Der Fluch des Pentagramms - Rainer Erler - E-Book

Der Fluch des Pentagramms E-Book

Rainer Erler

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  • Herausgeber: hockebooks
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Flugkapitän Patrick O‘Connor sichtet auf dem Landstreckenflug einer Boeing 747 über Australien ein seltsames Phänomen: Im australischen Busch brennt ein Feuerzeichen in der Form eines fünfzackigen Sterns, ein Pentagramm von gewaltigen Ausmaßen. O‘Connor weicht von seinem vorgeschriebenen Kurs ab: Er will das Rätsel dieses uralten okkulten Symbols ergründen. Dabei verstrickt er sich in die Geheimnisse einer mystischen, magischen Welt und gerät in eine leidenschaftliche Beziehung zu einer jungen französischen Archäologin, in der es um Leben und Tod geht … Eine etwas andere Liebesgeschichte zwischen Mystik und Hightech.

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Seitenzahl: 411

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Rainer Erler

Der Fluch des Pentagramms

Roman

IPENTAGRAMM

Ein Fünfstern.Eines der ältesten Symbole der Menschheit.Als magisches Zeichen bereits in der Antike verbreitet.

1

Er sah das Feuer bereits aus einer Entfernung von knapp 100 nautischen Meilen. Aus einer Höhe von 12 100 Metern: ein schmaler Fleck am Horizont, blutrot und glühend, der in seiner Ausdehnung langsam, aber stetig wuchs.

Mit ihrem Großraumjet näherten sie sich dem Brandherd vom Westen her, die Höhenwinde im Rücken. Der Fahrtmesser im Cockpit zeigte 0,84 Mach, das waren pro Minute immerhin über acht Meilen.

»Ein Feuer!« sagte Patrick O'Connell, und er deutete mit einer leichten Bewegung seines Kinns nach vorn.

Sein Copilot nickte. »Buschfeuer. Dort unten brennt es immer irgendwo …«

Ihre knapp ausgebuchte Boeing 747-400, Registrierung VH-OJA, hatte auf dem Linienflug von Singapore nach Sydney vor zwölf Minuten das Funkfeuer CIN, Derby-Curtin, passiert und damit, nach Überfliegen der Halbinsel von Cape Leveque und der Bucht des King Sound, den australischen Kontinent erreicht. Halbzeit, mehr oder weniger, nach drei Stunden und 42 Minuten Flug. Ein mäßig starker Rückenwind gab sich hilfreich. Sie lagen daher bereits 90 Sekunden voraus.

O'Connell hatte alle Instrumente im Blick, bunte, kompakte Colour-Screens des Flight-Management-Computers. Relaxed lehnte er sich zurück und stellte seine leere Tasse zur Seite. Der Steward der Business-Class, hinter ihnen im Oberdeck des Jumbojets, hatte ihnen vor ein paar Minuten Kaffee serviert. »Special-brew« – frisch aufgegossen. Und nun beobachtete der in dreißig Flugjahren schon leicht angegraute Captain, mit seinem ledergegerbten, markanten Gesicht, den buschigen Augenbrauen und dem roten, noch wesentlich buschigeren Schnurrbart, das leichte Ausschlagen der Steuersäule vor ihm, die automatisch kleine Turbulenzen ausglich, und die emsige Geschäftigkeit seines um zwanzig Jahre jüngeren Copiloten, der ihm zu smart, zu ehrgeizig, zu verbissen bürokratisch erschien. Aber die Crews wurden nun mal ohne Berücksichtigung persönlicher Kontakte oder Sympathien nach unergründlichen Auswahlkriterien von der Flugleitung, dem Fleet-Management-400, immer wieder neu zusammengestellt. Damit musste man leben.

Mindestens eine ganze Rundreise lang: Sydney-Singapore-London-Singapore-Sydney in neun Tagen.

Der Autopilot und das IRS der Streckennavigation hielten die Maschine strikt auf der Luftstraße Alpha-fünf-sieben-sechs mit einem Kurs von derzeit 123°, und das würde auch die nächsten dreieinhalb Stunden so bleiben. Trotzdem war der First-Officer neben ihm von einer geradezu unerträglichen Betriebsamkeit. Ständig kontrollierte er die Positionen, verglich Koordinaten, checkte immer wieder aufs Neue die im Computer einprogrammierten Daten: Streckenführung, Kraftstoffverbrauch, Geschwindigkeit und ergänzte Fluglog und Bordbuch. Dieser Eric MacKenzie war doch kein Newcomer mehr, der durch offen zur Schau gestellten Tatendrang Anerkennung erringen musste. Mit seinen 32 Jahren war er auf diesem neuesten Maschinentyp fast schon ein alter Hase und seit zwei Jahren bereits Senior-First-Officer. Nun ja, jeder hat so seinen Stil und seine persönliche Profil-Neurose.

Im Augenblick flog MacKenzie die Maschine, das war beim Briefing so vereinbart worden, und der Pilot-in-Command, der Kapitän, überwachte und kontrollierte. Aber da war nicht allzu viel zu kontrollieren und zu überwachen. Dies war zweifellos und offensichtlich einer dieser Routineflüge, ein Nachtflug der australischen Airline QANTAS mit dem fliegenden Känguru am Heck und der Nummer QF10. Und das einzige, was Patrick O'Connells Aufmerksamkeit tatsächlich erregte, war das Buschfeuer dort unten, auf das sie genau zuhielten und das ihnen nun pro Minute um rund 15 Kilometer näher kam.

Dabei hatte sein Copilot recht: Es brannte tatsächlich immer irgendwo dort unten, im Busch, im Outback. Das hatte dieser fünfte Kontinent so an sich, seit Hunderttausenden von Jahren. Auch ohne die schwarzen Eingeborenen, die Aborigines, die mit Feuer jagten. Und sogar ohne die weißen Settler, die 85 Prozent des Landes mit Brand gerodet hatten.

Patrick O'Connell blickte nach links. Sah spärliche, diffuse Lichter. Fitzroy Crossing, vermutlich. Er war mal dort gewesen. 30 Jahre her. Damals: ein paar Häuser, ein Roadhouse mit Tankstelle, ein Pub. Dort kreuzte der Great Northern Highway ein Gewirr meist ausgetrockneter Flüsse. Tagflüge waren unterhaltsamer. Das rote, ausgedörrte Herz Australiens hatte seinen eigenen Reiz. Aber nachts sah man die Feuer. Vor drei Tagen die Fackeln in der Wüste, über den Ölquellen Arabiens, auf dem 13-Stunden-Flug von London nach Singapore. Und jetzt, nach zwei freien Tagen am Swimming Pool des River View Hotel, ganz nahe der alten China-Town, brannte dort unten also die Savanne, oder wie Australier dazu sagen: »der Busch«.

Sollte er doch brennen.

Was war daran so außergewöhnlich?

Sie waren noch ganze 40 Meilen entfernt. Da konnte er aus der Höhe bereits seltsame Details ausmachen: Das Feuer hatte sich auf eigenartige Weise ausgedehnt. Und es brannte ausschließlich in ganz bestimmten, schmalen Linien.

Wieso in Linien?

Noch 30 Meilen.

Der Überblick wurde besser: Die Linien schienen sich zu überkreuzen. Trafen sich an ihren Enden in spitzen, scharfkantigen Winkeln.

Noch 20 Meilen.

Die sich überkreuzenden Linien, die spitzen Winkel, ergänzten sich zu einer Form, zu einem graphischen Gebilde von überraschendem Reiz.

Noch zehn …

»Hej, Eric!«

Der Copilot blickte von seinem Schreibblock auf.

»Sehen Sie sich das an!« Patrick O'Connell richtete sich auf, versuchte über die Instrumenten-Konsole, durch die schmalen Cockpitfenster, über die Nase der Maschine hinweg das Feuer im Blick zu behalten, das unaufhaltsam wie ein nächtlicher Spuk auf sie zu schwebte.

»Was ist?«

»Das Feuer! Ich meine: das Muster … die brennenden Linien … Die bilden so etwas wie einen Stern!«

Er war fasziniert. »Fünfzackig, Ja. Unglaublich!« Kein Zweifel: fünf spitze Winkel. Fünf Zacken also. Es war eindeutig.

Der Copilot blickte nach vorn, ohne sich zu erheben, ohne sein Kniebrett mit dem Schreibblock zur Seite zu legen. Er blieb gelassen.

O'Connell dagegen fand das Schauspiel atemberaubend: »Das ist doch nicht möglich! Ein perfekter, fünfzackiger Stern von gigantischen Ausmaßen. Wie machen die das?«

»Wer macht da was?«

»Na, die Abos, die Black-Fellows, die Aborigines. Außer denen lebt doch in dieser gottverdammten Einöde kein Mensch! Such den Punkt auf der Karte, Eric. Auf einer TPC.«

»Es gibt ein paar Farmen dort unten, Stations mit Landepiste«, wusste MacKenzie. »Christmas Creek, Bohemia Downs«, das entnahm er seiner Streckenkarte. Trotzdem griff er bereitwillig hinter sich in die Bibliothek und suchte die entsprechende Sichtflugkarte aus der Tasche. Seine Emsigkeit zahlte sich bisweilen aus.

»Und der Stern … Schwer zu schätzen. Ich würde sagen: fünf bis zehn Kilometer Seitenlänge für die Linie … Und die spitzen Winkel … Ein absolut perfekt und einwandfrei durchgezogenes Pentagramm!« O'Connell fuhr sich nervös durch die Haare, zupfte an seinem Schnurrbart.

Für einen abgebrühten Skipper, drei Jahre vor der Pensionierung, dachte MacKenzie, ganz schön kindlich nervös. Und um irgendetwas Sinnvolles beizutragen, murmelte er: »Ja … merkwürdig so was …«, und suchte in der topographischen Tactical Pilot Chart, die vielfarbig das zu überfliegende Gelände zeigte, nach irgendwelchen Hinweisen. Aber Eric MacKenzie, Copilot, First Officer, war, weil es ihren Flug nicht weiter betraf, nur mäßig an einer Aufklärung dieses Phänomens interessiert.

Sein Kapitän dagegen fand keine Ruhe und keine Erklärung: »Mein Gott, Eric. Das ist ein einmaliges Schauspiel! So etwas gibt es nicht. Das ist unmöglich! Das schaffen Menschen nicht. Nicht in dieser Größe!«

»Alles ist möglich … Wie man sieht …« Mit Winkeldreiecken übertrug MacKenzie den Kurs ihrer Maschine auf die topographische Karte und zog mit einem Fettstift eine Linie über die Plastikfolie.

Sprachlos und vom Unglaublichen, Unmöglichen fasziniert, hatte Patrick O'Connell seinen Gurt gelöst, war aufgestanden, sah zu, wie das brennende Feuerzeichen langsam unter ihnen verschwand – im toten Winkel unter der Maschine.

Sekunden später waren sie genau darüber.

Vorbei.

Aus dem Blick.

Jetzt bereits hinter ihnen.

Verdeckt durch Rumpf und Flügel.

Keine Chance mehr.

Oder doch?

Patrick O'Connell setzte sich wieder und rang sich zu einer Art Entscheidung durch: »Eric …«

Der blickte von seiner Karte hoch. »Ja?«

»Schalten Sie das IRS aus und den Autopiloten. Wir liegen gut in der Zeit. 90 Sekunden. Wir werden noch mehr reinholen bis Sydney. Fliegen Sie das Manöver. Fliegen Sie einen Kreis über das Feuer.«

»Bitte – Sir?« Eric MacKenzie kniff die Augen zusammen und sah seinen Captain provozierend an, mit einem skeptisch-fragenden Blick, der O'Connell hätte zu denken geben sollen.

Aber dieses brüskierende, scheinbar verständnislose »Bitte – Sir?« kitzelte den Chef in Patrick O'Connell wach: »Fliegen Sie einen Kreis über das Feuer! Das ist ein einmaliges Phänomen!«

»Ein Buschfeuer, Sir, weiter nichts!«

»Ich habe mehr gesehen, Eric! Ein Feuerzeichen von wahnwitzigen Ausmaßen. Ein Pentagramm, geradlinig, und über Meilen!«

Eric MacKenzie reagierte nicht. Er sah seinen Kapitän nur weiterhin starr und verständnislos an.

»Wir kehren um, Eric. Fliegen Sie eine Schleife! Einen Orbit!«

»No, Sir!« Eric hob beide Hände, eine eindeutige und endgültige Geste der Befehlsverweigerung.

»Auf meine Verantwortung!«

»Nicht ohne Genehmigung der Air-Traffic-Control!« Er war nicht bereit, Instrumente oder Steuersäule auch nur zu berühren.

»Dann nehmen Sie eben Rücksprache mit der Air-Traffic-Control!«

MacKenzie traf auch keine Anstalten, den Frequenzwahlschalter zu bedienen und den Funkkontakt herzustellen. Er hatte beschlossen, sich aus dieser Unternehmung herauszuhalten, und teilte seinem Kapitän lediglich mit: »Neue Frequenz: Perth Control – Balgo Hills 130,1.«

O'Connell atmete kurz und rasch durch. »Ich werde es selbst tun! Werde selbst den Orbit fliegen.«

»Die Genehmigung dazu kommt von Perth Control.«

»Danke, ich weiß.«

»130,1!«

»Ich frage ATC nicht. Das kostet unnötig Zeit. Ich teile es lediglich mit. Wir haben zu lange debattiert! Wir sind schon fast zu weit.«

»Keine Orbit ohne Freigabe durch ATC, Sir!«

»Es ist keine andere Maschine hinter uns auf 200 Meilen. Unser Fluglevel ist absolut sicher. Ich übernehme jetzt die Maschine!«

Das war kein spontaner Entschluss mehr. Das war, wie ihm selbst schien, durchaus wohlüberlegt. Vielleicht nicht lange genug. Aber schließlich war er der Kapitän und damit Master-next-God. Er hatte das Recht, frei zu entscheiden!

Eric MacKenzie wusste das und spielte daraufhin das vorgeschriebene Ritual: »Übergebe die Maschine an den Pilot-in-Command!«

»Ich habe die Maschine übernommen!«

»Pilot-in-Command hat die Maschine übernommen!« Der Copilot notierte die Zeit, Stunde, Minute, Sekunde in GMT, in Greenwich-Weltzeit, erst in das Bordbuch, dann in das Fluglog.

2

Patrick O'Connell legte die linke Hand auf die Steuersäule und schaltete mit der rechten am Heading-Select-Button erst das IRS-System auf manuell, dann den Autopiloten aus. Anschließend drückte er die vier Hebel der Triebwerke ein wenig nach vorn und gab mehr Schub. Mit den Querrudern leitete er eine sanfte Kurve über Backbord ein.

Inzwischen machte Eric MacKenzie von seinem Recht als First Officer Gebrauch und protokollierte den Vorgang, das eigenmächtige Manöver des Kapitäns im Logbuch.

O'Connell wählte die neue Frequenz und aktivierte das Mikrofon. »Perth Control von Qantas-Zehn, bitte melden!« Es dauerte. Alles ist immer nur eine Frage der Geduld.

Schließlich: »Hier Perth Control. Bitte kommen.« Das kam klar und deutlich aus O'Connells Kopfhörer.

Sein Copilot hörte mit.

»Guten Morgen Perth Control. Hier Qantas-Zehn auf Alpha-fünf sieben sechs Kurs 123° – für Alice Spring-Sydney, Position: 196 Meilen ostsüdost Derby, zugewiesene Flugfläche 370. Eine Meldung. Over.«

»Guten Morgen, Qantas-Zehn. Wir haben Sie klar verstanden, Stärke vier. Bitte, setzen Sie Ihre Meldung ab. Over!«

Patrick O'Connell blickte nach links. Da tauchte an Backbord schräg unter ihm gerade das Feuer wieder auf. Deutlich und unübersehbar glühten dort, wie auf mattschwarzem Samt scharf und klar gegeneinander abgesetzt, die sich überschneidenden Linien eines gleichmäßigen, fünfzackigen, brennenden Sterns. Und O'Connell schwieg betroffen.

»Hier Perth Control. Wir rufen Qantas-Zehn. Bitte geben Sie Ihre Meldung durch. Over.«

Nochmals zögerte er kurz. Dann sprach er langsam in sein Mikrofon: »Hier Qantas-Zehn. Skipper Patrick O'Connell. Hier unter uns brennt ein Feuerzeichen von ungewöhnlichen Ausmaßen. Ein Buschfeuer in der Form eines Pentagramms, eines gewaltigen fünfzackigen Sterns. Wir werden den Ort zu identifizieren versuchen. Ich habe selbst die Maschine übernommen und fliege in diesem Augenblick einen 360-Grad-Orbit mit Wendegeschwindigkeit eins über dem Phänomen. Over.«

»Perth Control. Haben verstanden. Sie haben vor, die Route Alpha fünf sieben sechs zu verlassen und einen Orbit über einem beobachteten Phänomen zu steuern und beantragen die dafür vorgeschriebene Genehmigung.« Das klang amtlich und korrekt.

Es dauerte einige Sekunden. Sie checkten vermutlich das Radarbild des Kontrollgebiets.

MacKenzie beobachtete währenddessen stumm und scheinbar ausdruckslos seinen Kapitän, der, während er auf die Genehmigung wartete, längst den Orbit flog.

»Perth Control an Qantas-Zehn: Wir erteilen Ihnen hiermit die Genehmigung zum Kreisen, Orbit auf Fluglevel drei-sieben-null. Wir haben in unserem Kontrollbereich auf dieser Flugfläche keine weiteren Flugbewegungen auf dem Radar. Die Flugfläche ist frei für Sie, um zu kreisen. Erbitten von Ihnen Meldung, sobald Orbit abgeschlossen ist und Sie wieder auf Luftstraße Alpha-fünf-sieben-sechs einschwenken. Over.«

»Danke, Perth Control. Over.«

Patrick O'Connell beugte sich zurück. Die Schräglage der Maschine, die mit ihren 360 Tonnen nun langsam einen Kreis mit zehn Meilen Radius beschrieb, erlaubte ihm einen optimalen Blick auf den brennenden Stern. Er war fasziniert und beunruhigt zugleich. Was war der Sinn dieses Feuerzeichens? Wer hatte es veranlasst? War es Menschenwerk? Wie bewerkstelligt man den Brand von fünf kilometerlangen, geraden, sich exakt überschneidenden Linien im lebensfeindlichen Outback mit seiner kargen Vegetation?

Die Linien begannen bereits langsam auszufransen, lösten sich stellenweise auf, gingen in Flächenbrände über. O'Connell erkannte, dies war der richtige Augenblick gewesen, der einzige, der letzte Augenblick, um zu handeln, der Augenblick einer unergründlichen, unerklärbaren Wahrheit. Es war auch der Augenblick eines Triumphes, Augenzeuge eines einmaligen Vorfalles gewesen zu sein und der eigenen Trägheit, der bequemen und risikolosen Routine die Stirn geboten zu haben. Trotzdem spürte er immer noch den skeptischen Blick seines Copiloten schmerzhaft und feindlich im Genick.

3

Ein Stockwerk tiefer herrschte Finsternis. Die Fensterblenden waren geschlossen, und die Passagiere der nahezu vollbesetzten Touristenklasse hingen träge und müde in ihren Sitzen, schliefen oder verfolgten mit mitternächtlich mäßigem Interesse einen Film, der unter der Decke auf den zahlreichen Fernsehschirmen flimmerte.

Die meisten von ihnen kamen bereits aus London, waren nach 13 Stunden Flug zwar verwöhnt, allerdings auch leicht gerädert in Singapore gelandet, hatten sich eine Stunde lang auf dem edlen Marmor von Changi-Airport zwischen eleganten Kamera- und Elektronik-Shops und unter Kaskaden blühender Orchideen etwas Bewegung verschafft und litten nun, auf dem Weiterflug nach Australien, unter »Jet-lag«, der absoluten Verwirrung ihres Zeitgefühls.

Am Fenster in einer der ersten Reihen saß eine aparte, sensibel wirkende junge Frau. Anfang Dreißig.

Französin von Geburt. Aber da war vermutlich mehr in ihrer Ahnenreihe. Denn die sanft geschwungene und trotzdem markante Linie ihrer Wangen und die leicht mandelförmigen Augen verliehen ihrem schmalen, grazilen Gesicht, in Spuren wenigstens, eine exotische Note.

Als offenbar einzige in dieser Maschine hatte diese Angèle Lionberger die plötzliche Kursänderung bemerkt, eigentlich mehr erfühlt. Sie öffnete ihre Augen, blickte in das grelle Bild eines Fernsehschirms, sah sich weiter um, geblendet, ohne in dieser Dunkelheit etwas Bestimmtes zu erkennen, nahm die Kopfhörer ab, die sich mit dem dünnen, verdrehten Kabel in ihren langen, tiefschwarzen Haaren verfangen hatten, tauchte dabei aus der diffusen Klangfülle irgendeiner klassischen Symphonie, die ihr stereophonisch in den Halbschlaf gesickert war, und berührte ihren Mann an der Schulter. »Mike … Spürst du das?«

Doch Mike antwortete nicht auf ihr Flüstern. Er war ein amerikanischer Wissenschaftler, noch relativ jung, und er saß neben ihr in seinem Sessel, wo er, scheinbar völlig entspannt, den Schlaf des Gerechten schlief. »Ich glaube, wir fliegen zurück …«

Ohne auf seine Reaktion, sein Erwachen oder gar Erstaunen zu warten, schob sie die Fensterblende nach oben und blickte hinaus in eine mattschwarze Nacht. Kein Stern war zu sehen, denn der Himmel und der Horizont waren nicht da, wo sie beides vermutet hatte. Stattdessen leuchtete plötzlich, schräg neben ihr, ein feuriges Symbol, rotglühend, fünfzackig, scharfkantig und von offenbar gewaltiger Dimension. Das schob sich langsam hoch, immer höher, immer weiter in ihren begrenzten Blickwinkel hinein. Und da die Maschine wegen des Kurvenflugs zu diesem Feuer hin geneigt war und es langsam umkreiste, schien es sich im Nichts dieser bodenlosen Nacht vor ihren Augen im Zeitlupentempo zu drehen.

Es folgten bei Angèle einige Sekunden der absoluten Verwunderung, der Fassungslosigkeit, des völligen Unverständnisses. Eine Beklemmung stieg in ihr auf und eine unerklärliche Erregung zugleich. Was war das, dort unten, dort drüben: ein archaisches Fest? Ein magisches Ritual? Eine eigenartige Flugplatzbefeuerung? Navigationszeichen? Eine utopische Stadt? Ein Signal für außerirdische Zivilisationen? Oder lediglich eine Halluzination? Narrte sie ein Traum? Der Spuk ihrer eigenen Phantasie? Oder ein Wunschbild?

Instinktiv ergriff sie das metallene Medaillon, das sie seit Jahren an einem dünnen, schwarzledernen Band um den Hals trug: Glücksbringer und geheimes Symbol, schicksalsbefrachtet, vom Glanz und von der Größe eines alten Silberdollars. Ein fünfzackiger Stern, ein Pentagramm.

Ohne sich nach ihm umzusehen, ohne den Blick von diesem Feuerzeichen zu wenden, packte sie ihren Mann energisch am Arm und rief: »Mike … Mike! Sieh dir das an!«

Sie hatte viel zu laut gerufen. Es war wie ein Schrei, der in der Enge dieser Großraumkabine trotz der brausenden Triebwerksgeräusche hätte Aufmerksamkeit erregen müssen. Aber ihre Mitpassagiere, befangen in träger, nächtlicher Erschöpfung, reagierten nicht weiter. Und es dauerte auch eine Weile, bis Mike aus einem tiefen Meer von Traumgespinsten an die Oberfläche der realen Gegenwart tauchte, seine Augenklappe hochschob, bis in seine krausen, schwarzen Haare hinein, und sich zu Angèle hinüberbeugte. »Was gibt's denn, Darling, Chérie?« Er suchte nach seiner randlosen Brille.

Sie sagte nichts. Gab keine weitere Erklärung ab. Starrte nur stumm nach draußen, wo der Feuerspuk, den sie umkreisten, langsam neben ihnen rotierte.

»Ein Feuer?« mutmaßte Mike. Er spürte, dass Angèle nickte.

»Ja, ein Feuer.« Obwohl sie nicht sicher war.

»Eigenartige Struktur!« stellte er fest. »Ein Feuer brennt also hier in der Wüste in der Form eines fünfzackigen Sterns mit fünf sich überschneidenden Radialen und einer idealen Winkelverteilung, scharfkantig und graphisch einwandfrei konturiert. Ein auffällig schönes Beispiel für ein zufälliges Fraktal.«

»Fraktal?«

»Millionen Feuer müssen brennen, Milliarden seit Erschaffung dieser Erde, bis schließlich eines die Form eines okkulten, antiken Symbols annimmt. Und ausgerechnet du bist nun Zeuge. Bist aufgewacht und siehst, was vermutlich keiner gesehen hat außer dir. Und natürlich stellst du jetzt geheimnisvolle, ganz persönliche, paranormale Zusammenhänge her. Denkst dabei an deine Freunde in Avignon, an den Schamanen-Priester der Indios im Hochland der Anden, an dein Amulett. Es hat ja eine ähnliche Form, wenn nicht sogar die absolut gleiche.«

»Ein Pentagramm …« flüsterte sie nur.

»Richtig: ein Pentagramm! Zufall und Chaos haben viele Gestalten. Und nach Millionen oder Milliarden formloser Versuche, nun, hier und in diesem Augenblick eben auch die Form eines Pentagramms.«

»Kein Zufall, Mike!« Wobei sie dachte: Elender Rationalist!

»Was dann? Wenn kein Zufall? Ein Spektakel dir zu Ehren? Mrs. Angèle Lionberger, gebürtige Mademoiselle Duvall – Willkommen in Australien …!? Weiße Magie? Zauberei? Oder das perfekt inszenierte Ritual von 100 000 Eingeborenen, trainierten, dressierten, feuerlegenden Buschmännern? Oder vielleicht gar Druiden? Hier, auf dem fünften Kontinent? Hast du das geahnt? Wizards of Oz? Was sagt da die Anthropologin?«

Sie sah ihn spöttisch an. Es war nur ein sehr kurzer, kritischer Blick in der Dunkelheit. Sie wollte keine Sekunde dieses Schauspiels versäumen. Denn die Linien des Pentagramms begannen sich bereits auszudehnen, schienen zu zerfließen, fraßen sich in benachbarte Flächen. Die Form zerfiel, löste sich zusehends auf, wurde zu einem banalen, alltäglichen Buschbrand.

»Alles kommt aus dem Chaos«, dozierte Professor Mike Lionberger, »und versinkt wieder im Chaos!«

Eben verschwand das Feuer unter dem Rumpf des Flugzeugs und damit aus ihren Blicken. Denn die Schleife war zu Ende. Der Kreis, der Orbit von 360 Grad, geschlossen. Die Maschine schwenkte wieder auf ihren ursprünglichen Kurs ein, setzte ihre Reise fort, als sei nichts geschehen.

»Ich werde diesen Vorfall in einen meiner Vorträge einbauen«, beschloss Michael Lionberger und lehnte sich wieder zurück.

»Vergiss dein Chaos und die ganze Konferenz! Lass mich durch, bitte!« Angèle war aufgestanden.

»Wohin?«

»Ich muss wissen, wo wir sind. Wo dieses Feuer brannte. Eine vollbesetzte Maschine kreist doch nicht aus Spaß über einem brennenden Pentagramm. Da steckt doch etwas dahinter.«

»Chaos …«, vermutete er erneut und half ihr, seine ausgestreckten Beine zu übersteigen. Er fasste nach ihrer Hüfte, nach ihrer schlanken Taille, hielt sie sekundenlang fest. Da beugte sie sich zu ihm herunter. Stützte ihre Hände auf seine Schultern. Ihre Lippen berührten die seinen. Ganz kurz nur. Aber sehr intensiv. Ihr Haar fiel auf sein Gesicht. Wehte leicht darüber hin. Verströmte dabei den schweren, süßen Duft nach Sandelholz. Ein Touch von Indien, ein Hauch von Asien. Nur einen Augenblick lang. Und schon wieder vorbei.

Das war eine ihrer spielerischen Begegnungen gewesen, die Berührung von zwei Langvertrauten. So im Vorübergehen. Im Dunkeln.

Angèle nahm auch die nächste Hürde, eine etwas beleibte ältere Dame. Die füllte tief schlafend den Außensitz neben Mike. Dann stand Angèle im Gang und sah sich suchend um. In der Pantry, am Ende ihres Compartments, weiter hinten im Heck, brannte Licht hinter einem Vorhang. Sie machte sich auf den Weg, etwas schwankend, obwohl die Maschine stabil wie ein Brett in der Luft hing und die Vibration der Triebwerke kaum zu spüren war. Von den Passagieren sah sie nur einzelne, matt erleuchtete Gesichter, sah Brillengläser, die das flackernde Filmbild der Fernsehschirme reflektierten, und tastete sich so, immer noch irritiert von dem glühenden Feuerzeichen, das sich tief in ihre Sinne und ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, von Sitzlehne zu Sitzlehne weiter.

Mike Lionberger rieb seine Augen, streckte sich, bemühte sich im Ansatz um einige isometrische Übungen, um seine erstarrten Muskeln zu aktivieren und zugleich zu entspannen. 13 Stunden Flug, und das nach einem anstrengenden Tag in London mit der Schluss-Konferenz einer einwöchigen Tagung, mit Vorträgen und Fachgeplauder. Das gleiche würde nun, allerdings gleich für sechs endlos lange Wochen, für ein halbes Semester, in Sydney stattfinden. Eine gut honorierte Gastprofessur. Chaos-Forschung und Nichtlineare Physik waren zurzeit absolut »in«! Man riss sich um ihn, so dass es ihm fast schon zu viel wurde. Ein Lichtblick war es da immerhin, dass seine attraktive Frau ihn auf dieser Reise begleiten konnte, weil das Reisebüro in Genf ihm seinen gebuchten und vom Institut bezahlten Business-Class-Flug freundlicherweise in zwei Super-Economy-Tickets umgetauscht hatte.

Professor Dr. Mike Lionberger, Inhaber zahlreicher Degrees amerikanischer Universitäten, war Physiker und erst Ende Dreißig. Genauer gesagt, er war Teilchenphysiker, beschäftigte sich mit den Bruchstücken des Atomkerns im europäischen Kernforschungszentrum CERN, mit »Chaos« in Bezug auf Solitonen in Teilchenschauern, die beim Zertrümmern der Kerne in den Riesen-Beschleunigern, den »Collidern«, entstanden. Für ihn war auch die Welt in ihrer existierenden Form eine Art von »Chaos«. Nichts weiter! Und die Feuerlinien eines zufällig pentagrammförmigen Fraktals resultierten daher für ihn aus Solitonen, aus zufälligen Schockwellen eines Brandes, die nur für eine begrenzte, kurze Zeit aktiv waren, bis zum Zerfall des eigentlichen Systems. Er würde den Fall durchdenken und das Phänomen bei Gelegenheit analysieren. Und zwar in einer simplen Computer-Simulation mit gebrochenen Dimensionen. Mit diesem Vorsatz zog er sich wieder hinter die Augenklappe zurück, einer Aufmerksamkeit dieser Fluglinie für alle Passagiere, gleich welcher Klasse, die allerdings, angesichts der Finsternis in der Kabine, während dieses Teils der Reise eigentlich überflüssig war.

4

»Wo sind wir, bitte?« Angèle hielt sich am Türrahmen zur Pantry fest, hatte den Vorhang zur Seite geschoben und sah den Steward geblendet und aus müden Augen fragend an.

Der hatte, am Boden kauernd, gerade flache Metallkörbe mit frischen Gläsern gefüllt, jetzt richtete er sich auf und wirkte verwirrt. Nicht allein wegen der nur schwer zu begreifenden Frage. Auch wegen dieser attraktiven Person, die so überraschend und geheimnisvoll in einem zerknitterten, hellen Leinenanzug hinter ihm im Halbdunkel aufgetaucht war und die nun, als er schwieg, mit einem leichten, jedoch unüberhörbaren französischen Akzent ihre Frage wiederholte:

»Wo sind wir, bitte?« Und nach einem weiteren, verständnislosen Blick des Stewards: »Noch über Indonesien?«

Er schien endlich verstanden zu haben. »Nein, nicht Indonesien. Wir sind, glaube ich, längst über Australien.«

»Sie glauben … «

»Ich könnte den Flight-Service-Director fragen. Aber der hat um diese Zeit immer eine kleine Pause.

Üblicherweise. Die Kabinen-Crew löst sich auf Langstreckenflügen ab.«

»Ich muss es genau wissen. Ist eine Stadt hier unter uns oder in der Nähe? Irgendein bekannter Ort?«

»Kaum.« Er lächelte. »Ich stamme aus Darwin. Hier oben im Norden Australiens, im Northern Territory, bis runter zur Ostküste, bis nach New South Wales, da gibt es keine Städte mehr auf der Route. Außer Alice Springs vielleicht. Sonst nur Wüste und Busch und ein paar einsame Farmen.«

»Das Flugzeug ist eben eine Kurve geflogen, einen großen Kreis.«

Der Steward schien nichts bemerkt zu haben.

»Wo sind wir, bitte?« Nun zum dritten Mal. Diesmal mit dem Zusatz: »Es ist sehr, sehr wichtig für mich. Ich bin Archäologin und Anthropologin. Ich frage aus einem rein wissenschaftlichen Grund.« Sie fasste dabei nach ihrem Amulett, das sie am dünnen Lederband um den Hals trug, ließ es in ihrer Hand verschwinden. Und als der Steward immer noch zögerte, schlug sie vor: »Erkundigen Sie sich doch beim Kapitän.«

Der Steward überlegte kurz. »Ich könnte den Ersten Offizier anrufen. Oben im Cockpit.« Er griff zu einem Wandtelefon, dem Intercom, tippte zwei Zahlen ein und wartete. Es dauerte eine Weile. Schließlich schien sich jemand zu melden. »Neil Watson, hier. Steward, Pantry, Economy. Ein Passagier ist hier bei mir, eine Dame. Sie fragt nach unserer Position. Es sei sehr wichtig.«

Er hörte kurz zu, dann fragte er Angèle: »Wollen Sie die exakten Grund-Koordinaten?«

»Den Ort nur, den wir gerade überflogen haben, bitte. Ganz einfach: Wo sind wir?«

Er gab die Frage fast wörtlich weiter: »Den gerade überflogenen Ort. Irgendeine Ortsangabe. Wo sind wir?« Und wiederum nach einer Pause zitierte er offenbar simultan die Antworten des Ersten Offiziers, die direkt aus dem Cockpit kamen: »Western Australia … 196 Meilen ostsüdöstlich von Derby … Zwischen Sparke Range und Mount Huxley … Etwa 50 Kilometer nördlich von Bohemia Downs … Christmas Creek … und einer Spanischen Mission.« Er wartete vergeblich auf weitere Informationen. »Genügt Ihnen das?«

»Ja«, sagte Angèle, »das genügt mir. Danke.«

»Das genügt«, wiederholte der Steward. »Danke! Over und Ende. – Soll ich es Ihnen aufschreiben?« fragte er noch, während er den Hörer wieder in die Gabel des Intercom hängte.

»Nicht nötig. Ich kann es mir merken.« Sie verschwand hinter dem Vorhang und in der Dunkelheit der Kabine. Der Steward sah ihr noch nach, war von der überraschend aufgetauchten, aparten nächtlichen Erscheinung nach wie vor beeindruckt und prägte sich den Platz ein, wo sie saß. Der Duft eines Parfüms, das er nicht kannte, hing fremd und exotisch in der kleinen Pantry, nur ein Hauch, der rasch verflog.

Angèle balancierte inzwischen zehn, zwölf Reihen weiter vorn über die Beine anderer Passagiere hinweg und ließ sich auf ihren Sitz am Fenster fallen.

Die Blende war noch oben. Nun sah sie den Himmel: eine sternenklare Nacht. Der Mond war durch ihr Fenster nicht zu entdecken. Aber die Flügel und Triebwerkverkleidungen vor ihr reflektierten einen milden, metallischen Schimmer. Unter ihr war nichts als schwarze Unendlichkeit. Keine Spur menschlichen Lebens. Sie suchte nach dem Sensor für das Leselicht, fand ihn schließlich, kramte in ihrer übervollen Umhängetasche nach Notizbuch und Stift und notierte sich: »196 Meilen ostsüdöstlich von Derby. Sparke Range/Mount Huxley 50 Kilometer nördlich von Bohemia Downs, Christmas Creek, Spanische Mission.« Sie unterstrich diese letzten beiden Wörter.

5

Kapitän Patrick O'Connell hängte das Mikrofon des Kurzwellensenders zurück auf den Haken und nahm die Kopfhörer ab. Er hatte Perth Control informiert, dass Qantas-Zehn wieder auf der Route A576 mit Kurs 123° flog, und zwar auf dem ursprünglich zugewiesenen Flightlevel 370, also auf 37 000 Fuß. Und dass nach einer Schleife von 360 Grad und mit einer Verzögerung von insgesamt 370 Sekunden der Reiseflug Richtung Pavko-Alice Springs-Sydney fortgesetzt würde. Geschwindigkeit: 0,84 Mach unverändert. Verspätung gegenüber ATC-Flugplan: 280 Sekunden, die man aufzuholen gedachte. Over und Ende.

Er blickte zu seinem Copiloten. Der war gerade wieder mit Eintragungen in Fluglog und Bordbuch beschäftigt.

»Wer war da eben dran?« O'Connell zeigte auf das Telefon des Intercom.

»Einer der Stewards, Economy. Eine Frau hat sich bei ihm nach unserer Position erkundigt. Wollte wissen, wo wir sind.«

»Und?«

»Ich hab es ihr gesagt.« Er faltete die bunte Tactical Pilot Chart sorgsam wieder zusammen, die Sichtflugkarte, der er die Ortsnamen für sein Protokoll entnommen hatte.

»Sagen Sie's mir auch«, bat O'Connell. »Schreiben Sie's auf: Position, Namen der Orte.«

MacKenzie notierte alles, riss den Zettel vom Block und reichte ihn weiter. »Etwa 18°14 Süd, 126°10 Ost.«

»›Spanische Mission‹?« las O'Connell.

»Steht so auf der Karte. Und ringsherum lebensfeindliche, ausgedörrte, wasserlose Einöde, Felsformationen, Hochplateaus und Steinwüsten, durchzogen von unpassierbar gewordenen Pisten. Ausläufer der Great Sandy Desert.«

»Wen zum Henker wollen die Spanier dann da unten missionieren?«

»Abos. Black-Fellows! Was sonst?«

»Die Ärmsten!«

»Missionen gibt es laut Karte Dutzende da unten, malerisch verstreut über den ganzen Norden. Die meisten sind allerdings verwaist, aufgegeben seit 100 Jahren. Verfallene Ruinen. Der Verkauf des Evangeliums war auf die Dauer kein lukratives Geschäft. Aber Kartographen sind penible Leute. Die zeichnen alles ein, was es irgendwann einmal gab. Zur Orientierung. Und zum Ergötzen der Nachwelt.« Er packte die Sichtflugkarte zu den übrigen in die dafür vorgesehene Tasche und verstaute sie wieder hinter sich unter dem Klapptisch, in der Bibliothek.

Nanu, dachte O'Connell, der Bursche hat ja Humor. Wer hätte das gedacht. Dann bestellte er beim Steward noch zwei weitere Tassen »Special-brew« und war sich bewusst, dass er heute, in dieser Nacht, auf diesem Routine-Flug QF10, etwas Außergewöhnliches erlebt und gesehen, aber auch eine Eigenmächtigkeit durchgesetzt hatte, die in dieser Form in den Regularien bestimmt nicht vorgesehen war. Und er war sich nicht sicher, ob man ihm das so ohne Weiteres verzeihen würde.

6

Blutrot und riesig wie ein Ballon hing die Sonne über dem Pazifik, irgendwo im grauen Nichts und nur knapp über einem von Dunst und Smog wegretuschierten Horizont, als der gewaltige Jet langsam über der Stadt einschwebte. Sechs Uhr 28 Ortszeit. Noch vier Minuten bis zum Aufsetzen Runway eins-sechs auf Sydneys Kingsford-Smith-Airport.

Es war doch noch ein Routineflug geworden. Alle Vorbereitungs-Checks der Crew für Anflug, Sinken und Landung waren abgeschlossen. Optimale Sicht. Leichter Wind aus Südost. Keine Warteschleife, keine Verzögerung in letzter Minute, kein mühsames Einreihen in eine Staffelung zum Endanflug. Die Maschine hielt im Sinkflug und unter Radareinweisung mit Kurs 160° exakt auf den noch sieben Meilen entfernten Runway zu, der weit in die Botany Bay hineinragte, in die Bucht, die vor 200 und einigen Jahren Captain Cook als Ankerplatz gedient hatte. Hier hatte das Abenteuer der britischen Kolonisierung Australiens begonnen.

Qantas-Zehn wurde zur Landung freigegeben.

Noch sechs nautische Meilen bis zur Landebahnschwelle, noch fünf.

Links der Hafen im gleißenden Gegenlicht. Das legendäre Opernhaus, seine weiß schimmernden Dächer wie Muscheln, wie geblähte Segel. Schräg unten die Harbour Bridge. Höhe noch 1500 Fuß. Sinkgeschwindigkeit 300 Fuß pro Meile. Das ILS, das automatische Landesystem, sprach auf den Funkkontakt mit dem Gleitpfadsender an.

»Navigation grün. Gleitpfad aktiv.« Der Copilot machte die Meldung, und der Kapitän wiederholte sie.

Die Befeuerung der Landebahn kam in Sicht, tauchte bunt und grell aus dem grauen Morgendunst.

Der Autopilot regelte die Leistung der vier Triebwerke zurück.

»Klappen 20, bitte.« O'Connell kontrollierte seine computergesteuerten Automaten, eine Hand locker auf der Steuersäule, die andere auf den Schubhebeln. Er war bereit, jederzeit manuell einzugreifen, wenn es die Umstände erfordern sollten.

»Klappen 20«, wiederholte Eric MacKenzie und fuhr die Landeklappen auf die gewünschte Position.

Die Geschwindigkeit ging rasch zurück: 180 Knoten, 170, 160 …

»Eintausend Fuß.« Der Copilot behielt den Höhenmesser im Auge.

»Fahrwerk raus. Landecheck.«

Gemeinsam kontrollierten sie das eingerastete Fahrwerk, die Hydraulik, das automatische Bremssystem.

Sie überflogen das Voreinflugzeichen, und die Nadeln des ADF, des automatischen Richtungsanzeigers, schwangen herum.

»Voreinflugzeichen überflogen«, meldete MacKenzie der Radarkontrolle und stoppte die Zeit. Noch zwei Minuten und 20 Sekunden bis zum Aufsetzen.

Die Landefreigabe wurde vom Tower bestätigt, nochmals wurden Windrichtung und Stärke durchgegeben. Der Kapitän war nun auf eine leichte Abdrift vorbereitet, schaltete die beiden Autopiloten und den Vortriebsregler aus, um den Anflug bis zur Landung mit Hand fortzusetzen.

Qantas-Zehn hatte die Höhe 420 erreicht.

»Noch 100!« rief MacKenzie, und bei 320 Fuß: »Entscheidungshöhe!«

Das war der letzte Augenblick, um im Notfall eine Landung abzubrechen und durchzustarten.

»Weiter!« sagte O'Connell. Da war nichts Unvorhergesehenes mehr in Sicht. Ein Routineflug eben, dachte er und nahm die Schubhebel weiter zurück.

»Einhundert Fuß«, rief MacKenzie. »50 … Landebahnschwelle überflogen … 30 …«

Da zog O'Connell sorgsam, fast zärtlich und wie mit Fingerspitzen die Nase der immer noch 256 Tonnen schweren Maschine etwas nach oben und ließ sie ausschweben. Sanft, wie auf Samt, berührten die 16 Räder des Fahrgestells fast gleichzeitig den Beton. »So hat man das gern«, murmelte er, als die automatischen Bremsen griffen und auch das Bugrad aufsetzte. Die Triebwerke heulten auf, als er auf Schubumkehr schaltete, um die gewaltige Masse zum Stehen zu bringen.

»Ja, das war's für dieses Mal«, bemerkte MacKenzie, als sie das Ende der Landebahn erreichten, nur um irgendetwas zur Konversation beizutragen. Er notierte die angefallenen Daten in Fluglog und Bordbuch. »Knapp zwei Minuten vor der Zeit.«

O'Connell nickte nur, nahm den Schub weiter zurück und steuerte, von der Bodenkontrolle angewiesen, mit dem Bugrad über das Gewirr der Taxiways zum zugewiesenen Flugsteig am Abfertigungsgebäude.

Andocken. Triebwerke aus. Bodenaggregat an. Schließlich: Bremsklötze vor.

Sechs Uhr 33. Tatsächlich zwei Minuten vor Plan. Erst jetzt war der Flug offiziell zu Ende.

Und O'Connell dachte darüber nach, dass er nach ihrer umstrittenen Schleife über dem Feuerzeichen in diesen verbliebenen reichlich dreieinhalb Stunden mit seinem Ersten Offizier kein einziges Wort mehr über den Vorfall gewechselt hatte.

7

30 Minuten später fuhr O'Connell seinen Wagen aus der Garage des Airports, reserviert für technische Crew, und fädelte sich in den Morgenverkehr der Millionenstadt ein. Den gesamten Papierkram, Formulare, Fluglog, Bordbuch, hatte er zuvor samt der Maschine an Bodencrew und Dispatcher übergeben. VH-OJA würde in spätestens zweieinhalb Stunden, peinlichst durchgecheckt, gewartet und gereinigt, zur nächsten Reise starten: als QF27 nach Hongkong.

Sydney. Die Stadt. Seine Traumstadt, die er liebte. Wunderschön, aber zu groß. Viel zu groß. Und zu voll. Zu geschäftig.

Über den Wolken … Na ja … Eine zwar reglementierte Freiheit: Luftstraßen. Flugkontrollpunkte.

Zugewiesene Flugflächen. Radarkontrolle. Warteschleifen. Überflugverbote. Freigabepermits. Tropische Cyclone. Taifune. Eis und Nebel. Aber immerhin Freiheit. Dagegen hier unten: Staus und Smog und Gedränge.

Er wohnte in Dee Why, einem der über 80 reizenden, ruhigen, begehrten Vororte Sydneys. Die permanente Lebensqualität war dort kein leeres Versprechen, sie war gewissermaßen einprogrammiert. Man nahm sie als selbstverständlich. Aber Dee Why lag am anderen Ende der Stadt, im Norden, dem Flughafen diametral entgegen.

Es war ursprünglich das Haus der Schwiegereltern gewesen. Die hatten es in den dreißiger Jahren gebaut. Eingeschossiger Kolonialstil: zwei Säulen am Eingang, kleiner Giebel, überstehendes Dach. Vor 25 Jahren waren sie nach Queensland weggezogen. In wärmere Gefilde. Die Übernahme war eine praktische und wirtschaftlich einleuchtende Lösung. Man blieb auch später dort, trotz Job und entnervendem Anmarschweg bis hinunter zur Botany Bay. Schon wegen der Kinder. Kein Schulwechsel. Die Freunde blieben die gleichen, die Nachbarn, die Bekannten. Man hatte sich an Dee Why gewöhnt, an das kleine Durchschnittshaus, den kleinen Durchschnittsgarten mit Pool, an das Durchschnittsleben dort draußen. Man hätte sich auch Point Piper leisten können, Double Bay oder Connels Point. Oder auch Pittwater, Palm Beach, wo viele Kollegen wohnten in Erwartung ihrer Pensionierung. Flugkapitäne verdienen ja nicht schlecht. Aber alles ist relativ und wird irgendwann zur Routine. Und Prestige war in diesen Kreisen nicht gefragt.

Jetzt waren die Kinder längst aus dem Haus. Stattdessen hatte sich nun Trägheit eingestellt.

Durchschnittsträgheit. Routineträgheit. Man blieb, wo man war, auch wenn der Anmarsch zum Flughafen inzwischen eine volle Stunde verschlang, zur Rushhour noch eine halbe Stunde mehr.

Jetzt, zum Beispiel, war Rushhour. Am frühen Morgen vom Süden ins Center, das war die Hölle. Oder am späten Nachmittag über die Harbour-Bridge nach Norden, nach Dee Why, das war Terror. Aber was soll's: Man fuhr ja nur manchmal die Strecke. Man kam ja nur manchmal nach Hause. Nach neun Tagen, wenn es nach London ging. Nach sieben, wenn man für Los Angeles und San Francisco eingeteilt war. Tokyo dauerte vier, Afrika, Simbabwe, Harare sechs Tage. Neuseeland oder Hawaii nur drei.

Es war Freitag früh. Bis Montagabend Ruhe.

Doch es sollte anders kommen.

8

Auf der Harbour Bridge flutete ihm der Verkehr dreispurig entgegen. Seine eigene Spur, stadtauswärts, war weitgehend frei. Runter vom Highway an der Military Road, auf der Spit Bridge über den Middle Harbour und dann immer noch 20 Minuten.

Richmond Avenue. Gleich oberhalb der Lagune. Drei Minuten zum Strand. Er parkte seinen Wagen neben dem Station-Wagon seiner Frau im Doppel-Carpark. Drinnen heulte der Hund. Wiedersehensfreude. Brenda war noch im Schlafzimmer, sortierte Wäsche ein. Küsschen links, Küsschen rechts, wie auf einer Party, dann ein kameradschaftlicher Schulterklaps. Man war nicht mehr jung, nicht mehr albern genug, um sich in wilde Emotionen zu stürzen. Nach neun Tagen und einem Routineflug nun eine Routine-Heimkehr. Zum Routine-Familienleben eines Paares diesseits und jenseits der Fünfzig.

Brenda war lieb. War verständnisvoll. War stets ausgeglichen und guter Laune. Die einstmals schlanke, rothaarig-irische Göre mit einem Gesicht voller Sommersprossen war im Lauf der Zeit etwas fülliger geworden, mütterlicher. Die roten Haare schimmerten im Gegenlicht silbern, und die lustigen Fältchen um die Augen hatten sich während der letzten 24 Jahre etwas tiefer eingegraben. Waren beinahe schon zu Falten geworden. Obwohl Brenda nicht mehr ganz so viel lachte wie früher. Nur die Sommersprossen waren noch die gleichen.

Es war noch früh in Dee Why. Aber Brenda war wach und voller Energie. Und sie erzählte, war voller Neuigkeiten: Shirley, die Tochter, hatte gestern angerufen, sie wohnte ja ganz in der Nähe mit ihrem Mann, ihrem Kind, und sie kämen am Samstag vorbei, und ob das Kind, das Enkelkind also, ein Mädchen, sieben Monate alt, über Nacht bei ihnen bleiben könne. Shirley und Steve, ihr Mann, hätten was vor. Eine Party. Ach ja, und Thomas, der Sohn, rief vorgestern an. Studium in Melbourne, Economy drittes Semester. Das war nicht das Problem. Das Studium lief bestens. Nur: Er bat dringend um Geld.

O'Connell hörte zu und nickte. Er war müde. Hundemüde.

Er hätte erzählen können: Von einem gigantischen Feuerzeichen, zum Beispiel, nahe der Wüste, im Outback, im Busch. Von einem lodernden Pentagramm.

Er tat es nicht. Lustlos blätterte er in der Zeitung und stocherte dabei in Rührei mit Schinken. Das zweite Frühstück. Nein, keine Cornflakes, danke. Aber noch eine Tasse Kaffee.

Nachher legte er sich hin und grübelte, warum ihm das Ereignis dieser Nacht nun wie ein Traum erschien. Unwirklich. Undenkbar. Jenseits des realen Empfindens. Damit schlief er ein.

Es war früher Nachmittag, als er benommen wieder zu sich kam. Auch Kapitäne mit dreißigjähriger Erfahrung leiden unter Jet-lag, unter dem Stress der Zeitverschiebung, der Folter für die innere Uhr. In London war es jetzt fünf Uhr früh.

Er hatte sich vorgenommen, den Pool zu säubern. Blätter lagen am Grund, tote Insekten. Er maß den Salzgehalt, kontrollierte den Filter, zerlegte das Chlorierungsgerät, um es zu entkalken, und bekam bei allem Verständnis für jedwede Form der ihm anvertrauten Hightech nicht heraus, wie das verdammte Ding funktionierte.

Gemeinsam gingen sie mit dem Hund runter zum Strand. Kein weiter Weg. Es war Herbst geworden, das überraschte ihn. Verschwunden waren die schicken Mädchen mit ihren kessen Bikinis, die mutigen Topless-Girls, die in diesem konservativen Viertel die angelsächsischen Bürger in ihrer heimlichen Prüderie gern provozierten. Auch keine Surfer mehr. Am Strand war kein Mensch. Die Flut hatte Tang abgeladen in breiten Streifen. Der Hund tobte darin herum. Bonny, ein Spaniel. Ziemlich alt und angegraut und schon der dritte. Nach jeweils zehn, elf Jahren starben sie ihnen weg.

Herbst hier, »Down-Under«. In London war Frühjahr gewesen. Das erste Grün im Hyde Park, gegenüber von seinem Hotel. Nur die Bäume waren noch kahl. In drei Jahren würde er pensioniert. Und über das Feuerzeichen kein Wort.

9

Ein Samstag. Ein Sonntag. Routine-Wochenende. Die Tochter tauchte auf, wie verabredet, mit Schwiegersohn und Kind. Es gab Kaffee und Kuchen und am Abend ein Barbecue. Im Fernsehen lief »Neighbours«. Es zu versäumen, war sträflich. Nachbarn kamen am Sonntag vorbei. Er erklärte, dass die 16 Reifen des Jumbo nicht nach jeder Landung gewechselt würden, sondern durchaus einen Puff vertrugen.

Dass er zurzeit nur auf den allerneuesten Großraum-Maschinen flog, Boeing 747-400, von denen jede 120 Millionen kostet, einhundertzwanzig Millionen U.S. Dollar. Dass er jedes Jahr nicht nur medizinisch durchgecheckt wurde, sondern einen ganzen Tag zur Prüfung in den Simulator musste. Dazu regelmäßige Tests für Instrumentenlandung, Flug durch Turbulenzen, Zusatztraining für Radiokompass und Funknavigation und ständig Starts und Landungen, bei Tag, bei Nacht und bei schlechter Sicht. Auffrischen der Lizenz, hieß das. Auch für ihn als Senior-Kapitän, wie für jeden anderen Piloten auch. Ja, und einen Cyclon habe er auch schon abgeritten. Allerdings war das lange her, und er flog damals eine DC8. Aber es war alles gutgegangen.

Es sei immer alles gutgegangen. Der Sicherheitsstandard war noch nie so hoch, sagte er.

Dann hörte er sich die Flugreisegeschichten und Abenteuer aus der Perspektive von Passagieren an, die schon zweimal in ihrem langen Leben Europa bereist hatten. Zweimal schon Sydney – London und zurück! Immerhin.

Da war für ein loderndes Pentagramm, konversationsmäßig betrachtet, kein Platz.

Montag früh packte er bereits die gebügelten Hemden in den Koffer, Unterwäsche, Socken. Dabei war Abflug nach Harare/Simbabwe, über Zwischenstation Perth an der Westküste Australiens, erst um 22 Uhr. Briefing für QF23 um 20 Uhr 30 beim Dispatcher. Als hätte er etwas geahnt.

Dann kam tatsächlich der Anruf.

Brenda nahm ihn entgegen und rief ihn aus dem Garten herein. Er hatte den Rasen erst zur Hälfte gemäht.

Es war Clayton Robinson, der Chef-Pilot der Company. Er rief von der Flugleitung aus an, vom Operation Center. Es gebe da etwas zu besprechen. Vorschlag: 15 Uhr. Aber nicht draußen am Flughafen. Nein, in der City. Im Head Office, Qantas-International-Building. Parkplatz im Keller. Achter Stock. Konferenzraum zwei.

O'Connell hatte mehr als eine Vermutung, worum es ging, und eigentlich auf den Anruf gewartet. Keine große Überraschung also. Nur: wieso Konferenzraum? Wer zum Teufel wollte da alles mit ihm konferieren? »Was will er von dir?« fragte Brenda. Sie kannte Clayton Robinson.

»Reden … «

»Worüber?«

»Keine Ahnung!« Jetzt hätte er sein Schweigen brechen können. Erzählen. Aber das Feuerzeichen in der Wüste war 3000 Meilen entfernt und längst erloschen. Wie die Erinnerung daran. Oder besser: die erregende Empfindung! Es war als sinnliches Ereignis nicht mehr existent.

»Ich dachte, du fährst erst um sieben. Nachtflug nach Perth.«

»Nein. Schon um zwei.«

»Und weshalb?«

»Der Anruf eben! Du hast doch gehört. Da gibt es etwas zu klären. Zu bereden. Vermutlich.«

Dann der Routine-Abschied.

Der Hund sprang am Wagen hoch, als er die Tür schloss, die Seitenscheibe herunterließ. Uniformjacke, vier Streifen am Ärmel, Mütze, Kleidersack und Pilotentasche, das alles lag hinter ihm auf dem Sitz. Sechs Tage Afrika-Roundtrip alles in allem, inklusive zweimal Unterbrechung an der Westküste Australiens. Sonntag sei er zurück. Gegen neun. Neun Uhr abends. Byebye, Brenda. Küsschen und Schulterklaps. Ausgerechnet jetzt hatte er Lust, mit ihr zu schlafen.

Er sagte es ihr, und sie lachte ihn an mit tausend lustigen Fältchen.

Stau auf der Harbour-Bridge. Er schaffte es trotzdem pünktlich um drei. Achter Stock.

Der Konferenzraum zwei war leer. Fast leer. Leer bis auf Clayton Robinson, hemdsärmelig und ohne Krawatte. O'Connell kam in voller Uniform, die Mütze in der Hand, in Erwartung einer hochnotpeinlichen Befragung durch ein größeres Gremium. Nun war es also ein Gespräch unter vier Augen.

»Hallo, Patrick!«

»Hallo, Clayton!«

»Wie geht's?«

»Danke, gut. Und selbst?«

»Alles okay. Wie immer. Nimm Platz.«

Konferenztisch mit zwölf Stühlen. O'Connell nahm einen in der Mitte, legte die Mütze vor sich hin wie das Symbol eines Walls. Verteidigungswall. Er wartete ab, sah sich um.

In der Ecke ein Bücherregal, ein Tisch mit Zeitschriften und Magazinen, ein eingebauter, mahagoniverkleideter Kühlschrank.

Bilder von alten Maschinen aus der siebzigjährigen Geschichte der Airline, unter Glas und nobel gerahmt, schmückten die Wände.

»Willst du ein Bier?«

»Danke, nein.«

»Scotch oder Bourbon?« Clayton stand grinsend neben dem Kühlschrank, zwei Flaschen zur Auswahl in der Hand.

»Weder noch, Clayton. Oder ist das ein Test? Ich fliege um zweiundzwanzig-nullnull die QF23, die Maschine Sydney-Perth-Harare.«

»Scotch oder Bourbon?« Clayton ließ nicht locker.

»Was soll das, Clayton?«

»Du fliegst nicht, Pat. Heute nicht. Und morgen nicht. Wir haben kurzfristig umdisponiert. Tut mir leid. Du kannst dich also entscheiden: Scotch oder Bourbon?«

»Kaffee … «

Da lag Krieg in der Luft.

Unsinn: Er war bereits erklärt.

»Wie du willst.« Clayton stellte die Flaschen zurück in den Kühlschrank. »Vielleicht nach unserem Gespräch … «

Kaffee gab es offenbar keinen.

Clayton griff sich ein Bündel Papiere. Fotokopien und anderes. Die lagen als kleiner Stapel etwas verloren auf dem sonst leeren Konferenztisch. Die hellblaue Personalakte kam zum Vorschein: »Patrick O'Connell«, darunter, schräg in der Ecke, das Signet der Company: das fliegende Känguru auf leuchtend rotem Grund. Clayton Robinson entfaltete ein längeres Telex und warf einen kurzen Blick darauf. Er hatte sich auf diese Begegnung mit einem seiner Piloten anscheinend gut vorbereitet. Dann nahm er ebenfalls am Konferenztisch Platz, O'Connell genau gegenüber, lehnte sich zurück und sah seinen Senior-Captain fragend an: »Du musst mir das erklären, Patrick, was das ist: ein Pentagramm!?«

10

O'Connell lachte. Es war ein schüchternes, unterdrücktes Lachen. Leicht verschämt. Fast jungenhaft. Das passte so gar nicht zu einem erfahrenen Senior-Captain. Er sah weg, sah kurz zum Fenster hin: Skyline. Der Fernsehturm. Überstrahlende Helle. Dann schob er seine Uniformmütze zur Seite und malte mit dem Zeigefinger ein unsichtbares Pentagramm auf die Politur. In einem Strich. Ohne abzusetzen.

Clayton nickte. »Drudenfuß …«

O'Connell überhörte den leicht spöttischen Unterton. »Ja … Drudenfuß …«

»Gut gemacht. So in einem Strich …«

Er versuchte es ebenfalls, lachte, gab auf. »Hat was mit Hexerei zu tun. Ja?« Clayton fragte mit gewissen Hintergedanken.

»Auch. Ein uraltes Symbol. Das magische Zeichen der Druiden.«

»Spiritualismus. Du kennst dich aus.«

»Die Druiden waren die Priester der Kelten. Die Zauberer, Wahrsager, Ärzte. Vor 3000 Jahren, glaube ich. Ich bin selbst ein Kelte. Aus Cornwall.«

»Stimmt.« Clayton hatte die Personalakte aufgeschlagen. »Geboren in Penzance …«

»Südwestecke Großbritanniens. Landsend. Das Ende der Welt. Für die Insel-Kelten zumindest.«

»Ich weiß, wo das ist. Penzance, Landsend. Und ich dachte immer, du bist Australier. So ›true-blue‹, so durch und durch … Und nun bist du ein Einwanderer, ein Cornish-Man aus Cornwall …«

»Ich bin Australier!« Das war mit Nachdruck gesagt, so mit einem leichten Anflug von Zorn und gegen jeden Zweifel. »Ich war elf, als ich hier ankam. Mit meinen Eltern. Die waren Einwanderer, das ist richtig.« Er zuckte die Schultern und dachte, er könne sich jeden weiteren Kommentar zu diesem Thema ersparen. Aber dann fand er es trotz allem sinnvoll und wichtig, etwas eindeutig festzustellen und jeden Irrtum auszuschließen: »Seit 41 Jahren bin ich nun Australier. Ich denke, das genügt!«

»O ja, o ja! Das genügt. Verzeihung, sorry!« Clayton schlug die Personalakte wieder zu. »Zurück zu diesem Drudenfuß, zu diesem Pentagramm: Europäische Terroristen benutzen das gleiche Symbol. RAF, die Roten Brigaden.«

»Der fünfzackige Stern prangt auf den Maschinen der U.S. Airforce und – immer noch – auf den Bombern der Sowjetarmee. Einmal weiß, einmal rot.«

»Ja, und Israel … «

»Halt! Falsch, Clayton! Der Davidstern auf den Heckflossen der israelischen EL-AL-Maschinen, das sind zwei Dreiecke. Einmal Spitze nach oben, einmal Spitze nach unten, aufeinandergesetzt.«

»Ich weiß! Danke, Pat, für die Belehrung.«

»Der Davidstern hat sechs Zacken. Das Pentagramm hat nur fünf. Fünf war für die Kelten die heilige Zahl. Das Pentagramm fand sich überall bei uns im Land, in Cornwall, in Wales … Sicher auch in Irland.«

»Und nun brannte da also etwas mit fünf Zacken in der Wüste …«

»Ihr habt mit MacKenzie gesprochen?«

»Nur kurz. Er hat ein Buschfeuer protokolliert. Nicht mehr und nicht weniger. Und ein Senior-Captain verlässt mit einer fast voll ausgebuchten Maschine, 18 First-Class, 103 Business-Class, 242 Economy, das sind 363 Passagiere plus 14 Kabinen-Crew, plus zwei im Cockpit … Hier!« Er schob O'Connell die Computerausdrucke der Passagierliste und der Crewliste über den Tisch, die der selbst abgezeichnet hatte. »Verlässt dieser Mann, der Skipper dieser Maschine, mit 30 Jahren Flugerfahrung, die von der Air-Traffic-Control zugewiesene Route, um in aller Ruhe über einem Buschfeuer zu kreisen. Mit 379 Menschen an Bord und mit einem Gerät für 170 Millionen australische Dollar!«

»Es war mehr als nur ein Buschfeuer, Clayton. Es war ein … ein Phänomen!«

Clayton schüttelte den Kopf. »MacKenzie hat lediglich ein Buschfeuer protokolliert, hier …« Er blätterte O'Connell die Fotokopien von Fluglog und Bordbuch hin. »Und er hat nach eingehender Befragung auch nicht viel mehr gesehen!«

»Er soll kommen. Soll hierherkommen. Ich kann eine Gegenüberstellung und eine nochmalige Befragung in meiner Gegenwart verlangen!« O'Connell unterdrückte mühsam seine Erregung. »Die Regularien schreiben vor, dass in Zweifelsfallen … wenn Aussage gegen Aussage … eine Differenz zwischen Pilot-in-Command und First Officer …«

Clayton unterbrach ihn. »MacKenzie ist unterwegs: Auckland – Buenos Aires. QF881. Seit drei Stunden. Er ist erst nächste Woche wieder hier. Und wir haben beschlossen, wir klären die Sache jetzt. Hier und heute!«

»Ich habe eine Meldung abgesetzt. Außerordentliches Ereignis.«

»Ja, die ist eingetroffen.« Er faltete den langen Streifen des Telex auf. »Perth Radio. Die Meldung landete logischerweise hier, gibt uns allen Rätsel auf.«

»Der Fall ist rätselhaft! Ich gebe das zu.«

»Ja, Patrick. Und für das, was du gesehen haben willst, hast du keinen Zeugen! Und eine Pan-Meldung, bitte, lies in den Regularien nach und sag mir, wenn ich mich täusche … Aber ›Pan-Pan-Message‹ steht für Urgency, ein Funksprechverfahren bei Dringlichkeit. Eine Situation, die die Sicherheit des Flugzeuges oder anderer Fahrzeuge, Schiffe auf See, Bohrinseln oder eine Person an Bord oder in Sicht betrifft, die aber keine sofortige Hilfe erfordert. Habe ich das richtig zitiert?«

»Ich habe keine Pan-Meldung abgegeben. Nur einen Hinweis auf ein außerordentliches Ereignis.«

»Dann hat Perth Radio sich also getäuscht.«

»Hat sich getäuscht. Ich bitte, die Bänder abzuhören.«

»Das haben wir bereits getan. Gut: kein Pan-Meldung. Aber wir haben festgestellt, du hast die Luftstraße A576 verlassen und die Schleife bereits begonnen, bevor du die Genehmigung dafür eingeholt hast.«

»Das hat MacKenzie im Fluglog vermerkt.«

»Das hat MacKenzie im Fluglog vermerkt. Korrekt. Und Perth Control hat es ebenfalls mitbekommen und ausführlich protokolliert. Und kommentiert.«

»Die mir zugewiesene Flugfläche drei-sieben-null war hinter mir frei auf mehr als 200 Meilen.«

»Die Voraussetzung für deinen Orbit und die Genehmigung dazu stellt ausschließlich die Air-Traffic-Control fest, nachdem sie sich vorher am Radar informiert hat.«

»Ich war ebenfalls hinreichend informiert. Und erst die umständliche, langwierige Anfrage-Prozedur, dann der Orbit, das hätte uns zu viel Zeit und zu viel Sprit gekostet.«

»Richtig! Der Orbit kostete sechs Minuten. Das sind fast eine Tonne Sprit. Die Kosten sind ja wohl bekannt.«

»Ich bin in meiner Entscheidung, einen Orbit zu fliegen, absolut frei und niemandem Rechenschaft schuldig.«