahrscheinlicher war, dass der Dolch Andrea gehörte und er ihn beim vergeblichen Kampf gegen seinen Mörder verloren hatte.

Als Leo ihre Haustür aufschloss, hörte sie das freudige Winseln ihres Hundes. Er kam aus der Küche gestürzt, wo er wahrscheinlich wieder auf dem Tisch gelegen hatte, und sprang sie so ungestüm an, als wäre sie wochenlang nicht zu Hause gewesen. Das Begrüßungsritual zog sich hin, bis sie endlich zum Kühlschrank ging und ihn mit einer Scheibe Käse beruhigte. Dann sah er sie schwanzwedelnd an.

»Es ist etwas Schreckliches passiert«, sagte Leo. Sie kniete sich neben ihn und drückte einen Moment ihr Gesicht in das warme Fell des Tiers.

»Komm mit, wir müssen noch einen kleinen Rundgang durchs Haus machen.« Sie ging von einem Zimmer ins andere und prüfte, ob alle Fenster und Türen geschlossen waren. Im oberen Stockwerk versuchte sie die beiden Fensterläden zu schließen, aber die Verankerungen waren offenbar eingerostet, denn die Läden ließen sich nicht mehr vor die Scheiben ziehen.

Sie gab ihr Vorhaben auf und schob stattdessen unter viel Mühe den Riegel vor die Haustür. Auch diese Schutzvorrichtung hatte sie noch nie benutzt. Als ihr einfiel, dass Schakal noch mal vor die Tür musste, öffnete sie das Küchenfenster und scheuchte den verwirrten Hund durch diesen ungewohnten Ausgang nach draußen. Sie wartete zwei Minuten, dann rief sie ihn zurück. Schakal war dank seiner langen dünnen Beine ein Weltmeister im Hochsprung.

Dann ging Leo zum Telefon und rief ihre Schwester an. Wie sie erwartet hatte, reagierte Ingeborg ziemlich emotionslos auf die schreckliche Nachricht. Mit ihrer kühlen Stimme erkundigte sie sich bei Leo, wie lange die Zeugen wohl verhört würden, denn sie wollte sich darauf einstellen, wann sie ihre Tochter abholen könne. Leo wusste es nicht und hatte außerdem nicht die leiseste Lust, noch weiter mit ihrer Schwester zu sprechen.

Nachdem sie das Gespräch ziemlich abrupt beendet und den Hörer aufgelegt hatte, nahm sie die Flasche mit spanischem Cognac vom Regal, kochte einen heißen Kakao und mischte beides im Verhältnis eins zu eins. Dann setzte sie sich im Wohnzimmer auf ihr geblümtes englisches Sofa und trank in kleinen Schlucken.

2

Der Morgen war frisch, die Luft vom vielen Regen sauber und klar, und nur einige milchige Nebelstreifen lagen noch über den Häusern. Leo öffnete die Küchenfenster und atmete tief die kühle Luft ein. Von hier aus konnte sie fast den ganzen Ort überblicken. Die viel zu große katholische Kirche ragte mit ihrer Kuppel über die ordentlichen Reihen der schiefergedeckten Häuser hinweg. Leo hatte Mühe zu begreifen, was gestern geschehen war. Es passte nicht in diese stille, sichere, saubere Stadt.

Sie stellte die Kaffeemaschine an und öffnete den Kühlschrank. Er war so gut wie leer, und auch durch ihr intensives Hineinstarren füllte er sich nicht. Sie schloss ihn seufzend und holte die letzte Packung Knäckebrot aus dem Schrank.

Eine kalte Nase in der Kniekehle erinnerte sie daran, dass auch ihr Hund Hunger hatte, und sie tätschelte seinen harten Kopf. »Alte Töle«, sagte sie zärtlich. Leo hatte ihn von ihrem letzten Urlaub in Portugal mitgebracht, wo er auf einer Müllhalde gelebt hatte und ihr nach einem vorsichtigen Annäherungsversuch nicht mehr von der Seite gewichen war. Im Sauerland angekommen, hatte er große Mengen Futter in sich hineingeschlungen und war noch ein Stück gewachsen. Sie hatte ihn Schakal getauft, denn er sah aus, wie sich Leo einen Schakal vorstellte: hochbeinig und dünn, mit einer langen spitzen Schnauze und ebensolchen Ohren. Nur sein Fell verlieh ihm ein hundeähnliches Aussehen – es war grau und bestand aus mittellangen borstigen Haaren, die an einigen Stellen braune Flecken bildeten. Ihre respektlose Nichte erzählte jedem, ihre Tante habe eine Hyäne in ihrem Haus, die obendrein auch noch Schakal heiße. Was Leo aber nicht weiter störte. Eine Hyäne als Haustier hatte schließlich nicht jeder.

Sie blätterte in ihrem Terminkalender und stellte fest, dass sie heute nur einen einzigen Patienten hatte, zwei weitere hatten ihre Termine kurzfristig abgesagt. Es war ein elfjähriger Junge, der seit Jahren an Asthma litt. Die Akupunkturbehandlung sollte ein letzter Heilungsversuch sein. Es war sein erster Termin, und sie überlegte, ob sie ihn mit Nadeln oder besser mit dem Lasergerät behandeln sollte. Bei Kindern wendete sie oft das Laser-Verfahren an, da die meisten Angst vor den Nadelstichen hatten und ein Heilerfolg auf diese Weise schlecht zu erzielen war. Doch vielleicht war der Junge schon in der Lage, die Wirkungsweise der Akupunktur zu verstehen und sich mit dem kleinen Schmerz abzufinden.

Daniel hatte kurzgeschorene blonde Haare, die über der Stirn etwas länger waren und stoppelig in die Höhe standen. Außerdem stieß er beim Reden leicht mit der Zunge gegen seine Zähne und hatte ein reizendes Lächeln. Seine Mutter war eine große Frau mit einer lauten Stimme. Sie betrachtete ihre Umgebung, insbesondere aber die Behälter, in denen die Nadeln aufbewahrt wurden, voller Skepsis. Es war offensichtlich, dass sie sich in einer anderen Arztpraxis wohler gefühlt hätte.

Der Junge beantwortete ausführlich alle Fragen, die Leo ihm stellte – er hatte darin Routine. Dabei sah er immer wieder zu dem Plastikmodell eines nackten Menschen hinüber, das mit Punkten und Linien übersät war und in der Nähe des Fensters auf einem antiken Holztisch stand.

Nach einer halben Stunde, in der Leo versuchte, sich nicht nur ein Bild über seine Krankheit, sondern auch über seine Lebensgewohnheiten und seinen seelischen Zustand zu machen, fühlte sie seinen Puls und betrachtete seine Zunge. Der Puls war unauffällig. Aber an der Zungenspitze, im Bereich des Lungen- und Herzsegmentes, konnte sie einen weißlichen Belag erkennen.

»Ich glaube, wir müssen deine Lunge etwas bei ihrer Arbeit unterstützen, damit du wieder richtig Luft holen kannst.«

Sie führte Daniel zu ihrem Akupunkturmodell, das nicht viel kleiner als ihr junger Patient war. Der junge berührte vorsichtig das naturfarbene Plastikmaterial, und Leo erklärte ihm, dass er hier die Energiebahnen erkennen könne, die den Körper durchziehen. »Die bunten Punkte zeigen, die sogenannten Energiepunkte an. Diese Punkte kann man mit einer Nadel ein bisschen reizen, so dass die Energie wieder richtig fließen kann.«

Dann konnte die Behandlung beginnen. Leo drückte die erste Nadel aus ihrer sterilen Verpackung. Sie hatte sich für die kleinste Stärke entschieden, da sie Punkte an der Hand und am Ohr stechen wollte, wo besonders feine Nadeln erforderlich sind. Langsam tastete sie mit den Fingerspitzen über die glatte Haut des Jungen.

»Hier haben wir einen Punkt.« Sie setzte die dünne Edelstahlspitze auf eine Stelle zwischen Daumen und Zeigefinger, drückte kurz und fest durch die Haut und führte die Nadel langsam ein Stück tiefer in die unteren Gewebeschichten. Daniel blinzelte nur kurz. »Es kribbelt.«

»Dann ist es richtig.«

Leo erzählte dem Jungen noch etwas über die Wirkungsweise der Akupunktur, während sie sorgfältig nach den anderen Punkten suchte und noch vier weitere Nadeln setzte.

»Von den Nadeln fließt jetzt ein warmer Strom in deine Lunge und versorgt sie mit Energie. Bleib bitte ruhig liegen und konzentriere dich auf die Wärme. Ich komme in zwanzig Minuten zurück und nehme die Nadeln wieder heraus.« Leo lächelte den Jungen an und wurde dafür mit einem reizenden Gegenlächeln belohnt. Sie verließ das Behandlungszimmer. Nun wartete das Gespräch mit der Mutter auf sie.

Leo stellte zuerst eine Routinefrage. »Gibt es irgendetwas, was Ihren Sohn in letzter Zeit belastet hat?« Die Mutter überlegte nur kurz.

»Es könnte sein, dass es da ein Problem in der Schule gibt. Ich weiß nicht genau, was es ist, er erzählt sehr wenig zu Hause. Aber etwas bedrückt ihn. Neulich wollte er Geld von mir haben, fünfundzwanzig Euro. Angeblich für einen Atlas, der für Erdkunde angeschafft werden sollte. Aber es stimmte nicht, ich habe den Klassenlehrer angerufen.« Daniels Mutter machte nicht den Eindruck, als ob sie vor Problemen davonlaufen würde.

»Was haben Sie unternommen?«

»Ich habe Daniel natürlich zur Rede gestellt. Aber er hat nichts gesagt und dann geweint. Was eigentlich nicht seine Art ist. Und sein Asthma ist immer schlimmer geworden. Er hat manchmal so schwere Anfälle, dass ich Angst habe, er könnte ersticken.«

Leo stand auf und holte Kaffee. Sie wärmte ihre kalten Hände an der Tasse. »Sie haben sicher von Andrea Merschmanns Tod gehört?«

»Natürlich, Daniel geht ja auf die gleiche Schule. Außerdem stand es in jeder Zeitung.« Der Frau wurde plötzlich klar, warum Leo diese Frage gestellt hatte. »Sie meinen, es könnte da einen Zusammenhang geben?«

Leo zuckte mit den Schultern.

»Ich weiß nicht. Aber irgendetwas scheint an der Schule vor sich zu gehen, was Ihrem Sohn Angst macht.«

Die Frau schwieg, und Leo wusste auf einmal nicht mehr, was sie noch fragen sollte. Sie nannte der Mutter einen neuen Termin und ging in den Behandlungsraum, um Daniel von den Nadeln zu befreien. Der Junge beobachtete Leos Handgriffe neugierig. »Und das hilft wirklich?«

»Ich glaube, ja.« Außer wenn es etwas gibt, was dir so große Angst einflößt, dass alle Ärzte dieser Welt dir nicht helfen können, dachte Leo. »Aber du musst ein bisschen Geduld haben«, sagte sie und gab Daniel die Hand. »Wir sehen uns nächste Woche wieder.«

Schakal zerrte an der Leine, und Leo stolperte hinter ihm den steilen Berg hinunter. Sie musste ihn besser erziehen, das hatte sie sich schon oft vorgenommen, aber Erziehung war anstrengend, auch bei Hunden.

Unten im Ort führte ihr erster Weg in die Sparkasse an der Hauptstraße. Mit einem Seufzer betrachtete sie ihre Kontoauszüge. Seit sie die Stelle im Krankenhaus aufgegeben hatte und darauf angewiesen war, von den Honoraren ihrer Akupunktur-Patienten zu leben, hatte sie Mühe, finanziell über die Runden zu kommen. Wenn sie nicht während ihrer Zeit am Krankenhaus etwas Geld gespart und mit dem Rest ihrer unerwarteten Erbschaft in Aktien angelegt hätte, wäre sie nicht in der Lage gewesen, eine Praxis zu eröffnen. Sie hob hundert Euro ab, das musste für den Rest der Woche reichen.

Dann ging sie weiter zur Bäckerei. Hinter der Theke stand Gülay Yilmaz und sah sehr dekorativ aus, wie sie in ihrem engen violetten Pullover schwungvoll die Brötchen in eine Tüte warf. Leo kannte die Familie Yilmaz, seit sie im Krankenhaus deren drei Söhne behandelt hatte, die sich beim Fußballspielen alle Zehen nacheinander gebrochen hatten. Gülay dagegen war immer gesund gewesen und hatte zu Hause ihre Brüder versorgt. Jetzt richtete sie ihre unglaublich schwarzen Augen auf Leo. »Frau Doktor, stimmt es, dass Sie ihn gesehen haben, als er schon tot war?«

Leo fühlte sich überrumpelt und antwortete mit einer Gegenfrage. »Hast du den Toten denn gekannt?« Gülay gab einen zischenden Laut von sich, wie ihn nur türkische Mädchen ausstoßen können. »Natürlich, ich wusste, wer er war. Jeder hat ihn irgendwie gekannt. Aber mein Freund ist ziemlich eifersüchtig. Ich hätte mich nicht mal mit ihm unterhalten dürfen!«

Leo ließ sich ein Doppelbackbrot und zwei Stücke Bienenstich einpacken und ärgerte sich über die hohen Brotpreise, während sie in ihrem Portemonnaie nach Geld suchte. Gülay sagte wie immer, Leo solle mal wieder bei ihrer Familie vorbeischauen, und Leo nickte zerstreut. Irgendwie war ihr im Augenblick nicht nach gutgemeinter, aber anstrengender Gastfreundschaft zumute.

Als sie auf die Straße trat, kam ihr ihre Freundin Bettina entgegen. Sie trug einen teuer aussehenden taillierten Stoffmantel, den sie auf keinen Fall in Balve oder Iserlohn gekauft haben konnte.

Sie tauschten Wangenküsse aus, und Bettina fragte: »Wollen wir einen Kaffee trinken?« Sie hakte Leo unter und zog sie wieder in Richtung Bäckerei. Leo sträubte sich.

»Ich habe gerade einen halben Liter Kaffee getrunken und außerdem überhaupt keine Zeit.« Das war eine Lüge, aber Leo fühlte sich Bettinas Luxusproblemen im Augenblick nicht gewachsen. Ihre reiche Freundin brachte es fertig, aus der Anschaffung einer falschen Matratze ein abendfüllendes Thema zu machen.

»Dann treffen wir uns heute Abend«, drängte ihre Freundin. »Ich muss mit dir reden.« Sie fasste Leos Arm fester. »Und ich lade dich zum Essen ein.« Leo musste lachen. Bettina wusste sehr gut, wie sie zu ködern war.

»Wo?«

»Im Drostenkeller.« Nicht schlecht, dachte Leo, aber sie kann es sich leisten. Bettina winkte ihr noch einmal zu und verschwand dann im Schmuck- und Uhrengeschäft.

Leo ging weiter die Straße hinunter. Sie grüßte zwei ehemalige Patienten und sah hinter einem silbernen Mercedes her. Am Steuer hatte sie ihren ehemaligen Kollegen Bernhard Stahlschmidt erkannt. Er arbeitete noch immer im Marienkrankenhaus, war inzwischen Oberarzt, und sie hatte gehört, dass er einer der aussichtsreichen Kandidaten für den Chefarztposten war.

Im Schreibwarengeschäft von Alfons Wagemut erkundigte sich Leo spontan nach einer günstigen Bahnverbindung nach München. Der Geschäftsinhaber, der auch Bahnkarten verkaufte, nachdem der alte Bahnhof geschlossen worden war, hackte nach einem knappen Begrüßungsnicken auf die Tastatur seines Computers ein. Alfons Wagemut wusste, dass Leo zu ihrem Sohn wollte, wenn sie eine Fahrkarte nach München kaufte. Er wusste auch, dass sie gerne ein Sonderangebot wahrnahm und dass ihr Auto zu altersschwach war, um diese Strecke noch zu bewältigen.

Leo betrachtete die tiefen Kerben im Gesicht des Ladenbesitzers und versuchte sich zu erinnern, wie Alfons Wagemut vor zwanzig Jahren ausgesehen hatte. Die Rundgänge durch die Kleinstadt mit ihren immer gleichen Menschen schienen die Zeit stillstehen zu lassen.

Der Computer summte. Sie zuckte zusammen, als sie merkte, dass sie eine Frage von Alfons Wagemut überhört haben musste, denn er sah sie ab wartend an. »Ich weiß noch nicht genau, wann ich fahre«, hörte sie sich sagen. Zu ihrer eigenen Überraschung war ihr plötzlich klar geworden, dass sie jetzt nicht nach München fahren konnte. Sie wollte den Ort nicht verlassen, nicht zu diesem Zeitpunkt. Es wäre eine Flucht gewesen, und sie wollte nicht fliehen. Und tief in ihrem Herzen musste sie sich eingestehen, dass sie neugierig war auf das erste Abenteuer, das Balve ihr zu bieten hatte.

Stattdessen kaufte sie sich die WAZ, die Westfalenpost und den Süderländer Volksfreund in der Hoffnung, einige ausführliche Berichte über den Höhlenmord zu lesen. Alfons Wagemut versuchte, die Zeitungen zusammenzurollen. Seine Handbewegungen waren fahrig, und einige Reklameblätter rutschten heraus.

»Wer um Himmels willen bringt einen achtzehnjährigen Schüler um? Hier in Balve? Hier ist noch nie jemand umgebracht worden!«

Leo nickte. Der Mord schien noch nicht als Realität in das Bewusstsein der Bürger gedrungen zu sein. Es war so, als liefe ein Film ab, den alle mit Schaudern, aber auch mit Neugierde verfolgten. Alfons Wagemut rollte die Zeitungen wieder auseinander und glättete sie ungeschickt auf der Ladentheke.

»Wahrscheinlich hat er mit Drogen gehandelt. Das ist ja heutzutage so üblich. Und die Drogengangster schrecken vor nichts zurück. Die stehen doch schon auf den Schulhöfen.« Aus der Stimme des Ladenbesitzers sprach die ganze Verachtung seiner Generation über den lockeren Umgang der Jugendlichen mit Rauschmitteln, die in seinen Augen direkt in die Hölle führten.

Leo nickte wieder, wenn auch ohne rechte Überzeugung. Sie wusste nicht, wie weit der Drogenkonsum sich hier auf dem Land schon ausgebreitet hatte. Bisher hatte sie angenommen, dass dies eher ein Großstadtproblem sei. In ihrer Praxis jedenfalls hatte sie keinen einzigen Patienten, der mit Hilfe der Akupunktur seine Sucht bekämpfen wollte.

Sie trat aus dem Laden, überquerte die Hauptstraße und bog in die schmale Querstraße ein, in der das Postgebäude lag. Sie musste einen Brief in die Volksrepublik China schicken, eine Bestellung für spezielle Akupunkturnadeln, die sie demnächst ausprobieren wollte. Hinter dem Schalter saß der Vater von Daniel Miedenhof und begrüßte sie mit dem gleichen reizenden Lächeln wie sein Sohn. Nachdenklich betrachtete er ihren Brief, und Leo ahnte, dass ihm der Umstand, dass sein Sohn sich bei ihr in einer Akupunkturbehandlung befand, genauso unbehaglich war wie seiner Frau. Aber er gab keinen Kommentar ab, klebte eine Menge Briefmarken auf den Umschlag und wünschte ihr noch einen schönen Tag.

Sie verließ das Postgebäude und ging noch einmal in Richtung Drostenplatz, wo sich der Supermarkt befand. Ihr war eingefallen, dass sie noch Hundefutter besorgen musste. Auf dem Weg dorthin wurde Schakal noch in ein kurzes Scharmützel mit dem Jack-Russell-Terrier von ihrer Patientin Lisa Michels verwickelt. Es gab ein wildes Gebell und Durcheinander, ehe die Tiere voneinander abließen.

»Die beiden mögen sich einfach nicht«, sagte Leo und hatte ein schlechtes Gewissen. Schließlich war ihr Hund eindeutig größer und müsste mehr Gelassenheit zeigen. Lisa Michels zuckte nur mit den Schultern. »Es sind eben beides Rüden«, meinte sie und zog ihren Hund zu sich heran, um ihn beruhigend zu tätscheln.

Leo wechselte noch ein paar Worte mit ihr und verabschiedete sich dann, immer noch mit einem mulmigen Gefühl. Schakal war alles andere als ein Unschuldslamm. Es war nicht das erste Mal, dass er in eine Beißerei verwickelt war. Gott sei Dank war bisher nie etwas Ernsthaftes passiert.

Als Leo an Richards Apotheke vorbeikam, warf sie einen Blick durch die Scheibe. Im Schaufenster lagen Schwimmflossen und Taucherbrillen, dazwischen Pillenschachteln und Sonnencremes. Richard bediente gerade eine kleine weißhaarige Frau, die ihm aufmerksam zuhörte. Er sah müde und alt aus. Leo zögerte. Sie hatte an die Scheibe klopfen und ihm zuwinken wollen, aber Richard sah nicht so aus, als ob ihn ein flüchtiger Gruß aufheitern könne.

Der Parkplatz hinter der Sparkasse war bis auf einen Platz voll besetzt, und Leo hatte Mühe, ihren sperrigen alten Variant in die schmale Parklücke zwischen zwei Geländewagen zu zwängen. Im Gegensatz zu ihrem Auto sahen sie aus, als seien sie gerade frisch aus der Waschanlage gekommen, was Leo besonders bei diesem Autotyp noch überflüssiger fand als sonst.

In der Abenddämmerung wirkte die hellgelbe Fassade des historischen Drostenhofes fast italienisch, und einen Moment gab sich Leo der Illusion hin, auf einer toskanischen Piazza zu sein. Dann hörte sie die laute Stimme von Bettina Lüsebrink mit ihrem sauerländischen Tonfall und wurde abrupt in die Wirklichkeit zurückgeholt. Das Restaurant befand sich im Kellergewölbe des Hauses, und der neue Besitzer hatte offenbar den Ehrgeiz, seinem Lokal ein weltstädtisches Flair zu verleihen. Eine junge Frau im dunklen Kostüm führte die beiden Frauen an einen sehr großen Tisch mit ebensolchen Platztellern. Leo und Bettina setzten sich und schoben die steifgefalteten Servietten beiseite, weil sie ihnen die Sicht versperrten.

Leider waren trotz des vollen Parkplatzes nur noch zwei weitere Tische besetzt. Leo war unbehaglich zumute. Sie hasste leere Lokale und hoffte inständig, dass sich dieser Zustand im Lauf des Abends noch ändern würde. Zu ihrer Verblüffung standen auf der Speisekarte auch so typische Sauerländer Gerichte wie Potthucke und Pfannegrütze, aber sie widerstand ihrem Drang nach Hausmannskost und bestellte Fisch. Das war in diesem Lokal einfach passender, und tatsächlich schmeckte das Essen, das der mit französischem Akzent sprechende Kellner elegant servierte, ganz ausgezeichnet.

Man konnte die Unterhaltung an den Nachbartischen beinahe wörtlich mitverfolgen. Natürlich drehten sich die Gespräche um den Mord in der Höhle. Und Leo stellte fest, dass auch sie sich jetzt gerne über dieses Thema unterhalten hätte. Sie hatte keine Lust auf Bettinas Eheprobleme, die darin bestanden, dass ihr Mann Werner, ein erfolgreicher Fabrikant von Eierkochern und Tauchsiedern für die Dritte Welt, sich kaum zu Hause blicken ließ. Leo war davon überzeugt, dass Werner tatsächlich so viele Geschäftstermine hatte, wie er Bettina erzählte, aber seine Frau war misstrauisch. Vermutlich, weil der Verdacht, Werner könnte Affären mit anderen Frauen haben, Bettinas Alltag etwas spannender gestaltete. Trotz allem war sie Leos Freundin, denn sie war bei allen ihren persönlichen Macken ein witziger, herzlicher und großzügiger Mensch.

Leo hatte gerade die Gräte ihres Kabeljaus zufrieden an den Rand des Tellers geschoben, als sie von Bettinas Stimme überrascht wurde, die ernst und dunkel klang und ganz anders als sonst.

»Ich muss dir etwas erzählen. Es hat mit dem Mord zu tun.« Leo sah von ihrem Teller auf. Die Wangen ihrer Freundin waren gerötet, und feine Schweißtropfen lagen auf ihrem Nasenrücken.

»Ich habe ihn gekannt.« Leo hielt mitten in der Bewegung inne, mit der sie ihr Bierglas an den Mund führen wollte.

»Wen?«

»Andrea Merschmann di Antonio.«

In Leo stieg eine Ahnung hoch. Bettinas pathetische Ankündigung konnte eigentlich nur eins bedeuten.

»Was heißt das, du hast ihn gekannt? Wie gut hast du ihn gekannt?« Vorsichtig betupfte Bettina mit der Serviette ihre Nase.

»Ich hätte es niemandem erzählt, normalerweise. Aber jetzt weiß ich nicht…« Sie verstummte und sah auf ihren Teller, wo noch ein Rest ihres Rinderfilets lag.

Bettina und Andrea hatten sich beim Seniorennachmittag in der Schule kennengelernt. Jedes Jahr organisierte das Städtische Gymnasium einen Nachmittag für die Senioren des Ortes. Es gab selbstgebackenen Kuchen, und die jüngeren Schüler tanzten über die Bühne und gaben sich Mühe, wie Schneeflocken auszusehen. Die älteren Schüler schenkten Kaffee aus. Der Bürgermeister richtete freundliche Grußworte an die Anwesenden, und die Direktorin verlieh ihrer Freude über die zahlreiche Beteiligung Ausdruck. Andrea hatte mit einigen Mitschülern eine Kurzfassung des »Arabischen Prinzen« gespielt, und Bettina, die ihre alte, wohlhabende Tante begleitete, hatte ihn auf der Bühne gesehen.

»Ich habe ihn die ganze Zeit angestarrt«, sagte sie, »und nach der Vorstellung habe ich ihn dann angesprochen. Wir haben uns unterhalten.« Bettina lehnte sich zurück und betrachtete einen Punkt auf der Wandbemalung.

»Und dann hast du ihm deine Telefonnummer gegeben.« Leos Stimme klang sachlich, aber sie fühlte sich plötzlich schlecht. Bettina führte ein sorgenfreies Leben und war mit einem netten, erfolgreichen Mann verheiratet. Aber das reichte ihr offenbar nicht. Bettina nickte. »Ja. Und er hat mich drei Tage später angerufen.«

In Bettinas rotem Cabriolet waren sie durch die Sauerländer Berge gefahren, hatten an der Sorpe Kaffee und Sekt getrunken und waren dann oberhalb von Balve in einem Gartenlokal gelandet. Natürlich hatten sie sich die ganze Zeit tief in die Augen gesehen. Es war langsam dunkel geworden, sie waren ins Auto gestiegen, und Bettina war in den Waldweg eingebogen, der für Forstfahrzeuge reserviert war. Der Mond hatte hell geschienen, und sie hatte den Himmel über sich sehen können, während sie miteinander schliefen.

Leo wollte keine Einzelheiten hören. Sie hatte genug Phantasie.

»So ein Cabrio hat schon seine Reize«, murmelte sie. Dann fuhr Bettina fort:

»Andrea hat sich danach nicht mehr bei mir gemeldet. Und ich habe mich nicht getraut, bei ihm zu Hause anzurufen. Ich wollte auf keinen Fall seine Mutter am Apparat haben.« Bettina nahm einen tiefen Schluck Wein und stellte das Glas behutsam wieder auf den Tisch.

»Er ist tot«, sagte sie mit ihrer tiefen Stimme, und sie sprach die Worte ebenso vorsichtig aus, wie sie zuvor das Glas auf den Tisch gestellt hatte.

Leo betrachtete stumm die Frau, die ihr gegenübersaß, und dachte daran, wie wenig sie von ihr wusste. Trotz der langen Gespräche in den fast zehn Jahren ihrer Bekanntschaft. Bettinas dunkelroter Lippenstift leuchtete grell in ihrem blassen Gesicht.

»Ich nehme nicht an, dass du der Kriminalpolizei von deinem Erlebnis erzählt hast?«

»Nein, natürlich nicht. Stell dir bitte vor, wenn Werner etwas davon erführe!«

»Stimmt«, sagte Leo trocken. »Das wäre nicht besonders schön für ihn. Noch schlimmer wäre es allerdings, wenn er von deinem Seitensprung schon vorher gewusst hätte, dann hätte er nämlich ein Motiv gehabt, deinen jugendlichen Liebhaber aus dem Weg zu räumen.«

Bettina sah sie entsetzt an.

»Unmöglich«, sagte sie.

Sie hat recht, dachte Leo, der Gedanke an Werner als einem Mörder mit Dolch in der Hand war einfach lächerlich.

Sie tranken einen Cognac und dann noch den Espresso, den es auf Kosten des Hauses gab. Ihre Unterhaltung war ins Stocken geraten. Wahrscheinlich spürte Bettina die abwehrende Haltung ihrer Freundin in deren knappen Kommentaren. Als Bettina schließlich ihre Scheckkarte zückte, bot Leo an, die Hälfte der Rechnung zu übernehmen, und bedankte sich förmlich, als Bettina auf deren Zahlung bestand.

Gab es auch Freundschaften, in denen man vom anderen nur die Seiten seines Wesens zu Kenntnis nahm, die man mochte, während man die Kehrseiten einfach ignorierte? Sie trennten sich mit der gewohnten Umarmung, doch Leo hatte das Gefühl, dass sie Bettina für eine Weile nicht mehr sehen wollte – ohne eigentlich den Grund zu wissen. Was genau störte sie plötzlich am lockeren Lebenswandel ihrer Freundin?

Schakal lag mitten auf dem Küchentisch, als Leo in die Küche kam. Schwanzwedelnd sprang er hinunter und begrüßte sie stürmisch.

»Kannst du nicht einmal wie ein vernünftiger Hund in deinem Korb liegen?« Sie war tatsächlich wütend, schließlich musste sie ständig den Tisch abwischen. Diese unangenehme Eigenschaft hatte Schakal sofort nach seinem Einzug entwickelt. Es konnte keine Angewohnheit sein, die er aus seiner portugiesischen Heimat mitgebracht hatte, wo er sicher nicht mal in die Nähe einer Küche gekommen war.

Sie füllte einen Rest Hundefutter in eine Metallschale, und in weniger als zehn Sekunden war die Schüssel leer. Leo ging ins Wohnzimmer und schaltete den Anrufbeantworter ein. Wieder zwei Absagen für Akupunktursitzungen, angeblich wegen Terminschwierigkeiten. Leo seufzte. Es wurde Zeit, dass von irgendwoher endlich Geld hereinkam. Dann die kräftige Stimme von Flo:

»Hallo Ma, schalte mal deinen Fernseher ein, wenn er noch funktioniert. Ich bin vier Sekunden im Bild, morgen Abend, viertel nach acht, auf RTL. Ciao!« Leo lächelte. Sie liebte ihren Sohn, er war das Wichtigste in ihrem Leben, und jedes Lebenszeichen von ihm hob automatisch ihre Laune.

Sie mischte sich einen Campari mit Orangensaft, um ihn mit nach oben ins Schlafzimmer zu nehmen, als das Telefon klingelte. Es war fast halb zwölf, und ihr Herz klopfte schneller, als sie den Hörer abhob.

Es war ihre Nichte Jenny. Ihre gepresste Stimme verriet, dass sie mit den Tränen kämpfte.

»Tante Leo, schläfst du schon? Es tut mir leid, dass ich dich noch störe, aber ich muss mit dir sprechen.«

»Jenny, mein Schatz, was ist los?« Leo hörte das Schlucken ihrer Nichte und spürte ihre Anspannung.

»Tante Leo, du hast ihn doch gesehen. Er ist tot. Er hatte ein Loch in der Brust.« Leo wartete. Ihre Finger umklammerten den Hörer.

»Ich hätte ihn nie verraten. Aber jetzt ist er tot.« Sie weinte. »Aber du darfst es keinem erzählen, bitte! Versprich es!« Leo wusste, dass sie keine Wahl hatte.

»Ich verspreche es.«

»Ich glaube, er hat irgendwelche Geschäfte gemacht, in der Schule. Er hat sich die Namen von Schülern aufgeschrieben.« Sie machte eine kurze Pause, ihre Stimme hörte sich jetzt gefasster an. »Ich hab das ein paar Mal beobachtet, und dann hab ich ihn gefragt, was er da macht, weil wir zusammen Theater gespielt haben, wir haben uns ja oft gesehen, nachmittags oder auch abends.« Leo räusperte sich.

»Und dann hat er es dir erzählt?«

»Nicht direkt. Er hat gesagt, ich wäre ja noch ziemlich jung und hätte wahrscheinlich nicht besonders viel Taschengeld. Aber ich sollte mich mal bei den anderen erkundigen. Er könnte mir auch was besorgen.«

»Was besorgen?«

»Ich wusste nicht, was er meint. Er hat dann noch mal gesagt, ich soll die anderen fragen. Ich hab aber nicht gewusst, wen ich fragen soll.« Jennys Stimme wurde so leise, als fürchte sie, dass ihre Mutter im Nebenzimmer lauschen könnte.

»Ein paar Tage später hat er mich dann während der Proben in der Höhle angesprochen. Er hat gefragt, ob ich Interesse hätte.«

»Woran?«

»Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Ich kam mir so blöd vor.« Sie schluchzte.

»Und dann?«

»Dann hat er mir ein paar Tabletten gegeben. Er hat gesagt, ich soll sie nehmen, wenn ich mal gut drauf sein will. Und dann an ihn denken.« Die letzten Worte gingen im Schluchzen fast unter.

»Und, hast du sie geschluckt?«

»Nein. Ich hab sie zu Hause ins Klo geschmissen. Ich hab ja sowieso immer an ihn gedacht.« Leo musste grinsen.

»Hast du mit deinen Eltern darüber gesprochen?«

»Nein. Wenn die was von Drogen hören, flippen sie total aus.« Leo nickte stumm in den Telefonhörer.

»Jennylein, hör zu. Es ist gut, dass du mich angerufen hast. Ich komme morgen zu euch, und dann können wir einen Spaziergang machen, und du erzählst mir alles in Ruhe. In Ordnung?«

»Ja. Gute Nacht, Tante Leo.« Jennifers Stimme war leise und sanft. Leo legte langsam den Hörer auf.

Sie nahm ihren Campari mit nach oben ins Schlafzimmer. Hatte Alfons Wagemut doch recht? Gab es einen florierenden Drogenhandel an der Schule, und war Andrea einer der Drahtzieher gewesen? Geistesabwesend zog sie sich aus und griff zu einem verwaschenen Flanellschlafanzug. Trotz des Alkohols war ihr kalt, und sie protestierte nicht, als Schakal aufs Bett sprang und sich auf ihren Füßen ausbreitete. »Dafür habe ich dich schließlich angeschafft«, murmelte sie, und es dauerte keine drei Minuten, bis sie eingeschlafen war.

3

Der Variant hatte Mühe mit dem steilen Weg, der zum Haus von Leos Schwester führte. Sie biss die Zähne zusammen, während sie mit Mühe den ersten Gang einlegte. Hinter der Grundschule ließ die Steigung nach, und sie bog in eine ruhige Straße ein, wo hinter ordentlich geschnittenen Hecken kleine Einfamilienhäuser standen. Eines davon gehörte Ingeborg, und es sah aus, als ob die Mauersteine jede Woche einzeln mit einem Lappen abgewischt würden. Im Garten drehten sich die Flügel mehrerer bunter Holzenten.

Leo fuhr in die enge und steile Garagenzufahrt, stellte den ratternden Motor ab und zog die Handbremse bis zum Anschlag an. Irgendwann würde die Bremse versagen und der Wagen über Straße und Gärten in die Tiefe rauschen, ein Alptraum, der Leo seit Jahren verfolgte. Sie hatte in der Bäckerei ein paar Kuchenstücke gekauft, unter anderem Bienenstich – den Lieblingskuchen ihrer Nichte.

Sie stieg aus und drückte die Wagentür vorsichtig ins Schloss, um unnötige Erschütterungen zu vermeiden. Schakal musste im Wagen bleiben, da ihre Schwester angeblich allergisch gegen Hundehaare war. In Wirklichkeit, da war Leo sicher, konnte sie es aber in ihrem Sauberkeitswahn nicht ertragen, wenn der Hund irgendwelchen Schmutz ins Haus brachte.

Ingeborg stand bereits an der offenen Haustür und hielt ihrer Schwester die Hand zur Begrüßung hin. Leo ignorierte die Geste und nahm sie in den Arm. Ingeborg roch nach Honigseife aus dem Reformhaus, und ihre Haare kratzten an Leos Wange. Seit Leo denken konnte, trug ihre Schwester die Haare kurz und mit viel Haarspray unverrückbar an der Kopfhaut befestigt. Leo fand, dass diese Frisur irgendwie symbolisch für Ingeborgs Charakter war.

Im Wohnzimmer war der Kaffeetisch gedeckt. Durch die gerafften Gardinen der Terrassenfenster sah man auf eine grüne Wand aus Büschen und Bäumen. Leo war es ein Rätsel, warum ihre Schwester und ihr Mann keinen Wert auf Licht und Sonne zu legen schienen.

»Es ist so dunkel bei euch. Wollt ihr nicht mal die Gardinen abnehmen oder ein paar Bäume fällen?«

»Ja, irgendwann machen wir das vielleicht«, sagte ihre Schwester gleichgültig. »Aber es ist auch praktisch, niemand kann ins Haus hineingucken.« Während sie in die Küche ging, um den Kaffee zu holen, sah Leo hinaus zu den Holzenten im dunklen Garten, die trotz eifrigen Flügelschlagens nicht von der Stelle kamen. Sie konnte sich niemanden vorstellen, der Interesse hatte, in dieses Haus hineinzusehen. Dann erschien Jenny, umarmte ihre Tante, ließ sich in einen Sessel fallen und griff nach dem Bienenstich. Sie trug hautenge Jeans mit silbernen Nieten und ein bauchfreies T-Shirt. Es war nicht zu übersehen, dass Jennifer kein Kind mehr war.

Leo versuchte erst gar nicht, ein Gespräch mit ihrer Nichte zu beginnen. Es war zwecklos, ihr in der Gegenwart ihrer Mutter mehr als ein Ja oder Nein zu entlocken.