Reise in eine strahlende Zukunft - Rainer Erler - E-Book

Reise in eine strahlende Zukunft E-Book

Rainer Erler

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Beschreibung

Ein fesselnder Mafia-Roman, wie er näher an der Wirklichkeit nicht sein könnte. Seit sechs Wochen gibt es kein Lebenszeichen vom Zeitungsreporter David McGhee. Die quälende Ungewissheit über seinen Verbleib setzt seiner Freundin Susan Galloways zu. Mitten in der Nacht kommt der erlösende Anruf – David lebt! Die Verbindung ist schlecht, doch die unzusammenhängenden Wortfetzen lassen nur einen Schluss zu: David ist einem Riesenskandal auf der Spur. Dann hört Susan Schüsse, die Leitung ist tot. Gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter macht sich Susan auf die Suche nach ihrem verschollenen Freund und gerät dabei selbst ins Fadenkreuz der Atom-Mafia … Dieser spannende Mafia-Roman wurde unter dem Titel »NEWS – Bericht über eine Reise in eine strahlende Zukunft« verfilmt.

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Rainer Erler

Reise in eine strahlende Zukunft

Thriller

1

Der erste Anruf kam zwei Stunden nach Mitternacht. Der schrille Ton bohrte sich in ihren Schlaf, drängte sich in ihre Träume, weckte dort bizarre Bilder, verwoben in ein Geflecht aus Angst und Bedrohung.

Langsam sickerte er in ihr halbwaches Bewusstsein. Schaltete dort ihren Körper auf Panik. Der Adrenalinspiegel in ihrem Blut stieg schlagartig an, stimulierte den Herzschlag, ihr Puls begann zu rasen, pochte bis in die Schläfen, und sie rang nach Luft.

Mattschwarze Nacht umgab sie wie Samt. Durch den Vorhang drang das bläuliche, grünliche, rosaflackernde Licht des Shopping Center gegenüber.

Das Telefon! Sie richtete sich auf.

Der Ton schmerzte sie, dieser nicht endende, entnervende Doppeltakt. Eine Ahnung überfiel sie. Und eine Hoffnung.

Sie kroch über das leere Bett an ihrer Seite. Sein Bett! Hektisch, voller Unruhe und Erwartung tastete sie nach dem Hörer:

»Ja …?!«

Aber da war nichts. Kein Laut. Keine Stimme. Nur ein undefinierbares elektrisches Rauschen. Wie von weit, sehr weit her. Susan hörte auf zu atmen.

»Hallo …«

Keine Antwort. Nicht einmal ein verräterisches Knacken. Nur einfach nichts.

»Hallo! Wer ist dort?!!«

Niemand war dort.

Da verflüchtigte sich diese Ahnung, diese Hoffnung. Ein Augenblick tiefer Enttäuschung, betrogener Erwartung. Sie legte den Hörer zurück, fand den richtigen Platz nicht, der Hörer entglitt ihren schweißnassen Händen, fiel neben dem Bett zu Boden. Sie suchte ihn, tastete über den Teppichbelag, spürte die Weichheit dieser Wollfasern, ganz überraschend, eine Unwichtigkeit, die plötzlich Bedeutung erhielt, zog den Hörer an seinem spiraligen Kabel nach oben, legte sich schließlich wieder zurück, quer über dieses Doppelbett, und hörte auf ihren Atem. Und auf ihren Herzschlag. Und fühlte die Schweißtropfen, wie sie heiß aus ihrer Achsel liefen, sich zwischen ihren Brüsten sammelten, langsam, ganz langsam kalt wurden und sie frösteln ließen, während sie unfähig war, sich zu bewegen.

Der Herzschlag beruhigte sich, ihr Atem wurde langsamer. Und sie versuchte der Frage auszuweichen, die sich, alles beherrschend, in ihr Gehirn eingegraben hatte: Ob er es war, der angerufen hatte. Der endlich versuchte, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Sie aus ihrer quälenden Ungewissheit zu befreien.

Ein Mann war verschwunden. Ihr Mann. Seit Wochen keine Nachricht, kein Lebenszeichen. Alles, was ihr denkbar erschien, hatte sie durchdacht. Jede Befürchtung. Jeden Zweifel. Alles, was möglich war, hatte sie getan. Nachforschungen. Recherchen. Eine Suche auf eigene Faust, eine, die geheim bleiben sollte. Kein Aufsehen. Keine Öffentlichkeit. Keine Vermisstenmeldung. Keine Polizei.

Was hätte sie erzählen können? Mutmaßungen? Gab es einen vernünftigen Grund? Irgendeine Erklärung? Schließlich liebten sie sich. Sie liebten sich sogar sehr. Seit Jahren lebten sie zusammen. Ohne Probleme.

Sie waren beide achtundzwanzig und hatten ein Kind. Und keine Geheimnisse voreinander.

Sie hatte Sehnsucht nach ihm. Nach seiner Stimme. Nach seiner Zärtlichkeit. Seinen Umarmungen. Nach seinem jungenhaften Lächeln und seinem Charme. Und nach seiner Zuverlässigkeit.

Trotzdem war er einfach gegangen. Gleich nach dem Frühstück morgens um halb acht. War kurz bei seiner Zeitung aufgetaucht. Hatte in der Redaktion Ärger gehabt mit dem Thema, das er seit Wochen recherchierte, die ihn, je länger er daran arbeitete, je mehr er erfuhr, zornig machte. Auf seinem Schreibtisch zu Hause stapelten sich die einschlägigen Meldungen und Notizen. Aber sein Nachrichtenchef stand einer Veröffentlichung des Materials in dieser konzentrierten Form skeptisch gegenüber. Schließlich war Dave abgefahren. Ohne Angabe eines Ziels.

Und dann ein überraschender Anruf aus Liverpool. Liverpool? Wieso Liverpool? Er sagte, er hätte die Story nun verkauft. Aber das, was er bisher recherchiert hätte, sei harmlos, sei nur Kinderkram gegen das, was er gerade entdeckt hätte. Was da gerade lief, scheinbar ganz legal und unter den Augen einer offenbar uninteressierten, unbekümmerten, arglosen Öffentlichkeit. Aber am Telefon könne er nicht reden. Er bliebe eine Nacht. Vielleicht auch zwei. Möglicherweise länger. Sie solle sich keine Sorgen machen. Und jetzt wartete sie schon seit über sechs Wochen.

Sie hatte Angst um ihn.

Denn es gab durchaus einen denkbaren Anlass für sein Verschwinden: seine Verbissenheit, seinen Ehrgeiz. David McGhee war Journalist.

Aus den Notizen des David McGhee:

»Der Störfall in dem englischen Kernkraftwerk Trawsfyndd, bei dem fünfzehn Tonnen radioaktives Kohlendioxid durch ein Sicherheitsventil freigesetzt wurden, ereignete sich, wie ich heute einer Reuter-Meldung entnehme, nur wenige Tage, nachdem die atomare Wiederaufbereitungsanlage Sellafield in der nordenglischen Grafschaft Cumbria drei schwere Zwischenfälle erlebt hatte. Bei einem musste das gesamte Werk evakuiert werden, da eine hochgiftige radioaktive Gaswolke freigesetzt worden war.«

2

Und wieder, ganz überraschend und erschreckend, war der kleine Raum erfüllt von diesem nervösen Schrillen des Telefons. Aber diesmal war Susan hellwach, innerhalb von Sekunden.

Wieder raste ihr Puls und pochte ihr bis zum Hals, und in atemloser Hast griff sie nach dem Hörer.

»Ja …?«

Da war seine Stimme, klar und deutlich und doch so unendlich weit entfernt:

»Hallo, Susan …«

»Dave! Dave!« Es war wie ein Aufschrei. Das Echo ihrer Stimme kam zurück, als sei es mehrmals rund um diesen Planeten gerast, und verwirrte sie. »David! Wo bist du?«

Freude! Erleichterung! Sie wartete seine Antwort nicht ab, ließ ihn nicht zu Wort kommen, was ein Fehler war, denn er hatte ihr gehetzt bereits zwei, drei Sätze hingeworfen, bis sie schließlich zuhörte, ihn wieder verstehen konnte.

»Was sagst du? David? Kannst du mich hören!« Er konnte sie hören, ja, natürlich! »Das warst eben du, ja?

Die Verbindung war weg. Vor ein paar Minuten. Ich hab' es gewusst, dass du es warst. Und …« Sie unterbrach sich, stockte, hatte ein paar Worte von ihm aufgeschnappt, zufällig, aus dem Zusammenhang gerissen:

»Beweise« … »Verbrechen« …

»Was für Beweise, David? Was für ein Verbrechen?« Er versuchte, es ihr zu erklären, nochmals, aber es schien, als sei er getrieben von geradezu panischer Hast, als hätte er dafür keine Zeit mehr, bedroht und gejagt …

»Dave! Ich habe seit sechs Wochen nichts von dir gehört! Kein Brief! Kein Anruf! Nichts! Wo bist du, Dave? Was ist los?«

Er schien erregt, senkte seine Stimme zu einem Flüstern, raunte Susan etwas zu von einem »Schiff«, und ein Name fiel: »Polaris«.

»Was für ein Schiff?« Sie schrie, als könnte sie die Entfernung überbrücken, die so unermesslich zwischen ihnen lag. »Was für ein Schiff? Dave! Hörst du mich? Von einem Schiff aus kann man doch telegrafieren …!«

Nein. Das konnte er nicht. Er rief nur: »Hilf mir! Hilf mir, Susan!«

Wie sollte sie ihm helfen?

Und warum sprach er nicht lauter? Er hatte eine »Gefahr« erwähnt. Oder hatte er »Todesgefahr« gesagt? Sie sollte etwas aufschreiben. »Ja! Ich mache Licht! Es ist mitten in der Nacht!« Sie tastete nach dem Schalter, schaute sich um nach Papier, nach einem Bleistift, die Lampe blendete sie, und sie sah nur sein Lächeln, spöttisch, belustigt: sein Bild, sein Porträt, in einem kleinen silbernen Rahmen neben ihrem Bett.

»Zehn Uhr morgens? Bei dir? Wieso?« Hätte sie ihn richtig verstanden. »Wo bist du, Dave? Wo?«

Er schwieg. Sie hörte seinen Atem. War es noch sein Atem? War er überhaupt noch am Telefon?

»Dave! David!«

Ein Stimmengewirr beherrschte den Hintergrund. Gutturale Laute. Rufe. Gedehnte Vokale einer unverständlichen Sprache.

»David! Bist du noch da?«

Fetzen einer Musik. Eine fremdartige Melodie. Singsang aus einem Radio? Aus einem Lautsprecher?

Und dann plötzlich: ein Schuss!

Ein Schuss?

»David!!!«

Ja, er war noch da. In panischer Erregung flüsterte er mit gepresster Stimme in die Muschel irgendeines Telefons irgendwo in einer fremden, unbekannten Welt: » … Sie kommen …!! Sie holen mich zurück an Bord …!! Es ist alles aus …!! Fahr zur Zeitung … Zur Redaktion … Sag William Scott Bescheid … Sag ihm: Ich habe die Beweise …!!«

Wieder fallen Schüsse. Glas splittert oder Metall. Ein Querschläger jault durch die Luft, und David McGhee brüllt, es ist der Aufschrei seiner Kapitulation:

»Seid ihr wahnsinnig?! Hört auf!«

Wieder ein Schuss. Als Antwort. Und nach einigen Sekunden, als keine weiteren Schüsse mehr fallen:

» … Okay … okay …!«

Er hatte aufgegeben.

»David! Dave …!«

Stille. Atemlose Stille.

Und in diese Stille hinein, erst sehr fern, fast unhörbar leise, dann langsam näher kommend: der Warnton einer Sirene.

Das jaulende Auf und Ab näherte sich dem Telefon, brachte es zum Vibrieren. Ein eigenartiges, von Susan noch nie gehörtes Signal bohrte sich geradezu schmerzhaft über weiß Gott wie viele Meilen, über Kabel und Satelliten, durch das Telefon wie ein Messer in das Gehirn von Susan und grub sich ein in ihr Gedächtnis für den Rest ihres Lebens.

»Dave …!!!«

Es war ein allerletzter und vergeblicher Versuch. Dann ein Knacken in der Leitung. Und wieder diese lähmende, atemlose Stille, dieses elektrische Summen. Wie beim ersten Anruf: dieses hörbare, absolute Nichts.

Susan biss sich auf die Lippen. Die Verzweiflung stieg in ihr hoch wie ein Krampf. Übelkeit bis zum Erbrechen. Hilflosigkeit, die sie lähmte.

Sie starrte auf die Uhr neben Davids Bild. Der lächelte noch immer spöttisch und belustigt. Aber dieses »Hilf mir, Susan!« saß ihr im Ohr. Dieser Schrei. Die Schüsse. Und die Sirene.

David lächelte auch auf den zwei, drei Dutzend Fotos auf der Pinnwand hinter der Lampe, in einem malerischen, bunten, verspielten Nebeneinander, Übereinander angeheftet. Eine verwegene Mähne, blond, mit blauen Augen, der strahlende, optimistische, erfolgreiche und durch nichts zu erschütternde Held. Ein junger Mann, ständig darum bemüht, seine Sensibilität und Verletzlichkeit zu überspielen und zu tarnen.

Sie kannte ihn. Wenn er um Hilfe rief, war er wirklich in Not. Und da lächelte er ihr nun entgegen, in Farbe, in Schwarzweiß, allein, zusammen mit ihr, mit Julia, ihrem Kind, im Park, vor dem Haus am Strand.

Die Bilder fingen an zu verschwimmen, lösten sich auf, Schlieren zogen sich darüber. Bis Susan sich das Kissen auf die Augen presste und einfach losheulte.

Als sie es irgendwann in die Ecke des Zimmers schleuderte, weil sie sich schämte, und die Tränen aus den Augen wischte, sah sie wieder auf die Uhr. Es war zwölf Minuten nach zwei. Zwei Uhr nachts. Da war ein Geräusch. Und sie blickte sich um. »Julia!?«

Aus den Notizen des David McGhee:

»An der englischen Nordwestküste, nur wenige Meilen von der Wiederaufbereitungsanlage für Kernbrennstoffe Sellafield entfernt, wurden viermal innerhalb von drei Wochen größere Mengen radioaktiv verseuchter Algen, Tang und Seegras angeschwemmt. Die Strahlung lag mit dem Faktor 100 bis 1000 über dem Normalpegel.

Eine britische Parlamentskommission hat festgestellt, dass die Irische See wegen der Einleitung verseuchter Abwässer aus dem staatseigenen Wiederaufbereitungswerk Sellafield das radioaktivste Gewässer der Welt ist.

Fische aus dieser Region sind nur noch ›bedingt genießbar‹.«

3

Das Kind stand in der offenen Tür zu seinem Zimmer, Susan wusste nicht, wie lange schon, und es schaute sie mit großen, vorwurfsvollen Augen an und schwieg.

Es klammerte sich an sein Schlaftier, einen zerliebten, rosaroten Plüschelefanten, den es »Sarah« nannte und den es nie allein ließ, und rührte sich nicht von der Stelle.

Die langen blonden Haare fielen über ein verwaschenes, geblümtes Nachthemd, das inzwischen zu kurz geworden war. Junge, ehrgeizige Journalisten wurden auch in England mit ihrem Job nicht gerade reich. Das Nachthemd war schon gut zwei Jahre alt, und Julia wurde demnächst fünf.

»Julie? Du bist wach?«

Susan griff nach ihrer kleinen runden Brille, die neben dem Telefon lag. Eine unnötige Geste. Sie sah sehr gut, was hier zu sehen war. Aber vielleicht war die Brille auch ein Schutz. Um die Tränen zu verbergen. Vor dem Kind. Denn Mütter müssen ja stark sein und Vertrauen vermitteln in diese schöne, heile Welt.

»War das Daddy?« Julia fragte mit einer leisen und verschlafenen Stimme.

Susan nickte nur, fast unmerklich. Und dann fragte sie eine dieser sinnlosen, dummen Fragen, die Mütter manchmal an ihre Kinder richten:

»Warum schläfst du nicht?«

Julia schwieg. Vielleicht hatte sie das Telefongespräch mit angehört, das ganze Drama. War wach geworden schon beim allerersten Klingeln.

»Wann kommt er heim?«

Ja, wann kommt er heim? Susan schwieg. Sie wusste keine Antwort für das Kind.

Aber Julia wiederholte ihre Frage:

»Wann kommt Daddy heim? Hat er es nicht gesagt?«

Susan schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat es nicht gesagt.«

Und erst nach einer langen und quälenden Pause, in der das Kind sie enttäuscht und zweifelnd ansah, begann sie mit einer dieser verlogenen Geschichten, die Kinder nur allzu leicht durchschauen und die sie eher beunruhigen als trösten:

»Es geht ihm gut, und er lässt dich grüßen. Aber er muss noch eine ganze Weile arbeiten. Für seine Zeitung. Irgendwo. Weit weg … Und jetzt geh wieder in dein Bett!«

Sie hörte bei jedem Wort, wie unglaubhaft sie wirkte.

»Julie! Hörst du nicht! Ich habe gesagt: Geh zurück ins Bett! Geh in dein Zimmer! Bitte!!«

Sie war laut geworden, und es klang autoritär. Sie fand das selbst unverzeihlich, aber die Situation, der Anruf Daves, der Hilferuf und ihre Hilflosigkeit ließen sie unbeherrscht und hysterisch reagieren.

Da ging Julia schließlich hinaus, stumm und verletzt.

Susan stand auf, lief hinterher. Sie erreichte das Kind noch in der offenen Tür, kniete sich hin, umarmte es, spürte den sanften Widerstand und schließlich die Tränen, die Julia über die Backen liefen. Und dann hörte sie das Flüstern dicht an ihrem Ohr:

»Er kommt nicht mehr! Er kommt bestimmt nicht mehr …! Nie mehr! …!«

»Unsinn! Julie! Liebling!« Sie klammerte sich an dieses Kind, dem sie eigentlich doch nur ihre eigene Verzweiflung übermitteln konnte. Und dann klang es, als mache sie sich selbst Mut:

»Er kommt zurück! Natürlich kommt er zu uns zurück! Er kommt bestimmt!«

Vorsichtig, um die Mutter nicht zu enttäuschen, machte Julia sich aus der Umarmung frei, wandte sich ab und verschwand in der Dunkelheit des Kinderzimmers.

»Julie … Julie …!«

Susan bemerkte, dass sie keine Stimme mehr hatte. Und keine Kraft. Und kein Vertrauen mehr, das sie weitergeben konnte. Und sie spürte, dass auch sie jetzt Liebe gebraucht hätte. Genau wie Julia. Und dass sie sich beide, gegenseitig, jetzt und in dieser Situation nicht helfen konnten.

Julia blieb stumm und verschwunden. Irgendwo tappten Füße, raschelte das Bett. Und Susan kniete neben der Tür, die in eine nachtschwarze Höhle zu führen schien, die verwunschen war und die sie nicht betreten durfte. Weil sie ihren Kummer mit hineingetragen hätte.

Sie lehnte sich gegen die kalte Klinkermauer, presste ihre Stirn dagegen und fühlte sich in diesem Augenblick einsam und allein.

Aus den Notizen des David McGhee:

»Plutonium ist ein hochradioaktives metallisches Element aus der Gruppe der Transurane. Es ist extrem giftig: Bereits geringste Mengen, Bruchteile eines Milligramms, erzeugen Krebs und Leukämie.

Seine Strahlung ist absolut tödlich!

Plutonium entsteht zwangsläufig beim ›Abbrand‹ der Brennelemente in Kernkraftwerken. Zurzeit fallen jährlich etwa 45.000 Kilogramm an. Nur ein Bruchteil dieser Menge findet wieder Verwendung in Reaktoren. Der Rest ist vorläufig Abfall und muss unter mehr oder weniger perfekten Sicherheitsvorkehrungen gelagert werden. Denn es gibt nur eine Methode, dieses Plutonium zu beseitigen: Man muss warten, bis es von selbst zerfällt. Das tut es, allerdings unvorstellbar langsam. In 24.000 Jahren ist immer noch die Hälfte der diesjährigen Produktion vorhanden. Nach Jahrmillionen immer noch ein Rest.

Und wir produzieren natürlich weiter. Denn Strom aus Kernenergie ist aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken.

Es gibt allerdings noch eine weitere Methode, Plutonium zu beseitigen, wenn auch nur in kleinen Mengen: Für den Bau einer Atombombe benötigt man knapp zehn Kilogramm.«

4

Irgendwann wurde es hell nach dieser für Susan so unerträglich langen Nacht. Sie weckte Julia sanft aus ihren Morgenträumen und machte sich auf den Weg in die City von London.

Rushhour: verstopfte Straßen, blockierte Kreuzungen, unübersehbare Schlangen an den Einmündungen des Motorway South. Zweistöckige rote Busse hatten sich in langer Reihe auf der Themsebrücke verkeilt, und der Eingang zur Fleet Street war durch eine Hundertschaft Bobbies vorübergehend gesperrt. Vor Old Bailey, dem altehrwürdigen Gerichtsgebäude, demonstrierte eine Gruppe indischer Sikhs.

Die bunten Turbantücher leuchteten durch den grauen Regentag, und Susan brauchte eine weitere halbe Stunde, um auf Umwegen schließlich den Daily Telegraph zu erreichen.

Im Hof wurden gerade die Lieferwagen mit der zweiten Morgenausgabe beladen, und quer vor der Durchfahrt zur Redaktions-Garage stand ein Tieflader mit Rotationspapier. Aber die gewaltigen Rollen wurden nicht entladen. Heute nicht und vielleicht auch nicht morgen. Denn zwei bullige Catchertypen blockierten mit ihrem Gabelstapler den Zugang. Sie hatten große Pappschilder umgehängt mit dem kurzgefassten, kommentarlosen Hinweis, sie seien »on strike«.

Susan mit ihrem kleinen gelben, rostigen Mini-Cooper ließen sie jedoch passieren.

Als sie auf der Suche nach einer Lücke der Parkbuchten abfuhr, stoppte sie der alte Willies, der im grauen Arbeitsmantel und mit Dienstmütze aus seinem Glaskasten geeilt war:

»He, Miss! Sie können hier nicht parken!«

Susan blieb stehen, kurbelte das Fenster herunter und lächelte ihn an:

»Hallo, Willies! Kennen Sie mich nicht mehr? Ich bin's doch: Susan Galloway!«

Willies lächelte freundlich zurück und blieb offiziell:

»Natürlich kenne ich Sie, Miss Galloway! Aber trotzdem ist kein Platz für Sie im Hof!«

»Ich habe immer hier geparkt!« Susans Lächeln wurde bezwingender. Willies nickte zustimmend, und es schien ihm tatsächlich peinlich zu sein, als er klarstellen musste:

»Schon möglich, Miss. Aber das ist lange her!«

Es war lange her. Keine Frage. Aber trotzdem wusste sie noch Bescheid. Sie zeigte auf einen der bereits besetzten Parkplätze an der Ecke:

»Dort vorn, das ist der Parkplatz von meinem Mann, von David McGhee. Den hätten Sie freihalten müssen, Willies!«

Da wurde Willies vertraulich: »Ihr Freund, Miss, ich denke, der ist auf und davon! Schon seit ein paar Wochen, sagt man. Oder irre ich mich?«

Susans Lächeln war plötzlich wie erloschen: »Er ist auf Dienstreise. Er recherchiert für die Nachrichtenredaktion. Und ich bin jetzt verabredet mit Mister William Scott!«

»Wie schön für Sie, Miss!« Sein Blick wanderte von Susan zum hinteren Seitenfenster. Dort presste Julia Nase und Lippen gegen das Glas, verdrehte die Augen und machte Grimassen. Das war ein neues und vor allem ein leises Spiel. Nach der pausenlosen, enervierenden Quengelei auf der Herfahrt empfand Susan das nun als echte Erleichterung.

»Das hier ist also das Töchterchen!«, stellte Willies fest. Er wusste offensichtlich Bescheid. »Ein hübsches Kind!« Es war unklar, ob er das Kompliment ehrlich meinte. Besonders als er feststellte: »Sieht Ihrem Freund allerdings verdammt ähnlicher als Ihnen, Miss.«

Susan schaute sich um und lachte. Julia war blond, sie selbst dunkel. Das war so ziemlich der einzige Unterschied. Beide trugen sie kreisrunde Nickelbrillen, denn beide waren kurzsichtig. Die Gläser von Julia waren nur kleiner und weniger stark geschliffen. Ja, und Susan war etwas höflicher! Als Willies jetzt abschließend feststellte: »Sie müssen aber trotzdem aus dem Hof, Miss, tut mir leid!«, streckte sie nicht die Zunge heraus, wie Julia es tat. Sie nickte nur und murmelte dem sich abwendenden Willies ein kaum gesellschaftsfähiges Wort hinterher, wendete hektisch den kleinen Wagen und brauste an den beiden Streikposten vorbei hinaus in die immer noch gesperrte und daher überraschend verkehrslose Fleet Street. Genau vor dem Portal der Zeitung blieb sie stehen, zerrte Julia samt ihrem Plüschelefanten aus dem Wagen und verschwand in dem Art-deco-Gebäude, ohne auf die uniformierte Lady zu achten, die diensteifrig, mit einem Formularblock in der Hand, die leere Straße überquerte und sich auf dieses winzige, verbeulte, gelbe Auto stürzte, das als einziges Opfer in der halben Meile Halteverbot zu finden war.

Aus den Notizen des David McGhee:

»In den Abklingbecken europäischer Kernkraftwerke, in den Zwischenlagern und in den beiden Wiederaufbereitungsanlagen La Hague (Frankreich) und Sellafield (England) hat sich inzwischen radioaktives Material in Form von abgebrannten Brennstäben angehäuft, das einer Strahlungsquelle von mehr als zwölf Milliarden Curie entspricht.

Die Einheit von einem Curie (1 Ci) entspricht der Strahlung von einem Gramm Radium. Die Physikerin Madame Curie, die als erste das Element Radium rein darstellte und nach der diese Maßeinheit benannt ist, hat es ein Leben lang vermieden, mit mehr als einem Gramm Radium in einem Raum zu sein – und starb trotzdem als Strahlenopfer.«

5

Nein, Susan Galloway hatte keine Verabredung mit William Scott, dem Nachrichtenchef des Daily Telegraph. Scott ließ sie daraufhin eine halbe Stunde warten. Im Vorzimmer, inmitten einer Schar ältlicher Sekretärinnen, die Susan alle noch von früher her kannte und die auf unerklärliche Weise sehr förmlich und sehr einsilbig reagierten, als sie unerwartet erschien. Vielleicht waren sie auch von der Anwesenheit eines Kindes in diesen heiligen Hallen nicht sehr erbaut.

Julia hatte sich unter einen der unbesetzten Schreibtische gehockt und baute dort aus Papierkörben, die sie heimlich entleerte, Häuser für Sarah, den Elefanten.

»Hallo, Susan, wie geht's?« Scott erschien plötzlich und überraschend in der Tür zu seinem Büro und verbreitete Hektik. Ein massiger Mensch, angefüllt mit einer Überdosis Energie bis zum Rand, ohne Jackett, dafür mit offener Glencheckweste und weinroten Hosenträgern. Er hielt ostentativ ein Bündel Manuskriptseiten in der Hand. Ohne jede Verbindlichkeit, ohne jedes Lächeln drängte er sich an Susan vorbei nach draußen. Dabei kannten sich die beiden bereits über acht Jahre.

»Hallo, William, danke, es geht gut! Hören Sie. David lebt! Er hat mich angerufen! Heute Nacht um zwei. Aber er ist in Gefahr! Und er hat offensichtlich große Probleme …!«

Scott winkte ab. »Ich habe im Augenblick keine Zeit für Sie, Susan! Leider! Auch nicht für Ihren Dave und seine Probleme. Ich muss nach unten!« Er war schon draußen auf dem Korridor, als Susan ihn stoppte: »William! Bitte! Haben Sie nicht verstanden?! Es geht um Dave. David McGhee! Sie und ich, wir suchen ihn seit Wochen. Und jetzt hat er sich endlich gemeldet. Interessiert Sie das nicht?«

Scott unterbrach sie auf seine bullige, taktlose Art: »Nein, interessiert mich nicht. Nicht mehr seit letzter Woche. Schön, dass er lebt! Ich habe nie daran gezweifelt. Und ich freu' mich für Sie, Susan, dass er wieder aufgetaucht ist! Nur: David hat nichts mehr mit uns hier zu tun! Das mag neu für Sie sein. Aber so liegen die Dinge nun mal. Tut mir leid!«

Er wandte sich ab und marschierte los, ohne sich umzusehen.

Susan griff nach Julia, zog sie unter dem Tisch hervor und nahm sie auf den Arm. So schnell sie konnte, folgte sie Scott in den »Editing Room«, wo die diensthabenden Journalisten vor den Bildschirmen ihrer Composer saßen und ihre Nachrichten und Kommentare in die elektronischen Schreibmaschinen schrieben. »William, bitte! Bitte, warten Sie! Wir müssen miteinander reden …!«

»Aber nicht hier!« Er deutete kurz in die Runde, ohne stehenzubleiben. Konzentrierte Arbeit, wohin man sah. Und absolute Ruhe!

»William …!« Susan dämpfte ihre Stimme, aber ihre Erregung war unüberhörbar, und dieser Auftritt zog die Aufmerksamkeit und die Blicke auf sich.

»William, bitte! Dave gehört zu Ihren Leuten, zu Ihrem Stab!«

Scott schüttelte den Kopf. »Nein! Nicht mehr! Wir haben ihn gefeuert. Ende letzter Woche! Ein einstimmiger Beschluss, abgesegnet vom Redaktionskollegium, von der Gewerkschaft und vom Betriebsrat. Der Brief ist bereits an euch unterwegs! Morgen, spätestens übermorgen haben Sie ihn in den Händen. Mit hinreichender Begründung. Ich habe wirklich keine Lust, jetzt und hier den Fall mit Ihnen zu diskutieren!« Er warf einem der Journalisten die Manuskriptseiten auf den Tisch. Der nahm sie wortlos entgegen und breitete sie vor sich aus.

Scott hatte seinen Weg fortgesetzt, sah sich nicht weiter nach Susan um, nahm wohl an, dass die junge Mutter mit dem fast fünfjährigen Kind unter dem Arm ihm auf seinem Marsch schon irgendwie folgen würde.

»Ich habe David durch Jimmy McMillan ersetzt.« Er zeigte auf einen der besetzten Schreibtische. Es war Davids Schreibtisch. Susan kannte ihn. Wusste auch, wo immer das Foto von ihr stand und das von Julia. Aber beide Fotos waren verschwunden. Und ein junger, unbekannter Mann sah von seinem Bildschirm auf, der früher einmal Davids Bildschirm gewesen war, und blickte Scott etwas verwirrt und irritiert entgegen. Aber der ging nur rasch an ihm vorbei, klopfte ihm beiläufig auf die Schulter und raunte ihm zu: »Hallo, Jimmy! Lass dich nicht stören!«

Jimmy ließ sich stören, nahm das Schulterklopfen als Auszeichnung, lächelte eine Spur zu überlegen und schaute höchst interessiert auf Susan. Offenbar waren ihm die Zusammenhänge nicht ganz klar.

Scott steuerte auf das Treppenhaus zu. Das kalte Licht der Neonröhren spiegelte sich in den alten Kacheln. »Also! Du siehst: keinen Schreibtisch mehr und keinen Job!«

»Ja. Und keinen Parkplatz mehr!« ergänzte Susan bitter.

»Richtig. Auch keinen Parkplatz mehr!« Scott lief, so schnell er konnte, die enge Treppe nach unten, ohne Rücksicht, ohne Mitgefühl: »Und wenn trotzdem vorläufig jeden Monat Geld auf eurem Konto landen wird, dann nicht, weil wir Angst haben vor dem Arbeitsgericht, sondern aus Fairness. Und aus Pietät!« Er lachte kurz auf und sah sich um, ohne stehenzubleiben. »Sie waren drei volle Jahre bei unserem Blatt. Als angehende Journalistin ein vielversprechendes Talent! Doch, ja! Ohne Schmeichelei!« Er hob die Hand, um einen Einwand abzuwehren, der jedoch nicht kam.

»Susan Galloway. Sie hatten eine Zukunft hier! Und ich hätte den Kerl, der Sie geschwängert hat, erschlagen können!« Er warf einen kurzen Blick über seine Schulter auf Julia, die ihn durch ihre kleinen Brillengläser mit großen Augen feindselig anblickte.

»Wenn er Sie wenigstens geheiratet hätte!« Scott meinte das anscheinend im Ernst, und Susan versuchte auf diesen Einwand hin, in ein demonstratives Gelächter auszubrechen. »William, bitte! David ist mein Mann! Auch ohne amtlichen Stempel! Er hatte einfach nie Zeit für so eine Formalität! Schließlich ist er einer Ihrer besten Reporter!«

Scott war am Fuß der Treppe angekommen und winkte müde ab:

»Lange her!« Er versuchte diesen Vorwurf durch ein Lächeln zu entschärfen, was ihm nicht sonderlich gelang. Also rettete er sich in eine Art grundsätzlichen Kommentar: »Es ist nicht unsere Aufgabe, die Menschheit zu retten – sondern sie zu informieren! Retten muss sie sich schon allein! Wir brauchen Chronisten, Berichterstatter, die ein Bild von dieser Welt zeichnen – ›Scheiß-Welt‹, ja, meinetwegen! Aber keine Moralapostel und Prediger! Wir verkaufen Nachrichten – keine Heilsbotschaft! Und wir unterstützen vor allem keine protestierenden Randgruppen, die unsere Wirtschaft attackieren und in Frage stellen.«

Julia war stumm leidend von der Hüfte ihrer Mutter gerutscht und versuchte vergeblich, Schritt zu halten, bis Susan sich William Scott schließlich in den Weg stellte:

»William! Bitte nehmen Sie endlich zur Kenntnis: Dave ist in Lebensgefahr! Und er hat die Beweise!«

»Beweise, wofür?« Scott schob sie einfach zur Seite.

Susan war zutiefst irritiert. Hatte Scott tatsächlich keine Ahnung, was David da seit Wochen recherchierte, oder wollte er mit dem skandalösen Verhalten der britischen Regierung als Betreiberin dieser Nuklearanlage an der Nordwestküste nichts zu tun haben?

»Für ein ›internationales Verbrechern, wie er sagt! Dass die ganze westliche Welt aufrütteln wird!«

Aber Scott lachte nur, und es klang zynisch, als er Susan zitierte: »›Die ganze westliche Welt‹ … ›Wie er sagt‹ …!« Und nach einer Pause: »Und wann bitte hat er das gesagt?«

»Letzte Nacht! Am Telefon!«

Sie hatten die »Composing Area« schon zur Hälfte durchquert, die Setzerei, die gerade von den altertümlichen Monstern der Bleisatzmaschinen auf elektronische Computersetzmaschinen umgerüstet wurde und sich in eine Baustelle verwandelt hatte. Da gab Scott plötzlich seine polternde Art auf, wurde leiser und kam zur Sache: »Susan, wir handeln hier nicht mit irgendwelchen Skandalen aufgrund von Vermutungen und dubiosen Beweisen. Ich mag keine Alleingänge, und David weiß das! Er hat seinen Vertrag hier bei uns bewusst aufs Spiel gesetzt, wollte uns erpressen, wollte uns in Zugzwang bringen, wollte, dass wir voll und ganz auf eine Sache einsteigen, von der wir nichts hielten.«

Er war kurz stehengeblieben, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Dann stürmte er wieder los und nahm in Kauf, Susan unter Umständen samt ihrem Kind einfach abzuhängen. Und es klang sehr aggressiv, sehr verletzt sogar, als er einen ungeheuerlichen Vorwurf landete: »Sie glauben mir immer noch nicht? Nein? Hören Sie zu: Ihr geliebter Freund Dave paktiert jetzt mit irgend so einer Schnulzenagentur, die er wohl zu Recht für geeigneter hält.«

»Das würde David nie tun! Das wäre Vertragsbruch!«

»So ist es, Susan. Genauso ist es!«

Und als Susan ihn darauf skeptisch ansah, was er mit einem kurzen Seitenblick zur Kenntnis nahm, fuhr er fort, ebenso aggressiv und anklagend, wie er begonnen hatte: »Wollen Sie die Fotokopie der Vereinbarung sehen? Ja? Liegt oben auf meinem Schreibtisch. Ich habe sie mir besorgt! Oder vielmehr: nein! Man hat sie mir netterweise zugespielt. Er wollte offenbar doppelt verdienen – bei uns und bei Pat Cooper und seiner NEWS-Agentur. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass der Daily Telegraph so etwas akzeptiert!«

Sie hatten den Maschinensaal erreicht, und Susan musste gegen das Dröhnen der Rotationsmaschinen anbrüllen: »Das Letzte, was ich von David weiß: Er wollte irgendwann nach Windscale, zu dieser Atomfabrik, um einen neuen Störfall zu recherchieren!«

»Nicht für uns!«, schrie Scott zurück.

»Er hat sich noch einmal aus Liverpool gemeldet. Telefonisch. Machte Andeutungen, dass dort eine ungeheuerliche Sache lief, über die er nicht reden wollte. Am Telefon nicht reden konnte.«

»Störungen auf dem Sektor Energieerzeugung behandelt bei uns die Wirtschaftsredaktion. Wir haben es auch nicht nötig, Geschäfte mit der Angst zu machen.«

»Aber seit diesem Anruf ist er verschwunden! Sechs Wochen lang wusste niemand, wo er steckt, ich nicht und niemand hier beim Telegraph. Ihr habt doch auch nach ihm gesucht und recherchiert …«

»Ja, richtig!«, brüllte Scott ihr zu. »Aber seit letzter Woche weiß ich nun, was ich davon zu halten habe: Fragen Sie diesen Pat Cooper! Und das Rätsel ist gelöst!«

Er ließ sie einfach stehen und ging davon, an der Absperrung vorbei, hinter der die Maschinen rotierten und in rasender Geschwindigkeit schier endlose Papierbahnen bedruckten, falzten, schnitten und die Mittagsausgabe des Telegraph stapelten.

Es kostete Susan einige Anstrengung, den Lärm zu übertönen und William Scott noch zu erreichen, der sich die ersten, druckfrischen Exemplare vom Stapel holte.

»Wo find' ich ihn?«, brüllte sie. »Diesen Pat Cooper? Und seine NEWS?«

William Scott sah nicht auf, als er antwortete und zurückbrüllte: »Such im Telefonbuch!«

Aus den Notizen des David McGhee:

»Die Energie, die jeder US-Amerikaner pro Jahr verbraucht, entspricht etwa 3000 kg Steinkohle – oder aber: nur 30 Gramm Uran!

Die umweltschädlichen Verbrennungsrückstände (Schwefeldioxid/Kohlenmonoxid/Stickoxide) der verstromten Steinkohle gehen in die hundert Millionen Tonnen. Die nicht mehr weiter verwertbare ›Asche‹ der Kernkraftwerke pro Kopf der Bevölkerung und pro Jahr hat dagegen gerade die Masse einer Aspirintablette! (1,6 Gramm).

Das lese ich in einer Werbebroschüre der US-Atom-Energiebehörde und frage mich: wohin mit 250 Millionen radioaktiven ›Tabletten‹ aus giftigem Spaltmaterial? Allein in den USA und in jedem Jahr?«

6

Die Demonstration der Sikhs vor Old Bailey schien erfolgreich, freiwillig oder auch unter Zwang beendet worden zu sein, denn durch die Fleet Street pulste wieder der übliche Verkehr, behindert nur durch einen falsch geparkten gelben Mini, den der Abschleppdienst allerdings bereits am Haken hatte.

Die Männer mit den öligen Händen und gelben Regenjacken konnten dem heulenden kleinen Mädchen mit den blonden Locken und der Nickelbrille nicht lange widerstehen, auch nicht der attraktiven Mutter in ihrer Verzweiflung. Es blieb schließlich bei einem Strafzettel über vier Pfund, gewissermaßen als amtlicher Beweis, dass die schwarzuniformierte Lady, der »traffic-ward«, ordnungsgemäß und unbestechlich ihres Amtes gewaltet hatte.

Der Mini kam vom Haken also wieder herunter, und Susan fuhr hinein in das Chaos der City, auf der Suche nach einer Prominentenvilla irgendwo im Westend: Pat Coopers Verlagsgebäude der NEWS-Agentur.

Es war gegen halb elf, als dort ein elfenbeinfarbener Jaguar-XJS langsam am Portal vorbeifuhr und dicht neben Susans Mini anhielt. Ein soignierter älterer Herr mit grauem Schnurrbart kurbelte das Fenster herunter und musterte Susan, die in ihrem Wagen im Nieselregen wartete, mit vorwurfsvollem Blick.

»Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie – wie alle anderen auch – Ihren Wagen auf der Straßenseite gegenüber parken würden. Auf dem Parkplatz für Besucher und Angestellte. Ich habe dort ein Schild anbringen lassen.«

Das klang überaus humorlos und belehrend. Dieser Mann lächelte nicht. Auch nicht angesichts einer jungen Frau mit einem entzückenden Kind auf dem Rücksitz.

Susan war entschlossen, sich nicht einschüchtern zu lassen. Die Aufforderung, den Platz zu räumen, ignorierte sie einfach.

»Sie sind Mister Cooper, ja?! Ich komme wegen David McGhee. Er arbeitet für Sie. Oder nicht?«

Cooper reagierte nicht. Er widersprach auch nicht dieser Behauptung. Er blieb stumm und sah Susan abwartend an.

»David ist in Lebensgefahr! Man hat auf ihn geschossen! Ich habe alles mit angehört. Durchs Telefon …!«

Cooper blieb gelassen, schien nachzudenken, und erst nach einer langen, fast peinlichen Pause fragte er:

»Wo?«

Und als Susan nicht sofort antwortete, wiederholte er seine Frage:

»Wo hat man auf ihn geschossen?«

»Ich weiß es nicht.« Susan fürchtete plötzlich, Ihre Beherrschung zu verlieren. Sie presste die Lippen aufeinander, um nicht loszuheulen. Irgendwie fühlte sie sich am Ende ihrer Kraft. Dann versuchte sie zu erklären:

»David ist … mein Mann! Es war sein erster Anruf, sein erstes Lebenszeichen nach sechs Wochen. Der kam … von irgendwoher. Ich habe nicht herausgefunden, wo er steckt. Und wo das passiert ist – mit den Schüssen. Ich hoffe nur … dass er noch lebt!«

Es war ihr schwergefallen, sich zu beherrschen. Cooper nickte und signalisierte damit ein gewisses Maß an Verständnis. Dann beendete er diese ungewöhnliche Konversation von Wagenfenster zu Wagenfenster:

»Bitte, kommen Sie herein!«

Er versuchte auszusteigen, was schwierig war. Der Mini behinderte seine breite Wagentür. So quälte sich Cooper also, ohne eine Miene zu verziehen, aus seinem Jaguar.

»Ihren Wagen können Sie hier stehen lassen!«

Damit ging er auf das breite Sandsteinportal zu, das dieses gewaltige Gebäude aus vorviktorianischer Zeit überproportional beherrschte.

Dort oben wartete er, scheinbar in aller Ruhe, bis Susan das Kind, das nach dem Aussteigen herumzurennen begann, wieder eingefangen hatte.

»Bitte!« Cooper öffnete weit die eisenbeschlagene Tür. Auf dem Sandsteinpfeiler stand in diskreten, kleinen, blankpolierten Messingbuchstaben NEWS.

Und sonst kein weiterer Hinweis:

Aus den Notizen des David McGhee:

»In Atomreaktoren läuft die Kettenreaktion, der Zerfall von schweren, instabilen Kernen des Uran-235 unter Neutronenbeschuss, gebremst und kontrolliert ab. Die dabei entstehende Energie überführt Wasser in Wasserdampf, der dann eine Turbine antreibt und dadurch, wie in konventionellen Kohlekraftwerken auch, Strom erzeugt, wobei zwei Drittel der entstandenen Energie als ›Abwärme‹ in Gewässer geleitet oder über Kühltürme in die Luft geblasen wird.

Der Brennstoff, angereichert mit Uran-235, befindet sich in Tablettenform in langen dünnen Hülsen aus Zircaloy, den Brennstäben, die zu Brennelementen gebündelt werden und nach einem Abbrand von 4 bis 6 Jahren ausgetauscht werden müssen. Bei einem Leichtwasserreaktor durchschnittlicher Leistung, der mit ca. 100 Tonnen Brennmaterial geladen ist werden pro Jahr etwa ein Drittel der Brennelemente, also rund dreißig Tonnen, ausgetauscht. Bei den fünfzehn Kernkraftwerken der Bundesrepublik Deutschland fallen demnach jährlich 450 Tonnen Entsorgungsgut in Form abgebrannter Brennelemente an.«

7

Altbritische Pracht und Herrlichkeit in Marmor, Stuck und Eichentäfelung. Eine Eingangshalle wie zu einem Palast. Aber hinter den Glastüren zu den verschiedenen Salons herrschte die Geschäftigkeit von Großraumbüros: Schreibautomaten, Computer, Stellwände mit Pflanzentrögen, hinter denen emsige Arbeitsbienen Manuskripte tippten. Ein Hinweisschild »Fotolabor im Keller«. Xerox-Maschinen druckten und sortierten in der einstigen Bibliothek Neuigkeiten, Nachrichten, Unterhaltung – für alsbaldigen Versand und Verbrauch.

Nach der modernen Kommunikationstechnik im Parterre regierten ein Stockwerk höher nun wieder Tradition und Stil: Der Lärm der Maschinen wurde verschluckt von teuren Gobelins. Gedämpftes Licht fiel durch farbige, bleiverglaste Fenster. Ausblicke in eine großzügige englische Parklandschaft.

Eine Ausstellung im Vestibül: Stellwände mit Zeitungsausschnitten, der wöchentliche Ausstoß an NEWS-Produkten, bunt und trivial, reißerisch und leicht verkäuflich: Stories und Serien nach Art der Regenbogenpresse. Drei Tafeln zeigten ausschließlich Titelseiten von illustrierten Magazinen: gekrönte Häupter Europas, Lady Di, die Queen, Caroline von Monaco, Sylvia von Schweden.

Alles sehr sauber, sehr ordentlich, ohne Tadel.

Cooper durchschritt sein Imperium wie ein Fürst und ohne sich nach seinen beiden Gästen umzusehen. »Good morning, Sir!« Ein junger Sekretär übernahm Hut und Mantel. Er funktionierte wie ein hochherrschaftlicher Butler.

»Newspaper, Sir!« Ein junges Mädchen übergab die Morgenzeitungen, darunter den Telegraph. Cooper nickte nur, ging weiter, griff sich von einem Regal ein Bilderbuch: die britische Königsfamilie zum Auf- und Umklappen mit beweglichen Papphänden. Prinz Charles winkte einer jubelnden Menge zu. »Für dich!« Julia strahlte, und Cooper hatte bei einer der beiden Damen bereits gesiegt.

»Die Post, Sir!« Eine Chefsekretärin legte die Ledermappe auf den sonst weitgehend leeren Mahagoni-Schreibtisch. Cooper schob sie beiseite. Ein diskreter Wink und die Sekretärin verschwand im Nebenraum. Cooper wartete, bis die Tür geschlossen war: »Ich kenne ihn nicht, Ihren David McGhee!« Er deutete auf einen schmalen, hohen, antiken Besucherstuhl, aber Susan war von seiner Feststellung zu betroffen, um sich zu setzen.

Da schränkte Cooper bereits ein: »Nicht persönlich, zumindest.« Damit ließ er sich in seinen Sessel hinter dem wuchtigen Schreibtisch fallen und begann, mit seinem Brieföffner zu spielen, einem afrikanischen Silberdolch mit Achatgriff.

Susan versuchte die Initiative zu ergreifen: »William Scott, der Nachrichtenchef vom Daily Telegraph, behauptet, David hätte die Story, die er seit Wochen recherchiert, inzwischen an Sie verkauft, Mister Cooper!« Als Cooper nicht sofort reagierte, setzte sie sich und wirkte sehr klein und sehr schmächtig vor dieser riesigen Lehne aus geschnitzter Eiche.

»Wann hat Scott das behauptet?«, fragte Cooper schließlich, und es klang mit einem Mal sehr interessiert. »Gerade eben. Vor einer Stunde.«

Cooper lehnte sich in seinem Sessel zurück und schüttelte den Kopf: »Nein! Es gibt keinerlei Vereinbarung. Lediglich eine Zahlungsanweisung über – ich glaube – 280 Pfund. Ein kleiner, unbedeutender Nebenverdienst. Für ein paar Begleittexte zu einer Fotostory von Cindy West. Einer Reportage, die für den Stil unseres Hauses leider etwas zu … nun ja … ›negativ‹ geraten war.«

Cooper versuchte, den Fall als Belanglosigkeit herunterzuspielen, und ging auch auf den erwähnten »Stil des Hauses« nicht näher ein. Offenbar setzte er ihn als bekannt voraus.

»Wenn Sie als Ehefrau bevollmächtigt sind, was ich annehme, kann ich Ihnen einen Scheck mitgeben.«

»David und ich sind nicht verheiratet, Mister Cooper. Ich hoffe, dass das Ihre Buchhaltung nicht weiter stört.« Als sie das klargestellt hatte, fuhr Susan fort, ohne noch auf eine Reaktion, auf einen möglichen Einwand von Cooper zu warten:

»Die Reportage, von der Sie sprachen, war das die Geschichte über Windscale? Diese umstrittene Wiederaufbereitungsanlage für die abgebrannten Brennstoffe der Kernkraftwerke?«

Cooper zögerte einige Sekunden zu lang, und Susan nahm das bereits als Zustimmung. Gleichzeitig auch als Kommentar. Daher ergänzte sie:

»David fand, dass es nun an der Zeit sei, diese lange Reihe stets heruntergespielter Störfälle, die Verseuchung der Irischen See, die Verstrahlung der Menschen in dieser Region an die Öffentlichkeit zu bringen. Allen Widerständen zum Trotz! Aus Liverpool rief er mich noch einmal an. Und seither …«

Sie brach ab, mitten im Satz, und schaute hinaus in den Park. Dann schwiegen sie beide. Eine ganze Weile. Cooper ging auf das Problem nicht weiter ein und wechselte schließlich – scheinbar – das Thema:

»Sie kennen Cindy West?«

Susan schüttelte nur den Kopf. Sie beobachtete einen Stallburschen draußen im Park, vor dem Fenster. Er trug eine graue, glänzende Regenpelerine und führte ein schwarzes und offenbar sehr edles Pferd unter den riesigen, jahrhundertealten Bäumen in seltsamen Kreisen herum.

»Cindy West, die bekannte Fotografin? Nein? Die sieht den Sinn des Lebens hauptsächlich darin, auf qualmenden Pulverfässern zu stehen, um brandheiße Themen todschick ins Bild zu setzen. Die habe ich diesem jungen Mann mitgegeben, der nicht abzuschütteln war. David McGhee. So kam ich zu einer Story, die viel Ärger von den verschiedensten Seiten und nur wenig Geld einbrachte.«

Susan sah Cooper überrascht und irritiert an: »Und diese Fotografin ist mit Dave unterwegs?«

Cooper witterte Eifersucht und stellte klar: »Nein. Sie ist längst wieder hier!«

»Wo ›hier‹? In London?« Susan ging es um Davids Verschwinden. Um Aufklärung und um Zeugen. Um sonst nichts.

»Nein, nicht in London! An der Küste. In Hastings. Ich habe ihr einen anderen Job vermittelt. Zur Abwechslung – und zur Erholung.«

Offenbar drängten sich Pat Cooper in diesem Augenblick irgendwelche Ideen auf, ein Einfall, der – unter gewissen Umständen – verwertbar erschien, der allerdings etwas wegführte vom eigentlichen Thema, vom Anlass dieses überraschenden Besuchs. Er betrachtete Susan sehr eingehend, abschätzend. Dann stand er auf, kam um den Schreibtisch herum auf sie zu, ganz langsam, jeden Satz, jeden Schritt überlegend.

»Ich könnte mir denken, dass es Cindy West schwerfallen würde … einer jungen Frau wie Ihnen … einen Wunsch abzuschlagen … «

»Was für einen Wunsch?« Susan war irritiert durch Coopers vage Andeutungen, seine plötzlich zur Schau gestellte lächelnde Freundlichkeit.

»Den Wunsch, Ihnen behilflich zu sein. Auf der Suche nach Ihrem Dave. Denn ich … ich weiß leider absolut nichts über ihn … und sein Verschwinden …« Er hatte lange, maliziöse Pausen gemacht zwischen jedem einzelnen seiner Sätze. Und es schien, als entwickle er gerade ein Konzept, eine besondere Art von Plan. Susan wandte sich wieder ab von ihm, um ihre Hilflosigkeit, ihre Verzweiflung nicht zu zeigen, und presste die Lippen aufeinander. Da kam Cooper näher, setzte sich dicht neben sie auf die Kante seiner massigen Schreibtischplatte und beugte sich vertraulich zu ihr herunter.

»Wie heißen Sie eigentlich?«

Susan blickte auf. Erst jetzt kam ihr zu Bewusstsein, dass sie vergessen hatte, sich vorzustellen. »Susan Galloway. Verzeihen Sie, Mister Cooper, aber …«

Der winkte ab. »Schon gut! Erledigt. Und dieser David McGhee ist also … sozusagen … Ihr Mann. Ja?«

Susan nickte nur stumm.

»Und der Vater Ihres Kindes?«

Wieder die Andeutung eines Nickens. Beide schauten fast gleichzeitig auf Julia, die in ihrem Aufklapp-Bilderbuch gerade Charles und Lady Di in einer prachtvollen Kutsche durch Londons Straßen fahren ließ. »Tja. Eine tragische Story!« Cooper wirkte auf einmal sehr zufrieden, stand auf und ging langsam zurück zu seinem Sessel. Er musste zwischen sich und sein Opfer Distanz bringen.

»Sehr gut das alles!«, stellte er abschließend fest. »Vielleicht kommen wir beide doch noch ins Geschäft.« Eine Floskel. Geschäftsmäßig. Routiniert. Weiter nichts.

Weiter nichts?

»Geschäft? Wieso?« Susan konnte sich keinen Reim auf Coopers Andeutungen machen.

»Auch ich möchte Ihnen helfen. Susan.« Wieder dieses Lächeln. Diese glatte Verbindlichkeit, die Cooper nur einsetzte, wenn er sich etwas davon versprach.

»Einer jungen … hübschen … einsamen Frau …«

Geschickt platzierte er seine nachdenklichen Pausen: »Einem entzückenden … hilflosen … Kind!«

Geste und Blick gingen wieder in die Richtung Julias, die aufmerksam wurde und zurücklächelte.

»Ich sehe da … gewisse Möglichkeiten!«

Susan war irritiert. Diese Rätsel, diese plötzliche, so absichtsvoll wirkende Vertraulichkeit. Das alles gefiel ihr nicht, und sie blieb ernst und abwartend.

»Natürlich liegt das alles bei Ihnen …!«

»Was, bitte, liegt bei mir, Mister Cooper?« Sie sah ihn herausfordernd an.

Aber Cooper fand, dass die Audienz, so erfreulich sie auch für ihn gewesen sein mochte, zu Ende sei. Er stand auf, und Susan verstand das Signal.

»Nehmen Sie Kontakt auf mit Cindy West. Die war ja wohl als letzte mit diesem McGhee zusammen, wenn ich das richtig verstanden habe, ja?«

Susan schwieg. Sah ihn nur an und nickte schließlich.

»Gut.« Cooper verließ seinen Platz hinter dem Schreibtisch. »Ich melde Sie an. Dann sehen wir weiter.«

Er nahm Julia an die Hand, ging mit ihr voraus, und so begleitete er die beiden Damen hinaus in das Vestibül des oberen Stockwerks und zur Freitreppe.

Von den Stellwänden, von den Titelseiten der Magazine strahlten junge Mütter – zusammen mit ihren mehr oder weniger glücklichen Kindern.

Aus den Notizen des David McGhee:

»Eine von der britischen Regierung eingesetzte Ärztekommission behauptet, dass die im Umkreis der Wiederaufbereitungsanlage Sellafield (Windscale) aufgetretene signifikante Häufung von Blutkrebs insbesondere bei Kindern, auch andere, noch nicht nachweisbare Ursachen haben könne und nicht unbedingt nur von der dort messbar freigesetzten, hohen Radioaktivität stammen müsse.«

8

Susan fuhr nach Süden, quälte sich aus dieser Stadt, die kein Ende zu nehmen schien.

Rund um die funkelnde City in ihrer imperialen Größe dehnte sich der Gürtel grauer Vorstädte. Wohnquartiere aus den Jahren der industriellen Revolution, heute Viertel der Inder, Pakistani, Ceylonesen,

Afrikaner, Malaien. Heruntergekommen, aber voller Leben! Dann wieder ganze Straßenzüge verlassen, mit zerschlagenen Scheiben, vernagelten Fenstern, ausgebrannten Ruinen. Die Überreste einer Metropole, Kadaver eines Kolonialreichs, das verlorenging. Aufgebaut auf billigen Rohstoffquellen und auf Sklavenlöhnen. Jetzt siechte das einstige Mutterland vor sich hin. Verarmt, aber immer noch stolz. Die Arroganz vergangener Größe und ausverkauften Reichtums noch in jeder verfallenen Fassade.

Dann öffnete sich das Land, die »countryside«. Unzerstört. Fast unberührt.

Julia, die auf dem Rücksitz schlief, den Kopf auf ihrem rosa Elefanten, wurde durchgerüttelt und wild geschaukelt, denn die Landstraße nach Hastings war in den letzten fünfzig Jahren weder begradigt noch frisch geteert worden. Hier auf dem Land war seit über einem halben Jahrhundert alles so geblieben, wie es damals war. Die feudalen Villen in ihren Parks, die kleinen Dörfer, Herrensitze und strohgedeckten Katen. Nur die Reklameschilder vor den Pubs und Inns, für Zigaretten und Ice Cream, hatte man hin und wieder ausgewechselt. Wenn die Marke sich geändert hatte.

Kein Grund für »Conservationists« und »Grüne«, warnend ihre Stimme zu erheben. Keine Fabriken, kein zubetoniertes Land. Hier war Merry Old England noch so, wie man erwartet, es anzutreffen.

Nach drei Stunden schließlich: Hastings. Die Hügel öffneten sich. Weiße, schmale Reihenhäuser säumten die Straße, die hinunterführte zum Meer und dort in einer feudalen Uferpromenade mit dem berühmten Pier endete: ein bizarres Bauwerk auf Stelzen, das weit hinausragte in die herbstliche See und das in jüngster Zeit mit Spielautomaten und Bingohallen angefüllt worden war. Am Eingang flatterte ein buntes Transparent im Wind, hoch über den Köpfen der wenigen Touristen, die ausgeharrt hatten bis in diese windige, kühle Nachsaison: »HASTINGS – EIN GASTLICHER ORT SEIT 1066.« Damals waren William der Eroberer und die Normannen hier gelandet und hatten das alte Britannien unterjocht. Die Reste der Befestigungen waren auf den Klippen, hoch über der Stadt noch zu besichtigen.

Susan stellte den gelben Mini am alten Fischereihafen ab. In irgendeinem Halteverbot, wie üblich. Dann machte sie sich auf die Suche.

Unter den Klippen ragten schwarzgeteerte, schmale, hohe Hütten in den fahlblauen Himmel. Dort hingen die Netze der Fischer zum Trocknen. Und die bunten Boote lagen weit verstreut auf dem groben, braunen Kies. Dahinter glitzerte das Meer und ein Scheinwerferpark. Ein Dutzend Menschen hatte sich um ein Zelt versammelt. Die Crew einer »Fashion Show«: Sechs superschlanke Mannequins präsentierten vor Cindy Wests Kamera die Bademode der nächsten Saison.

Palmwedel, an Latten genagelt, sollten tropisches Ambiente suggerieren. Zwei Garderobieren nähten, klammerten, kürzten und machten die ohnehin schon superknappen Bikinis und Tangas noch knapper. Im Windschatten des Zeltes veredelten eine Friseuse, eine Visagistin und zwei Maskenbildnerinnen die ohnehin schon makellosen Gesichter der Models. Zwei junge Männer, Cindy Wests Assistenten, legten Filme ein, wechselten Magazine und Kameras, Objektive und Filter. Beleuchter zogen Kabel, brachten Lampen in Position und verstellten die Silberfolien, die das spärliche Sonnenlicht reflektierten.

Aus einem Lautsprecher schallte Beatmusik über den Strand und lockte Neugierige an. Die hockten auf den Fischerbooten und hatten Mitleid mit den blaugefrorenen Mädchen, die zum Rhythmus der Musik im frischen Seewind posierten.

Cindy West fotografierte mit »power«. Sie ließ ihre Puppen tanzen, arrangierte, brüllte ihre Befehle gegen den Wind, jagte die Filme durch die Kameras und die Mädchen vor und zurück, hin und her, in einer simplen, banalen Choreographie.

Sie war eine sehr virile, sehr autoritäre Person. Ihre kurzgeschnittenen Haare waren grau, das Make-up ihrer Augen nachlässig aufgetragen und verwischt. Sie trug verwaschene Jeans, zwei Nummern zu groß, und ein altes, geflicktes T-Shirt über ihrem etwas zu mütterlichen Busen.

Als Susan sich dem Schauplatz näherte, wurde Cindy West aufmerksam. Sie unterbrach ihre Arbeit und ließ die Kamera mit dem schweren Teleobjektiv auf ein Stativ montieren.

»Du bist Susan, ja?« Cindy West betrachtete sie mit einem gewissen Wohlwollen. Dann lachte sie, winkte ab und widmete sich wieder ihrer Kamera.

»Sorry! Danke, nein! Du gefällst mir zwar ausgesprochen gut. Aber trotzdem: kein Interesse!«

»Interesse woran?« Susan war irritiert. »Es geht um Dave. David McGhee!«

»Ich weiß. Hab' schon gehört. Keine Ahnung, wo er steckt. Tut mir leid!«

Aber dann zögerte sie, musterte Susan nochmals mit einem nachdenklichen Blick, trat sehr dicht und sehr vertraulich an sie heran und provozierte damit die Aufmerksamkeit der gesamten Crew.

»Hör zu, das geht nicht gegen dich! Aber mit Pat Coopers neuer Schnulzen-Story will ich nichts zu tun haben. Es interessiert mich einfach nicht! Ich hab' ihm das am Telefon schon gesagt. Sei mir nicht bös', okay?!«

»Welche Story?« Susan begriff nicht, was hier gespielt wurde. Noch immer nicht. Aber Cindy West gab keine weiteren Erklärungen mehr ab, sondern wandte sich wieder ihrer Kamera und den Modellen zu und schoss eine Salve ihrer superschnellen, superlauten Regieanweisungen ab:

»Los, weiter! Das war für euch kein Grund zu entspannen: Los, Karen! Steh nicht herum wie ein Pferd!

Dreh dein Becken und schieb es vor. Los, mach mich an! Fällt dir doch sonst auch nicht so schwer, oder? Und Mona: Arme hoch, noch höher! Faules Aas, beweg dich! Na ja, also. Gut so …«

Die angesprochenen Mädchen posierten weisungsgemäß, bewegten sich routiniert wie automatische Puppen und produzierten dazu den üblichen, gut verkäuflichen Gesichtsausdruck.

»Lächeln, Mädchen!! Lächeln!!! Das gilt für euch alle! Sommer! Wärme! Ferienglück! Ihr verfrorenen Ziegen! Mir ist auch kalt!«

Die Mädchen zeigten also ihre Zähne und spielten krampfhaft bemüht die verlangte Rolle. Fünf Schritte vor – Pose – fünf Schritte zurück. Entspannen. Fünf Schritte vor – Pose – fünf Schritte zurück. Entspannen. Einfallslos, aber offenbar wirkungsvoll im eingefrorenen Zustand der Fotografie.

Hüfte vor, Beine gestreckt, Arme schwingen, Kopf zurück und lächeln. Die Automatik von Cindy Wests Kamera schnarrte ohne Pause.

Aus den Notizen des David McGhee: