Das Böse unter der Sonne - Agatha Christie - E-Book

Das Böse unter der Sonne E-Book

Agatha Christie

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Auf der kleinen Ferieninsel in Devon, wo Hercule Poirot sich einen Urlaub gönnt, herrscht erdrückende Hitze. Auch die Stimmung unter den Hotelgästen scheint unangenehm aufgeheizt. Als die berühmte Schauspielerin Arlena Stuart erwürgt in einer nahegelegen Bucht aufgefunden wird, geraten alle Gäste unter Verdacht, darunter auch die Stieftochter des Opfers, die ihre Mutter hasste.  Poirot ahnt, dass die Lösung des Falls nicht so einfach ist, wie es den Anschein hat.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 285

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Agatha Christie

Das Böse unter der Sonne

Ein Fall für Poirot

Aus dem Englischen von Ursula Gail

Atlantik

Für John. In Erinnerung an unseren letzten Aufenthalt in Syrien.

1

Als Kapitän Roger Angmering 1782 auf der kleinen Insel in der Bucht von Leathercombe ein Haus baute, hielt man das für den Gipfel der Verschrobenheit. Für einen Mann aus guter Familie wie ihn hätte sich ein ordentliches Herrenhaus mit großem Park gehört, mit guten Weiden und vielleicht auch einem kleinen Fluss.

Aber Kapitän Angmering hatte nur eine einzige Liebe – das Meer. Und deshalb baute er sein Haus, ein massives, festes Haus, wie es in diesem Teil Englands üblich war, auf der kleinen windgepeitschten Insel, die nur bei Ebbe vom Festland aus zu erreichen war.

Angmering heiratete nie. Das Meer war seine große und einzige Liebe. Nach seinem Tod erbte ein entfernter Vetter Haus und Insel. Dieser Vetter und seine Nachkommen hielten wenig von der Erbschaft, obwohl der Familienbesitz mit der Zeit zusammenschmolz und die Familie immer ärmer wurde.

1922, als es große Mode geworden war, zur Erholung an die See zu fahren, und die Leute das Klima an der sommerlichen Küste von Devon und Cornwall nicht mehr als zu heiß empfanden, musste Arthur Angmering feststellen, dass sein großer unpraktischer Besitz aus dem achtzehnten Jahrhundert unverkäuflich war. Aber für das seltsame Haus und die Insel seines seefahrenden Ahnen bekam er einen guten Preis.

Das Haus erhielt Anbauten und wurde renoviert. Ein Betondamm verband nun die Insel mit dem Festland. Es entstanden Spazierwege und Aussichtspunkte, zwei Tennisplätze und Sonnenterrassen, die bis hinunter zu einer kleinen Bucht mit Badeflößen und Sprungbrett führten. Das Hotel »Jolly Roger« auf der Schmugglerinsel in der Bucht von Leathercombe stand da in seiner ganzen Pracht. Von Juni bis September und während der kurzen Saison an Ostern war es voll bis unters Dach. 1934 baute man eine Cocktailbar an, der Speisesaal wurde vergrößert, mehrere zusätzliche Badezimmer entstanden. Die Preise gingen in die Höhe.

»Waren Sie schon mal in der Bucht von Leathercombe?«, fragten die Leute. »Wirklich ein nettes Hotel, auf einer Art Insel. Sehr bequem, keine Touristen und Ausflugsbusse. Gutes Essen und so weiter. Sie sollten da mal hinfahren.«

Und die Leute fuhren hin.

Im Augenblick hielt sich nur eine bedeutende Person (zumindest seiner eigenen Einschätzung nach) im »Jolly Roger« auf: Hercule Poirot. Er trug einen eleganten weißen Leinenanzug und einen Panamahut, den er sich schräg in die Stirn gezogen hatte. Von seinem Liegestuhl aus konnte er die ganze Badebucht überblicken, zu der man über eine Reihe von Terrassen vom Hotel aus hinuntergelangte. Am Strand lagen Luftmatratzen, Bälle, Segelboote und Gummispielzeug. Es gab ein großes Sprungbrett und in verschiedenen Abständen vom Ufer drei Badeflöße.

Ein paar Leute schwammen im Wasser, andere lagen ausgestreckt da und sonnten sich oder rieben sich mit Sonnenöl ein.

Auf der Terrasse direkt über dem Strand saßen die Nichtschwimmer und unterhielten sich über das Wetter, das Schauspiel am Strand, die Artikel in den Morgenzeitungen und alle möglichen anderen Themen, an denen sie Gefallen fanden.

Links von Poirot saß Mrs Gardener und strickte mit klappernden Nadeln, während freundlich und monoton ein ununterbrochener Schwall von Worten aus ihrem Mund drang. Neben ihr, auf der anderen Seite, lag ihr Mann Odell C. Gardener mit über die Augen geschobenem Hut in einem Liegestuhl und äußerte hin und wieder kurze zustimmende Worte, wenn es von ihm verlangt wurde.

Miss Brewster, eine drahtige, sportliche Frau mit grauem Haar und einem offenen, wettergegerbten Gesicht, saß rechts von Poirot und machte von Zeit zu Zeit eine mürrische Bemerkung. Das Ergebnis klang eher, als unterbreche ein Schäferhund mit kurzem dunklen Bellen das unaufhörliche Gekläff eines Spitzes.

»Und deshalb meinte ich zu Mr Gardener«, sagte Mrs Gardener eben, »Sehenswürdigkeiten zu besichtigen ist ja schön und gut, und ich seh mir ja auch gern alles gründlich an. Aber schließlich, sagte ich, kennen wir England nun ziemlich gut, und ich sehne mich nach einem stillen Plätzchen am Meer, wo ich mich ausruhen kann. Habe ich das nicht gesagt, Odell? Ausruhen, habe ich gesagt. Das brauche ich. Stimmt’s, Odell?«

»Ja, meine Liebe«, murmelte Mr Gardener.

Mrs Gardener ließ nicht locker. »Ja, also, als ich das Mr Kelso vom Cooks-Büro erzählte … Er hat alle unsere Reisen zusammengestellt und war in jeder Beziehung äußerst hilfsbereit. Ich weiß wirklich nicht, was wir ohne ihn gemacht hätten … Ja, also, als ich das Mr Kelso erzählte, meinte der, es gäbe keinen besseren Ort als diesen hier. Sehr malerisch, sagte er, sehr weltabgelegen und trotzdem sehr bequem und in jeder Beziehung äußerst exklusiv. Und natürlich mischte sich da Mr Gardener ein und fragte, wie es denn mit den sanitären Einrichtungen stünde. Denn, ob Sie’s glauben oder nicht, Monsieur Poirot, Mr Gardeners Schwester wohnte mal in einem Gästehaus mitten im Moor, sehr exklusiv, hieß es, aber dann gab es dort nur ein Plumpsklo! Natürlich war Mr Gardener seitdem misstrauisch, wenn er was von einem abgelegenen Hotel hörte, was, Odell?«

»Ja, meine Liebe«, erwiderte Mr Gardener.

»Aber Mr Kelso beruhigte uns sofort. Die sanitären Einrichtungen, erklärte er, seien das Neueste vom Neuen, die Küche sei exzellent. Und ich finde, es stimmt. Was mir besonders gefällt, ist die intime Atmosphäre, wenn Sie wissen, was ich meine. Es ist kein großes Hotel, man unterhält sich miteinander, jeder kennt jeden. Wenn die Briten einen Fehler haben, dann ist es ihre Meinung, man müsse etwas zurückhaltend sein, solange man sich nicht schon ein paar Jahre kennt. Dann allerdings gibt es keine netteren Menschen. Mr Kelso sagte mir, dass die interessantesten Leute herkämen, und er hat recht. Sie, zum Beispiel, Monsieur Poirot, und Miss Darnley. Ach, war das eine Überraschung, als ich herausbekam, wer Sie sind, was, Odell?«

»Wirklich, meine Liebe?«

»Ha!«, sagte Miss Brewster. Es klang wie eine Explosion. »Wie aufregend, was, Monsieur Poirot?«

Hercule Poirot hob wie verzweifelt die Hände. Aber es war nicht mehr als eine höfliche Geste. Mrs Gardener plapperte munter weiter:

»Verstehen Sie, Monsieur Poirot, ich habe von Cornelia Robson eine Menge über Sie gehört. Mr Gardener und ich waren im Mai in Badenhof. Und natürlich erzählte uns Cornelia alles über die Geschichte in Ägypten. Damals, als Linna Ridgeway ermordet wurde. Sie sagte, dass Sie ganz großartig gewesen seien. Ich war schon immer verrückt darauf, Sie kennenzulernen, nicht wahr, Odell?«

»Ja, meine Liebe.«

»Und auch Miss Darnley. Ich kaufe viel im Atelier Rose Mond, und natürlich ist sie Rose Mond persönlich, nicht wahr? Ich finde ihre Kollektion so chic. Elegant und schwungvoll! Das Kleid, das ich gestern Abend trug, stammt aus ihrem Atelier. Sie ist einfach in jeder Beziehung eine entzückende Frau.«

Major Barry, der hinter Miss Brewster saß und mit großen Augen wie gebannt zu den Leuten am Strand hinunterschaute, brummte:

»Glänzend aussehende Person!«

Mrs Gardener klapperte mit ihren Nadeln. »Ich muss Ihnen etwas gestehen, Monsieur Poirot«, fuhr sie unbeirrt fort, »es gab mir gewissermaßen einen Stich, als ich Sie hier entdeckte … Natürlich war ich entzückt, Sie kennenzulernen. Mr Gardener kann das bestätigen. Aber mir kam plötzlich der Gedanke, dass Sie nicht – nun, dass Sie beruflich hier sein könnten. Verstehen Sie, was ich meine? Also, ich bin schrecklich empfindsam, wie Ihnen Mr Gardener bestätigen wird, und könnte es einfach nicht ertragen, in irgendein Verbrechen hineingezogen zu werden. Verstehen Sie …«

Mr Gardener räusperte sich und sagte: »Verstehen Sie, Monsieur Poirot, meine Frau ist sehr empfindsam.«

Hercule Poirot warf die Hände in die Höhe. »Ich darf Ihnen versichern, Madame, dass ich aus demselben Grund hier bin wie Sie – mich zu amüsieren, meine Ferien hier zu verbringen. Ich denke nicht einmal an Verbrechen!«

»Keine Leichen auf der Schmugglerinsel!«, warf Miss Brewster in bellendem Ton ein.

»Ach, das stimmt nicht ganz.« Poirot deutete hinunter zum Strand. »Sehen Sie mal da unten, wie die Leute dort im Sand liegen. Sie haben gar nichts Persönliches mehr an sich. Sie könnten genauso gut tot sein.«

Major Barry mischte sich ein. »Gutaussehende Mädchen dabei«, sagte er. »Vielleicht ein wenig dünn.«

»Aber wo ist da der Reiz?«, rief Poirot. »Das Geheimnisvolle? Was mich betrifft, so gehöre ich noch zur alten Schule. Als ich jung war, zeigte man kaum den Fußknöchel. Der rasche Blick auf einen faltenreichen Unterrock – wie verführerisch! Die sanfte Wölbung einer Wade … ein Knie … ein besticktes Strumpfband …«

»Schlimm, schlimm«, sagte Major Barry rau.

»Sehr viel praktischer – das Zeug, das man heutzutage trägt«, warf Miss Brewster ein.

»Nun ja, Monsieur Poirot«, bemerkte Mrs Gardener. »Ich finde, wissen Sie, dass unsere Jungen und Mädchen heute ein viel natürlicheres und gesünderes Leben leben. Sie gehen miteinander aus und – und –« Mrs Gardener errötete etwas, denn sie war eine unschuldige Seele. »Nun, sie finden nichts dabei, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

»Ich verstehe sehr genau«, erwiderte Hercule Poirot. »Es ist höchst bedauerlich!«

»Bedauerlich?«, quiekte Mrs Gardener.

»Es gibt keine Romantik mehr, keine Geheimnisse. Heute ist alles genormt!« Poirot winkte in Richtung der bewegungslos daliegenden Gestalten. »Die Szene erinnert mich sehr an die Morgue in Paris.«

»Aber Monsieur Poirot!« Mrs Gardener war entsetzt.

»Körper, die nebeneinander auf Holzrosten liegen – die reinste Fleischbeschau.«

»Monsieur Poirot, ist das nicht ein wenig zu weit hergeholt?«

»Vielleicht, ja«, musste Poirot zugeben.

»Trotzdem!« Mrs Gardener strickte energisch. »Ich neige dazu, Ihnen in einem Punkt zuzustimmen. Die Mädchen, die da so in der Sonne liegen, werden an Armen und Beinen Haare bekommen. Das habe ich auch Irene gesagt. Irene ist meine Tochter, Monsieur Poirot. Irene, sagte ich, wenn du dich so von der Sonne braten lässt, wirst du überall Haare bekommen, an den Armen, an den Beinen, auf dem Busen, und wie siehst du dann aus? Das habe ich zu ihr gesagt. Nicht wahr, Odell?«

»Ja, meine Liebe«, erwiderte Mr Gardener.

Alle schwiegen. Vielleicht malten sie sich im Geiste aus, wie Irene aussehen würde, wenn es zum Schlimmsten gekommen war.

Mrs Gardener rollte ihr Strickzeug zusammen und bemerkte: »Ich frage mich …«

»Ja, meine Liebe?«, sagte Mr Gardener. Er zog sich etwas mühsam aus dem Liegestuhl hoch und nahm Mrs Gardener das Strickzeug und ein Buch ab. »Wie wär’s, wenn Sie mit uns was trinken gingen, Miss Brewster?«, fragte er.

»Nein, danke, im Augenblick nicht.«

Die Gardeners machten sich auf den Weg zum Hotel.

»Amerikanische Ehemänner sind großartig«, stellte Miss Brewster fest, während sie ihnen nachblickte.

Auf Mrs Gardeners Platz saß Pfarrer Stephen Lane. Mr Lane war ein großer, energischer Mann von über fünfzig mit braun gebranntem Gesicht und verbeulten dunkelgrauen Flanellhosen.

»Was für eine schöne Gegend!«, sagte er begeistert. »Ich bin von der Bucht bis Harford gelaufen. Und zurück über die Klippen.«

»Ganz schön warm heute, beim Spazierengehen«, sagte Major Barry, der sich nur ungern bewegte.

»Gutes Training«, erklärte Miss Brewster. »Ich war heute auch noch nicht rudern. Für die Bauchmuskeln ist Rudern das beste.«

Etwas schuldbewusst glitt Poirots Blick zu der leichten Wölbung seines Bauchs.

Miss Brewster, die diesen Blick bemerkte, meinte freundlich: »Den kriegen Sie bald weg, Monsieur Poirot, wenn Sie täglich rudern.«

»Merci, Mademoiselle. Ich hasse Schiffe.«

»Auch kleine Boote?«

»Schiffe aller Größen!« Poirot schloss die Augen und erschauerte. »Der Seegang ist nicht angenehm.«

»Mein Gott, das Meer ist heute so glatt wie ein Dorfteich!«

»So etwas wie eine ruhige See existiert nicht!«, entgegnete Poirot mit Nachdruck. »Das Wasser ist immer in Bewegung. Immer!«

»Wenn Sie mich fragen«, sagte Major Barry, »dann ist die Seekrankheit zu neunzig Prozent eine Frage der Nerven.«

»Aus Ihnen spricht der begeisterte Segler«, sagte der Kirchenmann mit leisem Lächeln, »nicht wahr, Major?«

»Ich war nur einmal seekrank, als wir den Kanal überquerten. Nicht daran denken – das ist meine Devise.«

»Die Seekrankheit ist wirklich etwas sehr Seltsames«, grübelte Miss Brewster. »Warum leiden gewisse Leute darunter und andere wieder nicht? Es erscheint mir so unfair. Es hat nichts mit der eigentlichen Gesundheit zu tun. Auch kranke Leute können gute Segler sein. Jemand erzählte mir mal, dass es was mit dem Rückgrat zu tun hat. Da gibt’s sogar Leute, die können die Höhe nicht vertragen. Ich vertrage sie selbst nicht besonders, aber Mrs Redfern ist noch schlimmer dran. Als wir kürzlich auf dem Klippenweg nach Harford gingen, wurde ihr ganz schwindlig, und sie klammerte sich förmlich an mich. Sie erzählte mir, dass sie mal auf dem Mailänder Dom in einer Treppe feststeckte. Sie war hinaufgegangen, ohne an etwas Schlimmes zu denken, aber beim Runtergehen wurde ihr schwindlig.«

»Dann sollte sie auch nicht die Leiter zur Feenbucht hinunterklettern«, bemerkte Mr Lane.

Miss Brewster zog eine Grimasse. »Ich drücke mich auch davor. Das ist etwas für die Jugend. Die Cowan-Jungen und der junge Masterman klettern ständig rauf und runter. Es macht ihnen Spaß.«

»Da kommt ja Mrs Redfern«, rief Mr Lane. »Sie war beim Schwimmen.«

»Sie wird Monsieur Poirot gefallen«, bemerkte Miss Brewster. »Sie gehört nicht zu den Sonnenanbeterinnen.«

Die junge Mrs Redfern hatte ihre Badekappe abgenommen und schüttelte ihr Haar aus. Sie war aschblond und besaß eine sehr helle Haut, wie sie Blondinen häufig haben. Arme und Beine waren sehr weiß.

»Im Vergleich zu den andern sieht sie etwas ungekocht aus«, stellte Major Barry fest und kicherte rau.

Christine Redfern hüllte sich in einen bodenlangen Bademantel und kam die Treppe zur Terrasse herauf. Sie hatte ein helles, ernstes Gesicht, auf eine eher unattraktive Art hübsch, und zierliche Hände und Füße. Sie lächelte und ließ sich in einen Stuhl fallen, wobei sie den Bademantel enger um sich zog.

»Sie haben von Monsieur Poirot ein Lob bekommen«, bemerkte Miss Brewster. »Er mag die Massen nicht, die in der Sonne braten. Er behauptete, dass sie ihn an eine Fleischbeschau erinnerten, wie beim Metzger.«

Christine Redfern lächelte bedauernd. »Ich wünschte, ich könnte mich in die Sonne legen. Aber ich werde nicht braun. Ich bekomme nur einen Sonnenbrand und überall Sommersprossen.«

»Besser, als wenn Ihnen an Armen und Beinen Haare wüchsen, wie Mrs Gardeners Tochter Irene«, antwortete Miss Brewster. Als sie Christines fragenden Blick bemerkte, fügte sie hinzu: »Mrs Gardener war heute Vormittag in Hochform. Nicht zu bremsen. Odell hier und Odell dort!« Sie schwieg einen Augenblick. »Ich wünschte, Monsieur Poirot, Sie hätten gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Warum taten Sie es nicht? Warum erzählten Sie ihr nicht, dass Sie hergekommen seien, um einen besonders grauenvollen Mordfall aufzuklären? Dass der Täter, ein Verrückter, sich vermutlich unter den Hotelgästen befände?«

Hercule Poirot seufzte. »Ich fürchte sehr, dass sie mir sogar geglaubt hätte.«

Major Barry stieß ein leises keuchendes Lachen aus. »Davon bin ich überzeugt«, sagte er.

»Nein«, protestierte Emily Brewster, »ich bin der Meinung, dass sogar Mrs Gardener einen Mord an einem Ort wie diesem für unmöglich hält. Hier findet man keine Leichen.«

Hercule Poirot bewegte sich etwas in seinem Sessel. »Aber warum nicht, Mademoiselle?«, fragte er. »Warum sollte es auf der Schmugglerinsel keine Toten geben?«

»Das weiß ich nicht so genau«, antwortete Miss Brewster. »Vermutlich sind gewisse Orte unglaubwürdiger als andere. Die Insel passt einfach nicht zu …« Sie brach ab. Offenbar fand sie es schwierig zu erklären, was sie meinte.

»Sie ist romantisch, ja«, stimmte Poirot zu. »Und friedlich. Die Sonne scheint – auf die Guten und die Schlechten. Das Meer ist blau. Aber Sie vergessen, Miss Brewster, dass überall auf der Welt das Böse lauert.«

Der Pfarrer beugte sich interessiert vor. Seine stahlblauen Augen blitzten.

»Oh, natürlich ist mir das klar!«, rief Miss Brewster und zuckte die Achseln. »Trotzdem …«

»Trotzdem erscheint Ihnen die Szenerie für ein Verbrechen ungeeignet? Dabei vergessen Sie etwas, Mademoiselle.«

»Die menschliche Schwäche vermutlich?«

»Ja, das auch. Das spielt auch eine Rolle. Aber ich wollte etwas anderes sagen. Ich wollte sagen, dass hier jeder ein Feriengast ist.«

Emily Brewster blickte ihn erstaunt an. »Ich fürchte, ich verstehe nicht, was Sie meinen.«

Hercule Poirot lächelte sie freundlich an und fuhr mit dem Zeigefinger nachdrücklich durch die Luft. »Nehmen wir mal an, Sie haben einen Feind. Wenn Sie ihn in seiner Wohnung treffen wollen, in seinem Büro, auf der Straße –, nun, da müssen Sie einen Grund haben, Sie müssen sich rechtfertigen. Aber hier am Meer ist so etwas überflüssig. Warum sind Sie nach Leathercombe gekommen? Wieso? Es ist August, alle Welt fährt im August ans Meer – Sie sind zur Erholung hier. Das ist ganz normal, sehen Sie, dass Sie hier sind, oder Mr Lane oder Major Barry, oder Mrs Redfern und ihr Mann. Weil es in England üblich ist, im August ans Meer zu fahren.«

»Nun«, gab Miss Brewster zu, »das ist ganz gewiss eine geniale Idee. Aber was ist mit den Gardeners? Sie sind Amerikaner.«

Poirot lächelte. »Sogar Mrs Gardener möchte sich erholen, wie sie mir selbst erzählt hat. Außerdem gehört zu einer Besichtigungsreise durch England auch ein vierzehntägiger Aufenthalt am Meer. Es macht ihr Spaß, andere Leute zu beobachten.«

»Sie beobachten auch gern die Leute, nicht wahr?«, murmelte Mrs Redfern.

»Ich gestehe, Madame, das tue ich.«

»Sie sehen eine Menge«, meinte sie nachdenklich.

Es entstand eine lange Pause. Schließlich räusperte sich Pfarrer Stephen Lane und sagte mit einer Spur von Verlegenheit:

»Was Sie vorhin äußerten, Monsieur Poirot, fand ich sehr interessant. Sie meinten, dass die Sonne auf die Guten und die Schlechten scheine. Das klingt fast nach einem Bibelzitat.« Er schwieg einen Augenblick und zitierte dann: »Ja, auch in den Herzen der Menschen ist das Böse, und der Wahnsinn wird in ihren Herzen sein, solange sie leben.« Über sein Gesicht glitt ein beinahe fanatisches Leuchten. »Ich war froh, dass Sie das gesagt haben. Heute glaubt niemand mehr an das Schlechte im Menschen. Bestenfalls betrachtet man es als die Verneinung des Guten. Der Glaube ist weit verbreitet, dass nur die Leute Böses tun, die es nicht besser wissen, die nicht aufgeklärt sind. Sie seien eher zu bemitleiden. Man könne sie nicht dafür verantwortlich machen. Aber, Monsieur Poirot, das Böse existiert! Es ist eine Tatsache! Ich glaube an das Böse, wie ich an Gott glaube. Es existiert! Es ist mächtig!«

Heftig atmend wischte sich Lane mit dem Taschentuch über die Stirn. Dann sagte er entschuldigend: »Tut mir leid. Da ist wohl der Gaul mit mir durchgegangen.«

»Ich kann Sie sehr gut verstehen«, erwiderte Poirot gelassen. »Bis zu einem gewissen Grad bin ich ganz Ihrer Meinung. Das Böse existiert und ist auch als solches zu erkennen.«

Major Barry räusperte sich. »Da wir gerade von so etwas reden – in Indien habe ich mal einen Fakir gesehen …«

Major Barry wohnte schon so lange im »Jolly Roger«, dass alle Gäste seine fatale Neigung kannten, endlose Geschichten über Indien zu erzählen, und auf der Hut waren. Deshalb unterbrachen ihn Miss Brewster und Mrs Redfern fast gleichzeitig. »Ist das nicht Ihr Mann, der da draußen schwimmt, Mrs Redfern? Wie gut er kraulen kann. Ein hervorragender Schwimmer.«

Im selben Augenblick rief Mrs Redfern: »Nein, sehen Sie mal, was für ein hübsches kleines Boot dort, mit den roten Segeln. Es gehört Mr Blatt, nicht wahr?«

Das Boot passierte eben das Ende der Bucht.

»Rote Segel, so was Verrücktes«, brummte Major Barry, aber die Gefahr, dass er die Geschichte mit dem Fakir erzählte, war gebannt.

Hercule Poirot betrachtete wohlwollend den jungen Mann, der inzwischen an Land geschwommen war. Patrick Redfern war das Musterexemplar von einem Mann – schlank, braun gebrannt, mit breiten Schultern und schmalen Hüften. Er strahlte Lebensfreude aus, Fröhlichkeit und eine gewisse angeborene Natürlichkeit, die besonders den Frauen gefiel. Er stand da, schüttelte das Wasser ab und winkte grüßend zu seiner Frau hinauf.

Sie winkte zurück und rief: »Komm rauf, Pat!«

»Sofort.«

Er ging ein Stück den Strand entlang, um das Handtuch zu holen, das er auf dem Sand liegen gelassen hatte. In diesem Augenblick kam eine Frau vom Hotel zum Strand herunter. Ihre Ankunft erinnerte an einen Bühnenauftritt. Und sie ging auch so, als wüsste sie das sehr genau. Dabei wirkte sie völlig unbefangen. Offensichtlich war sie an die verschiedenen Reaktionen, die ihr Erscheinen auslöste, gewöhnt.

Sie war groß und schlank und trug einen einfachen, tief ausgeschnittenen weißen Badeanzug. Jedes Stückchen Haut, das zu sehen war, schimmerte in einem ebenmäßigen Bronzeton. Sie war vollkommen wie eine Statue. Das dichte rotbraune Haar fiel ihr in sanften Wellen bis über die Schultern. Auf ihrem Gesicht lag eine leichte Herbheit, wie man sie häufig bei Frauen über dreißig beobachten kann. Trotzdem wirkte sie wie die Jugend selbst – ein Sinnbild strahlender Vitalität. Ihre dunkelblauen Augen standen leicht schräg. Auf dem Kopf trug sie einen verrückten chinesischen Hut aus jadegrüner Pappe.

Im Vergleich zu ihr wirkten alle anderen Frauen am Strand farblos und unbedeutend. Genauso unvermeidlich war es, dass sie die Blicke aller anwesenden Männer auf sich zog.

Poirots Augen wurden größer, sein Schnurrbart zitterte anerkennend. Major Barry setzte sich auf. Seine vorstehenden Augen schienen vor Begeisterung noch weiter hervorzuquellen. Links von Poirot atmete Pfarrer Stephen Lane mit einem leisen Zischlaut hörbar ein, seine Miene wurde eisig.

»Das ist Arlena Stuart«, flüsterte Major Barry rau. »So hieß sie jedenfalls, ehe sie Marshall heiratete. Ich habe sie noch in ›Kommen und Gehen‹ gesehen, kurz bevor sie die Schauspielerei aufgab. Ein sehenswerter Anblick, was?«

»Sie ist hübsch – ja«, erwiderte Christine Redfern zögernd und mit kühler Stimme. »Aber ich finde, sie sieht wie ein gemeines Biest aus.«

Da mischte sich Emily Brewster ein. »Sie unterhielten sich eben über das Böse im Menschen, Monsieur Poirot«, sagte sie. »Also, in meinen Augen ist diese Frau die Gemeinheit in Person. Durch und durch schlecht. Zufällig weiß ich eine Menge über sie.«

»Ich erinnere mich an ein Mädchen, damals in Simla«, bemerkte Major Barry. »Die hatte auch rote Haare. Sie war die Frau eines meiner Untergebenen und machte alle Männer verrückt. Natürlich hätten ihr die Frauen am liebsten die Augen ausgekratzt. Wegen ihr gab es mehr als einen Familienkrach.« Er kicherte zufrieden.

»Der Ehemann war ein netter, ruhiger Kerl. Er küsste die Erde, über die sie ging. Hat nie was gemerkt – oder tat jedenfalls so.«

»Solche Frauen sind eine Bedrohung«, flüsterte Stephen Lane empört. »Eine Bedrohung für …« Er brach ab.

Arlena Marshall stand jetzt am Wasser. Zwei junge Männer, kaum erwachsen, waren aufgesprungen und kamen eilig auf sie zu. Sie lächelte ihnen entgegen.

Ihr Blick glitt an ihnen vorbei zu Patrick Redfern, der den Strand entlangging.

Als beobachtete man eine Kompassnadel, dachte Hercule Poirot. Patrick Redfern wurde wie von magischer Kraft angezogen, seine Schritte änderten die Richtung. Ob sie wollte oder nicht – die Nadel musste den Gesetzen der Anziehungskraft gehorchen und sich nach Norden drehen. Patrick Redfern lief auf Arlena zu.

Sie erwartete ihn mit einem Lächeln. Dann schlenderte sie nahe am Wasser den Strand entlang. Patrick Redfern blieb an ihrer Seite. Als sie zu einem großen Stein kamen, ließ Arlena sich darauf nieder, und Redfern setzte sich neben sie.

Christine Redfern sprang auf und lief zum Hotel. Die andern blieben unbehaglich schweigend zurück. Schließlich meinte Emily Brewster: »Es ist wirklich zu schade. Sie ist ein so nettes kleines Ding. Die beiden sind erst ein oder zwei Jahre verheiratet.«

»Die Frau, von der ich eben erzählte«, sagte Major Barry. »Die in Simla. Sie hatte ein paar ganz glückliche Ehen auf dem Gewissen. Ein Jammer, was?«

»Es gibt einen Typ von Frau«, stellte Miss Brewster fest, »dem macht es Spaß, eine Ehe zu zerstören.« Und nach einer Minute des Schweigens fügte sie noch hinzu: »Dieser Redfern ist ein Idiot!«

Hercule Poirot mischte sich nicht ein. Er beobachtete den Strand, ohne Patrick und Arlena Marshall weiter zu beachten.

»Na, ich zieh lieber los und kümmere mich um mein Boot«, sagte Miss Brewster. Sie ging davon.

Major Barry blickte Poirot mit seinen Augen, die an gekochte Stachelbeeren erinnerten, leicht neugierig an. »Na, Poirot, was halten Sie von der Geschichte? Sie haben Ihren Mund bis jetzt noch nicht aufgemacht. Wie finden Sie unsere Sirene? Ganz schön scharf!«

»Möglich«, erwiderte Poirot.

»Geben Sie’s doch zu, alter Knabe! Ich kenne euch Franzosen!«

»Ich bin kein Franzose«, bemerkte Poirot kühl.

»Sie wollen mir doch nicht erzählen, dass Sie kein Auge für hübsche Mädchen haben? Was halten Sie von ihr?«

»Sie ist nicht mehr jung.«

»Was spielt das für eine Rolle? Eine Frau ist so alt, wie sie aussieht. Und sie sieht blendend aus!«

Poirot nickte. »Ja, sie ist schön. Aber Schönheit ist nicht alles. Nicht nur, weil sie schön ist, sehen sie alle an – bis auf einen.«

»Sie hat das gewisse Etwas, mein Junge«, erklärte der Major. »Das ist es – das gewisse Etwas.« Dann fragte er plötzlich neugierig: »Worauf starrten Sie eigentlich die ganze Zeit?«

»Ich beobachtete die Ausnahme von der Regel«, erwiderte Poirot. »Ich beobachtete den Mann, der von ihrem Erscheinen keine Notiz genommen hat.«

Major Barry folgte Poirots Blick zu einem Mann von etwa vierzig Jahren, mit hellem Haar und offenem gebräuntem Gesicht. Er saß da, rauchte Pfeife und las die »Times«.

»Ach, der!«, rief Major Barry. »Das ist ihr Mann, alter Junge. Das ist Marshall.«

»Ja, ich weiß.«

Major Barry kicherte. Er war Junggeselle und beurteilte jeden verheirateten Mann nur im Licht dreier Möglichkeiten – entweder war der Mann ein Hindernis, eine Unannehmlichkeit, die man in Kauf nehmen musste, oder ein Schutz.

»Scheint ein netter Kerl zu sein. Ruhig. Ich frage mich, ob meine ›Times‹ gekommen ist.« Er stand auf und ging auf das Hotel zu.

Poirots Blick wanderte zu Lanes Gesicht. Lane beobachtete Arlena und Patrick Redfern. Plötzlich wandte er sich Poirot zu. In seinen Augen lag ein fanatisches Glimmen.

»Die Frau ist durch und durch schlecht«, rief er. »Zweifeln Sie etwa daran?«

»Schwer zu beurteilen.«

»Aber, mein lieber Mann, spüren Sie es denn nicht? Es liegt doch in der Luft. Der Pesthauch des Bösen!«

Poirot nickte bedächtig.

2

Als Rosamund Darnley erschien und sich neben Poirot setzte, machte dieser kein Hehl daraus, dass er sich darüber freute.

Er gab offen zu, dass er sie bewunderte wie kaum eine Frau, die er in seinem Leben bisher getroffen hatte. Er mochte ihre Vornehmheit, ihre anmutige Gestalt, die stolze Art, den Kopf zu drehen. Ihm gefiel ihr welliges dunkles Haar und ihr ironisches Lächeln.

Sie trug ein Kleid aus irgendeinem dunkelblauen Stoff mit einem Hauch von Weiß. Es wirkte sehr einfach, wahrscheinlich gerade, weil es so gut geschnitten war. Rosamund Darnley gehörte das Atelier Rose Mond, einer der bekanntesten Modesalons von London.

»Ich glaube, ich mag den Ort nicht«, sagte sie. »Ich frage mich, warum ich hergekommen bin.«

»Sie kannten das Hotel von früher, nicht wahr?«

»Ja, vor zwei Jahren war ich schon mal hier, an Ostern. Damals waren nicht so viele Leute da.«

Poirot musterte sie. »Irgendetwas macht Ihnen Sorgen«, sagte er freundlich. »Habe ich recht?«

Sie nickte. Sie wippte mit dem Fuß und starrte auf den Schuh. »Ich bin einem Geist begegnet«, sagte sie dann. »Das ist mein Problem.«

»Einem Geist?«

»Ja.«

»Was für einem Geist?«

»Meinem eigenen.«

»Hat es sehr wehgetan?«

»Seltsamerweise ja. Ich wurde zurückversetzt in meine Kinderjahre, wissen Sie …« Sie schwieg einen Augenblick und überlegte. »Erinnern Sie sich, wie es damals war? Nein, Sie sind ja kein Engländer.«

»War Ihre Kindheit denn so typisch englisch?«

»Ja, unglaublich englisch. Wir wohnten auf dem Land in einem großen alten Haus, mit Pferden und Hunden … Spaziergänge im Regen … Holzfeuer im Kamin … ein Obstgarten mit vielen Äpfeln … wenig Geld … alte Tweedmäntel … ein verwilderter Garten, wo im Herbst die Astern in Mengen blühten …«

»Und Sie sehnen sich danach zurück?«, fragte Poirot mitfühlend.

Rosamund Darnley schüttelte den Kopf. »Man kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Trotzdem – ich hätte vieles anders gemacht.«

»Tatsächlich?«, fragte Poirot und fügte hinzu: »Als ich jung war – und das ist schon lange her –, war ein Spiel sehr beliebt, das hieß: Wer würdest du gern sein? Die Antwort schrieben sich die jungen Damen in ein Album mit Goldschnitt, in blaues Leder gebunden. Die Antwort, Mademoiselle, ist nicht einfach.«

»Vermutlich nicht. Es wäre ein großes Risiko. Man will nicht gerade ein Politiker oder die Königin von England sein. Und was die Freunde angeht, so weiß man zu viel über sie. Allerdings fällt mir da etwas ein. Ich erinnere mich an ein besonders nettes Ehepaar. Sie waren so höflich und herzlich zueinander und schienen sich so gut zu vertragen – obwohl sie schon lange verheiratet waren –, dass ich die Frau sehr beneidete. Ich hätte sofort mit ihr getauscht. Später erzählte mir dann jemand, dass sie seit elf Jahren nicht mehr miteinander sprachen, wenn sie allein waren.« Sie lachte. »Was beweist, dass man nie sicher sein kann, nicht wahr?«

Nach einem kurzen Augenblick des Schweigens meinte Poirot: »Sie werden sicherlich von vielen Leuten beneidet.«

»O ja, natürlich«, erwiderte Rosamund Darnley kühl. Sie überlegte kurz. Ihre Lippen verzogen sich zu einem ironischen Lächeln.

»Ja, ich bin genau der Typ der erfolgreichen Frau. Ich genieße die Befriedigung, die es mir macht, schöpferisch zu sein und als Künstlerin Erfolg zu haben. Ich entwerfe gern Kleider. Dazu kommt der finanzielle Erfolg. Ich kann sorglos leben, habe eine gute Figur, ein annehmbares Gesicht und kein zu böses Mundwerk.« Ihr Lächeln wurde breiter. »Nur eines stimmt bei mir nicht – ich habe keinen Mann. Da habe ich versagt, nicht wahr, Monsieur Poirot?«

»Wenn Sie nicht geheiratet haben, Mademoiselle, kommt es wohl daher, dass keiner meiner Geschlechtsgenossen Sie überzeugen konnte«, erwiderte Poirot galant. »Es war Ihre freie Wahl, allein zu bleiben, kein von außen aufgezwungenes Muss.«

»Trotzdem bin ich überzeugt, dass Sie im Grunde Ihres Herzens wie alle Männer glauben, eine Frau kann ohne Mann und Kinder nicht glücklich werden.«

Poirot zuckte die Schultern. »Heiraten und Kinder bekommen – das ist üblicherweise das Schicksal einer Frau. Nur eine von hundert, ja von tausend geht ihren eigenen Weg und hat eine Stellung wie Sie.«

Rosamund grinste ihn an. »Und doch bin ich nichts anderes als eine arme alte Jungfer. Jedenfalls fühle ich mich heute so. Mit einem brutalen Kerl von Mann, einem Haufen Kinder, der an meinem Schürzenzipfel hängt, und Geldsorgen wäre ich glücklicher. Das stimmt doch, oder?«

Poirot sah sie zweifelnd an. »Da Sie es sagen, wird es wohl zutreffen, Mademoiselle.«

Rosamund lachte. Sie hatte ihre Fassung wiedergewonnen. Während sie eine Zigarette aus einem Etui nahm und sie sich anzündete, meinte sie:

»Sie wissen wirklich sehr genau, wie man mit Frauen umgehen muss, Monsieur Poirot. Ich habe jetzt das Gefühl, als würde ich nun genau das Gegenteil denken und mich Ihnen gegenüber für die Karrierefrau stark machen. Natürlich geht’s mir verdammt gut – und das weiß ich auch.«

»Dann ist ja alles in bester Ordnung, Mademoiselle.«

»Ja.«

Nun holte auch Poirot sein Zigarettenetui hervor und zündete sich eine der winzigen Zigaretten an, die er gern rauchte. Während er nachdenklich beobachtete, wie der Dunst vom Wasser aufzusteigen begann, murmelte er:

»Wenn ich mich nicht täusche, ist Mr Marshall – nein, Captain Marshall – ein alter Freund von Ihnen, Mademoiselle?«

Rosamund richtete sich auf. »Wie haben Sie das erfahren? Ach, vermutlich hat Ken es Ihnen erzählt.«

Poirot schüttelte den Kopf. »Das hat mir niemand erzählt. Schließlich bin ich Detektiv. Es war eine naheliegende Schlussfolgerung.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Überlegen Sie doch!« Poirot fuhr mit den Händen durch die Luft. »Sie sind seit einer Woche hier. Sie sind lebhaft, fröhlich, sorglos. Heute reden Sie plötzlich von Geistern, von alten Zeiten. Was ist passiert? Die letzten Tage sind keine neuen Gäste eingetroffen. Aber gestern Abend kam Captain Marshall mit Frau und Tochter an. Und heute diese Veränderung. Das ist doch offensichtlich!«

»Ja, es ist wirklich wahr!«, antwortete Rosamund. »Kenneth Marshall und ich sind mehr oder weniger wie Geschwister aufgewachsen. Die Marshalls wohnten nebenan. Ken war immer nett zu mir – wenn auch etwas von oben herab, weil er vier Jahre älter war. Ich habe ihn lange nicht gesehen. Es ist mindestens fünfzehn Jahre her.«

»Eine lange Zeit«, sagte Poirot nachdenklich.

Rosamund nickte.

Nach einer Pause fragte Poirot: »Er hat ein gutes Herz, nicht wahr?«

»Ken ist der beste Mensch, den ich kenne«, erwiderte Rosamund mit Wärme. »Schrecklich ruhig und reserviert. Er hat nur den einen Fehler, dass er mit Vorliebe die Frau heiratet, die nicht zu ihm passt.«

»Aha …«, machte Poirot verständnisinnig.

»Kenneth ist ein solcher Dummkopf, wenn es um Frauen geht«, fuhr Rosamund fort. »Ein großer Dummkopf. Erinnern Sie sich noch an den Martingdale-Fall?«

Poirot runzelte die Stirn. »Martingdale? Martingdale? Es war Arsen, nicht wahr?«

»Ja. Es ist siebzehn oder achtzehn Jahre her. Die Frau wurde beschuldigt, ihren Mann umgebracht zu haben.«

»Aber man hat sie freigesprochen?«

»Genau! Nach dem Freispruch hat Ken sie geheiratet. Es ist genau die Art Dummheit, die zu ihm passt.«

»Aber sie war doch unschuldig«, murmelte Poirot.

»Ich glaube es ja auch. Doch man kann nie wissen! Trotzdem – es gibt so viele Frauen auf der Welt, die man heiraten kann. Warum muss man sich ausgerechnet eine aussuchen; die eine Mordanklage am Hals hatte!«

Poirot schwieg. Vielleicht weil er wusste, dass Rosamund dann weitersprechen würde. Er hatte recht.

»Natürlich war er damals noch sehr jung, erst einundzwanzig. Er war verrückt nach ihr. Sie starb bei Lindas Geburt ein Jahr nach ihrer Heirat. Ihr Tod hat Ken schwer getroffen. Danach trieb er es ziemlich wild – vermutlich, um sie zu vergessen.«

Sie schwieg wieder eine Weile.

»Und dann kam die Sache mit Arlena Stuart. Sie trat damals in einer Revue auf. Lady Codrington wollte sich wegen ihr von ihrem Mann scheiden lassen. Lord Codrington war angeblich ganz verrückt nach Arlena. Alle Welt nahm an, dass die beiden nach der rechtskräftig gewordenen Scheidung sofort heiraten würden. Aber es kam anders. Er ließ sie sitzen. Ich glaube sogar, dass sie ihn wegen Bruchs des Eheversprechens verklagte. Wie auch immer – die Geschichte machte damals viel Wirbel. Und was passierte dann? Ken ging hin und heiratete sie! Völlig verrückt!«

»So etwas ist doch verständlich«, murmelte Poirot. »Sie ist sehr schön.«

»Ja, zweifellos. Es gab dann noch einen Skandal, vor etwa drei Jahren. Der alte Erskine hinterließ ihr sein ganzes Vermögen, bis auf den letzten Penny. Man hätte annehmen sollen, dass diese Sache Ken endlich die Augen öffnen würde.«

»Das war nicht der Fall?«

Rosamund Darnley zuckte mit den Schultern.

»Ich sagte Ihnen doch, dass ich ihn jahrelang nicht gesehen habe. Offenbar nahm er es sehr gelassen auf. Wieso eigentlich? Das wüsste ich zu gern. Vertraut er ihr einfach blind?«

»Vielleicht gibt es noch andere Gründe.«

»Ja, Stolz. Sich nichts anmerken lassen! Ich weiß nicht, was er für sie fühlt. Keiner weiß es.«

»Und sie selbst? Wie steht Arlena zu ihm?«

Rosamund starrte ihn wütend an. »Arlena? Sie ist die geldgierigste Person, die ich kenne. Und hinter den Männern her wie der Teufel hinter der armen Seele. Wenn ihr ein Mann auch nur auf hundert Meter nahe kommt, macht sie Jagd auf ihn.«