Das andere Mädchen - Annie Ernaux - E-Book

Das andere Mädchen E-Book

Annie Ernaux

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Beschreibung

Ein Sonntag im August 1950, die kleine Annie spielt draußen im Garten, ihre Mutter steht am Zaun und plaudert mit der Nachbarin. Eine folgenreiche Plauderei, denn so erfährt Annie, dass ihre Eltern vor ihrer Geburt bereits eine Tochter hatten, die sechsjährig an Diphtherie gestorben war. Über diese Schwester wird Annie von ihren Eltern niemals wieder ein Wort hören und sie wird ihrerseits niemals nach der Verstorbenen fragen.
Doch auch dieses dauerhafte Beschweigen formt eine Geschichte und verleiht der toten Schwester – dem anderen Mädchen – eine Gestalt. Und es prägt Annies Persönlichkeit und Charakter, die Identität der Nachgeborenen.
Vier oder fünf Fotografien, das Grabmal, einige wenige Gegenstände, ein paar Murmeln – darüber versucht Annie Ernaux Jahrzehnte später dem Leben ihrer ungekannten Schwester schreibend auf die Spur zu kommen.

Annie Ernaux hat einen Brief an ihre Schwester geschrieben, die sie nicht hat kennenlernen können – einen Brief von überwältigender Klarheit und zarter Traurigkeit, über Trennendes und Gemeinsames, über Kindheit und Geschichte und über Schicksalsschläge, die eine Familie auf immer verändern.

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Seitenzahl: 60

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Cover

Titel

Annie Ernaux

Das andere Mädchen

Aus dem Französischen von Sonja Finck

Suhrkamp Verlag

Impressum

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Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel L’autre fille bei NiL Éditions, Paris.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5357.

© der deutschsprachigen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2022© NiL Editions, Paris, 2011

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Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Umschlagfoto: Annie Ernaux‘ Vater und ihre Schwester Ginette bei der feierlichen Kommunion einer Nichte in Le Havre, 1937, Archiv Annie Ernaux. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin. Alle Rechte vorbehalten.

eISBN 978-3-518-77375-8

www.suhrkamp.de

Motto

»Kinder sind dazu verdammt, alles zu glauben.«

Flannery O’Connor

((Flannery O’Connor: Die Gewalt tun, aus dem amerikanischen Englisch von Cornelia C. Walter, Diogenes 1987))

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Motto

Das ovale sepiafarbene Foto klebt in einem Umschlag

Es gibt noch eine andere Geschichte.

Vor mir liegt ein Foto

Informationen zum Buch

Das andere Mädchen

Das ovale sepiafarbene Foto klebt in einem Umschlag

Das ovale sepiafarbene Foto klebt in einem Umschlag aus vergilbtem Karton und zeigt ein auf einem Stapel Festonkissen sitzendes Kleinkind im Dreiviertelprofil. Es ist mit einem bestickten Hemd bekleidet, dessen breiter Träger hinter der Schulter zu einem großen Knoten gebunden ist, wie eine riesige Blume oder ein überdimensionaler Schmetterling. Das Kind hat einen länglichen, eher dünnen Körper und streckt die gespreizten Beine zur Tischkante aus. Unter dem dunklen Haar, das auf der gewölbten Stirn zu einer Tolle gedreht ist, reißt es mit fast schon beängstigender Intensität die Augen auf. Die Arme hat es nach Kleinkindmanier geöffnet, sie scheinen in Bewegung. Man hat den Eindruck, es wolle aufspringen. Unter dem Foto die Signatur des Fotografen – M. Ridel, Lillebonne –, seine ineinander verschränkten Initialen prangen auch oben links auf dem Umschlag, der sehr schmutzig ist und halb auseinanderfällt.

Als Kind glaubte ich – jemand muss es mir gesagt haben –, ich wäre das Kind auf dem Foto. Ich bin es aber nicht, du bist es.

Dabei gab es noch ein anderes Bild, von demselben Fotografen, das mich auf demselben Tisch zeigte, das dunkle Haar zu einer ähnlichen Tolle gedreht, aber ich wirkte gut genährt, meine Augen verschwanden in einem runden Gesicht, eine Hand lag zwischen den Schenkeln. Ich kann mich nicht erinnern, dass der offensichtliche Unterschied zwischen den beiden Fotos neugierig gemacht hätte.

Jedes Jahr besuche ich um Allerheiligen herum den Friedhof von Yvetot und bringe Blumen zu den Gräbern. Dem der Eltern und deinem. Von Mal zu Mal vergesse ich, wo genau sie sich befinden, aber ich orientiere mich an dem großen, sehr weißen Kreuz, das vom Hauptweg aus sichtbar ist und dein Grab neben ihrem überragt. Ich stelle Chrysanthemen in unterschiedlichen Farben auf beide Gräber, manchmal auf deins auch eine Erika, ich drücke den Topf in den dafür vorgesehenen Kies am Fuß der Grabplatte.

Ich weiß nicht, ob man an Gräbern viel denkt. Vor dem der Eltern bleibe ich einen Moment stehen. Als wollte ich sagen, »da bin ich«, und ihnen berichten, was ich im letzten Jahr so gemacht, was ich geschrieben habe und noch zu schreiben hoffe. Dann trete ich an dein Grab, rechts daneben, ich betrachte die Stele und lese die großen goldenen Lettern der viel zu glänzenden Inschrift, die in den Neunzigerjahren erneuert worden sind, die alten, viel kleineren, unlesbar gewordenen Buchstaben einfach mit den neuen überschrieben. Aus eigener Initiative hatte der Steinmetz einen Teil der ursprünglichen Inschrift entfernt und unter deinen Vor- und Nachnamen nur eine einzige weitere Information gesetzt, wahrscheinlich, weil er sie für wesentlich hielt: »Verstorben am Gründonnerstag 1938.« Sie war mir aufgefallen, als ich das Grab zum ersten Mal gesehen hatte. Der in Stein gemeißelte Beweis für Gottes Wahl und deine Heiligkeit. Seit fünfundzwanzig Jahren besuche ich die Gräber, aber dir habe ich nie etwas zu sagen.

Dem Geburtenregister zufolge bist du meine Schwester. Du trägst denselben Nachnamen wie ich, Duchesne, meinen »Mädchennamen«. Im zerfledderten Stammbuch der Eltern stehen wir in der Rubrik »Geburt und Tod der in der Ehe geborenen Kinder« untereinander. Du ganz oben mit zwei Stempeln vom Standesamt in Lillebonne (Departement Seine-Inférieure), ich mit einem einzigen Stempel – wenn ich sterbe, wird mein Tod unter einem anderen Nachnamen in ein anderes Stammbuch eingetragen werden, der Beweis, dass ich eine eigene Familie gegründet habe.

Trotzdem bist du nicht meine Schwester, bist es nie gewesen. Wir haben nicht zusammen gespielt, gegessen, geschlafen. Ich habe dich nie berührt, nie geküsst. Ich weiß nicht, welche Augenfarbe du hattest. Ich habe dich nie gesehen. Du hast keinen Körper und keine Stimme, bist nur ein flaches Bild auf einer Handvoll Schwarz-Weiß-Fotos. Ich habe keine Erinnerungen an dich. Bei meiner Geburt warst du schon zweieinhalb Jahre tot. Du bist das Kind im Himmel, das unsichtbare kleine Mädchen, über das nie geredet wurde, die Abwesende aller Gespräche. Das Geheimnis.

Du warst schon immer tot. In dem Sommer, als ich zehn Jahre alt war, kamst du als Tote in mein Leben. Geboren und gestorben in einer Erzählung, wie Bonny, die Tochter von Scarlett und Rhett in Vom Winde verweht.

Die Szene der Erzählung ereignete sich in den Sommerferien 1950, den letzten, in denen ich und meine Cousinen zusammen mit ein paar Mädchen aus der Nachbarschaft und einigen Kindern aus der Stadt, die die Ferien in Yvetot verbrachten, von morgens bis abends durch die Gegend zogen. Wir spielten Einkaufen oder Erwachsensein und bauten uns aus Getränkekisten, Pappkartons und alten Tüchern eine Hütte in einem der zahlreichen Nebengebäude auf dem Hof meiner Eltern. Wir standen abwechselnd auf der Schaukel und sangen um die Wette Il fait bon chez vous Maitre Pierre und Ma guêpière et mes longs jupons, wie im Radio. Wir rissen aus, um Brombeeren zu sammeln. Mit den Jungs zu spielen, hatten die Eltern uns mit der Begründung verboten, sie seien zu wild. Abends trennten wir uns, vor Dreck starrend. Ich wusch mir Arme und Beine und freute mich auf den Morgen, wenn wir weitermachen würden. Im nächsten Jahr würden die Mädchen in alle Richtungen verstreut oder zerstritten sein, ich würde mich langweilen und meine Zeit nur mit Lesen verbringen.

Ich würde lieber weiter von diesen Ferien berichten, die Sache hinauszögern. Sobald ich von dieser Erzählung erzähle, wird es vorbei sein mit der Unschärfe des Erlebten, als würde ich einen Film entwickeln, der sechzig Jahre im Schrank gelegen hatte.