Das Blaue Palais 1 - Rainer Erler - E-Book
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Das Blaue Palais 1 E-Book

Rainer Erler

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Beschreibung

Die malerische Fassade des alten Herrenhauses täuscht: Im Blauen Palais forschen Wissenschaftler an brisanten und gefährlichen Projekten wie Unsterblichkeit, bahnbrechenden Energieformen und Parapsychologie. Auch an der Gedächtnisübertragung durch Gehirntransplantation arbeitet das Forscherteam. Als der junge Pianist Felix van Reijn zum Star aufsteigt, wird klar: Mit ihm stimmt etwas nicht. Zu sehr ähnelt sein Spiel dem von Svendborg, dem »Toten ohne Gehirn«, der zwei Jahre zuvor ermordet wurde. Die außergewöhnliche Begabung van Reijns bringt die Wissenschaftler des Blauen Palais' auf die Spur eines furchtbaren Verbrechens ... Das Blaue Palais ist eine alte Villa, hinter deren Mauern exzellente Forscher das Unmögliche möglich machen. Die genialen Wissenschaftler um Louis Palm geraten immer wieder in hochexplosive, illegale Situationen und müssen feststellen, dass ihre Forschungen einen Preis haben. Und so bleibt kein Fortschritt ohne Konsequenzen – für das Leben der Wissenschaftler oder für das der ganzen Menschheit … Der Blaue-Palais-Zyklus besteht aus fünf eigenständigen Romanen: • Das Blaue Palais. Das Genie • Das Blaue Palais. Der Verräter • Das Blaue Palais. Das Medium • Das Blaue Palais. Unsterblichkeit • Das Blaue Palais. Der Gigant Für die fünfteilige Verfilmung der Science-Thriller wurde Rainer Erler von der ESFS (European Science Fiction Society) als bester europäischer Science-Fiction-Drehbuchautor ausgezeichnet.

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Rainer Erler

Das Blaue Palais

Das Genie

Roman

1

»Na, wer ist das?« Der Biochemiker Jeroen de Groot spielte Fernsehquiz mit seinen Kollegen.

Fünf Männer und ein Mädchen starrten auf den Bildschirm. Dort jagten Hände über die Tasten, überkreuzten sich – ein Spiel voller Kraft und Leichtigkeit –, hämmerten in rasender Folge sich steigernde Akkorde, versanken in einem unendlich langen, unwirklichen Tremolo.

Der Pianist hatte seine Augen geschlossen: konzentrierte Abwesenheit, aufgelöst in dieser harmonischen Disharmonie. »Wer ist das? Jeder von euch kennt das Gesicht dieses Mannes!«

Rätselraten, Schulterzucken, Unschlüssigkeit.

»Woher?« Louis Palm, der Leiter des Blauen Palais, frei gewählt von allen Mitarbeitern, um die Geschäfte des Instituts zu führen, hatte den Kaffeebecher abgesetzt und war aus seinem Labormantel geschlüpft. »Woher sollen wir ihn kennen?«

»Aus der Zeitung, aus Illustrierten, ein dutzendmal gesehen, jeder von euch!« Yvonne wusste Bescheid, als einzige. Aber de Groot hatte sie vereidigt, nichts auszuplaudern.

»Natürlich muss Yvonne es wissen«, lachte Palm. »Sie ist die Einzige unter uns, die Zeit hat, Illustrierte zu lesen.« Aber das war nicht der wahre Grund: Sie hatte für Jeroen den Brief getippt, an das französische Fernsehen. Jeroen hatte darum gebeten, ihm eine Magnetband-Aufzeichnung zu überlassen: jenes Klavierkonzert vom 3. November im großen Saal von Versailles – zu wissenschaftlichen Zwecken.

Sie musste also wissen, wer da spielte. Aber sie war nicht bereit, ihr Geheimnis zu verraten. Denn was sie noch mehr faszinierte als das phantastische Spiel dieses seltsamen Mannes, das war die Tatsache, dass sie zum ersten Mal diesen ›gelehrten jungen Männern‹ überlegen war.

Als die anfingen, sich zu langweilen, zu flüstern und zu lachen, zischte Yvonne energisch in die Runde: »Pssst!«

Sofort waren die ›gelehrten jungen Männer‹ still, starrten weiter auf den Fernsehschirm, lauschten diesem genialen Pianisten, den sie nicht kannten, und fragten sich, was diese ganze Darbietung eigentlich sollte. Vom Park her drang das gedämpfte Licht eines trüben Wintertages durch die hohen Fenster in die Halle. Brüchiger Stuck an der Decke, ein verblichener, rissiger Gobelin an der Wand und die blinden Spiegel zwischen den weißlackierten Türen zum Treppenhaus – das war alles, was von der alten Pracht des Palais übriggeblieben war.

Hier hatte einst ein deutscher Kurfürst im Kreise seiner Erlauchtigsten Familie den Darbietungen berühmter Künstler gelauscht. Die waren von Gott weiß woher in diese Abgeschiedenheit geladen worden, waren tagelang über beschwerliche und gefährliche Straßen in diese abgelegene Sommerresidenz gereist. Heutzutage bleiben Künstler, wo sie sind – die Kunst kommt vom Band.

Statt der Hofschranzen versammelten sich die Mitglieder des Blauen Palais mittags und abends zum Erfahrungsaustausch bei ihren spartanischen Mahlzeiten: Fertigmenüs aus der Tiefkühltruhe, aufgeheizt im HF-Herd, der draußen auf dem Flur zwischen Kisten mit Wissenschafts-Schrott und den Feuerlöschern stand und der in Sekundenschnelle mit seiner hochfrequenten Strahlung gefrorenes Gulasch mit Spätzle zumindest genießbar machte.

In Jeans, Pullovern und weißen, fleckigen Labormänteln, in der Hand die Bierflasche oder den Plastikbecher mit Automatenkaffee, diskutierten sie über die Welt von morgen.

Nur heute hörten sie – vorläufig noch – schweigend zu, bis sich Unruhe breit machte: »Wie lange geht das noch? Ich muss wieder in meinen Keller.« Enrico Polazzo, der Chemiker, liebte weder Geduldsspiele noch Quiz.

Jeroen schätzte den Spulenumfang im Videorekorder: »Noch zwei Minuten, höchstens drei.«

Carolus Büdel, Kybernetiker aus der Schweiz, setzte sich mit einem resignierenden Seufzer auf einen der Kollegstühle, die wie verloren in dem großen, kahlen Raum herumstanden. Neben der Tafel, einem großen Resopaltisch und dem Vortragspult bildeten sie das einzige Mobiliar.

Büdel klappte die Schreibplatte herunter und stützte die Arme auf.

»Ich bin nicht so wahnsinnig interessiert an dieser Art ultramoderner Musik. Ich bin der falsche Zuhörer und bestimmt der Verlierer bei diesem Quiz!«

»Pssst! …«

Yvonne meldete sich wieder zu Wort:

»Man kann doch mal still sein und zuhören, auch wenn man nichts davon versteht, oder?!«

Büdel lachte: »Gerade dann, Yvonne, gerade dann! So mach' ich das immer, wenn die Biochemie mit einer Vorführung am Zuge ist.«

Jeroen winkte ab: »Die Auflösung kommt gleich. Aber ihr denkt alle in der verkehrten Richtung. Der Pianist ist kein Pianist!«

»Was ist er dann?«

Polazzo hatte sich zu Yvonne geschlichen und den Arm um sie gelegt. Als er anfing, ihr ins Ohr zu flüstern, legte de Groot Einspruch ein: »Yvonne – du bist ruhig!«

Sie hob drei Finger wie zum Schwur.

Getreu nach ihrer neuen Devise ›pink is beautiful‹ trug sie zu einer rosa Samthose und einem rosa Mohairpullover eine rosa Schleife im Haar. Und der Einzige, der wissen konnte, ob sie dazu konsequenterweise auch pinkfarbene Unterwäsche trug, war Enrico Polazzo, der dicht hinter ihr stand. Der Schwur war also schwer zu halten.

Aber da ließ Polazzo bereits den Arm sinken, holte tief Luft, deutete auf den Monitor – weiß Gott, aus welchem Teil seines Gehirns er schließlich die Information, den Namen des Mannes, der da wie ein Übermensch spielte, ans Tageslicht geholt hatte: »Van Reijn … Felix van Reijn.«

Jeroen hob die Hand, als wollte er Polazzo beglückwünschen, applaudierte kurz:

»Felix van Reijn ist richtig!«

Büdel lehnte sich zurück. »Der Kandidat hat zehn Punkte! Und wie geht's jetzt weiter?!«

»Ruhe – das Finale!«

Jeroen drehte die Lautstärke hoch. Der Pianist geriet in Ekstase. Die irren Läufe, die harten Akkorde dazwischen, das flutete durch den leeren, riesigen Raum, erfüllte ihn, brach sich an den Säulen, produzierte Echo und Nachhall, der langsam verklang, sich in den alten Mauern verlor, als das Konzert schon längst zu Ende war.

Nach Sekunden der Stille brach – auf dem Fernsehschirm – der Beifall aus. Die Kamera schwenkte weg von diesem Gesicht, das immer noch vor Anspannung vibrierte.

Das Publikum kam ins Bild. Elegant, reich. Schmuckbehängte Frauen über fünfzig waren deutlich in der Mehrheit. Frenetischer Applaus. Kronleuchter flammten auf.

Der Pianist erhob sich, erschöpft, glücklich. Er lächelte. Verbeugte sich. Er hob die rechte Hand zu einer kleinen, bescheidenen Geste. Er wirkte erlöst, entspannt …

Jetzt war er wieder er selbst geworden: ein gutaussehender Mann in mittleren Jahren – genauer gesagt: ein schöner Mann mit einem geradezu unverschämt gut geschnittenen Gesicht. Sein charmantes, triumphierendes Lächeln hatte etwas Bezwingendes. Die Faszination, die er auf sein Publikum ausstrahlte, kannte, wie man hören konnte, keine Grenzen: Der Applaus wollte nicht enden.

Jeroen stoppte das Band.

Das blaue Licht des Monitors, das bisher die Szene in der Halle beleuchtet hatte, erlosch.

Die plötzliche Stille war erschreckend.

Yvonne und die fünf Männer starrten immer noch reglos auf das tote Auge des Fernsehschirms, als hinter ihnen jemand lautstark in die Hände klatschte.

»Bravo!« Das rollende ›r‹ und das melodische ›o‹ gingen ohne Schwierigkeiten in Gelächter über.

Sibilla Jacopescu war Biologin, stammte aus Rumänien und war eine sehr aparte junge Frau.

Ihr kunstvoll-wirres Haar schimmerte rötlichblond im Schein der kalten Leuchtstoffröhren. Die Farbe war bestimmt nicht echt, aber raffiniert ausgewählt.

Wie sie das schaffte, fernab von jedem Friseur in dieser Waldeinsamkeit, das war ein Geheimnis für sich, hinter das nicht einmal Jeroen gekommen war, der mit ihr Labor und Lager teilte.

Sie schenkte jedem ein persönliches Lächeln, setzte sich hinter den Klapptisch des Kollegstuhls, riss die heiße Alufolie von ihrem Fertigmenü und putzte sich – gegen jede Regel der Hygiene – die Finger an ihrem Labormantel ab.

»Du bist schon lange hier?«

Büdel grinste sie an.

»Ich habe eine Menge mitbekommen – und keine Ahnung, worum es geht!«

»Der Pianist, der keiner ist, wie Jeroen behauptet, war ein gewisser van Reijn.«

»Das sagt mir gar nichts.« Mit ihrer stumpfen Plastikgabel versuchte Sibilla die chemisch-grünen Erbsen aufzuspießen.

»Van Reijn ist ein genialer Zeitgenosse, gehätschelter Liebling von Jetset und Bürgertum.« Jeroen war endlich zur Erklärung bereit. »In Rom hat er letzte Woche Gedichte vorgetragen, eigene Gedichte, auf Italienisch natürlich. Der Saal war ausverkauft. Oder vielmehr: Was heißt ›Saal‹ – die Halle. Da finden sonst Boxkämpfe statt! Und jetzt wird sein Name diskutiert im Zusammenhang mit dem Nobelpreis für Literatur.«

»Was nicht gerade für den Nobelpreis spricht.« Der Einwand kam von Palm.

»Die Liste seiner Patente ist seitenlang. Er hat Auszeichnungen erhalten für modernes Industriedesign und für funktionelle Mode. Er spricht mindestens ein Dutzend Sprachen, akzentfrei, und das hier war sein erster Versuch als Pianist.«

»Respekt! Dafür war das schon ungeheuer genial!«

Büdels Kompliment war ehrlich gemeint.

Da meldete sich ein Kollege zu Wort, der bisher schweigend die Szene beobachtet hatte: Von Klöpfer war Physiker und ohne Zweifel das dienstälteste Mitglied im Team des Blauen Palais:

»Darf ich fragen, in welcher Richtung diese Erfindungen … diese Patente … wissen Sie darüber Bescheid?« »Nein, leider nichts Genaues, ich bin kein Physiker. Hier stehen nur zwei Stichworte: abstimmbarer Gaslaser, also Laserstrahlen, die …«

»Danke!« Klöpfer unterbrach und winkte ab. »Weiß schon, ja. Das ist der Bursche, der am MIT die Arbeit von Corbett weitergeführt hat, der leider zu früh verstorben ist. Ein Gerät, das Laserstrahlen in verschiedenen Wellenlängen, also Farben, erzeugt. Und die zweite Sache?«

»Salze zur Speicherung thermischer Energie.«

»Sehr schön! Der springende Punkt zur Auswertung der Solarenergie – der Sonnenheizung. Was ist der Mann eigentlich nun? Chemiker oder Physiker oder Dichter?«

»Pianist!«

Büdel stand auf. »Braucht ihr mich noch?«

»Aber natürlich.« Jeroen spulte das Band zurück.

»Ich veranstalte doch kein Mittagskonzert ohne Hintergedanken. Das Ganze erinnert mich nämlich fatal an Versuche, die Sibilla und ich … Unsere Versuche mit Ratten.«

»Was haben meine Ratten mit deinem Pianisten-Dichter zu tun?« Sibilla rollte ihr rumänisches ›r‹ auch mit vollem Mund.

»Scheinbar nichts – und dennoch … Es ist eine ganz irre Idee … Ich hab' hier ein zweites Band: Der Komponist Ole Svendborg spielt eigene Kompositionen im Nachtstudio des schwedischen Fernsehens.« Jeroen fuhr eine weitere Kassette auf einem anderen Recorder ab. Der zweite Monitor begann zu flimmern. »Noch ein Gedicht …!«

Büdel setzte sich wieder.

»Nein – noch ein Klavierkonzert! Oder vielleicht sogar das gleiche!«

Wieder rasten Finger über Tasten, überkreuzten sich die Hände, fanden sich zu einem schwebenden Tremolo.

Jeroen startete nochmals das erste Band.

Wieder spielte van Reijn, Läufe, Tremolo.

Auf zwei Videoschirmen bemühten sich zwei Pianisten mit genialer Fingerfertigkeit offensichtlich um das gleiche Stück – es gab kaum einen Zweifel.

»Also – wer spielt sein eigenes Werk? Der Schwede?«

Büdel wollte es genau wissen und rückte näher an den Tisch mit den Monitoren.

»Beide!«

»Unmöglich! Der Schwede macht weniger Schau, aber es ist das gleiche Stück.«

»Beide spielen eine eigene Komposition!«

»Dann hat einer vom anderen geklaut, ganz klar! Soviel versteh' ich gerade noch von Musik. Das hört doch jeder: Die Stücke sind identisch, sind die gleichen …« Büdel sah sich um, wartete auf Zustimmung.

Aber seine Kollegen blickten nur fasziniert auf die beiden Schirme, auf van Reijn und auf den Schweden, hörten auf den Gleichklang der Disharmonien, registrierten die Ähnlichkeit der Technik, ja, sogar der Mimik. Es war verblüffend, wie sich der Ausdruck der beiden Pianisten glich.

»Also – welches Konzert hat früher stattgefunden?«

»Das des Schweden.«

»Damit ist der Fall erledigt. Van Reijn spielt es nach!«

»Das ist nicht möglich. Ole Svendborg hat keine Noten hinterlassen. Und seit zwei Jahren ist er tot. Das hier war sein erstes öffentliches Konzert – und sein einziges – sein letztes! Einen Abend lang wurde er gefeiert. Eine große Entdeckung, hieß es.« Jeroen schaltete das Videoband auf Schnelllauf. Grelle Muster huschten über den Monitor.

Bei einer Markierung hielt er das Band an – suchte – schaltete auf Wiedergabe.

Das Konzert war vorüber. Eine Reporterin interviewte den Pianisten. Der gab Auskunft, auf Schwedisch. Jeroen übersetzte und kommentierte: »Nein – es gibt keine Aufzeichnungen – keine Noten. Natürlich nicht – ich improvisiere – ich spiele nach Gefühl – das ist alles – ich spiele, was mir einfällt, was mir gerade in den Sinn kommt …«

Schneller Rücklauf. Wieder huschten die Muster und Linien über den Schirm – dann erneut das Konzert von Ole Svendborg, kurz vor dem Schluss.

Jeroen blickte in die Runde: »Drei Tage später war er tot!«

Büdel, der Kybernetiker, wischte alle Mystifikationen vom Tisch. »Reijn hat sich das Band hier besorgt so wie du und hat danach geübt.«

»Möglich. Obwohl mir das Schwedische Fernsehen versichert hat – hier ist die schriftliche Bestätigung des Archivs –, dass dieses Band nie herausgegeben wurde, kein einziges Mal während der letzten zwei Jahre. Es hat sich niemand mehr dafür interessiert.«

»Heimlich aufgezeichnet, während der Sendung, zu Hause …!«

Büdel ließ nicht locker.

Aber Jeroen wühlte bereits in einem Stapel alter Zeitungen.

»So etwas ist möglich, sicher! Aber auch Felix van Reijn spielt ohne Noten. Auch er sagt, er spiele, was ihm so einfiele, was ihm gerade in den Sinn käme. Wörtlich nachzulesen hier im Francesoir. Und auch bei van Reijn war es das erste Konzert.«

Palm schaute auf seine Uhr, stand auf, griff nach seinem weißen Mantel.

»Ja, ich muss leider … Hab noch einiges zu tun. Yvonne, kommen Sie mit?«

Yvonne sträubte sich noch: »Jetzt, wo es spannend wird!«

Aber der allgemeine Aufbruch war nun eingeleitet. Stühle wurden gerückt, leere Essensbehälter und Becher flogen in den Container.

»Halt! Halt! Noch einen Augenblick!« Jeroen hatte die Bänder abgeschaltet und versuchte, die anderen zurückzuhalten: »Ich habe den Fall zur Diskussion gestellt, weil ich darin gewisse Parallelen sehe. Ich sagte schon: Sibilla und ich – und unsere Versuchsreihe mit Ratten – mit begabten Ratten, wohlgemerkt …!«

»Lass meine Ratten aus dem Spiel, Jeroen!«

Sibilla legte das Besteck auf die Schreibtischplatte und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Doch Jeroen schwenkte bereits eine Zeitung. In roten Riesenlettern verkündete die Schlagzeile:

Mord!

»Die Zeitungen hat mein Bruder gesammelt«, fuhr Jeroen fort. »Er ist Musiker, lebt in Stockholm. Drei Tage nach dem Konzert fand man den jungen Pianisten Ole Svendborg tot in seinem kleinen Holzhaus auf einer einsamen Insel in den Schären. Seine Schädeldecke war fachgerecht geöffnet – wie von einem Chirurgen. Das Gehirn war entfernt – war spurlos verschwunden. Ein Toter ohne Gehirn!«

Sibillas Besteck war zu Boden gefallen. Sie bückte sich danach. Dabei kippte auch das Plastiktablett mit dem Essen.

Jeroen beachtete das nicht weiter:

»Ja, das hat dieser Fall mit uns und unseren Ratten gemeinsam. Eine absurde Idee, vielleicht. Vielleicht …!« Er schaltete wieder am Recorder: Auf dem Monitor, im fahlblauen Licht des Fernsehbildes, erschien wieder das Gesicht des Pianisten Ole Svendborg.

Er wirkte entrückt, ekstatisch …

»Die Stelle kommt gleich.«

Palm hatte seinen weißen Mantel angezogen.

»Können Sie nicht deutlicher werden, Jeroen? Was für eine Idee ist absurd?«

»Wir töten Ratten, die begabt sind, die wir mit Erfolg dressiert haben, die etwas gelernt haben, und entnehmen ihnen das Gehirn – um ihre Begabung und alles, was ihr Gedächtnis gespeichert hat, auf undressierte, also ›unbegabte‹ Ratten zu übertragen!«

Palm lachte, aber es klang nervös und verkrampft.

»Es ist wirklich absurd – ich meine, da irgendwelche Parallelen sehen zu wollen!«

Schluss des Konzerts, atemlose Stille. Das Ende kam ganz unvermittelt und plötzlich – wie bei van Reijn. »Hier, kommen Sie näher, kommen Sie her! Sehen Sie …!«

Jeroen hatte das Band der Aufzeichnung gestoppt. Das Bild mit Svendborg, der sich im Vordergrund verneigte, war wie eingefroren. Die Zuhörer, die Hände zum Applaus erhoben, waren erstarrt.

Jeroen deutete in eine dunkle Ecke des Standbildes, zeigte auf eine bestimmte Person im Publikum.

Sehr viel war nicht zu erkennen. Das Raster des Monitors mit seinen Zeilen und Punkten war zu grob, und die Person, um die es ging, war zum Teil verdeckt.

»Sieht man ihn – ist er zu erkennen?«

Jeroen spielte mit Leidenschaft die Rolle eines Sherlock Holmes.

»Wer soll zu erkennen sein?«

Büdel trat nah an das flimmernde Bild.

Auch Palm kam heran, dann Klöpfer, schließlich Polazzo mit Yvonne.

Nur Sibilla blieb, wo sie war.

Sie wirkte, wie die anderen, mehr skeptisch als interessiert.

Jeroen hatte ein paar großformatige Bilder aus einer Mappe genommen. Fotos mit dem Zeilenraster des Videobildes.

»Hier. Abfotografiert vom Monitor, und dann diesen Ausschnitt hier vergrößert.«

Er kreiste mit einem Bleistift die fragliche Stelle ein. Jetzt war auch Sibilla nach vorn gekommen, hatte sich das erste Bild gegriffen, dann das zweite, das den Ausschnitt noch detaillierter zeigte, dann das dritte.

»Wer ist das?«

Aber eigentlich war kein Zweifel mehr möglich, Jeroen präsentierte die letzte, die deutlichste Version: das markante Gesicht, die graue Mähne, der starr auf den Schweden gerichtete Blick waren unverkennbar. »Damals noch völlig unbekannt: Felix van Reijn!«

2

Es war schon tief in der Nacht, als Louis Palm vom Palais herüberkam, durch den ehemaligen Schweinestall ging, der heute Versuchen mit Laserstrahlen diente, und hinaufstieg zur Biochemie.

Der Plastikvorhang der Schleuse wehte ihm entgegen. Hier konnte der leichte Überdruck an keimfreier Luft entweichen, den die Klimaanlage ständig in die Räume pumpte.

Sibilla und Jeroen, verkleidet wie Chirurgen während einer Operation, mit Mundschutz, Handschuhen und Kappe, standen im Nebenzimmer mit den Rattenställen.

Sibilla zog gerade eine Einwegspritze mit Flüssigkeit aus einem sterilen Glaskolben auf, Jeroen suchte Tiere aus, markierte sie an Schwanz und Nacken mit farbigen Filzschreibern und hielt sie Sibillas Spritze entgegen.

»Störe ich?«

Erst jetzt bemerkten die beiden Palm, der im Flur stand.

»Nein, solange Sie bleiben, wo Sie sind!« Jeroen achtete streng auf die Regeln. »Fremdstoffe, die Sie einschleppen, können die Versuchsergebnisse völlig verzerren.«

»Ich könnte mir Handschuhe anziehen, einen Mundschutz vorbinden.«

»Nicht nötig – bleiben Sie einfach draußen stehen.«

Die Ratte in seiner Hand quiekte kurz auf. Die Angst vor Spritzen ist weit verbreitet.

Palm sah interessiert zu: »Immer noch die gleiche Versuchsreihe?«

Jeroen nickte.

»Wir verpassen unseren undressierten Ratten gerade wieder Intelligenz und Erfahrung – mit der Spritze.«

Und Sibilla ergänzte: »Der gereinigte Ribonukleinsäure-Extrakt aus den Gehirnen von dressierten Ratten. Wir haben bereits in 84% positive Reaktion. Auf der 0,01-Stufe ist die Serie bereits signifikant.«

»Aha!« Palm schien befriedigt. Er war allerdings Mathematiker, nicht Biochemiker. Aber Sibillas Auskunft klang sehr zuversichtlich.

»Gut! Ich werde Manzini Bescheid sagen und den Ausschuss des Kuratoriums herzitieren. Die sollen sich das ansehen.«

Jeroen zögerte, die Ratte in ihren Käfig zurückzusetzen, und blickte kurz zu Palm, dann zu Sibilla. Aber Sibilla hatte die Tragweite des kurzen Satzes gar nicht so recht mitbekommen, wie es schien.

Das Kuratorium herzitieren – das hieß doch, dass ihre Arbeit hier, ihr Erfolg geeignet schien, bei den Geldgebern des Palais weitere Mittel locker zu machen. Geld also, auf das sie alle, ohne Ausnahme, dringend angewiesen waren. Denn: »Forschung kostet nun einmal Geld – keine das Doppelte«, wie Dr. Huu, ihr Finanzexperte, immer zu sagen pflegte.

War ihre Versuchsreihe wirklich schon so erfolgreich, dass man die Ergebnisse vorzeigen konnte?

Aber Palm ging nicht weiter darauf ein.

»Wie viele Spender haben Sie heute?«

»Sechs Stück. Das heißt sechs dressierte, intelligente Ratten dort drüben und sechs undressierte zur Kontrolle. Die liegen bereits hier unten.«

Da lagen sie nun, die üblichen Albinos, weiße Labortiere mit roten Augen und rosa Schnauzen, aufgereiht wie die Strecke nach dem letzten Halali.

Sie waren bereits zur Feuerbestattung freigegeben und säuberlich in Plastik eingeschweißt.

Palm betrachtete die Ratten mit ihrer geöffneten Schädeldecke. Ihm ging durch den Kopf, was Jeroen de Groot gestern Mittag so beiläufig und mit viel Aufwand an abstrusen Ideen entwickelt hatte.

»Das waren also Ihre Genies …?!«

»Ja, das waren unsere Begabtesten.«

Jeroen kam aus dem Nebenraum, um nachzusehen, ob Palm seine Nase nicht zu dicht in gefährliche Dinge steckte.

Aber Palm hielt Abstand.

»Wir haben die Tiere wochenlang dressiert: Futterempfang trotz Elektroschock. Normalerweise rennen sie quiekend davon. Aber diese sechs hier hatten wir umkonditioniert. Ihr Fresstrieb war stärker. Sobald wir den Strom einschalteten, kamen sie angerannt. Sie wussten, jetzt kommt das Fressen. Nicht sehr human, aber schließlich …«

Palm stand wieder unter der Tür und blätterte im Versuchsprotokoll.

»Und schließlich haben sie ihre Intelligenz mit dem Leben gebüßt. Ziemlich grausam. Sie injizieren bereits?«

Sibilla nickte. »Ja, den Extrakt aus den Gehirnen. Direkt in die Bauchhöhle. Dort wird die RNS, ein Baustein aus dem Zellkern, in dem wir Information und Gedächtnis vermuten, am schnellsten von der Körperflüssigkeit aufgenommen und zum Gehirn transportiert.